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Ein neues Leitbild für den Sozialstaat - Sozialpolitik aktuell

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Strukturelle Benachteiligungen fin<strong>den</strong> sich in wachsendem Maße auch innerhalb jenes<br />

Sicherungssystems, welches dem bundesdeutschen <strong>Sozialstaat</strong> der Nachkriegszeit<br />

wohl am stärksten egalitären Charakter verliehen hat: in der Gesetzlichen<br />

Krankenversicherung. Das solidaritätsverbürgende Doppelprinzip einkommensabhängiger<br />

Beitragserhebung und beitragsunabhängiger Leistungserbringung hat die<br />

GKV zu einem der bedeutsamsten Motoren der vom Grundgesetzgeber versprochenen<br />

Angleichung der individuellen Lebens- bzw. Versorgungslagen wer<strong>den</strong> lassen. Zwar<br />

verfügt die Bundesrepublik nach wie vor über ein auch im internationalen Vergleich<br />

leistungsfähiges medizinisches System.<br />

Verursacht vor allem durch <strong>Ein</strong>schränkungen im Leistungskatalog der Krankenkassen<br />

sowie durch die kaum angetastete Steuerungshoheit der Leistungsanbieter ist jedoch<br />

die unbeschränkte Versorgung eines bzw. einer Je<strong>den</strong> mit dem medizinisch<br />

Notwendigen zunehmend weniger garantiert. Ohne System, Legitimation und<br />

Transparenz wird die medizinische Versorgung für all jene rationiert, die sich ihren<br />

Leistungsanbietern gegenüber nur mit ihrer Kassenkarte ausweisen, nicht aber mit<br />

privaten Zuzahlungen „erkenntlich zeigen“ können. Im Bereich der Pflegeversicherung<br />

ist durch die Deckelung der Leistungen sowie die <strong>Ein</strong>führung marktförmiger<br />

Steuerungsmechanismen ein verstärkter Kostendruck ausgelöst wor<strong>den</strong>, unter dem die<br />

Qualität der Pflege offenbar stark gelitten hat.<br />

In der Krankenversicherung hat sich über die Jahrzehnte der Schwerpunkt von <strong>den</strong><br />

(ursprünglich ausschließlichen und über lange Zeit dominanten) <strong>Ein</strong>kommensersatzleistungen<br />

weg und zu <strong>den</strong> medizinischen Dienstleistungen hin verlagert. Dieser<br />

Trend, der durch die jüngst beschlossene Ausgliederung des Krankengeldes aus dem<br />

Leistungskatalog (bei Übertragung der alleinigen Finanzierungszuständigkeit auf die<br />

Arbeitnehmer) zum Abschluss gekommen ist, stände eigentlich auch im Bereich der<br />

Fürsorgesysteme an. So weiß man etwa, dass sich die Interventionsbedarfe der<br />

öffentlichen Fürsorgeprogramme zunehmend aus der Überschuldung von Haushalten<br />

ergeben, die ihre finanzielle Notlage durch eine frühzeitige Schuldnerberatung zumeist<br />

hätten vermei<strong>den</strong>, zumindest aber besser bewältigen können. Auch auf anderen<br />

Feldern, wie etwa <strong>den</strong>en der Familien- und Erziehungshilfe, steigt infolge der<br />

zunehmen<strong>den</strong> Individualisierung und Flexibilisierung der Lebensverhältnisse der Bedarf<br />

an professioneller Beratung und Hilfe. Doch bleiben unter Verweis auf „knappe Kassen“<br />

Investitionen in die notwendigen sozialen Dienstleistungen aus, so dass der<br />

bundesdeutsche <strong>Sozialstaat</strong> die im Sinne einer präventiven Fürsorgepolitik<br />

erforderlichen Angebote nicht oder zumindest nicht in dem gebotenen Umfang und der<br />

erforderlichen Qualität bereithalten kann. Mehr noch: Weil aus gesetzlicher Sicht häufig<br />

„freiwillige Leistungen“, wer<strong>den</strong> gerade in diesem Bereich massive Kürzungen<br />

vorgenommen, das zumeist bei öffentlichen Trägern aufgebaute Angebot damit<br />

ausgedünnt oder gleich ganz – und im Zweifelsfall unwiderruflich – zerstört. Das<br />

Ausbleiben notwendiger Leistungen bedeutet aber in der Regel, dass wiederum an<br />

anderer Stelle, etwa bei der Sozialhilfe, Kosten verursacht wer<strong>den</strong> – und zumeist<br />

größere, als durch Kürzungen oder fehlende Investitionen eingespart wer<strong>den</strong> können.

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