Ein neues Leitbild für den Sozialstaat - Sozialpolitik aktuell
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Gemessen am Leistungsfähigkeitsprinzip ist zudem die Übertragung öffentlicher<br />
Leistungsverpflichtungen in die beitragsfinanzierten Sozialversicherungen<br />
problematisch, müssen doch die Beitragszahler (die ja mit dem Kreis der Steuerzahler<br />
keineswegs i<strong>den</strong>tisch sind) auf diese Weise einen stetig wachsen<strong>den</strong> Anteil des<br />
Sozialbudgets finanzieren. Dabei begrün<strong>den</strong> nicht – wie im öffentlichen Diskurs gerne<br />
behauptet wird – die vermeintlich „versicherungsfrem<strong>den</strong>“ Leistungen ein<br />
Gerechtigkeitsproblem bei <strong>den</strong> Sozialversicherungen, da diese sich ja u.a. durch die<br />
<strong>Ein</strong>beziehung eben jener Leistungen von einer Privatversicherung unterschei<strong>den</strong>. Es ist<br />
vielmehr die einseitige Belastung der Beitragszahler und damit der Gruppe der<br />
Arbeitnehmer zugunsten der Steuerzahler und damit aller anderen<br />
<strong>Ein</strong>kommensgruppen, die das Leistungsfähigkeitsprinzip fundamental verletzt und im<br />
Sinne dieses Prinzips ungerecht ist.<br />
Problematisch ist unter Gerechtigkeitsaspekten schließlich auch, dass der Staat seine<br />
strukturellen Probleme bei der Finanzierung öffentlicher Fürsorge- und<br />
Sicherungsleistungen durch Rückgriff auf das Instrument der Staatsverschuldung zu<br />
bewältigen sucht – wobei er allerdings in jüngster Vergangenheit durch EU-Auflagen<br />
verstärkt „gebändigt“ wird. Die Verschuldung des Staates verletzt zwar nicht, wie häufig<br />
behauptet, die Rechte kommender Generationen. Den durch Verschuldung des Staates<br />
entstan<strong>den</strong>en Verbindlichkeiten einer Generation stehen nämlich prinzipiell Forderungen<br />
in gleicher Höhe gegenüber, wobei im historischen Ablauf nicht nur die<br />
Verbindlichkeiten, sondern auch die ihnen entsprechen<strong>den</strong> Forderungen von einer<br />
Generation zur nächsten vererbt wer<strong>den</strong>. Gleichwohl ist der Weg der<br />
Staatsverschuldung, gemessen am Prinzip der Leistungsfähigkeit, problematisch, <strong>den</strong>n<br />
auf diesem Weg wer<strong>den</strong> einseitig und über viele Perio<strong>den</strong> hinweg die<br />
Vermögensbezieher begünstigt, ihnen nämlich konjunkturunabhängige <strong>Ein</strong>nahmen<br />
gewährt, und dafür im Gegenzug alle Steuerzahler belastet, de facto also <strong>Ein</strong>kommen<br />
von <strong>den</strong> Vermögenslosen zu <strong>den</strong> Vermögen<strong>den</strong> umverteilt.<br />
2.3. Kritik der gewerkschaftlichen <strong>Sozialpolitik</strong><br />
Die deutschen Gewerkschaften sind nicht nur ein Kartellverband zur kollektiven<br />
Organisation des Arbeitskräfteangebots und damit eine Partei auf dem Arbeitsmarkt. Sie<br />
sind zugleich auch ein politischer Verband, der die Interessen der Arbeitnehmer auch<br />
jenseits des Arbeitsverhältnisses und damit insbesondere gegenüber dem Staat<br />
organisiert. Zumal im Zuge der Sozialreformen in <strong>den</strong> 1950er und 60er Jahren haben<br />
sich die Gewerkschaften für <strong>den</strong> Ausbau der sozialstaatlichen Sicherungssysteme<br />
eingesetzt und sich als eine der maßgeblichen Antriebskräfte staatlicher <strong>Sozialpolitik</strong><br />
verstan<strong>den</strong>. Es ist daher nicht zuletzt auch „ihr“ <strong>Sozialstaat</strong>, der gegenwärtig in<br />
zunehmend radikalerer Weise kritisiert wird, dem aber auch wir – unserer Kritik der<br />
Radikalkritik zum Trotz – Leistungsversagen, Finanzierungsprobleme und<br />
Gerechtigkeitsdefizite haben vorhalten müssen. Wie, so fragen wir nun, beantworten die<br />
Gewerkschaften die Radikalkritik an „ihrem“ <strong>Sozialstaat</strong>? Und wie bearbeiten sie dessen<br />
Leistungsmängel, Finanzierungslöcher und Gerechtigkeitslücken?