Ein neues Leitbild für den Sozialstaat - Sozialpolitik aktuell
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Mit der Zahl der Arbeitslosen wachsen seit Ende der 1970er Jahre bei <strong>den</strong><br />
Sozialversicherungen und in <strong>den</strong> öffentlichen Fürsorgesystemen, insbesondere aber<br />
auch bei der Bundesanstalt (jetzt Bundesagentur) für Arbeit die<br />
Leistungsverpflichtungen und damit die Ausgaben, während mit der rückläufigen<br />
Beschäftigtenzahl zugleich auch die Beitrags- und Steuereinnahmen schrumpfen. Diese<br />
durch die Massenarbeitslosigkeit geöffnete Schere zwischen <strong>Ein</strong>nahmen und Ausgaben<br />
wurde durch die deutsche <strong>Ein</strong>igung noch stärker geöffnet. Dem drastischen Anstieg bei<br />
<strong>den</strong> Leistungen etwa der Gesetzlichen Renten- und der Arbeitslosenversicherung<br />
entspricht bis heute kein vergleichbares Wachstum der <strong>Ein</strong>nahmen aus Steuern und<br />
Beiträgen, vor allem weil der Trend massiver Beschäftigungsverluste und ansteigender<br />
Arbeitslosigkeit in <strong>den</strong> neuen Bundesländern nicht gestoppt wer<strong>den</strong> konnte.<br />
Für das „Beitrittsgebiet“ wurde deshalb im Jahre 2001 eine (nicht nur) im Vergleich zu<br />
<strong>den</strong> alten Bundesländern extrem hohe Sozialleistungsquote von über 48 Prozent<br />
erreicht. Als zusätzlicher Grund für die offene Schere zwischen <strong>Ein</strong>nahmen und<br />
Ausgaben wird häufig der demographische Wandel, also die relative Zunahme von<br />
älteren Menschen und die sich immer weiter ausdehnende Phase des „dritten<br />
Lebensalters“, angeführt: Da vergleichsweise mehr alte Menschen über zunehmend<br />
längere Zeiträume hinweg Leistungsansprüche erheben, sind die Ausgaben vor allem<br />
der Renten- und Krankenversicherung gestiegen, während zugleich die Zahl der Steuerund<br />
Beitragszahler gesunken ist. Diese Behauptung ist allerdings mit Vorsicht zu<br />
genießen. Steigende Ausgaben bei der Rentenversicherung sowie sinkende Steuer- und<br />
Beitragseinnahmen wer<strong>den</strong> nämlich zumindest nicht unmittelbar durch die<br />
demographische Entwicklung verursacht, sondern entschei<strong>den</strong>d durch Arbeitsmarktlage<br />
und -beteiligung beeinflusst. Steigende Ausgaben für die medizinische und pflegerische<br />
Versorgung hingegen sind – entgegen hartnäckiger Behauptung des Gegenteils im<br />
politischen Diskurs – so nicht nachzuweisen, und zwar u.a. deshalb, weil der<br />
Versorgungsbedarf alter Menschen regelmäßig (und unabhängig von ihrem Lebensalter)<br />
erst kurz vor deren Tode exponentiell ansteigt.<br />
Die seit geraumer Zeit geöffnete Schere zwischen <strong>Ein</strong>nahmen und Ausgaben hat der<br />
deutsche Staat nicht schließen können – mehr noch: haben die politisch<br />
Verantwortlichen wohl auch nicht schließen wollen. Steuerpolitisch wur<strong>den</strong> die Probleme<br />
bei der Finanzierung öffentlicher Aufgaben – auch jenseits der <strong>Sozialpolitik</strong> – sogar noch<br />
verschärft, indem man einen massiven <strong>Ein</strong>bruch bei <strong>den</strong> Gewinn- und<br />
Vermögenssteuern parteiübergreifend zugelassen bzw. bewusst betrieben hat.<br />
Nachdem die Beitragssätze bei <strong>den</strong> Sozialversicherungen über Jahrzehnte hinweg<br />
kontinuierlich gestiegen sind, wird gegenwärtig in diesem Bereich Beitragsstabilität<br />
verordnet, mithin eine Verbesserung der <strong>Ein</strong>nahmen durch höhere Beitragssätze<br />
ausgeschlossen. Schließlich ist dem Staat aufgrund restriktiver Auflagen des EU-<br />
Stabilitätspaktes im Prinzip auch die Flucht in die Staatsverschuldung verbaut.