Ein neues Leitbild für den Sozialstaat - Sozialpolitik aktuell
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Der Mehrheit der Bevölkerung, nämlich <strong>den</strong> Arbeitnehmern und deren Familien, wird<br />
darüber hinaus die lebensstandarderhaltende Absicherung bestimmter gemeinsamer<br />
Lebensrisiken zugesichert, so dass sie in Fällen von Verunfallung, Krankheit,<br />
Arbeitslosigkeit, Alter und Pflegebedürftigkeit jene Lebensweisen und -formen<br />
beibehalten können sollen, die sie sich zuvor eigentätig, nämlich durch Erwerbsarbeit,<br />
ermöglicht haben. An diesen Ansprüchen gemessen fallen jedoch bei <strong>den</strong> bestehen<strong>den</strong><br />
Sicherungs- und Fürsorgesystemen eklatante Leistungsdefizite auf.<br />
Bis zum Ende der 1990er Jahre – selbst noch als längst schon verlässliche<br />
Armutsstudien vorlagen –, haben die in der Bundesrepublik politisch Verantwortlichen<br />
unterstellt, die etablierten Sicherungs- und Fürsorgesysteme seien „armutsfest“ und<br />
sorgten zuverlässig dafür, dass in der Bundesrepublik niemand unter <strong>den</strong> Bedingungen<br />
von materieller Not leben muss. Erst nach dem Wechsel zur rot-grünen<br />
Bundesregierung wurde in einem ersten amtlichen Armuts- und Reichtumsbericht<br />
„Lebenslagen in Deutschland“ festgehalten, dass das Ausmaß relativer<br />
<strong>Ein</strong>kommensarmut seit Beginn der 1980er Jahre stetig zugenommen hat und – je nach<br />
Messung und Berechnung – zwischen 5 und 20 Prozent der gesamten Bevölkerung<br />
betrifft. Zudem wurde in diesem Bericht festgestellt, dass die Mobilität aus Armutslagen<br />
heraus kontinuierlich gesunken ist, die Armut sich folglich bei <strong>den</strong> Betroffenen immer<br />
stärker festsetzt. Die betroffenen Personen und Haushalte bleiben also immer häufiger<br />
immer länger in Armut, wodurch sich aber die Folgen ihrer Notlage verschärfen und die<br />
Gefahr ihrer dauerhaften gesellschaftlichen Ausgrenzung zunimmt. Fragt man nach <strong>den</strong><br />
Grün<strong>den</strong> dieser Entwicklung, so gerät unweigerlich die Krise der Erwerbsarbeit, damit<br />
verbun<strong>den</strong> aber auch der bestehende <strong>Sozialstaat</strong> selbst in <strong>den</strong> Blickpunkt.<br />
Die Krise der Erwerbsarbeit ist insbesondere eine Krise der Normalarbeit, wie sie sich<br />
unter tätiger Mithilfe sozialstaatlicher Institutionen und Interventionen im „gol<strong>den</strong>en<br />
Zeitalter“ der Nachkriegsprosperität etablieren konnte. Die „Normalisierung“ der<br />
Lohnarbeit, sprich die Durchsetzung abhängiger Beschäftigung für <strong>den</strong> männlichen Teil<br />
der Bevölkerung als rechtlich-soziale Norm und empirische Normalität, war die<br />
sozialpolitische Quintessenz des Siegeszugs des „fordistischen“ Produktionsregimes in<br />
der Bundesrepublik. Diese entwickelte sich mit der Zeit zu einer ausgeprägten<br />
Arbeitnehmergesellschaft, in welcher der Lohnabhängigenstatus in bemerkenswerter<br />
Weise materiell aufgewertet und sozialpolitisch gestützt wurde. Das<br />
„Normalarbeitsverhältnis“ mit seinen Sicherheits- und Kontinuitätsverbürgungen<br />
einerseits und die Hausfrauenehe („male breadwinner model“) als die jener<br />
Vergesellschaftungsform von Arbeit entsprechende Lebensform andererseits wur<strong>den</strong> zu<br />
<strong>den</strong> tragen<strong>den</strong> Säulen eines gesellschaftlichen Arrangements, dessen Basis der –<br />
modernisierte und erweiterte – „Bismarcksche“ <strong>Sozialstaat</strong> bildete. Als<br />
„Arbeitnehmersozialstaat“ konstruiert und auf die Erwerbsarbeit hin zentriert, „rechnen“<br />
dessen – in ihrem Leistungsniveau vergleichsweise komfortablen – sozialen<br />
Sicherungssysteme mit dauerhafter Beschäftigung und setzen an entsprechen<strong>den</strong><br />
Normalitätsannahmen orientierte Zugangsvoraussetzungen, ohne dass sie allerdings<br />
selbst dauerhafte Beschäftigung als Normalität für alle durchsetzen könnten.