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Ein neues Leitbild für den Sozialstaat - Sozialpolitik aktuell

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Zum anderen stellen eben diese Dienstleistungsangebote und generell die Produktion<br />

öffentlicher Güter bedeutsame Momente wirtschaftlichen Wachstums und erweiterter<br />

Beschäftigungschancen dar. Von ebenso großer Bedeutung ist allerdings die über eine<br />

ökonomistische Betrachtungsweise hinausweisende, soziale Produktivität des<br />

demokratischen <strong>Sozialstaat</strong>s. Denn dieser wirkt nicht nur sozial ausgleichend und ist<br />

damit ein Faktor gesellschaftlicher Integration. Er vermag zudem auch dem Interesse<br />

aller Bürgerinnen und Bürger an einem lebenswerten Gemeinwesen und einer<br />

lebendigen Demokratie Geltung zu verschaffen – und damit in letztlich wiederum<br />

wirtschaftlich produktiver Weise die nicht-ökonomischen Voraussetzungen der<br />

Ökonomie gegen diese selbst in Anschlag zu bringen.<br />

Die Stabilität dieses demokratischen <strong>Sozialstaat</strong>s beruht selbstverständlich auf all <strong>den</strong><br />

zuvor angeführten Elementen: auf seiner Problemlösungsfähigkeit und<br />

Komplexitätsangemessenheit, seiner Produktivität und Finanzierbarkeit, schließlich auf<br />

seiner gesellschaftlichen Akzeptabilität. Doch ist das institutionelle Arrangement des<br />

demokratischen <strong>Sozialstaat</strong>s auch selbst als ein Instrument gesellschaftlicher<br />

Stabilisierung zu würdigen, und zwar im Sinne der systematischen Produktion von<br />

Erwartungssicherheit. Die zuverlässige Erfüllung individueller und kollektiver – zum Teil<br />

von ihm selbst erzeugter – Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger ist womöglich das<br />

höchste (und empfindlichste) soziale Gut, das der <strong>Sozialstaat</strong> zu gewährleisten hat. Der<br />

demokratische <strong>Sozialstaat</strong> organisiert über Mindestsicherungen, öffentliche Güter und<br />

kollektive Vorsorge eine gesellschaftliche Solidarität, die gleichermaßen die Erwartung<br />

auf akute wechselseitige Hilfe und Unterstützung zu realisieren und die Erwartung auf<br />

die Dauerhaftigkeit dieser verallgemeinerten Gegenseitigkeit – auch über die eigene<br />

Lebenszeit hinaus – zu stützen vermag. Er ist auf diese Weise Ausdruck und Garant<br />

nicht nur des gesellschaftlichen Zusammenhalts in der Gegenwart, sondern zugleich<br />

auch des gemeinsamen Interesses aller Bürgerinnen und Bürger, genau diesen<br />

Zusammenhalt auf Dauer zu stellen.<br />

Wie aber, so ist auf dieser Grundlage zu fragen, steht es um die gewerkschaftliche<br />

Tragfähigkeit des hier präsentierten <strong>Leitbild</strong>es vom demokratischen <strong>Sozialstaat</strong>? Dieses<br />

<strong>Leitbild</strong> mutet <strong>den</strong> Gewerkschaften auf <strong>den</strong> ersten Blick viel, ja vielleicht zu viel zu: Es<br />

verlangt von ihnen die Abkehr vom erwerbsarbeits- und deshalb arbeitnehmerzentrierten<br />

<strong>Sozialstaat</strong>, <strong>den</strong> maßgeblich sie mit aufgebaut und <strong>den</strong> gerade sie in <strong>den</strong> letzten zwei<br />

Jahrzehnten gegenüber einer zunehmend radikaleren Kritik verteidigt haben. Als Folge<br />

dieser Abkehr droht zudem der Verlust an gewerkschaftlicher Organisationsmacht,<br />

sprich an sozialpolitischem <strong>Ein</strong>fluss über die Selbstverwaltung der<br />

Sozialversicherungen. Doch – wie so oft – täuscht der erste Blick. Wir je<strong>den</strong>falls sind der<br />

Überzeugung, dass der demokratische <strong>Sozialstaat</strong> auch für die Gewerkschaften eine<br />

akzeptable Option darstellt, und mehr noch: Gerade dieses <strong>Leitbild</strong> kann die<br />

gewerkschaftliche <strong>Sozialpolitik</strong> orientieren und die Gewerkschaften aus ihrem<br />

strategischen Dilemma befreien, gegenüber einer radikalisierten <strong>Sozialstaat</strong>skritik <strong>den</strong><br />

bestehen<strong>den</strong> <strong>Sozialstaat</strong> mitsamt seinen Leistungsmängeln, Finanzierungsproblemen<br />

und Gerechtigkeitsdefiziten verteidigen zu müssen.

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