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Ein neues Leitbild für den Sozialstaat - Sozialpolitik aktuell

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5.6. Individualisierung von Leistungen und Belastungen<br />

Der Adressatenkreis des demokratischen <strong>Sozialstaat</strong>s ist die Gesamtheit seiner<br />

Bürgerinnen und Bürger – und damit ein Kollektiv von Individuen, die zwar (zumeist) in<br />

sozialen Gemeinschaften, in Nachbarschaft, in Familien und Paarbeziehungen leben,<br />

die jedoch ihre gemeinschaftlichen Zusammenhänge und Bindungen selbst wählen –<br />

und dies in einer liberalen Gesellschaft auch können müssen. Im Gegensatz zum<br />

bestehen<strong>den</strong> <strong>Sozialstaat</strong> wird der demokratische <strong>Sozialstaat</strong> deshalb nicht bestimmte<br />

Lebensformen als gesellschaftliche Normalität voraussetzen und damit weder die<br />

Erfüllung entsprechender Normalitätsannahmen belohnen noch deren „Missachtung“<br />

bestrafen. Der <strong>Sozialstaat</strong> erfüllt in dieser Weise nicht nur eine elementare Forderung<br />

der liberalen Demokratie, sondern reagiert damit auch auf jenen grundlegen<strong>den</strong> Wandel<br />

der privaten Lebensformen, <strong>den</strong> man gemeinhin als „Individualisierung“ bezeichnet und<br />

der für einen guten Teil der Leistungsmängel des bestehen<strong>den</strong> <strong>Sozialstaat</strong>s<br />

verantwortlich ist.<br />

In Reaktion auf besagte Individualisierung der privaten Lebensformen wird der<br />

demokratische <strong>Sozialstaat</strong> auch seine Leistungen und Belastungen „individualisieren“,<br />

d.h. seine Leistungen <strong>den</strong> berechtigten Individuen unabhängig von ihrem Familienstand<br />

zusprechen und ebenso seine Belastungen in Absehung vom Familienstand der<br />

Steuerpflichtigen und Beitragszahler verteilen. Beispielsweise wer<strong>den</strong> Ehepartnern<br />

weder zusätzliche Rechte zugestan<strong>den</strong> noch zusätzliche Pflichten auferlegt. Besondere<br />

Rechte und Pflichten zwischen Ehepartnern ergeben sich dann aus privaten<br />

Vereinbarungen, die vom <strong>Sozialstaat</strong> solange geachtet wer<strong>den</strong> sollten, als dies nicht zur<br />

Benachteiligung anderer Ehepaare führt. So müssten im Rentenleistungsrecht die<br />

ausschließlich aus dem Tatbestand der Ehe abgeleiteten Ansprüche, wie etwa die<br />

Witwen- und Witwerrente, auslaufen. Unter <strong>den</strong> Bedingungen pluraler Lebensformen<br />

sind diese Ansprüche als partikuläre Privilegien immer weniger zu rechtfertigen.<br />

Dagegen sollten Ehepaare – in systematischer Fortsetzung ihres gemeinsamen<br />

Haushalts – ein Rentensplitting wählen können, so dass alle während ihrer Ehe<br />

erworbene Anwartschaften zwischen bei<strong>den</strong> Partnern aufgeteilt und unterschiedliche<br />

Rentenansprüche ausgeglichen wer<strong>den</strong> können. Aufgegeben wird dagegen das<br />

Ehegattensplitting im Steuerrecht: Sollte dessen Lenkungsziel die Förderung der Familie<br />

sein und zur Kompensation familienbezogener Lasten dienen, dann wird bzw. kann<br />

dieses Ziel nicht erreicht wer<strong>den</strong>, da sich Ehe und Familie in zunehmendem Maße<br />

voneinander entkoppeln. Sollte das Lenkungsziel hingegen die Förderung der<br />

standesamtlich geschlossenen Ehe sein, dann wird dieses Ziel zwar zweifellos erreicht,<br />

ist jedoch angesichts fortschreitender Pluralisierung der Lebensformen als solches<br />

zunehmend unplausibel.<br />

Auch in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern wird der demokratische <strong>Sozialstaat</strong><br />

seine Leistungen und Belastungen „individualisieren“, nämlich die Unterhaltspflichten<br />

außerhalb der Phase der Versorgung und Erziehung minderjähriger Kinder deutlich<br />

reduzieren und sie durch sozialstaatliche Leistungen ersetzen.

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