Ein neues Leitbild für den Sozialstaat - Sozialpolitik aktuell
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Das allerdings kann für diesen <strong>Sozialstaat</strong> keine Entwarnung sein, <strong>den</strong>n sein hohes<br />
Budget wird leistungsseitig zunehmend weniger gerechtfertigt, sondern im Gegenteil<br />
durch kontinuierliche Beschränkungen seines Leistungskatalogs sowie durch die<br />
angesprochenen Leistungsmängel effektiv in Frage gestellt. Die immer noch hohe<br />
Akzeptanz der Gesetzlichen Krankenversicherung etwa leidet nicht nur durch die<br />
Erfahrung von Leistungseinschränkungen oder gar von Leistungsverweigerungen im<br />
eigenen Fall, sondern nicht zuletzt auch dadurch, dass die versprochene Solidarität<br />
zwischen Kranken und Gesun<strong>den</strong> immer weniger auch tatsächlich verwirklicht wird.<br />
Ähnliches wird auch für die Sozialhilfe gelten, deren Nettozahler eben nicht nur<br />
misstrauisch gegenüber missbräuchlicher Inanspruchnahme sind, sondern ebenso sehr<br />
auch gegenüber der faktischen Unwirksamkeit dieser institutionalisierten Garantie<br />
menschenwürdigen Lebens. Insofern gilt, dass das strukturelle Leistungsversagen des<br />
bundesdeutschen <strong>Sozialstaat</strong>es nicht nur an sich be<strong>den</strong>klich, sondern zudem auch<br />
legitimatorisch selbstzerstörerisch ist.<br />
Gerechtigkeitsdefizite<br />
Ob die Strukturen, Institutionen und Verfahren einer Gesellschaft gerecht bzw.<br />
ungerecht sind, entscheidet sich daran, dass sie gegenüber allen Betroffenen mit<br />
hinreichend guten Grün<strong>den</strong>, und in diesem Sinne allgemein, gerechtfertigt oder eben<br />
nicht gerechtfertigt wer<strong>den</strong> können. <strong>Ein</strong>e entsprechende Prüfung verlangt einen<br />
unparteilichen, sprich externen Standpunkt „außerhalb“ der zu prüfen<strong>den</strong> Strukturen,<br />
Institutionen und Verfahren – wenngleich auch keinen Standpunkt außerhalb der<br />
Gesellschaft. Da es in unserer Kritik darum geht, <strong>den</strong> real existieren<strong>den</strong> <strong>Sozialstaat</strong><br />
„beim Wort zu nehmen“, wollen wir im Folgen<strong>den</strong> jedoch nicht prüfen, ob und in<br />
welchem Maße er allgemein gerechtfertigt wer<strong>den</strong> kann. Wir wer<strong>den</strong> statt dessen seine<br />
Gerechtigkeitsdefizite im Abgleich mit seinen eigenen, ihm gleichsam „eingebauten“<br />
Gerechtigkeitsvorstellungen erheben. Für <strong>den</strong> deutschen <strong>Sozialstaat</strong> – wie auch für<br />
je<strong>den</strong> anderen – sind Gerechtigkeitsvorstellungen konstitutiv, insofern die politische<br />
Ordnung der staatlichen Sicherungs- und Fürsorgesysteme durch normative<br />
Bewertungen und Orientierungen beeinflusst wurde und weiterhin beeinflusst wird – und<br />
zwar sowohl bei der Definition der für sozialstaatliches Handeln relevanten<br />
Problemlagen und Leistungsbedarfe, bei der Auswahl der zur Problembewältigung<br />
eingesetzten Instrumente und Organisationsformen wie auch bei der Verteilung der zur<br />
Finanzierung der Problembearbeitung notwendigen Belastungen. Wenngleich (auch) der<br />
bundesdeutsche <strong>Sozialstaat</strong> weder über eine einheitliche noch über eine kodifizierte und<br />
dokumentierte „Ethik“ verfügt, sind gleichwohl jeweils bereichsspezifische<br />
Gerechtigkeitsvorstellungen in seine Sicherungs- und Fürsorgesysteme eingelagert.<br />
Insbesondere was die Höhe von Sozialeinkommen, aber auch was <strong>den</strong> Zugang zu<br />
seinen Leistungsprogrammen und die Bedingungen der Leistungsgewährung angeht,<br />
wird der deutsche <strong>Sozialstaat</strong> erstrangig von der Idee der Leistungsgerechtigkeit her<br />
bestimmt. Wie auch immer gerechtfertigt und wie auch immer konkretisiert, soll der<br />
Anteil der Menschen am gesellschaftlich verfügbaren <strong>Ein</strong>kommen in irgendeiner Weise<br />
ihren jeweiligen Leistungen bei dessen Erstellung entsprechen.