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Ein neues Leitbild für den Sozialstaat - Sozialpolitik aktuell

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Die <strong>Ein</strong>zelgewerkschaften und ihr Dachverband haben in der Vergangenheit keine<br />

einheitliche sozialpolitische Programmatik entwickelt – und sprechen infolgedessen<br />

auch in <strong>den</strong> <strong>aktuell</strong>en sozialpolitischen Debatten nicht „mit einer Stimme“. Öffentlich<br />

auffällig wurde dies z.B. in <strong>den</strong> kakophonen Reaktionen der Gewerkschaften auf<br />

Bundeskanzler Schröders „Agenda“ im Jahr 2003 oder zuletzt in <strong>den</strong> kontroversen<br />

Stellungnahmen aus <strong>den</strong> Gewerkschaften zur Forderung nach einem staatlich<br />

definierten Mindestlohn. Diese Vielstimmigkeit ist institutionell abgesichert: Nicht nur der<br />

DGB unterhält eine Abteilung für <strong>Sozialpolitik</strong> und präsentiert ein Vorstandsmitglied als<br />

entsprechende Fachfrau. Auch die <strong>Ein</strong>zelgewerkschaften, zumindest die großen unter<br />

ihnen, verfügen über eigene sozialpolitische Abteilungen und verfolgen darüber auch<br />

eigenständige sozialpolitische Projekte.<br />

Deren Koordination über <strong>den</strong> DGB ist nur schwach ausgeprägt, so dass dessen<br />

Programmatik im Wesentlichen aus <strong>Ein</strong>igungsformeln auf dem kleinsten gemeinsamen<br />

Nenner der einzelgewerkschaftlichen Positionen besteht.<br />

Was die verschie<strong>den</strong>en <strong>Ein</strong>zelgewerkschaften und <strong>den</strong> DGB vor allem eint, ist ihre<br />

sozialpolitische Vorliebe für die Sozialversicherungen. Ist der bundesdeutsche<br />

<strong>Sozialstaat</strong> selbst auf die Sozialversicherungen hin zentriert und auf deren Sicherung<br />

konzentriert, so beschränken die Gewerkschaften ihre sozialpolitische Aufmerksamkeit<br />

(fast) ausschließlich auf dieses Zentrum. Probleme in anderen Bereichen der<br />

<strong>Sozialpolitik</strong> dagegen, etwa Fragen der Sozialhilfe oder der Familienpolitik, interessieren<br />

gewerkschaftlich nur mäßig bis gar nicht. Tatsächlich sind es vor allem die<br />

Sozialversicherungen, welche die Lebenslagen der Arbeitnehmer und ihrer Familien<br />

nachhaltig bestimmen. Über die Sozialversicherungen können die abhängig<br />

Beschäftigten ihre typischen, mit der Situation der Erwerbsarbeit verbun<strong>den</strong>en Risiken<br />

solidarisch absichern, so dass ihnen ein dauerhafter Verkauf ihrer Arbeitskraft auf dem<br />

Arbeitsmarkt überhaupt erst möglich wird. Über die Sozialversicherungen wird ihre<br />

Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand gewährleistet und über die Zeit verstetigt, ihre<br />

Abhängigkeit von der Erwerbsarbeit und dem daraus resultieren<strong>den</strong> Erwerbseinkommen<br />

somit zwar nicht aufgehoben, jedoch nachhaltig „zivilisiert“. Weil also für die<br />

Lebenslagen der abhängig Beschäftigten zentral, sehen sich die Gewerkschaften als<br />

deren Interessenvertretung gehalten, ihre besondere Aufmerksamkeit auf diesen Zweig<br />

des <strong>Sozialstaat</strong>s zu lenken und dessen Leistungskraft zu verteidigen.<br />

Ihre strukturelle Vorliebe für die Sozialversicherungen wird noch einmal dadurch<br />

verstärkt, dass die Gewerkschaften in diesem Bereich des <strong>Sozialstaat</strong>s kooperativ<br />

eingebun<strong>den</strong>, nämlich in <strong>den</strong> Selbstverwaltungen der Sozialversicherungen vertreten<br />

sind. Zwar erreichen sie auf diese Weise keine mit der Tarifpolitik vergleichbare<br />

Gestaltungsmacht. Aber immerhin haben sie über die Selbstverwaltungen einen<br />

originären <strong>Ein</strong>fluss auf das Leistungsrecht der Sozialversicherungen und kontrollieren in<br />

deren Vertreterversammlungen und Vorstän<strong>den</strong> die laufen<strong>den</strong> Aktivitäten der<br />

Versicherungen und deren Finanzen. Allerdings wur<strong>den</strong> die Spielräume der<br />

Selbstverwaltung, mithin auch die sozialpolitische Gestaltungsmacht der<br />

Gewerkschaften, in <strong>den</strong> letzten Jahren durch Erweiterung der gesetzlichen Vorgaben<br />

schrittweise eingeschränkt.

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