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Deutschland<br />
um die nötigen Entscheidungen zu treffen. Wichtig ist es, Ressortleiter zu<br />
haben, denen man vertraut, und gleichzeitig in einem gesunden Maß die<br />
Kontrolle nicht aus der Hand zu geben, damit man dann, wenn etwas passiert,<br />
schnell handeln kann. Das alles gibt es auch in jedem Wirtschaftsunternehmen.<br />
Aber: Wir am Theater stellen keine Kühlschränke her, sondern<br />
wir arbeiten mit Kunst. Egal was hinter der Bühne passiert, der Vorhang<br />
hat hoch zu gehen, das Publikum hat bezahlt und will davon nichts wissen.<br />
Marcel Prawy hat einmal gesagt, dass man bei einer Opern-Neuinszenierung<br />
sich das Video anschauen solle, ohne Ton. Wenn man dann<br />
bis zum Ende des 1. Akts wisse, um welches Werk es sich handele, habe<br />
der Regisseur seine Arbeit gut gemacht… Wie muss Musiktheater heute<br />
sein? Aufrüttelnd, provozierend, verstörend, unterhaltend?<br />
Ich habe einen sehr großen Toleranzpegel – den erwarte ich auch vom Publikum.<br />
Ich möchte nicht etwas so machen, wie Sie sich das genau wünschen,<br />
denn dann müssen Sie selbst Regie führen. Theater muss nicht<br />
immer etwas zwingend Neues, aber etwas Ehrliches haben. Wenn in einer<br />
Aufführung das Liebespaar an der Rampe herumsteht, sich nicht ansieht,<br />
während sie ‚Ich liebe dich, ich liebe dich‘ singen und den Dirigenten<br />
niederstarren – dann ist das für mich kein sinnvolles Musiktheater.<br />
Jeder Mensch, gleich welchen Alters und welcher sozialen Schicht, hat<br />
seine freien Gedanken, aber er sollte sich doch bitte eine Offenheit und<br />
einen Respekt vor einer Kunst bewahren, die auch als höchstes menschliches<br />
Gut die Freiheit hat. Man kann durchaus buhen oder ablehnen. Unsere<br />
Sehgewohnheiten hängen auch von Tagesverfassungen ab: Wenn ich<br />
ins Theater gehe und etwas Entspannendes erwarte und ich sehe etwas nicht<br />
Entspannendes, dann gehe ich beim nächsten Mal nicht mehr hin. Womit<br />
ich ein Problem habe, sind die Ewig-Gestrigen, die einfach nur ihre Sichtweise<br />
bestätigt sehen wollen. Es wird nie möglich sein, 100 % des Publikums<br />
gleich glücklich zu machen. Das geht einfach nicht.<br />
Sind junge Menschen heute eher bereit, in ein angesagtes Event zu gehen,<br />
statt in die Oper oder Operette?<br />
Ich sehe das Theater immer auch als etwas Generationenverbindendes. Ich<br />
bitte Sie alle, die jungen wie die älteren Semester, die andere Altersgruppe<br />
mal in der Pause anzusprechen und sich auszutauschen. Wir müssen uns<br />
doch fragen: Wie viele unter 20-jährige oder unter 25-jährige finden Sie<br />
in der Oper? Warum gehen die nicht hin? Welche Schuld tragen wir oder<br />
Sie, dass es als abschreckendes Beispiel gilt, in die Oper zu gehen? Theater<br />
bewegt sich, verändert sich mit der Gesellschaft. Ich muss auch an die<br />
junge Generation denken, Musicals spielen, vermeintlich Unkonventionelles<br />
zulassen, <strong>neue</strong> Sichtweisen anbieten, sonst haben wir in 20 Jahren<br />
kein Publikum und dann bald keine Oper mehr.<br />
Ist vielleicht in den 50-60 Opern, die vorwiegend in unseren Theatern,<br />
vor allem an den großen Häusern, gespielt werden, inzwischen<br />
alles gesagt – wurde jedes Detail ausgeleuchtet? Ist da überhaupt dem<br />
Zuschauer noch etwas Neues zu vermitteln beim x-ten „Trovatore“?<br />
Das zahlende Publikum hat ein Anrecht darauf, das Stück, die Geschichte,<br />
die man erzählt, zu verstehen. Wir haben eine Verpflichtung, als Regisseure<br />
eine Geschichte klar zu erzählen, ohne dass man im Programmheft<br />
mehrere Seiten lesen muss, um sie zu verstehen. Was man einfordern<br />
kann, ist die Beherrschung des Handwerks…es kann natürlich manchmal<br />
auch schief gehen.<br />
Ich mache Theater, weil ich der festen Überzeugung bin, dass Theater unsere<br />
Gesellschaft verbessert, dass es ein Ort der letzten gelebten Utopien<br />
sein kann. Vielleicht können auch die Engstirnigsten einmal eine Scheuklappe<br />
öffnen und nach links oder nach rechts sehen, um sich zu begegnen,<br />
vielleicht auch über ein befremdendes Erlebnis. Ich bin kein Vertreter<br />
dessen, dass man alles wie 1880 macht oder 1950, denn wir sind<br />
inzwischen im 21. Jahrhundert.<br />
Am Gärtnerplatz gibt es für Zeitgenössisches eine gute Tradition, die Sie<br />
mit Cerhas „Onkel Präsident“ und demnächst Wilfried Hillers „<strong>Der</strong><br />
Flaschengeist“ weiterführen. Werden Sie weitere Aufträge vergeben?<br />
Ja, bis 2017/18, solange wie mein Vertrag läuft, sind bereits alle Aufträge vergeben.<br />
Mit dem Fokus auf volksoperntaugliche Stoffe, entweder musikalisch<br />
oder im Libretto, im besten Fall beides. Es wird zwei Musical-, zwei Opern-,<br />
und drei Ballett-Uraufführungen geben. Bei der Operette wird es schwierig,<br />
aber mir schwebt so eine Art Volksoperette oder Singspiel vor – wahrscheinlich<br />
werden wir da auch zwei Uraufführungen haben. Ich versuche,<br />
in den nächsten sechs Jahren zehn bis dreizehn Uraufführungen zu machen.<br />
Sie sind bekennender Operettenliebhaber. Was macht Operette heute<br />
noch interessant?<br />
In der Zeit vor dem 2. Weltkrieg hat man alles Jiddische, Transvestitische,<br />
Schwule, Brisante, Sozialkritische aus der Operette gestrichen. Ab den 50er<br />
Jahren spielte man dann Operette – nicht überall, aber sehr häufig – in<br />
einer netten, leicht vertrottelten Haltung. Seit einiger Zeit scheint eine<br />
Trendwende beim Publikum stattzufinden. Man will wieder Operette sehen,<br />
Operette ist wieder salonfähig. Und zwar in der <strong>neue</strong>n, alten Form,<br />
also fernab von der Betulichkeit der Wirtschaftswunderzeit. Für diese <strong>neue</strong><br />
Operette stehen die Komische Oper Berlin, wo man die Revue-Operette<br />
pflegt, das Gärtnerplatz-Theater mit einem Mix aus klassischer und Revue-Operette<br />
und natürlich die Wiener Volksoper.<br />
Bei manchen szenischen oder konzertanten Operettenaufführungen<br />
fällt auf, dass gerade junge Sänger sich schwer tun, dem Gesang und<br />
der Sprache die nötige Leichtigkeit zu geben.<br />
Man muss junge Sänger auch mit dem Operette-Singen betrauen, damit<br />
sie es lernen. Wir werden im zukünftigen Gärtnerplatz-Ensemble vier Positionen<br />
haben für Operette und Spieloper. Ich möchte ein Opernstudio<br />
speziell für Opéra comique machen – das muss finanziert werden. Wie,<br />
weiß ich noch nicht. Aber wir müssen das machen. Denn es ist jetzt schon<br />
schwierig, genügend begabte Singschauspieler für Operetten zu finden.<br />
Sie als Publikum können auch helfen, junge Sänger für die Operette zu<br />
begeistern: Applaudieren Sie nicht nur dem hohen C des Operntenors,<br />
sondern bejubeln Sie ebenso den Operettensänger.<br />
Wie geht es weiter mit dem Gärtnerplatztheater?<br />
In diesen „Wanderjahren“ muss ich zu 80 % Stücke bringen, die ich, wenn<br />
wir wieder eröffnen, übernehmen kann ins Repertoire. Eigentlich müsste<br />
ich sofort anfangen, ein Ensemble zu beschäftigen. Damit fängt man zwei<br />
Jahre vorher an. Aber wir warten noch, bis der endgültige Einzugstermin<br />
ins renovierte Haus feststeht.<br />
Was für Theaterbesucher wünschen Sie sich?<br />
Bewahren Sie sich Ihre Aufgeschlossenheit, Ihren Enthusiasmus und seien<br />
Sie allen Theatern Münchens gewogen. Und haben Sie Humor – besser<br />
drüber lachen als sich ärgern. <br />
Jakobine Kempkens<br />
Tareq Nazmi – Bass und Münchner –<br />
Dass Tareq Nazmi 1983 in Kuwait das Licht der Welt erblickte, lag daran,<br />
dass sein ägyptischer Vater dort als Musiklehrer tätig war. Tareqs<br />
Mutter ist Deutsche, und schon als Baby kam er mit seiner Familie nach<br />
München. Hier ist er aufgewachsen, zur Schule gegangen und hat an der<br />
Hochschule für Musik und Theater studiert, bis 2010 bei Edith Wiens.<br />
Seit Herbst 2010 war er Meisterklassenstudent von Christian Gerhaher.<br />
Neben seinem Studium besuchte Tareq Nazmi Meisterkurse bei Matthias<br />
Goerne, Dmitri Hvorostovsky, Malcolm Martineau, Brian Zeger, Rudolf<br />
Piernay, Margot Garret, Denise Massé und Stephan King.<br />
<strong>Der</strong> Bassist mit dem exotischen Namen ist also ein Münchner durch und<br />
durch. Dass Tareq Sänger wurde, was ihn ursprünglich gar nicht interessiert<br />
hatte, hat sich erst nach und nach ergeben. Zunächst lernte er Geige<br />
bei seinem Vater, dann zog ihn die Schwester mit zum Chor, in dem sie<br />
sang, dort entdeckte man sein beachtliches „Material“ – und dann nahmen<br />
die Dinge ihren bestmöglichen Lauf.<br />
48 | DER NEUE MERKER 12/2013