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Der neue Merker

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Europa<br />

chester von 100 Musikern vorschrieb, mit schwer transportierbaren „echten<br />

Kirchenglocken“, 101 Choristen und drei „großen Sängern“. Doch<br />

die drei Sänger singen alle zusammen gerade mal eine ¼ Stunde, ganz am<br />

Anfang und ganz am Ende. Die eigentliche Liebesgeschichte, auch das<br />

berühmte Liebesduo auf dem Balkon, wird 1½ Stunden lang ausschließlich<br />

durch das Orchester erzählt, man könnte schon sagen „gesungen“.<br />

So kannten wir Roméo et Juliette nur als Orchester-Konzert ohne Sänger.<br />

Das Stück beginnt mit einem „Prolog“ eines Mezzosoprans, der uns die<br />

Vorgeschichte erzählt, und endet mit einem „Finale“, in dem ein Bass-Bariton<br />

berichtet, was danach noch alles passiert ist. Diese Rollen wurden<br />

schlicht atemberaubend gut gesungen durch Olga Borodina und Evgeny<br />

Nikitin. Jetzt verstand man erst, warum die Uraufführung im kleinen Saal<br />

des Pariser Conservatoire einen so großen Eindruck auf Richard Wagner<br />

gemacht hat: das sind zwei „unendliche Melodien“. Wagner schrieb<br />

in sein Tagebuch: „das ist die Melodie des neunzehnten Jahrhunderts“ und<br />

27 Jahre später schickte er Berlioz eine der ersten Exemplare der Tristan-<br />

Partitur mit der Widmung: „der dankbare Autor von Tristan und Isolde,<br />

dem großen Autor von Roméo et Juliette“. Waldemar Kamer<br />

„Elektra“ – Opéra National de Paris – 24.11. – Ein expressiver<br />

„Stummfilm mit Orchester“<br />

(wie in Carsens Jenůfa). Alle Kostüme von Vazul Matusz sind schwarz,<br />

eine Art Einheitstunika. Alle sind barfuss. Nur Orest – er kommt von<br />

außen – trägt Schuhe und nur Ägist und Klytämnestra sind in Weiß. Sie<br />

wird im schillernden Abendkleid auf einem weißen Bett getragen, im gleichen<br />

Kreis wie kurz davor die nackte Leiche des Agamemnon. Wie für<br />

den Sacre du Printemps von Pina Bausch, wird die archaische Geschichte<br />

mit Kreisen erzählt, in der sehr gut ausgearbeiteten Choreographie von<br />

Philippe Giraudeau – vielleicht das Hervorragendste dieser Inszenierung.<br />

Und wie alle großen Regisseure braucht Robert Carsen weder modernste<br />

Technik noch tausend kleine Firlefanzen: außer dem Beil gibt es<br />

keine einzige Requisite.<br />

Philippe Jordan steigt mit dem Orchestre de l’Opéra National de Paris<br />

voll in dieses raue Konzept ein und spielt eine packende „Elektra“, die einem<br />

wirklich unter die Haut geht. So hat Strauss die Oper auch orchestriert:<br />

das Kraftzentrum kommt aus dem Graben. Doch bei zu viel Kraft<br />

hört man die Sänger nicht mehr und mutiert die Oper zu einem „Stummfilm<br />

mit Orchesterbegleitung“ – wie vor drei Jahren bei den Salzburger Festspielen.<br />

Wie damals mit Daniele Gatti & den Wiener Philharmonikern,<br />

konnte ich diesmal die Sänger einfach nicht hören. Und wenn man sogar<br />

Waltraud Meier auf der ersten Reihe des ersten Balkons – eigentlich der<br />

sängerfreundlichste Platz in der Opéra Bastille – nicht hören kann, dann<br />

liegt es nicht an ihr, sondern an der Akustik, an der Balance mit dem riesigen<br />

Orchester. Es ist in diesem Kontext müßig, darüber zu spekulieren,<br />

warum Irène Theorin an diesem Abend nicht die Elektra sang – die Oper<br />

verweigerte jeglichen Kommentar zu den verschiedensten Gerüchten, die<br />

schon im Vorfeld kursierten. Auch zu ihrer Einspringerin Caroline Whisnant<br />

können wir nur sagen, dass sie ihre Rolle offensichtlich beherrschte.<br />

Aber auch wenn sie mit einer so erfahrenen Sängerin wie Ricarda Merbeth<br />

(Chrysothemis) vor dem Portal stand, kamen ihre Stimmen nicht<br />

über den Graben. <strong>Der</strong> Einzige, dem das gelang, war Evgeny Nikitin als<br />

Orest, der den Rächer auch fulminant gespielt hat und den größten Applaus<br />

bekam. So wurde auch dieser „Stummfilm mit Orchester“ ein wirklich<br />

packender Abend. <br />

Waldemar Kamer<br />

Nizza: „DER FREISCHÜTZ“ – Opéra de Nice – Pr.<br />

17.11. – Auf der Höllentreppe…<br />

Waltraud Meyer als Klytemnästra (beide © Charles Duprat)<br />

Manchmal sitzt man im Saal, sieht auf die Bühne, aber sieht in Gedanken<br />

einen anderen Ort – und hat den Eindruck, dass auch die Sänger in Gedanken<br />

dort sind. Elf Tage nach dem Begräbnis von Patrice Chéreau, an<br />

dem sie zwei Wesendonck-Lieder gesungen hat, war Waltraud Meier wieder<br />

Klytemnästra – nun aber ohne ihren „Lieblingsregisseur“. Die Elektra<br />

von Chéreau wurde diesen Sommer in Aix-en-Provence durch Kritik<br />

und Publikum einstimmig als ein „ganz großer Wurf“ bejubelt und ausführlich<br />

durch Klaus Billand besprochen („Grandiose Chéreau-Inszenierung“<br />

im <strong>Merker</strong> 8+9/2013). Es war also nicht leicht, sich auf eine <strong>neue</strong><br />

Interpretation des Stückes einzulassen.<br />

Doch die Inszenierung von Robert Carsen ist so radikal anders und so gelungen,<br />

dass sie einen wirklich zu fesseln wusste. Gegensätzlicher könnte<br />

man kaum an das Stück herangehen. Chéreau in feinster Psychologie:<br />

jede Figur kommt zu ihrem Recht, niemand ist nur „gut“ oder, vor allem<br />

„nur böse“. Bei Carsen dagegen radikales Schwarz/Weiß, kaum individuelle<br />

Psychologie, sondern ein archaisches Todes-Ritual, dem sich niemand<br />

entziehen kann.<br />

<strong>Der</strong> dunkle Burghof von Michael Levine ist umgeben von fensterlosen<br />

Steinmauern, ohne Tür und ohne Hoffnung, in dem alle Protagonisten<br />

eingesperrt sind. Nur braune, schwere Erde, unter der eine Leiche liegt<br />

Auf dem geschlossenen Vorhang ist eine Inschrift zu lesen – zwei Zeilen<br />

aus dem Text des Eremiten, auf Französisch. Im Deutschen heißt der Text<br />

„Ist’s recht, auf einer Kugel Lauf/zwei edler Herzen Glück zu setzen?“ den<br />

unteren Rand der Bühne ziert eine Art Stillleben von Kanonen, Kriegsgerät<br />

und Gerippen. Wenn sich der Vorhang hebt, sieht man eine riesige<br />

Treppe, die sich über die ganze Bühnenbreite erstreckt (Inszenierung<br />

und Beleuchtung: Guy Montavon, Bühnenbild: Peter Sykora). Liebe<br />

und Tod also als Hauptmotiv, auf der Treppe des Lebens bewegen sich<br />

die Menschen ihrem Schicksal gemäß auf und ab. Manche bewegen sich<br />

nur im oberen Drittel oder steigen zu lichten Höhen empor, andere steigen<br />

immer tiefer hinab bis zum „Höllenschlund“, der „Wolfsschlucht“,<br />

dem Reich des Bösen.<br />

Die Oper spielt nach dem Ende des 30-jährigen Krieges. Man glaubt an<br />

den Teufel, an Geister, Gespenster, an Hexerei, der Tod ist immer nahe<br />

– und die Angst. Die Romantik hat all dies zu ihrem Thema gemacht, in<br />

Deutschland, in England, in ganz Europa. Als Carl Maria von Weber zusammen<br />

mit seinem Textbuchautor Johann Friedrich Kind nach einem<br />

Sujet für eine <strong>neue</strong> Oper suchte, fanden sie 1810 die kürzlich erschiene<br />

Sammlung von Spukgeschichten unter dem Titel „Gespensterbuch“ von<br />

August Apel und Friedrich Schulze, deren erste Geschichte „<strong>Der</strong> Freischütz“<br />

ihnen als Opernstoff geeignet schien. In enger Zusammenarbeit<br />

mit Weber schrieb Kind das Libretto. Am 18.6.1821 wurde der „Freischütz“<br />

im Königlichen Schauspielhaus in Berlin mit großem Erfolg uraufgeführt<br />

und gilt seither als d i e deutsche romantische Oper schlechthin.<br />

Was wir aber sahen und hörten, war – französisch, obwohl in der heutigen<br />

Zeit jede Opernproduktion in Originalsprache dem Publikum dargeboten<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 79

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