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Deutschland<br />
agieren und hat ab und an paar Lacher auf seiner Seite. <strong>Der</strong> Osmin ist<br />
alles andere als ein Haremswächter. Er ist es, der die Treue der Frauen<br />
in Frage stellt und damit der Handlung Impulse gibt. Sebastian Campione<br />
agiert schlau und verschlagen. Sein Bass besitzt beachtliche Fülle,<br />
flackert jedoch hin und wieder und müsste in der Tiefe noch fundierter<br />
klingen. Paul Enke ist als Bassa Selim die eigentliche Schlüsselfigur in<br />
diesem Kammerspiel. Sein Aktionsradius geht in dieser Lesart weit über<br />
das Original hinaus. Seine Bühnenpräsenz gefällt. Nur dann, wenn er<br />
sich gedankenversunken, grüblerisch gibt, lässt seine Artikulation mitunter<br />
etwas zu wünschen übrig.<br />
Stefan Klingele und die Staatskapelle Weimar verwehren musikalisch<br />
dem Werk angesichts der Lesart alle naiv-heiteren Niedlichkeiten. Das<br />
vermisst man auch nicht. Für Beseeltheit und Melancholie ist dagegen<br />
auch wenig Platz. Stattdessen gehen die Musiker recht forsch zur Sache<br />
und schlagen hier und da recht robuste Töne an, ohne dabei rau oder<br />
gar oberflächlich zu musizieren. <strong>Der</strong> Opernchor Weimar war mehr<br />
darstellerisch als gesanglich gefordert. Immerhin agierte er souverän.<br />
Ein langer Opernabend, der mehr Fragen aufgab als er beantworten<br />
konnte! <br />
Christoph Suhre<br />
Leverkusen: „LA CLEMENZA DI TITO“ von<br />
Gluck – (konzertant) – Bayer Kulturhaus 3.11. – Verzeihen und<br />
Vergessen<br />
In der Bayer Kultur Reihe „Opern aus den Archiven der Welt“ hatte<br />
man sich dieses Jahr den aus der Oberpfalz stammenden Christoph<br />
Willibald Gluck vorgenommen.<br />
Seine noch ganz in der Tradition der Opera seria verhaftete Version des<br />
Titus, einem ausführlichen dreiaktigen Intrigendrama mit gütlichem<br />
Ausgang, steht in Kontrast zu dem berühmteren, vom großen Meister<br />
aus Salzburg 1791 veröffentlichten Spätwerk. Mozart komponierte seine<br />
Oper nur zweiaktig. Sie kommt auf eine Spieldauer von 2 ½ Stunden.<br />
Einen ähnlichen Vergleich ermöglichte Bayer Kultur vor zwei Jahren,<br />
als sie „La finta giardiniera“ von Pasquale Anfossi mit riesigem Erfolg<br />
aufführte (s. „<strong>Merker</strong>“ 12/11).<br />
Gluck, der zurzeit schon reichlich Konjunktur hat – europaweite Vorstellungen<br />
seiner Kompositionen künden davon – wird sicherlich im<br />
nächsten Jahr aus Anlass seines 300. Geburtstages noch häufiger in den<br />
Spielplänen aufscheinen.<br />
Am 4.11.1752 wurde die Oper mit der Schilderung des Verzeihens und<br />
Vergessens eines gnädigen Herrschers in Neapel aufgeführt. <strong>Der</strong> fleißigste<br />
Librettist aller Zeiten, Metastasio, lieferte die Vorlage. <strong>Der</strong> Venezianer<br />
Antonio Caldara war derjenige, der am 4.11.1736 im Wiener Hoftheater<br />
das Werk als erster vorstellte. Das Muster war so beliebt, dass die<br />
Musikwissenschaft über 45 Vertonungen nachgewiesen hat.<br />
Da man der Nachwelt eine CD-Aufnahme überlassen will – sie erscheint<br />
bei SONY –, hatte man sich entschlossen, aus Authentizitätsgründen<br />
den ganzen Gluck zu präsentieren. Da verlangte man schon ein wenig<br />
Ausdauer vom Musikliebhaber.<br />
Diszipliniert und ohne störende Nebengeräusche – letztere wären jahreszeitlich<br />
bedingt durchaus vorstellbar – folgten die Freunde der Barockmusik<br />
dem Fortgang der Veranstaltung.<br />
Und diese Klänge, denen eine gewisse Symmetrie nicht abzusprechen ist,<br />
beschwingen im allgemeinen und besonderen. Leider bringen wir heute<br />
nicht mehr gern die Geduld auf, uns über längere Zeit den umfangreichen<br />
Originalen hinzugeben. Ich war an diesem Abend jedenfalls froh,<br />
an einer Weltersteinspielung teilgenommen zu haben. Denn die Dauer<br />
bezieht sich ja nicht nur auf die Länge einer Vorstellung, sondern gilt<br />
ebenfalls als Synonym für das Weiterbestehen einer Aufführung, in diesem<br />
Fall durch die Konservierung.<br />
Nach dem Motto „Fünf Personen und ein Kaiser“ folgt auch diese Oper<br />
dem hinlänglich bekannten Schema der Opera seria. Zwei Paare, Vitellia/Sesto<br />
und Servilia/Annio sind wechselnden Beziehungsstörungen ausgesetzt.<br />
Publio sorgt für die Sicherheit des Kaisers. In der Verehrung des<br />
Oberhauptes kennt er keine Grenzen. Anhand der Bedeutung der Handelnden<br />
wird ihnen aus insgesamt 23 Arien eine entsprechende Anzahl<br />
zugeteilt. Genügend viele Secco- und Accompagnato-Rezitative und<br />
überreichliche Szenen von Duett bis Ensemble runden das Angebot ab.<br />
Es bedarf einer Spieldauer von fast 4 ½ Stunden und eines starken Glaubens,<br />
um am Ende festzustellen, dass der gnädige Friedensengel – allen<br />
Intrigen zum Trotz – gottähnlich Absolution erteilt.<br />
Raffaells Milanesi als Sesto, ist eine bühnenbeherrschende Akteurin.<br />
Sie dominiert mit einer lebendigen Körpersprache und einer erfrischenden<br />
Spielfreudigkeit, die fehlendes Bühnenbild und Kostüm vergessen<br />
lassen. Und diese Stimme – Arena-stark wenn nötig, und feinfühlig in<br />
der Arie des Schulgeständnisses und dem Abschied von der Welt. Ein<br />
schauspielerisches Energiebündel.<br />
Vitellia ist die launische Tochter eines entthronten Kaisers. Sie wird von<br />
Sesto heiß und hörig geliebt, leidet aber unter der Nichtberücksichtigung<br />
durch Titus und will sich an Titus rächen. Laura Aikin war für<br />
die vorgesehene, leider erkrankte Simone Kermes verpflichtet worden.<br />
Sie stellte sich voll und ganz in den Dienst des Kollektivs. In ihrer Interpretation<br />
fehlte mir aber das energische Element. Mit gleichförmigem<br />
Ausdruck und kontrollierten Gesten absolvierte sie die anspruchsvolle<br />
Partie. Sie wirkte zu angespannt. Nur gegen Ende ging sie aus sich heraus<br />
und zeigte ansatzweise leidenschaftliche und dramatische Momente.<br />
Da löste sie sich auch etwas von der Textvorgabe. <strong>Der</strong> heftige innere<br />
Kampf bis zur Offenbarung der Absichten Vitellias blieb aber verborgen.<br />
Annio, der Freund des Sesto und Geliebte der Servilia, übt als ruhiger<br />
und ausgleichender Teil der Gemeinschaft Wohlverhalten, als Titus Servilia<br />
zur Gemahlin erwählt. Valer Sabadus, der so vielversprechend gestartete<br />
junge rumänische Countertenor, überzeugt mit reinen feinen<br />
Tönen aus einer anderen Welt. Beispielhaft zeigt er die Facetten des Rollenbildes<br />
und erfüllt mühelos die eindringlichen sowie rührend innigen<br />
Teile der Partie. Eine Meisterleistung.<br />
Servilia, die Schwester des Sesto, beweist Mut und Standfestigkeit, indem<br />
sie sich zu Annio bekennt und gegen Titus entscheidet. Arantza<br />
Ezenarro tritt geradezu aristokratisch auf und überzeugt mit dunklem,<br />
apartem Timbre. Beherzt und furchtlos kämpft sie für ihre Liebe.<br />
Mit großem Erfolg war sie vor kurzem an der Semperoper in Dresden zu<br />
hören, als sie in „King Arthur“ von Henry Purcell Luftgeist, Sirene und<br />
She verkörperte. Publius, Präfekt und Chef der kaiserlichen Leibwache,<br />
garantiert die Sicherheit des Kaisers Titus. Flavio Ferri-Benedetti setzt<br />
sich mit ganzer Kraft für die Belange des Kaisers ein und bringt das mit<br />
seinem Countertenor eindrucksvoll zur Geltung. Erfreulich sind sein<br />
Schauspieltalent und vor allem der mimische Ausdruck.<br />
Titus als ein Freund der Humanitas und als solcher eher Friedensapostel<br />
denn Römischer Kaiser, will von seinen Mitbürgern geliebt werden.<br />
Rainer Trost punktet mit der ganzen Erfahrung einer langen Karriere<br />
als Mozart-Tenor und singt zurückgenommen mit milden Tönen als Vergebender<br />
und begrenzt rachsüchtig bei Aufdeckung der Verschwörung.<br />
Das Ensemble l’arte del mondo überzeugt zum wiederholten Male<br />
durch eine hohe Spielfreude und Genauigkeit. <strong>Der</strong> ohne Taktstock beweglich<br />
und biegsam agierende Werner Ehrhardt ist ein fröhlicher Impulsgeber.<br />
Er atmet und „singt“ mit – man traut ihm zu, jederzeit einspringen<br />
zu können.<br />
Lobend zu erwähnen sind die geschickt inszenierten Zu- und Abgänge<br />
der Solisten, die für eine gewisse Spannung sorgen. <strong>Der</strong> Schluss erinnerte<br />
mich für einen Moment an die gut 60 Jahre später entstandene<br />
Freiheitsoper „Fidelio“. Die Lobpreisung galt diesmal aber nicht dem<br />
holden Weib, sondern der Milde des Monarchen.<br />
Es war von allen Beteiligten eine außergewöhnliche Energieleistung.<br />
Glücklich und erschöpft verabschiedeten sich die Ausführenden. Das<br />
Publikum machte sich mit einem Aufschrei Luft und überschüttete alle<br />
mit großem Jubel und Bravi. <br />
Gunnar Alexander Müller<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 69