Ein neues Leitbild für den Sozialstaat - Sozialpolitik aktuell
Ein neues Leitbild für den Sozialstaat - Sozialpolitik aktuell
Ein neues Leitbild für den Sozialstaat - Sozialpolitik aktuell
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
11<br />
Dies impliziert zugleich, dass auch die sozialpolitischen Handlungsmuster, mit <strong>den</strong>en auf<br />
die vermeintlich eindeutigen Sachverhalte reagiert wird, keineswegs alternativlos sind.<br />
Es ist – und bleibt – eben eine gesellschaftlich auszuhandelnde Frage, „wie viel“<br />
<strong>Sozialstaat</strong> man sich leisten möchte, bzw. eine politische Entscheidung, welches Maß<br />
an individueller und kollektiver sozialer Sicherheit ein <strong>Sozialstaat</strong> seinen Bürgerinnen<br />
und Bürgern gewährleisten will. Im deutschen Fall ist eben diese politische<br />
Entscheidung bis auf Weiteres gefallen: Das Prinzip der „Beitragssatzstabilität“ ist zum<br />
unerschütterlichen Dogma erhoben wor<strong>den</strong>. Willkürlich festgelegte Beitragshöhen<br />
wer<strong>den</strong> zu quasi-natürlichen „oberen Belastungsgrenzen“ erklärt, in deren Rahmen eine<br />
konsequent „einnahmenorientierte Ausgabenpolitik“ betrieben wird. Die tatsächlichen<br />
Bedarfe der jeweiligen Adressatengruppen – der Alten, Kranken, Pflegebedürftigen –<br />
spielen dabei nur noch eine untergeordnete Rolle. Zudem sucht man die<br />
Sozialversicherungen dadurch von Kosten zu entlasten, dass man sie stärker als bislang<br />
als reine Risikoversicherungen anlegt und von Umverteilungselementen befreit –<br />
Umverteilungselemente, die gerne <strong>den</strong> „versicherungsfrem<strong>den</strong> Leistungen“ zugeordnet<br />
wer<strong>den</strong>, die jedoch zum I<strong>den</strong>titätskern einer Sozialversicherung gehören.<br />
Mit dem Kostenargument auf das engste verknüpft ist das zweite Kernstück <strong>aktuell</strong>er<br />
<strong>Sozialstaat</strong>skritik: das Beschäftigungsargument. Als „zu teuer“ gilt der bundesdeutsche<br />
<strong>Sozialstaat</strong> seinen Kritikern vor allem deswegen, weil er über die paritätisch<br />
aufzubringen<strong>den</strong> Sozialversicherungsbeiträge – die berüchtigten „Lohnnebenkosten“ –<br />
die Lohnarbeit verteuert. Gerade in Zeiten verschärften internationalen Wettbewerbs<br />
müsse es darum gehen, Lohn- und Lohnzusatzkosten zu senken. Die<br />
Beitragsfinanzierung des deutschen Sozialversicherungsstaates hingegen bürde <strong>den</strong><br />
Arbeitgebern einen kontinuierlich steigen<strong>den</strong> „Soziallohn“ auf, der sich mittlerweile zum<br />
effektiven Beschäftigungshemmnis entwickelt habe. Insbesondere im Segment<br />
niedrigqualifizierter und damit niedrigproduktiver Beschäftigung, sprich im Bereich<br />
einfacher Dienstleistungstätigkeiten, sei der hiesige <strong>Sozialstaat</strong> nachgerade ein<br />
„Jobkiller“, indem er für die potentielle Nachfrage nach derartigen Tätigkeiten keinen<br />
Markt entstehen lasse. Auf eben diesen Sektor bezieht sich auch die weitergehende, an<br />
der Arbeitsangebotsseite ansetzende Kritik, wonach die generösen Versicherungs- und<br />
Fürsorgeleistungen im Falle von Arbeitslosigkeit einen überhöhten „Anspruchslohn“<br />
generieren und folglich negative Anreize zur Aufnahme bzw. Wiederaufnahme einer (im<br />
Zweifelsfall auch niedrig entlohnten) Beschäftigung setzen.<br />
Auch hier erscheinen einige antikritische Bemerkungen am Platze. Zwar mag es, im<br />
Sinne der Kostenentlastung des Produktionsfaktors Arbeit, durchaus gute Argumente für<br />
eine zumindest teilweise Umstellung der sozialen Sicherungssysteme vom bislang<br />
vorherrschen<strong>den</strong> Modus der Beitrags- auf jenen der Steuerfinanzierung geben. Die<br />
gängige – und zumeist unausgesprochene – Verknüpfung der Finanzierungsproblematik<br />
mit Fragen des sozialen Sicherungsniveaus aber ist keineswegs zwangsläufig geboten,<br />
sondern (wie bereits angemerkt) politischer Natur.