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Tanzwelt<br />

arbeitet hatte, heiratete Edvard Henriette Thyberg. Wie das bedingungslos<br />

den Prinzen liebende Wasserwesen scheitert seine Sehnsucht an nicht<br />

erwiderter, einseitiger Liebe. Neumeiers Handlung setzt dort ein, wo der<br />

Dichter auf einer Seereise an Bord einem Hochzeitspaar begegnet, das Edvard<br />

und Henriette frappierend ähnelt. Die Erinnerungen übermannen<br />

ihn, eine Träne verwandelt sich in ein Meer voller Phantasien, seine Sehnsüchte<br />

personifizieren sich in der Gestalt der Meerjungfrau.<br />

Bereits hier, wo das reale Leben in die Unterwasserwelt übergeht, beginnt<br />

die szenische Faszination, mit der Neumeier in bewährter Personalunion<br />

als Choreograph, Regisseur, Bühnen-, Kostüm- und Lichtgestalter dem gesamten<br />

Ablauf einen Rahmen gibt: ein kleiner, erhöhter wie gerahmt erscheinender<br />

Bildausschnitt skizziert die Szene auf dem Schiff, wo sich der<br />

Dichter in seinem Erinnerungsschmerz über die Reling neigt und unter eine<br />

sich auf und ab bewegende geschwungene blaue Linie taucht, die die Meeresoberfläche<br />

und den Wellengang symbolisiert. Eine Gruppe von Tänzern<br />

deutet mit langsamen, fließenden Bewegungen das Wasser an, schillernde<br />

Blautöne, die bereits in dem als Vorhang dienenden Aquarell ineinander<br />

vermischt sind, sorgen im Rahmen des phantasievollen Beleuchtungskonzepts<br />

für die entsprechende Stimmung. Aus der Unterwasser-Perspektive betrachtet,<br />

überquert auf der Meeresoberflächenlinie ein Miniatur-Dampfer<br />

die Bühne. Die weiteren Szenen an Deck sind durch ein paar Schornsteine<br />

skizziert, die nach ihrer Verwandlung durch den Meerhexer unter den Menschen<br />

lebende Meerjungfrau kämpft in einer ganz vorne an der Rampe eingelassenen<br />

Mini-Kammer gegen ihre Schwerfälligkeit. An die Stelle von platter<br />

realistischer Ausstattung tritt das Angedeutete, die Konzentration richtet<br />

sich verstärkt auf die expressive Körpersprache der Tänzer.<br />

Des Dichters und des Wasserwesens Schicksal überlappt sich, wenn der<br />

Edvard gleichende Bräutigam einem ins Wasser bugsierten Golfball hinterher<br />

springt, von der für ihn vorerst unsichtbaren Meeresjungfrau vor<br />

einem vom Meerhexer entfachten Sturm (als Wille des Dichters) gerettet<br />

und schließlich geküsst wird. Doch seine Liebe gilt der ihn weckenden<br />

Prinzessin Helene, während des Wasserwesens Liebe so weit geht, dass es<br />

fest entschlossen ist, ein Mensch zu werden. Gewaltsam entledigt er sie<br />

ihres Schwanzes, für den Neumeier im japanischen Noh-Theater eine Lösung<br />

gefunden hatte: eine blaue dehnbare Hose, die dem menschlichen<br />

Körper eine andere Dimension gibt, unterstützt und durchs Wasser bewegt<br />

von drei Tänzern, die als schwarze Schatten tituliert sind.<br />

Als die Meerjungfrau an mangelnder Bewegungsfähigkeit leidet und sich<br />

in der Rolle als Brautjungfer bei der Hochzeit des Prinzen erniedrigt fühlt,<br />

sehnt sie sich zurück in ihre Welt. Wie wir auch aus anderen Verarbeitungen<br />

des Märchenstoffes wissen, ermöglicht ihr dies nur die Opferung des Prinzen.<br />

Bei Neumeier reicht ihr der Meerhexer das Messer, doch wieder lässt<br />

es der in ihr verkörperte Dichterwille nicht zu, dass sie den Geliebten tötet.<br />

In ihrem unendlichen Leid und Schmerz sind der Dichter und seine Kreation<br />

am Ende eins, auf der Suche nach einer <strong>neue</strong>n Welt verhelfen sie sich<br />

gegenseitig zur Unsterblichkeit. Die Bewegungen der beiden nun barfuß<br />

Tanzenden decken sich in schönster Synchronität. Bis dahin hat Neumeier<br />

die Darsteller mit viel psychologischer Expressivität miteinander verwoben,<br />

sie auf klassischer (Spitzen-) Basis mit vielfältigen Errungenschaften<br />

des modernen Tanzes und Tanztheaters charakterisiert.<br />

Die an diesem dritten Abend eingesetzte Alternativ-Besetzung zeigte sich ausgeglichen,<br />

ohne irgendwo herauszuragen oder zu wünschen übrig zu lassen.<br />

Hélène Bouchet in der Titelrolle glänzte auf stille Art, mit viel Sensibilität,<br />

wo es um ihre bedingungslose Liebe geht, aber auch Kraft und Selbstbewusstsein,<br />

wo sie Grenzen überschreiten will und gegen ihr Schicksal ankämpft.<br />

Jugendliches Wesen und doch schon sehr gereiftes Gestaltungsvermögen<br />

geben dem Part sowohl Glaubwürdigkeit als auch das nötige Gewicht.<br />

Carolina Agüero ist da als ihre prinzessliche Kontrahentin eine vergleichsweise<br />

blasse Tänzerin, doch mag das auch an der am wenigsten konturierten<br />

Hauptrolle liegen. Sicher im Umgang mit Neumeiers Anforderungen<br />

zeigt sich die Argentinierin allemal.<br />

Wiederum rollenbedingt gelingt Alexandre Riabko als Meerhexer die<br />

stärkste Bühnenvereinnahmung, zumal allein schon die ebenfalls dem japanischen<br />

Theater entstammende, mit viel aufgespritzter Farbe erzielte<br />

Spezialmaske eines Glatzköpfigen für die entsprechend bedrohliche Autorität<br />

und Macht sorgt. Darüber hinaus strotzt der aus Kiew stammende<br />

Publikumsfavorit der Compagnie vor kraftvoller Virtuosität und körperlicher<br />

Hochspannung.<br />

Zarter besaitet, aber trotz seiner Jugend steht der italo-amerikanische Gruppentänzer<br />

Sasha Riva als Dichter in Anzug und Zylinder seinen Mann,<br />

mischt sich mit Einfühlungsvermögen unters Geschehen und hat mit der<br />

Meerjungfrau als projizierte, übertragene Leidensgenossin die ausdrucksstärksten<br />

Momente.<br />

<strong>Der</strong> Solist Dario Franconi entspricht dagegen so ganz dem Bild des smarten<br />

Lovers, des schönen Prinzen und hat dazu noch Gelegenheit die mehr<br />

klassisch elegante Seite von Neumeiers Stil mit Leichtigkeit und schöner<br />

Balance zur Geltung kommen zu lassen.<br />

Das Ensemble ist mit zahlreichen Aufgaben aus den beiden gegensätzlichen<br />

Welten betraut – zum einen der Gestaltung der Unterwasserwelt<br />

mit magischen Schatten in teils fast punkartigen, in Türkis schillernden<br />

Gewändern, dann aber auch in traditioneller Matrosenkluft und schließlich<br />

als Hochzeitsgesellschaft inkl. Brautjungfern in schicken Haute Couture-Kreationen.<br />

Die Vervollkommnung des Ganzen liefert die in Neumeiers Auftrag eigens<br />

dafür erdachte Komposition der Lettin Lera Auerbach, eine ganz eigenständig<br />

geprägte Musik für großes, aber sehr differenziert aufgefächert<br />

eingesetztes Orchester, bei der man sich dennoch immer wieder ertappt,<br />

z.B. Schostakowitsch, Mahler oder auch Weill zu hören. Besonders aufhorchen<br />

lässt ein sogenanntes Theremin, bei dem Töne nicht durch Berührung,<br />

sondern durch die Bewegung der Hände in einem elektromagnetischen<br />

Feld rund um das antennenartige Instrument entstehen und<br />

dadurch einen geheimnisvollen, allem Menschlichen fremden Klang aufweisen,<br />

wie er der Außenseiter-Funktion der kleinen Meerjungfrau entspricht.<br />

Faszinierend – wie so vieles an diesem komplexen Ballett, für das<br />

die Compagnie viel Jubel erntet und Neumeier mit stehenden Ovationen<br />

gefeiert wird. <br />

Udo Klebes<br />

München:<br />

Bayerisches Staatsballett: „ROMEO UND JULIA“ – 10.11.<br />

(14.30 Uhr):<br />

In der Nachmittagsvorstellung gab es ein interessantes Debut zu erleben:<br />

Ivy Amista tanzte ihre erste Julia. Darauf konnte man deshalb besonders<br />

gespannt sein, weil man bisher doch noch nicht so oft die Gelegenheit<br />

gehabt hatte, diese technisch so souveräne Tänzerin auch einmal in einer<br />

darstellerisch anspruchsvollen Rolle zu sehen. An diesem Nachmittag<br />

zeigte sich dann, dass Ivy Amista auch eine sehr gute Interpretin ist.<br />

Man mochte kaum glauben, dass sie die Partie zum ersten Mal tanzte, so<br />

ausgereift erschien ihr Rollenportrait. Zuerst war sie eine wunderschön<br />

mädchenhafte, aber nicht zu kindliche Julia und entwickelte sich dann<br />

zu einer selbstbewussten Frau, die sich nicht scheut, gegen ihre mächtige<br />

Familie aufzubegehren. Dies alles trug sie mit großem Selbstverständnis<br />

und ohne Manierismen oder übertriebener Theatralik vor. Daneben<br />

beherrschte sie die Rolle auch technisch sehr souverän, von ihrem Ball-<br />

Solo bis zu den schwierigen Pas de deux. Ein rundum gelungenes Debut!<br />

Dass diese Vorstellung etwas Besonderes war, lag jedoch nicht allein an<br />

Ivy Amista, sondern zumindest zu gleichen Teilen an ihrem Partner, Tigran<br />

Mikayelyan. Sein Romeo war ein schwärmerischer, friedliebender,<br />

edler junger Mann, dem die Kämpfe und der Stolz seiner adligen Umwelt<br />

gänzlich fremd sind, der nur seinen romantischen Idealen lebt. So ist es<br />

ihm in der Ballszene fast unverständlich, warum sich die Gäste und natürlich<br />

die Capulets an seiner erwachenden Liebe zu Julia stören, scheint<br />

sie doch für ihn etwas ganz Natürliches zu sein. Selten habe ich in den letzen<br />

Jahren eine so stringente und feinsinnige Interpretation dieses Charakters<br />

gesehen. Großes Kompliment! Dazu kam, dass er Ivy Amista auch<br />

ein sehr guter Partner war, so dass die großen Pas de deux sehr flüssig und<br />

natürlich gelangen und die dramatische Kraft von Crankos Choreographie<br />

voll zum Ausdruck kam.<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 37

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