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Europa<br />

„ANSCHLAG“ von Wertmüller/Bärfuss (Musiktheater) –<br />

10.11.<br />

Die Koproduktion des Lucerne Festival mit dem Theater Basel im Rahmen<br />

der Journées Contemporaines war eine Auftragsarbeit für das Lucerne<br />

Festival. Es gilt deutlich die Devise „prima le parole“, und Lukas<br />

Bärfuss ließ sich für sein Libretto – ein Zyklus von 12 Liedern – von Jean-<br />

Jacques Rousseau inspirieren. Allerdings nicht von dessen philosophischen<br />

Höhenflügen, sondern den minutiösen Klagen über seine Harnleiterverengung.<br />

Thema ist die eigene Hinfälligkeit als Spiegel des Verfalls<br />

der Gesellschaft, der Vergleich von Krankheitssymptomen und Gesellschaftsproblemen<br />

– ob die faule Stelle nun aus dem Körper oder der Gesellschaft<br />

geschnitten werden muss, ist da irrelevant. Ziel ist immer der<br />

Kampf gegen den Verfall, den Tod, schlussendlich: die Zeit. Denn die<br />

Zeit ist ja schließlich ein „Anschlag auf das Leben“.<br />

Dabei ist eine klare Spiegelachse in der Mitte der 6 Lieder zu erkennen:<br />

Während Linda Lovelace sich in „It really took time“ über die beste Atemtechnik<br />

bei einer Fellatio auslässt, wird in „Für immer erlöst“ die richtige<br />

Atmung nach der hinduistischen Baghavad Gitā erklärt. Die grausame<br />

Ermordung und Enthauptung der Marie-Louise von Savoyen-Carignan<br />

alias Prinzessin von Lamballe am Septembermassaker im Verlauf der französischen<br />

Revolution findet ihre logische Entsprechung in der grausamen<br />

„Sektio“ an lebendigen Tieren. Die kleine Erzählung „L‘écoulement“ über<br />

die Heilung einer eiternden Wunde nach dem Revolutionär und Arzt Jean<br />

Paul Marat wird einer Äußerung vom Anhänger von Robespierre, Louis<br />

Antoine de Saint-Just, gegenübergestellt, der in „Sans doute“ beweist, dass<br />

es noch nicht an der Zeit ist, etwas bestimmtes Gutes zu tun, da es dafür<br />

erst eines großen allgemeinen Übels (bei Saint-Just eben der Wunde)<br />

bedürfe. Bärfuss schöpft seine Texte aus dem Umkreis der französischen<br />

Revolution, stellt den Körper der Gesellschaft gegenüber, vergleicht den<br />

sittlichen Verfall mit dem körperlichen. Die Texte berühren, manche sind<br />

schreiend komisch („It really took time“), manche schockieren („Sektio“).<br />

Dem Komponisten Michael Wertmüller bleibt da bei jedem Satz die<br />

Entscheidungsfreiheit, diesen zu untermauern oder den Text durch die<br />

Musik zu torpedieren, kaputtzumachen, abzuklemmen. Ein Anschlag ist<br />

für den Komponisten naturgemäß nicht in erster Linie ein Angriff auf<br />

die Zeit, sondern der Berührungsmoment zwischen Musiker und Instrument.<br />

Doch mit diesem Anschlag produziert ein Musiker Musik und damit<br />

Neues, Innovation oder Neuinterpretation, und reiht sich damit wieder<br />

in den Kampf gegen die Zeit und den Verfall ein. Im Gegensatz zum<br />

Libretto ist bei Wertmüller eine klare Steigerung gegen Schluss festzustellen.<br />

Singen die 3 Soprane (Anne-May Krüger, Clara Meloni und Ruth<br />

Rosenfeld) die „Ballade vom Tod der Fürstin von Lamballe“ noch opernhaft<br />

(wenn auch etwas kreischend), wird der staccato-artige Sprechgesang<br />

in der „Sektio“ (Sprecher: Karl-Heinz Brandt) mehr zum Instrument als<br />

zur Lesung, in der „Vollendung“ und im „Big Chill“ ist der Text dann<br />

ganz nebensächlich. Funk-Jazz ist die Devise, ein klassisches Streichquartett<br />

liegt im Wettstreit mit dem „Hammond-Avantcore-Trio“ von Steamboat<br />

Switzerland. Dass Wertmüller auch Schlagzeuger ist, wird schon zu<br />

Beginn durch die militärischen Trommelwirbel klar und bleibt auch der<br />

musikalische rote Faden.<br />

Das Projekt kann man als einigermaßen geglückt klassifizieren, die Texte<br />

sind spannend, die Verschmelzung zwischen Musik und Text interessant,<br />

die Gegenüberstellung zwischen alter und <strong>neue</strong>r Musik innovativ. Ärgerlich<br />

ist da lediglich, dass man die Hälfte der Texte akustisch schlicht<br />

nicht versteht (vor allem wenn die drei Soprane gleichzeitig singen). Einige<br />

Texte sollte man außerdem deutlich kürzen (der Text der „Lamballe-<br />

Ballade“ ist doch stark redundant).<br />

Es ist aber bezeichnend, dass das Publikum erleichtert aufatmet, wenn das<br />

altmodische Streichquartett ein ruhiges, einigermaßen melodisches Intermezzo<br />

hinlegt. Mit schrillen Sopranstimmen unterlegte funkige Rhythmen<br />

sind eben nicht jedermanns Sache. Bongotrommeln, Splitterkanonen,<br />

Opernarien, Jazz, Funk: Dirigent Titus Engel behält bei dieser<br />

fulminanten Mischung aller Stilrichtungen und Instrumenten-Äras souverän<br />

die Übersicht. Die Inszenierung (Marie-Thérèse Jossen, Georges<br />

Delnon) ist zurückhaltend, aber leider auch nicht viel spannender als<br />

eine Orchesterfassung.<br />

Fazit: Wer es schafft, sich vorher die Texte zu verschaffen, erlebt einen interessanten<br />

Abend. <br />

Alice Matheson<br />

Biel: „Das Rheingold“ (halbszenisch) –<br />

Kongresshaus 23.11.<br />

Ein modernes Opernprojekt (© Priska Kelterer)<br />

Seit Dieter Kägi Intendant und Musikdirektor das „Theater Orchester<br />

Biel Solothurn“ (auch TOBS genannt) leitet, fanden immer wieder ereignisreiche<br />

Aufführungen statt, die weit über die Kantonsgrenzen hinaus<br />

für Aufsehen sorgten. Für dieses aufwändige Projekt gelang es der Spielleitung,<br />

international gefragte Sänger nach Biel zu holen, einige von Ihnen,<br />

deren Karriere einst hier am Opernstudio begonnen hatte; Jordanka<br />

Milkowa, Vitalij Kowaljow und Marion Ammann. Und noch etwas ist<br />

für die doch eher provinzielle Industriestadt ebenso erstaunlich wie bewundernswert;<br />

das TOBS wird sich dem Weltendrama um Macht, Verrat<br />

und Gier nun jährlich mit einer Produktion widmen.<br />

Es lohnte sich, das Musikdrama ohne Bühnenbild und Orchestergraben<br />

aufzuführen. Denn, was sonst im Graben sich versteckt, konnte frei und<br />

offen voll zur Geltung kommen. Das Orchester und die Darsteller standen<br />

im Mittelpunk. Es wurde ein Hörgenuss der besonderen Art auf allerhöchstem<br />

Niveau geboten. umrahmt mit einer Videoproduktion<br />

Die musikalische Leitung übernahm der Wiener Hans Urbanek. Dem<br />

Bieler Publikum war er bestens bekannt, da er von 2002 bis 2005 als<br />

künstlerischer Leiter und Chefdirigent für die Konzerte der Orchestergesellschaft<br />

Biel verantwortlich war. Und jetzt arbeitete er intensiv und erfolgreich<br />

mit dem Sinfonie Orchester Biel zusammen. <strong>Der</strong> volltönende<br />

Orchesterklang und die satte Farbigkeit sprachen für sich. Das Klangbild<br />

war pointiert, transparent und flüssig. Umso bewundernswerter für ein<br />

Orchester, das nicht oft mit den monumentalen epischen Werken von<br />

Wagner betraut wurde.<br />

Sehr überzeugend war die gesamte Besetzung. Groß und mächtig die<br />

Stimme von Jo Pohlheim, der als Alberich mit seinem Fluch viel in Bewegung<br />

setzte. Er imponiert vor allem mit der fabelhaften Diktion, dem<br />

intensiven, ausgelassenen Spiel und einer sonoren Stimme. In den Mittel-<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 75

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