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Ein neues Leitbild für den Sozialstaat - Sozialpolitik aktuell

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Auch was die Bedarfsgerechtigkeit angeht, ist es um <strong>den</strong> real existieren<strong>den</strong> <strong>Sozialstaat</strong><br />

schlecht bestellt. Auch wenn in der Bundesrepublik niemand (oder kaum jemand) im<br />

Elend leben muss, sind die Möglichkeiten menschenwürdigen Lebens gleichwohl nicht<br />

für je<strong>den</strong> Menschen gesichert, wie es das Grundgesetz fordert und das<br />

Sozialgesetzbuch verspricht. Die Sozialhilfe bleibt in vielen Fällen unterhalb des Bedarfs<br />

menschenwürdigen Lebens; die Unterstützung für Asylsuchende soll diesen Bedarf<br />

sogar absichtlich nicht decken. Vor allem aber befindet sich die Bundesrepublik in Folge<br />

zunehmender (und zunehmend verfestigter) Armut einerseits und in Anbetracht einer<br />

schleichen<strong>den</strong> Ausweitung der Zone sozialer „Verwundbarkeit“ und prekären<br />

Wohlstands andererseits auf dem Weg in eine vielfältig fragmentierte Gesellschaft, in<br />

der über die Menschenwürdigkeit des Lebens eines nicht unerheblichen Teils der<br />

Bevölkerung nicht mehr eindeutig und sinnvoll Auskunft gegeben wer<strong>den</strong> kann. Auch im<br />

Bereich der medizinischen und pflegerischen Versorgung nehmen die Verletzungen des<br />

Prinzips der Bedarfsgerechtigkeit zu: Faktisch wer<strong>den</strong> Kassenpatienten medizinisch<br />

notwendige Leistungen verweigert, ohne dass es für diese Rationierungspolitik<br />

irgendeine (geschweige <strong>den</strong>n eine hinreichend überzeugende) Rechtfertigung gäbe.<br />

Nach der Vermarktlichung der Pflege kann zwar die Qualität einzelner Pflegeleistungen<br />

garantiert wer<strong>den</strong>; gleichwohl ist davon auszugehen, dass im Zeitalter der<br />

Fallpauschalen und des politisch inszenierten Wettbewerbs auf „Wohlfahrtsmärkten“ in<br />

vielen Fällen die Menschenwürde der auf Pflege und dabei auch auf Zuwendung<br />

angewiesenen Menschen verletzt wird.<br />

Gerechtigkeitsdefizite bestehen auch in Bezug auf die <strong>den</strong> Ideen der Leistungs- wie der<br />

Bedarfsgerechtigkeit gleichermaßen inhärenten Gleichheitsforderung. Vor allen Dingen<br />

Frauen sehen sich nicht nur im Erwerbsleben bei ihrer Entlohnung systematisch<br />

benachteiligt: Die Ungerechtigkeit, dass sie trotz zumeist besserer Qualifikationen und<br />

trotz gleicher Leistungen im Durchschnitt schlechter verdienen, setzt sich im<br />

erwerbsbezogenen System sozialer Sicherung fort. Zusätzlich wer<strong>den</strong> Frauen auf dem<br />

Arbeitsmarkt und in der sozialen Sicherung für die Brüche in ihren Erwerbsbiographien<br />

bestraft, die durch die zumeist ihnen zufallende Versorgung und Erziehung von Kindern<br />

verursacht wer<strong>den</strong>. Die systematische Benachteiligung der Frauen überlagert sich mit<br />

der ebenso systematischen Benachteiligung von Haushalten mit Kindern. Zwar gibt es –<br />

etwa in Form des Kindergeldes oder der Familienmitversicherung – einen sozialstaatlich<br />

organisierten Lastenausgleich; dieser bleibt jedoch weit hinter dem tatsächlichen Bedarf<br />

der betreffen<strong>den</strong> Haushalte zurück. So wer<strong>den</strong> nicht nur die Versorgung und Erziehung<br />

der Kinder, sondern auch die damit verbun<strong>den</strong>en materiellen Belastungen einseitig in<br />

die Hände ihrer Eltern oder anderer verantwortlicher Erwachsener gelegt. Die Lasten<br />

der Kinderversorgung und -erziehung sind innerhalb der Generation der Erwachsenen<br />

asymmetrisch verteilt.<br />

Diese Schieflage kontrastiert mit einem politischen Diskurs, der weniger die<br />

intragenerationellen Ungleichheiten und um so mehr die intergenerationellen<br />

Verpflichtungen hervorhebt, die dem bundesdeutschen <strong>Sozialstaat</strong> als eine Art<br />

„Generationenvertrag“ eingeschrieben wur<strong>den</strong>.

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