11.05.2014 Aufrufe

Ein neues Leitbild für den Sozialstaat - Sozialpolitik aktuell

Ein neues Leitbild für den Sozialstaat - Sozialpolitik aktuell

Ein neues Leitbild für den Sozialstaat - Sozialpolitik aktuell

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

7<br />

1. Der deutsche <strong>Sozialstaat</strong> und seine „Krise(n)“: Die unendliche<br />

Geschichte<br />

Die Kritik am <strong>Sozialstaat</strong> ist so alt wie dieser selbst – und auch die Rede von seiner<br />

„Krise“ gehört seit nunmehr drei Jahrzehnten zum guten Ton der öffentlichen und<br />

wissenschaftlichen sozialpolitischen Debatte. ∗ Beides ist, bei Lichte betrachtet, wenig<br />

überraschend. Die historische Herausbildung eines sozialstaatlichen<br />

Institutionensystems hat – gewollt oder ungewollt – die gesellschaftlichen<br />

Machtverhältnisse des industriekapitalistischen Zeitalters nachhaltig verändert. Die<br />

zunehmende sozialpolitische Normierung des kapitalistischen Produktionsprozesses im<br />

Laufe des vergangenen Jahrhunderts hat zu einer Verbesserung der sozialen Lage der<br />

„abhängigen Klassen“ geführt, die im sozialhistorischen Rückblick als nachgerade<br />

revolutionär bezeichnet wer<strong>den</strong> muss. Dass diese Entwicklung die Kritik insbesondere<br />

jener gesellschaftlichen Gruppen auf sich ziehen musste, die durch politische<br />

Intervention ihre ökonomischen Verfügungs- und Direktionsrechte beschnitten sahen,<br />

liegt auf der Hand. Zugleich ist im Zuge seines graduellen Ausbaus immer deutlicher<br />

gewor<strong>den</strong>, dass der <strong>Sozialstaat</strong>, als politische Reaktion auf die sozialen Folgeprobleme<br />

kapitalistischen Wirtschaftens, in einem strukturellen Spannungsverhältnis zur<br />

marktwirtschaftlichen Vergesellschaftungslogik steht. Als gleichermaßen<br />

bestandsnotwendiges und kostenträchtiges Element kapitalistischer Reproduktion ist<br />

ihm eine unhintergehbare Selbstwidersprüchlichkeit zu eigen, die sich in zyklischen<br />

„Krisen“-Zustän<strong>den</strong>, ja letztlich in einer unvermeidlichen Dauerkrise äußert, im Zeichen<br />

derer allein die Krisenrhetorik nicht in die Krise gerät.<br />

Krise und Kritik sind also wohlbekannte Begleiter der sozialstaatlichen Entwicklung –<br />

nicht nur in Deutschland. Und doch haben sich die Zeiten geändert. Exogene und<br />

endogene Herausforderungen – die Internationalisierung der Wirtschaft und die<br />

Europäisierung der Politik, die demographische Entwicklung, die strukturelle<br />

Massenarbeitslosigkeit und neue Formen des Arbeitens und Lebens – stellen<br />

Veränderungen der sozialstaatlichen Geschäftsgrundlage dar, die das im Zuge der<br />

Nachkriegszeit gewachsene und zwischenzeitlich prosperitätsbedingt weniger<br />

umstrittene institutionelle Arrangement mit manifesten Funktions- und Legitimationsproblemen<br />

belasten. Im Lichte dieser Probleme hat die Kritik am bundesdeutschen<br />

<strong>Sozialstaat</strong> zuletzt an Radikalität zugenommen – was die Krise seiner Institutionen zum<br />

Teil verschärft, zu einem guten Teil wohl auch erst generiert hat. Vor allen Dingen aber<br />

ist die radikale <strong>Sozialstaat</strong>skritik in jüngster Zeit nicht mehr auf das Lager der „üblichen<br />

Verdächtigen“ beschränkt geblieben. Immer breiteren politischen Kreisen gilt der<br />

<strong>Sozialstaat</strong> und zumal das deutsche <strong>Sozialstaat</strong>smodell als Beschäftigungsbremse, als<br />

ein System institutionalisierter Fehlanreize, als eine beständige Quelle von Problemen<br />

„zweiter Ordnung“.<br />

∗<br />

Während sich in der internationalen <strong>Sozialpolitik</strong>forschung seit geraumer Zeit das analytische Konzept des<br />

„Wohlfahrtsstaates“ durchgesetzt hat, ist in <strong>den</strong> einschlägigen sozialpolitischen Debatten – je<strong>den</strong>falls in<br />

Deutschland – die Rede vom „<strong>Sozialstaat</strong>“ geläufig. Wir halten uns im Folgen<strong>den</strong> durchgängig an <strong>den</strong> letztgenannten<br />

Begriff, ohne damit jedoch inhaltliche und normative Festlegungen hinsichtlich der Begründung,<br />

Reichweite und Gestalt sozialpolitischer Intervention zu verbin<strong>den</strong>.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!