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Deutschland<br />
Doch „A quiet place“ ist diese Leichenhalle mitnichten. Statt Totenruhe und<br />
gesitteter Trauer beherrscht zunächst nur unverbindlicher Small Talk das Geschehen,<br />
das alsbald in einen familiären Showdown mündet. Denn es sind<br />
viele persönliche Rechnungen offen, und alle lassen dem über die Jahre angestauten<br />
Frust vollen Lauf. Junior, auch psychisch gestört, legt am Sarg sogar<br />
einen (hier nicht gezeigten) Striptease hin. Schon als Junge hatte er ein<br />
sexuelles Verhältnis mit seiner kleinen Schwester Dede, zuletzt eines mit Francois,<br />
ihrem jetzigen Mann, der schließlich dieser total kaputten Inzest-Familie<br />
die Leviten liest. Francois und der Junior sind also „bi“ und deuten damit<br />
laut Programmheft auch Bernsteins Veranlagungen an. Sam, der Vater, zuvor<br />
immer ein Gewinnertyp, sieht sich durch den Selbstmord Dinahs plötzlich<br />
als Verlierer, regt sich darüber auf und entwickelt auch Schuldgefühle. Die<br />
heimgekehrte schöne Dede im leuchtend roten Kleid himmelt ihn jedoch an,<br />
wohl nicht nur in rein töchterlicher Zuneigung. Liebevolle Gefühle hegt sie<br />
nach wie vor auch gegenüber dem Bruder. Beide schwärmen von ihrer Kinderzeit<br />
in dem von der Mutter gepflegten Garten und schlafen im Doppelbett.<br />
„I want you“, sagt Junior unvermittelt. Die deutsche Übersetzung „Ich<br />
liebe dich“ auf den Übertiteln trifft das Gemeinte nicht so ganz.<br />
Aber noch mehr verlangt Junior nach der Liebe seines Vaters Sam, die der<br />
ihm stets verweigert hat. Erst ganz zum Schluss des Stückes schließt er seinen<br />
Sohn in die Arme. „Wir sind, wer wir sind“, lautet das Fazit.<br />
Engagiert musizieren die 18 Instrumentalisten Bernsteins wagemutiges, oft<br />
faszinierendes Werk. Auch die Interpreten der vier Hauptpersonen werfen<br />
sich voll und überzeugend in ihre Rollen. Mit klarem Sopran singt die<br />
aparte Claudia Boyle (Dede) ihre Partie. Mit Verve ruft Benjamin Hulett<br />
(Tenor) als Francois seine <strong>neue</strong> Familie zur Raison, schwärmt aber zärtlich<br />
für seine Frau Dede. Gekonnt in Stimme und Mimik gestaltet Jonathan<br />
McGovern die krankhaften Ausbrüche von Junior. Pointiert singt<br />
sich Christopher Purves (Sam) mit kräftigem Bariton in Rage.<br />
Mit starkem Beifall quittiert das Publikum im fast voll besetzten Großen<br />
Saal die erbrachten Leistungen. Ob mit dieser Kammerfassung ein Durchbruch<br />
für Bernsteins letzte Oper gelungen ist, wird die Zukunft zeigen.<br />
<br />
Ursula Wiegand<br />
Die Berliner Philharmoniker und Ian Bostridge<br />
huldigen Benjamin Britten zum<br />
100. Geburtstag – 22.11.<br />
22. November 1913 – ein für die britische Musikgeschichte signifikantes<br />
Datum, erblickte doch an diesem Tag Benjamin Britten das Licht der<br />
Welt. Jener Meister, der als bedeutendster englischer Komponist seit Henry<br />
Purcell der britischen Musik nach etlichen Jahrzehnten des Dornröschenschlafs<br />
mit seinem „Peter Grimes“ und all den anderen großartigen Opern<br />
dereinst eine gewichtige Stimme im Konzert der Völker verschaffen sollte.<br />
22. November 2013 – für die Berliner Philharmoniker und ihren renommierten<br />
Gast Ian Bostridge Ehrensache, dem Orpheus Britannicus zum 100.<br />
Geburtstag eine exquisite Soirée auszurichten. Und dabei den Blick betont<br />
auf seine Vokal- und Instrumentalmusik der intimeren Form zu richten.<br />
Eine Entdeckung war da schon seine Sinfonietta op. 1 für die solistische<br />
Besetzung von 10 Instrumenten – das frühreife Werk eines kaum 19-Jährigen,<br />
in dem sich bereits die für sein späteres Schaffen so markante kammermusikalische<br />
Gestaltung seiner Werke sowie die Abneigung gegen ausufernde<br />
Klanggemälde andeutet. Wie da die philharmonischen Solisten,<br />
ein Bläser- und ein Streichquintett, die klangfarbliche Ausdrucksindividualität<br />
jeder einzelnen Stimme wie auch die Transparenz des Klangbildes<br />
zelebrierten, dürfte wahrlich im Sinne des Tondichters gewesen sein.<br />
Dass auch Brittens instrumentale Musik stark vom Vokalen geprägt ist,<br />
zeigte seine Komposition „Lachrymae“, Reflections on a Song of John<br />
Dowland für Viola und Klavier op. 48 (1950) – zugleich ein Beleg für<br />
seine Verwurzelung in der altenglischen Tradition. Die Bratschistin Julia<br />
Gartemann und Julius Drake am Klavier ließen da aus einem dem<br />
Werk zugrundeliegenden Lied jenes Renaissancekomponisten einen Zyklus<br />
subtil geformter Variationen erstehen. Plastische Bildhaftigkeit der<br />
Tonsprache, in Brittens Opern immer wieder zu bewundern, findet sich<br />
auch in der musikalischen Gestaltung seiner „Sechs Metamorphosen nach<br />
Ovid“ für Solo-Oboe op. 49 (1951). Ein großer Tag für Jonathan Kelly,<br />
der mit faszinierender klanglicher Flexibilität den Charakterstudien antiker<br />
Götter und Figuren geradezu bildhafte Gestalt verlieh.<br />
Wie vielschichtig ist doch des Komponisten Vokalmusik! Liederzyklen mit<br />
Klavier und Gesangsstücke mit orchestraler Begleitung gehören zu seinen<br />
persönlichsten Schöpfungen. Wobei die vielfältigen Textvorlagen aus der<br />
Feder von rund 60 Autoren, zumeist englischen, aber auch ausländischen,<br />
sein weitreichendes literarisches Interesse bekunden. Dabei berührt immer<br />
wieder sein ursprüngliches Verhältnis zur menschlichen Stimme und damit<br />
zum kantablen Melos. Ein Glücksfall, dass der herausragende britische<br />
Tenor Ian Bostridge – nach dem Tod von Brittens Lebenspartner und Uraufführungsinterpreten<br />
Peter Pears der derzeit bedeutendste Protagonist der<br />
Vokalmusik des Jubilars – im Geburtstagskonzert mit von der Partie war.<br />
Fünf seiner Vokalwerke hat der Autor mit dem Begriff Canticle übertitelt,<br />
mit dem die anglikanische Kirche Hymnen, Psalmen und andere Lobgesänge<br />
bezeichnet. Bewegend wirkte da in Bostridges ergreifender Lesart Canticle<br />
III – basierend auf Edith Sitwells (1887-1964) Gedicht „Still Falls the<br />
Rain“ op. 55, das die deutschen Luftangriffe auf britische Städte 1940 thematisiert<br />
und dabei das historische Geschehen mit der christlichen Passionserzählung<br />
konfrontiert. <strong>Der</strong> Tenor wurde von Stefan Dohr (Horn) und<br />
Julius Drake (Klavier) feinfühlig unterstützt.<br />
Bestechend auch, wie Bostridge in den „Sechs Hölderlin-Fragmenten“<br />
op. 61 (1958) mit seinem Klavierpartner Drake dem zwischen Sehnsucht<br />
und Hoffnungslosigkeit changierenden Affektgehalt der Dichtung sensibel<br />
nachspürte. Als Krönung des Abends die Serenade für Tenor, Horn und<br />
Streicher op.31 (1943), in der der Tondichter 6 Gedichte verschiedener Autoren,<br />
die die „Nacht und ihre Erscheinungen“ besingen, in so wunderbare<br />
musikalische Stimmungsbilder gekleidet hat, dass man sich in diese abendlich-nächtliche<br />
Naturreflexionen direkt einbezogen fühlte. Zumal, wenn so<br />
exzellente Protagonisten wie Bostridge und Dohr sowie etliche philharmonische<br />
Mitstreiter unter Duncan Wards Leitung von der einleitenden Pastorale<br />
bis zum abschließenden Sonett einen ausdrucksmäßig höchst differenzierten<br />
Bogen spannten. <br />
Dietrich Bretz<br />
München:<br />
Bayerische Staatsoper: „IL TROVATORE“ – 12.11. – Alternativbesetzungen<br />
Es hat sich in mehrfacher Hinsicht gelohnt, zur 2. Serie von Olivier Pys<br />
„Trovatore“-Version zu gehen. Manches, worüber man sich vielleicht beim<br />
ersten Besehen geärgert haben mag, nahm man nun mit einem Schmunzeln<br />
oder gar Lachen hin. Die Nackedeis (Azucenas Mutter, in etwas entgruselter<br />
Personifizierung, und eine Tänzerin) tragen der Ästhetik zuliebe<br />
hautfarbene Stringtangas; der Leonora im vorletzten Bild geleitende<br />
schwarze Geist hält sich dezenter zurück. Das nie klappen wollende Timing<br />
zu Manricos „Infida!“ nach dem Ständchen im 1. Akt singt selbiger<br />
nun aus einer Seitenluke der Aufbauten, um zum Terzett dann rechtzeitig<br />
auf der Bildfläche zu erscheinen.<br />
Leonora trägt die hässliche Brille, welche ihre Blindheit (?) verdeutlichen<br />
soll, nur einmal, beim ersten Auftritt, dann erleben wir eine wunderbare<br />
Nachtwandlerin von Krassimira Stoyanova. Wie sie diese blinde Leonora<br />
darstellt, ist in höchstem Maße überzeugend und ergreifend, was ebenso für<br />
ihren Gesang gilt. In Stoyanovas Sopran schwingt all das große Gefühl mit,<br />
das ich bei der kunstvoll singenden Harteros so vermisste. War eigentlich der<br />
<strong>neue</strong> Bariton Ursache meines Aufführungsbesuches gewesen, so war es nun<br />
die Stoyanova, die mit ihrem intensiv überzeugenden Rollenportrait und<br />
ihrem ausdrucksstarken Gesang zum Ereignis wurde. Offenbar empfanden<br />
das die Zuschauer ebenso, denn das Haus bebte bei ihrem Schlussapplaus. –<br />
<strong>Der</strong> für München <strong>neue</strong> Bariton/Graf Luna ist Vitaliy Bilyy aus der Ukraine.<br />
Die Hörtests auf Youtube versprachen sehr viel. Die Bemerkung<br />
eines Kritikers nach der ersten Aufführung, Bilyy habe „sehr verhalten“<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 45