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Der neue Merker

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Europa<br />

Paris:<br />

„Written on Skin“ von George Benjamin<br />

– Opéra Comique – 16.11. –<br />

Triumphzug einer <strong>neue</strong>n Oper<br />

Solch einen Erfolg haben wir noch nie für eine gegenwärtige Oper erlebt.<br />

Bei der Uraufführung von Written on Skin am 7. Juli 2012 in Aix-en-Provence<br />

schrieb die sonst für ihre kritische Berichterstattung bekannte Zeitung<br />

Le Monde eine Rezension mit dem Titel: „Die beste Oper seit zwanzig<br />

Jahren?“. <strong>Der</strong> Titel war natürlich eine Untertreibung, denn der Rezensent<br />

stellte die Frage, ob es nicht die beste Oper seit 90 Jahren sei, genau, seit<br />

Alban Bergs Wozzeck 1922. Die Uraufführung in Aix war eine Sensation,<br />

die „durch die Welt ging“ und die Produktion wurde in kürzester Zeit in<br />

Europa und Amerika nachgespielt und mit Preisen überhäuft („Prix de la<br />

critique musicale“ in Frankreich, „Uraufführung des Jahres“ für Opernwelt<br />

etc). Über London und Amsterdam gelangte sie im Juni zu den Festwochen<br />

in Wien, wo die Doyenne der <strong>Merker</strong>-Rezensenten, Frau Inge M.<br />

Scherer (I.M.S.), eine ausführliche Kritik schrieb (siehe <strong>Merker</strong> 7/2013).<br />

So brauche ich das Werk und den Komponisten nicht mehr vorzustellen.<br />

Die Produktion reiste weiter über München nach Paris, wo alles angefangen<br />

hat. Denn für die Pariser Oper schrieb George Benjamin 2006 sein<br />

erstes Werk, Into the Little Hill, ein halbstündiges Monodram zu dem Rattenfänger<br />

von Hameln (das 2008 in Wien gastierte). Auch in Paris erlebte<br />

Written on Skin einen sensationellen Erfolg. Schon Wochen im Voraus waren<br />

alle Plätze in der Opéra Comique ausverkauft – dabei liest man doch<br />

überall, dass es für zeitgenössische Musik kaum Publikum gäbe. Und an<br />

der Première waren schon alle (nicht gerade billigen) Programmhefte für<br />

alle Vorstellungen ausverkauft, da jeder das besondere Libretto von Martin<br />

Crimp noch einmal in Ruhe lesen wollte.<br />

Die Produktion hat seit der Uraufführung nichts an Intensität eingebüßt.<br />

Im Gegensatz zu Wien dirigierte der Komponist wieder selber und verstand<br />

es, den 61 Musikern des Orchestre Philharmonique de Radio France ein<br />

Gespür für seinen ganz eigenen Ton zu geben. <strong>Der</strong> klingt manchmal ganz<br />

unwirklich – wenn zum Beispiel Glasharmonika und Mandoline zusammenspielen<br />

–, ist aber nie artifiziell (keine Elektronik, keine Verstärkung).<br />

So kommt auch die wunderbare Inszenierung von Katie Mitchell in der<br />

Ausstattung von Vicki Mortimer ohne elektronische Effekte aus (es geht<br />

also auch ohne Video), von ihrer Stilsicherheit ganz zu schweigen. Denn<br />

Katie Mitchell erzählt uns eine Geschichte, in der Gewalt und Sexualität<br />

eine große Rolle spielen, ohne dabei ihre Darsteller auf der Bühne auszuziehen<br />

oder mit Blutkonserven werfen zu lassen. Das wäre alles in dieser<br />

Feinheit nicht möglich gewesen ohne die wirklich herausragenden Qualitäten<br />

der kanadischen Sopranistin Barbara Hannigan, einer „Sängerin<br />

aus einem anderen Planeten“ (so Le Figaro), die wegen ihrer Leistung in<br />

dieser Rolle durch die 50 Kritiker von Opernwelt zur „Sängerin des Jahres“<br />

gewählt wurde. An der Opéra Comique sang auch wieder Christopher<br />

Purves die männliche Hauptrolle des gewalttätigen Gatten, der seine Frau<br />

in die Arme des jungen Künstlers treibt, der in Aix-en-Provence durch<br />

Bejun Mehta gesungen wurde. Metha war leider für die vielen folgenden<br />

Gastspiele nicht verfügbar und wurde in Wien und Paris durch Iestyn<br />

Davies ersetzt, der sicher schön gesungen hat, aber nicht über die<br />

gleiche Ausstrahlung verfügt. Denn Metha sieht Purves auch noch verblüffend<br />

ähnlich, was eine Vater-Sohn-Dimension in die Konstellation<br />

von Mann-Frau-Liebhaber brachte. Bei Davies konnte man nicht so gut<br />

nachvollziehen, warum dieser blasse Mann solche Gefühle bei den anderen<br />

auslöst. Aber das ist Klagen auf hohem Niveau und wäre auch wirklich<br />

der einzige Abstrich, den man eventuell machen könnte.<br />

Wir wünschen, dass dieser Erfolg anderen Intendanten den Mut geben<br />

wird, um <strong>neue</strong> Opern in Auftrag zu geben, und freuen uns schon auf das<br />

nächste Werk des Duos Benjamin/Crimp, das man in zwei/drei Jahren erwarten<br />

kann. George Benjamin ist jetzt 53 Jahre alt. Das ist jung für einen<br />

Opernkomponisten, denn Jean-Philippe Rameau war 50, als er seine<br />

erste Oper schrieb – und wurde danach einer der größten Opernkomponisten<br />

Frankreichs. <br />

Waldemar Kamer<br />

„Roméo et Juliette“ (Berlioz) – Salle Pleyel –<br />

17. 1I. --<br />

Wiederentdeckung einer sehr selten gespielten „Oper“<br />

Moderner Opern-Triumph<br />

(Barbara Hennigan als Ehefrau, Jestyn Davis als Künstler)<br />

Die ursprünglich durch den österreichischen Komponisten und Klavierbauer<br />

Ignaz Josef Pleyel erbaute Salle Pleyel kann sich seit 1827 rühmen,<br />

der größte Konzertsaal von Paris zu sein. Denn in dem heutigen Saal<br />

konnten 1927 3.000 Zuschauer sitzen – heute „nur“ noch genau 1983.<br />

Jede Woche gibt es dort spannende Konzerte, aber nicht unbedingt für<br />

die <strong>Merker</strong>, denn in der Salle Pleyel wird zurzeit wenig Oper gespielt. Das<br />

war anders, als noch Daniel Barenboim das Orchestre de Paris leitete, das<br />

hier seinen Stammsitz hat, und wird sicher auch in Zukunft wieder anders<br />

werden. Denn zurzeit gehört die Salle Pleyel zu der Cité de la Musique<br />

– in Erwartung der sich noch immer im Bau befindenden Philharmonie<br />

de Paris. So werden die „großen symphonischen Konzerte“, für die die<br />

beiden Säle der Cité zu klein sind, in der Salle Pleyel gegeben. Vieles ist<br />

„Mainstream“, wie die Tourneen der internationalen Orchester, die überall<br />

das gleiche Programm spielen. Manches ist sehr besonders. So arbeitet<br />

Valery Gergiev mit seinen zwei Orchestern, dem London Symphony<br />

Orchestra und dem Orchester des Mariinsky, an einem Berlioz- und einen<br />

Schostakowitsch-Zyklus und scheut dabei keine seltenen, schwierigen<br />

oder völlig unbekannten Werke. Drei Wochen, nachdem Gergiev Les<br />

Troyens in Wien mit dem Mariinsky gegeben hat (siehe <strong>Merker</strong> 1I/2013),<br />

dirigierte er andere Werke von Berlioz in Paris, aber jetzt mit dem London<br />

Symphony Orchestra. Gergiev gab sich diesmal große Mühe, denn<br />

sein letzter Berlioz-Abend in Paris, im Mai, ist in übler Erinnerung geblieben<br />

(siehe <strong>Merker</strong> 6/2013). Seine Symphonie fantastique war dagegen so<br />

gut, dass sogar die vornehmen Herren der Berlioz-Gesellschaft meinten,<br />

sie hätten die Marche au supplice (den berühmten vorletzten Satz) noch<br />

nie so gehört. Die Musik flimmerte und schimmerte, als ob Elfen tanzen<br />

würden. Nichts war schwer und plötzlich machte die sehr eigenwillige Gestik<br />

Gergievs, ein undefinierbares Zittern mit einem Zahnstocher, wirklich<br />

Sinn. Die einzige „Oper“ im Programm, Roméo et Juliette, ist eigentlich<br />

keine Oper. Berlioz schrieb dazu: „auch wenn die Stimmen eine große<br />

Rolle haben, ist es weder eine Konzert-Oper, noch eine Kantate, sondern eine<br />

‚Symphonie mit Chören’“. Er schrieb schließlich 1847 „symphonie dramatique“<br />

auf die Partitur und gab verschiedene Strichmöglichkeiten an, womit<br />

man das Werk auch ohne Sänger spielen kann. Die ursprüngliche Fassung<br />

der Uraufführung am 24. November 1839, das Opus 17, wird nur<br />

sehr selten gespielt, weil Berlioz in seinem jugendlichen Übermut ein Or-<br />

78 | DER NEUE MERKER 12/2013

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