Ein neues Leitbild für den Sozialstaat - Sozialpolitik aktuell
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Warum aber ist der demokratische <strong>Sozialstaat</strong> für die Gewerkschaften tragfähig,<br />
obgleich er doch die Abkehr von <strong>den</strong> erwerbsarbeitszentrierten Sicherungssystemen<br />
bedeutet? Der demokratische <strong>Sozialstaat</strong> macht die bislang auf Arbeitnehmerinnen und<br />
Arbeitnehmer eingeschränkte Solidarität zum Ausgangspunkt einer verallgemeinerten<br />
Gegenseitigkeit, weitet nämlich bei Beiträgen und Leistungen die Solidargemeinschaft<br />
auf alle Bürgerinnen und Bürger aus. Gerade damit aber, durch die Ausdehnung der<br />
Finanzierungspflichten und Unterstützungsansprüche über <strong>den</strong> Kreis der<br />
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hinaus, wird er deren besonderen Schutzbedarf –<br />
unter <strong>den</strong> gegebenen, veränderten sozioökonomischen Bedingungen – in besserer<br />
Weise gerecht als der bestehende <strong>Sozialstaat</strong>. Durch die Ausweitung der sozialstaatlich<br />
organisierten Solidarität schützt er die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor der<br />
zunehmen<strong>den</strong> finanziellen Überforderung durch die für sie kategorial beschränkten<br />
Solidaritätssysteme – insbesondere bei der Alterssicherung – und verschafft <strong>den</strong><br />
Leistungsansprüchen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zugleich eine breitere,<br />
gesellschaftsweite Legitimationsbasis. Der demokratische <strong>Sozialstaat</strong> wird zwar ein<br />
<strong>Sozialstaat</strong> für alle Bürgerinnen und Bürger sein, aber gerade deshalb auch ein<br />
<strong>Sozialstaat</strong> für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – wenn auch nicht nur für sie<br />
und nicht länger für sie in ihrer Eigenschaft als Lohnabhängige.<br />
Und warum ist der demokratische <strong>Sozialstaat</strong> für die Gewerkschaften tragfähig, obgleich<br />
er ihren <strong>Ein</strong>fluss in der Selbstverwaltung der Sozialversicherungen und damit einen<br />
wesentlichen Pfeiler ihrer Organisationsmacht gefährdet? Gegenüber alternativen<br />
Reformkonzepten bekräftigt gerade das <strong>Leitbild</strong> des demokratischen <strong>Sozialstaat</strong>s die<br />
wohlfahrtsgesellschaftliche Kooperation von sozialstaatlichen und gesellschaftlichen<br />
Akteuren – und macht diesen typisch deutschen „Kooperatismus“ durch größere<br />
Transparenz und Verlässlichkeit für alle beteiligten Akteure auch in Zukunft tragfähig.<br />
Damit aber bestätigt dieses <strong>Leitbild</strong> zumindest grundsätzlich auch die Rolle der<br />
Gewerkschaften als zentrale Akteure wohlfahrtsgesellschaftlicher Netzwerke. Zwar<br />
verlieren sie durch die Ausweitung der Sozialversicherungen ihre systematisch<br />
hervorgehobene Rolle als Arbeitnehmervertretung in deren Selbstverwaltung. Wer<strong>den</strong><br />
die Gewerkschaften aber zur treiben<strong>den</strong> Kraft des demokratischen <strong>Sozialstaat</strong>es und<br />
verhelfen sie auf diese Weise <strong>den</strong> Sozialversicherungen überhaupt zu einer Zukunft,<br />
dann können sie ihre herausragende Position auch in dieser Zukunft verteidigen. Was<br />
sie dann für diese Position qualifiziert, wird nicht allein ihr Vertretungsanspruch für eine<br />
Mehrheit der Versicherten, nämlich für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sein,<br />
sondern darüber hinaus – und vielleicht mehr noch – ihre tragende Rolle beim Umbau<br />
der arbeitnehmerzentrierten Sicherungssysteme hin zu <strong>den</strong> allen Bürgerinnen und<br />
Bürgern gemeinsamen Solidaritätssystemen. Die in diesem Umbau erworbene<br />
Kompetenz und Akzeptanz gewerkschaftlicher <strong>Sozialpolitik</strong> wird <strong>den</strong> Verlust<br />
traditioneller sozialversicherungspolitischer Machtressourcen überkompensieren. Die<br />
Alternative zu diesem Weg der offensiven Bestätigung ihrer Organisationsmacht im<br />
Umbau hin zu einem demokratischen <strong>Sozialstaat</strong> ist je<strong>den</strong>falls nicht die defensive<br />
Verteidigung ihrer „geborenen“, wohlverdienten Rechte in <strong>den</strong> bestehen<strong>den</strong><br />
Selbstverwaltungen.