Ein neues Leitbild für den Sozialstaat - Sozialpolitik aktuell
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<strong>Ein</strong> kinder- und frauenfreundlicher <strong>Sozialstaat</strong> – wer könnte das nicht wollen? Doch<br />
auch hier gilt es wiederum, genauer hinzusehen. Womöglich geht es <strong>den</strong> Apologeten<br />
der „Nachhaltigkeit“ der sozialen Sicherungs- und Fürsorgesysteme nämlich nicht zuletzt<br />
darum, durch die Konstruktion eines sozialausbeuterischen Gegenwarts-„Wir“ die<br />
zentrale Frage der gesellschaftlichen Verteilung des in der laufen<strong>den</strong> Periode<br />
erwirtschafteten Sozialprodukts auszublen<strong>den</strong> und diese stattdessen in einen<br />
vermeintlichen intertemporalen Verteilungskonflikt umzudeuten. Und hellhörig sollte man<br />
auch wer<strong>den</strong>, wenn der deutsche <strong>Sozialstaat</strong> nun plötzlich (und buchstäblich) von<br />
jedermann als geschlechterpolitisch konservativ gegeißelt wird. Auch wenn er dies<br />
durchaus ist: Der ungeheure sozialpolitische Konformitätsdruck, der auf eigentümliche<br />
Weise mit dem unaufhaltsamen Aufstieg des Wohlfahrtsstaatsforschers Gøsta Esping-<br />
Andersen zum neuen Beraterstar der europäischen und mittlerweile auch deutschen<br />
Sozialdemokratie verbun<strong>den</strong> ist und zur nachhaltig entproblematisierten Agenda einer<br />
Förderung von „dual breadwinner model“ und „Defamiliarisierung“ geführt hat, gibt<br />
gleichwohl zu <strong>den</strong>ken. Denn wer die damit heraufziehende, individualisierte<br />
Erwerbsgesellschaft nicht uneingeschränkt zu begrüßen bereit ist und darauf verweist,<br />
dass es der Politik des „neuen Wohlfahrtsstaats“ nicht wirklich um Frauen und Kinder an<br />
sich, sondern recht eigentlich um <strong>den</strong> wirtschaftlichen Wert erwerbstätiger Mütter und<br />
zukünftiger Steuer- oder Beitragszahler geht, gilt als „Modernisierungsfeind“. Und in<br />
derselben Weise stellt sich außerhalb des verordneten gesellschaftlichen Konsenses,<br />
wer die gleichfalls zum Allgemeingut der öffentlichen und wissenschaftlichen Debatte<br />
gewor<strong>den</strong>e Behauptung anzuzweifeln wagt, die frauen- und kinderpolitischen<br />
Modernisierungsdefizite des deutschen <strong>Sozialstaat</strong>s seien Ausdruck seiner strukturellen<br />
Reformunfähigkeit, eines über Jahrzehnte hinweg immobilen, gleichsam „eingefrorenen“<br />
institutionellen Arrangements. <strong>Ein</strong>e Behauptung, die der tatsächlichen<br />
institutionenpolitischen Flexibilität und Dynamik des deutschen <strong>Sozialstaat</strong>smodells in<br />
keiner Weise gerecht wird.<br />
Nicht minder populär unter radikalen <strong>Sozialstaat</strong>skritikern ist auch – viertens – das<br />
liberale Selbstbestimmungsargument. Der hypertrophe „Versorgungsstaat“, so heißt es,<br />
untergrabe systematisch die individuelle Freiheit und wirtschaftliche Eigenverantwortung<br />
seiner Bürgerinnen und Bürger. Nicht zufällig seien die bestehen<strong>den</strong> Fürsorge- und<br />
Sicherungssysteme in Zeiten geringen gesellschaftlichen und individuellen Wohlstands<br />
geschaffen wor<strong>den</strong> – also in einer historischen Situation, in der sich die allermeisten<br />
Menschen nicht privat gegen die Wechselfälle und Schicksalsschläge ihres Lebens zu<br />
schützen vermochten. Um <strong>den</strong>noch die gesellschaftsweite Vorsorge gegen die allfälligen<br />
Risiken der Lohnarbeiterexistenz zu gewährleisten, habe in diesen Zeiten notgedrungen<br />
der <strong>Sozialstaat</strong> „einspringen“, die Freiheit seiner Bürgerinnen und Bürger einschränken<br />
und (zumindest ten<strong>den</strong>ziell) die gesamte Bevölkerung in öffentliche soziale<br />
Sicherungssysteme zwingen müssen. Diese „harten Zeiten“ seien jedoch offensichtlich<br />
seit langem vorbei – ohne dass ein zunehmend an der Sicherung seiner eigenen<br />
Existenz interessierter, „automobiler Wohlfahrtsstaat“ seither die Risikovorsorge wieder<br />
stärker in die Hände und das Gutdünken der einzelnen zurückverlegt hätte.