06.05.2014 Aufrufe

Der neue Merker

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Mder<br />

<strong>Merker</strong><br />

<strong>neue</strong><br />

12/2013<br />

Österreich € 5,10 5,80<br />

Deutschland € € 5,60 6,40<br />

Schweiz CHF 10,– 11,50<br />

Nr. Nr. 234 284<br />

OPER UND BALLETT<br />

IN WIEN UND ALLER WELT<br />

Verdis Galeerenjahre<br />

Benjamin Britten -<br />

englischer Nationalkomponist<br />

weltweit beachtet<br />

Sorgenkind Mozart<br />

Aus dem Opernleben der Ukraine<br />

Neue Oper für Carreras<br />

Im Gespräch:<br />

Regisseurin Jasmin Solfagharu<br />

Die Wiener<br />

Staatsoper<br />

im November<br />

Mirella Freni (mit Gianni Raimondi) als Mimi


Wien am 1. Dezember 2013<br />

Liebe Opernfreunde!<br />

Britten holt auf!<br />

Wenn Sie den Bericht unseres England-Korrespondenten Stephen<br />

Mead über die unzähligen Veranstaltungen anlässlich des<br />

100 Jahr-Jubiläums lesen, dürfen Sie staunen. Neben zahlreichen<br />

Opern- und Konzertdarbietungen in vielen Ländern, haben<br />

in der englischsprachigen Welt - zwischen Sydney und San<br />

Francisco - rund 100.000 (!) Kinder und Jugendliche an seinem<br />

Geburtstag Werke von ihm aufgeführt und sich überdies kreativ<br />

und sogar komponierend mit dem großen Meister auseinandergesetzt.<br />

Es dürfte ja noch immer nicht bekannt sein, wie<br />

wichtig ihm, der selbst seit seinem fünften Lebensjahr komponiert<br />

hat, die musikalische Arbeit mit Kindern war.<br />

Bei dieser Gelegenheit möchte ich darauf hinweisen, dass Benjamin<br />

Britten vor allem ein genuin englischer Komponist ist<br />

und deshalb nicht pauschal als ,,britisch“ bezeichnet werden<br />

sollte. Erst durch seine Musik hat sich mir die Seele der englischen<br />

Landschaft erschlossen; an der englischen Ostküste höre<br />

ich Brittens Musik aus den Meereswellen.<br />

Dass er sich in seiner Heimat so großer Popularität erfreut,<br />

hängt wohl auch damit zusammen, dass die Schicksale der<br />

meisten seiner Opernfiguren aus dem Leben seiner Landsleute<br />

gegriffen sind. Ich habe in London einen Opernfreund kennengelernt,<br />

der das gängige Repertoire kannte, aber nur Brittens<br />

Opern waren ihm wirklich ans Herz gewachsen, mehr als alle<br />

Anderen.<br />

Im Gegensatz zu dem antiken Pomp der Barockopern und den<br />

romantischen Helden des 19. Jahrhunderts, überrascht Britten<br />

mit einer Vielfalt von psychologisch tiefgründig erfassten Charakteren<br />

in seiner ganz persönlichen Musiksprache.<br />

Es ist sehr erfreulich, dass anlässlich dieses Jubiläums seine<br />

Meisterschaft wieder in hohem Maße erkannt wird.<br />

<br />

Sieglinde Pfabigan<br />

Ein frohes musikalisches Weihnachtsfest und viele schöne<br />

Opernerlebnisse und <strong>neue</strong> Einblicke im nächsten Jahr wünscht<br />

Ihnen<br />

Die <strong>Merker</strong>ei<br />

BUCH / Gesa Finke:<br />

DIE KOMPONISTENWITWE CONSTANZE MOZART<br />

Musik bewahren und Erinnerung gestalten<br />

Band 2 der Reihe „BIOGRAFIK. Geschichte – Kritik - Praxis<br />

356 Seiten, Böhlau Verlag 2013<br />

Constanze Mozart hat einen besonders schlechten Ruf. Gesa Finke blättert<br />

ihn ausführlich auf, von Mozart-Biographie zu Mozart-Biographie (wobei klar<br />

wird, dass die meisten voneinander abgeschrieben haben): Ihre Funktion für<br />

Mozart wird auf die eines sinnlichen Betthäschens reduziert, ihre Moral gering<br />

bewertet. Je mehr man Mozart verklären möchte, umso schlechter kommt<br />

Constanze weg, und auch jüngere Arbeiten, die das differenzierter sehen möchten,<br />

können wohl kaum mehr etwas daran ändern.<br />

Gesa Finke, die ihre voluminöse Dissertation für die Carl von Ossietzky<br />

Universität Oldenburg nun zwischen Buchdeckeln vorlegt, möchte – auch<br />

angesichts von Constanzes 250. Geburtstag im Jahre 2012 – nun dieses Bild<br />

zurechtrücken. Teilweise zumindest. Nicht jenes als Mozarts Gattin, dieser Teil<br />

der Biographie wird nicht berücksichtigt. Wohl aber jener nach Mozarts Tod.<br />

Denn da hat sich Constanze, wie mit größter Ausführlichkeit dargelegt wird,<br />

dann tatsächlich bewährt – nicht nur darin, wie ihre Feinde sagen, aus Mozarts<br />

Nachlass jeglichen finanziellen Nutzen zu ziehen, sondern auch, diesen Nachlass<br />

zu bewahren, zu sichern und die Erinnerung an ihren Gatten zu „gestalten“<br />

und möglichst dafür zu sorgen, dass seine Größe nicht vergessen wurde.<br />

Mit einer Ausführlichkeit, die sich nur Dissertationen leisten können, beschäftigt<br />

sich die Autorin zu Beginn mit der Stellung von Witwen zu Constanzes<br />

Zeit – Mozart starb 1791, und Ende des 18. Jhs. war es gar nicht<br />

so einfach für die Frauen, denn es gab keine automatischen Witwenrenten.<br />

Constanze fand sich also angesichts von Mozarts Schulden in einem finanziellen<br />

Notstand. Das hat sie bewältigt. Aber sie war als Witwe – eine junge<br />

Witwe, knapp 30 Jahre alt – zum ersten Mal in ihrem Leben auch in der<br />

Situation, selbst über ihr Leben und ihre Taten bestimmen zu können. Und<br />

man kann sagen, dass sie ihr weiteres Dasein der Anstrengung widmete,<br />

die beiden Mozart-Söhne (die sie zuerst nach Prag schickte) zu Musikern<br />

zu erziehen, Mozarts Nachlass zu ordnen und zu sichern und schließlich<br />

Material für eine Biographie zusammen zu tragen.<br />

Benefizkonzerte erleichterten ihre finanzielle Lage, und immerhin unternahm<br />

sie mit ihrer Schwester Aloysia Lange, die ja in der Musikwelt nicht<br />

unbekannt war, eine Konzertreise in wichtige Musikstädte (in der sie auch<br />

als Sängerin auftrat), die vermutlich nicht nur in Hinblick auf das Geld,<br />

sondern auch auf Mozarts Erinnerung hin unternommen wurde.<br />

Constanze fand wichtige und auch kompetente Unterstützung durch den<br />

schwedischen Diplomaten Silverstolpe, mehr noch durch den dänischen,<br />

in Wien tätigen Diplomaten Georg Nikolaus Nissen, den sie später heiratete<br />

– nicht, ohne ihrem <strong>neue</strong>n Namen stets die Bezeichnung „gewesene<br />

Witwe Mozart“ hinzufügen.<br />

Natürlich ist das Nachleben der Mozart-Witwe (sie überlebte den ersten Gatten<br />

um mehr als 50 Jahre) nicht ohne Stolpersteine, ihre Leistungen, etwa in<br />

den zähen Verhandlungen mit Breitkopf & Härtel über eine Gesamtausgabe,<br />

die nur zur unvollständigen Werkausgabe gedieh, werden teilweise auch gering<br />

geschätzt. Und selbst Autorin Gesa Finke geht mit der dicken Biographie, die<br />

von Constanze und Nissen geschaffen und unter seinem Namen herausgebracht<br />

wurde, nicht glimpflich um. Offenbar haben die beiden vor allem zwei<br />

schon vorhandene Biographien abgeschrieben und mit zusätzlichem Material<br />

aufgefettet, wobei allerdings das Zusammentragen dieser Materialsammlung –<br />

besonders der Briefe – als eigene Leistung zu erachten ist. Constanze hat auch<br />

in Fragen des Mozart-Denkmals mitgewirkt (sie lebte in ihren späteren Lebensjahren,<br />

nachdem sie mit Nissen kurz von Wien nach Kopenhagen gegangen<br />

war, in Salzburg) und dem neu gegründeten Mozarteum viele Geschenke<br />

gemacht, Autographen aus ihrem Besitz ebenso wie Geld.<br />

Die Autorin beweist eindeutig, dass die Erinnerung an Mozart und deren<br />

„Medialisierung“ die Lebensaufgabe dieser Constanze war, wobei eine sachliche<br />

Dissertation sich nicht in Spekulationen ergeht, was sie warum getan hat.<br />

Dazu gibt es genügend Romane, denn Constanze ist in der Musikgeschichte<br />

wohl nach Cosima Wagner die interessanteste Komponistenfrau. Die Ehrenrettung<br />

ist in diesem Buch, das ganz breit auch die Zeit malt, in der sich<br />

Constanzes Bemühungen um die „Mozart Erinnerungskultur“ abspielten,<br />

wohl gelungen. Mit seinem Umfang und seiner Genauigkeit kein Buch für<br />

Ungeduldige, aber Geduldige werden reich bedient. Renate Wagner<br />

Heft Nr. 284 erscheint am 13. Jänner 2014


Inhalt<br />

2<br />

5<br />

5<br />

5<br />

6<br />

Aktuelles aus Österreich<br />

6<br />

8<br />

9<br />

10<br />

12<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

27<br />

28<br />

30<br />

31<br />

31<br />

32<br />

32<br />

Wiener Staatsoper: Die Zauberflöte<br />

Theater a.d.Wien: Idomeneo, Les Danaides (Salieri),<br />

Kammeroper: La Cenerentola<br />

Im Gespräch: Die Regisseurin Jasmin Solfagharu<br />

Volksoper: Il Trovatore<br />

Neue Oper Wien: Paradise reloaded (Eötvös)<br />

Mirella Freni – 50 Jahre Weltstar<br />

Neues von José Carreras<br />

Die Wiener Staatsoper im November<br />

Aus dem Volksopernrepertooire<br />

Wiener Konzert und Szene<br />

Baden: Die Hochzeit des Figaro<br />

Neunkirchen: „Amici“- Wagner-Verdi-Konzert<br />

Graz: Die Zauberflöte<br />

Salzburg: Wagner-Matinee<br />

Innsbruck: Don Pasquale<br />

Aus der Tanzwelt<br />

33<br />

33<br />

34<br />

34<br />

36<br />

37<br />

38<br />

39<br />

39<br />

40<br />

Zu Gast auf Giuseppe Verdis Galeere<br />

Im Lande Benjamin Brittens :<br />

Opera North: Death in Venice<br />

Jubilee Opera Aldeburgh, Britten für Kinder,<br />

Chorkonzerte, Noye’s Fludde<br />

Stadthalle Wien: Dornröschen<br />

St. Pölten: milonga<br />

Linz: Romeo und Julia<br />

Stuttgart: Fort//schritt//macher, Cantata<br />

Baden-Baden: Die kleine Meerjungfrau<br />

München: Romeo und Julia, Exits and Entrances<br />

Düsseldorf: „b.16“<br />

Kaiserslautern: <strong>Der</strong> Pagodenprinz<br />

Ludwigsburg: Woyzeck<br />

Györ: Ein Sommernachtstraum<br />

Das englische Brittenzentrum - das Red House in Aldeburgh<br />

Oper International<br />

41<br />

42<br />

45<br />

45<br />

46<br />

49<br />

50<br />

51<br />

52<br />

53<br />

55<br />

56<br />

57<br />

58<br />

58<br />

59<br />

61<br />

61<br />

63<br />

64<br />

65<br />

66<br />

67<br />

67<br />

68<br />

69<br />

70<br />

70<br />

71<br />

73<br />

74<br />

75<br />

76<br />

77<br />

78<br />

78<br />

79<br />

80<br />

81<br />

82<br />

83<br />

84<br />

84<br />

86<br />

87<br />

Berlin: Don Carlo, Falstaff, Macbeth, Il Trovatore,<br />

Cosi fan tutte, West Side Story, A Quiet Place<br />

Jubiläumskonzert für Benjamin Britten<br />

München: Il Trovatore, Die Zauberflöte,<br />

Interview Josef E. Köpplinger, Im Porträt - Tareq Nazmi,<br />

Arienabend Angela Gheorghiu und Charles Castronouvo<br />

Liedestoll, Michaelskonzert<br />

Dresden: Tannhäuser, Carmen<br />

Detmold: Tristan und Isolde<br />

Essen: Tristan und Isolde<br />

Lübeck: Tristan und Isolde<br />

Füssen: Tristan und Isolde<br />

Nürnberg: Das Rheingold<br />

Schweinfurt: <strong>Der</strong> fliegende Holländer<br />

Hannover: Die Meistersinger von Nürnberg<br />

Kaiserslautern: Regina (Lortzing)<br />

Düsseldorf: Billy Budd<br />

Frankfurt: Dido und Aeneas, Herzog Blaubarts Burg, Ezio (Gluck)<br />

Mainz: Rinaldo<br />

Stuttgart: Falstaff, I Lombardi<br />

Ulm: Otello, Hänsel und Gretel<br />

Baden-Baden: Juan Diego Florez<br />

Heidelberg: Tosca<br />

Saarbrücken: Tosca<br />

Weimar: Die Entführung aus dem Serail<br />

Leverkusen: La Clemenza di Tito( Gluck)<br />

Hagen: Don Pasquale<br />

Bremen: La Traviata, Chorkonzert Wagner-Verdi<br />

Bremerhafen: Barbier von Sevilla, Hänsel und Gretel<br />

Zürich: Faust, Otello, Konzert Cecilia Bartoli<br />

Basel: Votre Faust (Pousseur), Anschlag (Wertmüller/Bärfuss)<br />

Biel: Das Rheingold<br />

Genf: Die Walküre, <strong>Der</strong> fliegende Holländer<br />

Milano: Aida<br />

Paris: Written on Skin (George Benjamin)<br />

Roméo et Juliette(Berlioz), Elektra<br />

Nizza: <strong>Der</strong> Freischütz<br />

Monte-Carlo: Das Rheingold<br />

Valencia: Die Walküre, La Traviata<br />

Bilbao: Rigoletto<br />

Amsterdam: Götterdämmerung<br />

London: Die Zauberflöte<br />

Istanbul: Wagnerkonzert, Interview Gürer Aykal<br />

Kiew: Madama Butterfly, Carmen<br />

Met im Kino: Tosca<br />

Eine <strong>neue</strong> Isolde: Edith Haller mit Wioletta Hebrowska<br />

Amsterdam: Götterdämmerung<br />

Mirella Freni und Placido<br />

Domingo - ein beglückendes<br />

Wiedersehen<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 1


Guiseppe Verdi<br />

Zu Gast auf Giuseppe Verdis Galeere – Ein Jahrzehnt wird beleuchtet<br />

Zum Geleit<br />

Um Giuseppe Verdis gesamtes Opernschaffen angemessen zu würdigen,<br />

braucht es ein ganzes Buch oder es gelingt dem Autor ein bündiger Aphorismus.<br />

Will und soll man einen Essay schreiben, so gilt es auszuwählen,<br />

also in heutiger Terminologie ein Sängerensemble, dessen Größe und vokale<br />

Kapazität bisweilen auf pragmatische Weise in künstlerische Belange<br />

eingriff, dem <strong>neue</strong>n Werk also Grenzen setzte oder Möglichkeiten bot.<br />

Verdi als schöpferischer Dramaturg<br />

Die Begeisterung des Komponisten für das Sprechtheater, sein Lesehunger<br />

und das Interesse für Weltliteratur reichen bereits in die frühe Jugend zurück<br />

und sollten sein Schaffen bis hin zu den späten Meisterwerken prägen<br />

und bestimmen. Besonders William Shakespeare hatte es ihm angetan,<br />

wie die Sujetwahl von „Macbeth“, „Otello“ und „Falstaff“ ganz deutlich<br />

zeigt. Sogar einen „König Lear“ wollte er vertonen, resignierte aber schließlich<br />

doch vor der Vielschichtigkeit des Stoffes und misstraute vielleicht<br />

auch den Fähigkeiten seiner Librettisten, denen er in einem dialektischen<br />

Schaffensprozess bei anderen Stücken durchaus Ansporn und anfeuernde<br />

Kritik zuteilwerden ließ. So schreibt er 1847 an Salvatore Cammarano<br />

zur geplanten Oper Alzira: „Lassen Sie die Sache nur leidenschaftlich sein,<br />

und Sie werden sehen, dass ich ganz ordentliche Musik schreiben kann.“ Die<br />

Hauptfiguren seines „Attila“ nennt Verdi Francesco Maria Piave gegenüber<br />

„tre carattere stupendi“. Für Macbeth aber hat der Komponist selbst ein<br />

Szenar gezimmert, dessen verbale Umsetzung er Piave mit dem Anspruch<br />

von „Erhabenheit und Kürze“ übertrug. Und als dieser seine Erwartungen<br />

nicht erfüllte, stellte er ihm für die beiden Schlussakte den bedeutenden<br />

José Carreras als Ritter Gaston in „Jérusalem“<br />

Schwerpunkte zu setzen, Leitlinien zu folgen. Als Kriterien dieser Zielsetzung<br />

können etwa der Bekanntheitsgrad der Werke, ihre musikalische<br />

oder dramaturgische Qualität, aber auch der innovative Grad oder<br />

die Herausforderung an Sänger, Dirigenten und Orchester dienen. Oder<br />

man hält sich wie dieser Beitrag einfach an eine zeitliche Vorgabe. Giuseppe<br />

Verdi hat im Dezennium zwischen 1840 und 1850 nicht weniger<br />

als 15 Opern komponiert, zählt man mit gutem Recht die französische<br />

Umarbeitung von „I Lombardi alla prima crociata“ (1843) zu „Jérusalem“<br />

als eigenes Stück.<br />

Die Bezeichnung Anni di galera stammt vom Komponisten selbst, als er<br />

im Jahr 1858 einen resümierenden Blick auf die zurückliegenden 16 Jahre<br />

seines Schaffens wirft, zu einem Zeitpunkt also, da der harte Frondienst<br />

nach eigener Einschätzung eben erst erfüllt war, der Komponist sich also<br />

endlich etwas zurücklehnen und stärker nach eigenem Impuls denn auf<br />

fremdes Geheiß hin kreativ sein durfte. Davor hatte er als Compositore<br />

scritturato, wie es in Italien damals hieß, in rascher Folge den wechselnden<br />

Opernaufträgen (also Scritture) verschiedener Häuser zu genügen. <strong>Der</strong> ästhetische<br />

Wunsch und der kommerzielle Bedarf nach <strong>neue</strong>n Opern (Opere<br />

dʼobbligo) waren in diesen Jahren schier unersättlich. <strong>Der</strong> jeweilige Impresario,<br />

ein meist im Pachtauftrag auf eigenes Risiko agierender Theaterdirektor,<br />

der nicht selten mehreren Opernhäusern vorstand, engagierte<br />

damals in Erfüllung seiner Impresa eine sogenannte Compagnia di canto,<br />

„...il di de la vittoria...!“ Birgit Nilsson als Lady Macbeth (beide © Fayer)<br />

2 | DER NEUE MERKER 12/2013


Guiseppe Verdi<br />

„Il Trovatore“, „La Traviata“) wirkt es, wenn immer wieder kurze Vorspiele<br />

mit charakterisierenden Klangfarben auf die folgenden Ereignisse einstimmen.<br />

Eine weitgesponnene traditionelle Ouvertüre im Potpourri-Stil wie<br />

z. B. in „Nabucco“ wird allmählich zur Ausnahme. Am Ende seines Schaffens,<br />

in den ‚Literaturopern‘ „Otello“ und „Falstaff“, wird der Altmeister<br />

ja sogar völlig unvermittelt in das musikalische Geschehen einsteigen.<br />

Stoffe der Weltliteratur<br />

Von Andrea Graf Maffei, dem Dichter und Vermittler deutscher Literatur,<br />

war schon einmal die Rede. Als enger Freund Verdis hat er als Übersetzer<br />

von Werken Goethes, Schillers und Grillparzers dem Musiker eine<br />

Brücke zum Drama der Weimarer Klassik errichtet. Für „I Masnadieri“<br />

(1847) war er selbst Librettist, zu Textbüchern von „Giovanna dʼArco“<br />

(1845, Temistocle Solera) und „Luisa Miller“ (1849, Salvatore Cammarano)<br />

hat er wenigstens geistig Pate gestanden.<br />

Ein wichtiger ideeller und kultureller Umschlagplatz war für Verdi auch<br />

der Salon von Clara Maffei, der Frau des Freundes, in dem ein reges intellektuelles<br />

Klima zwischen Künstlern, Denkern und Vertretern der ‚guten<br />

Gesellschaft‘ Kontakte stiftete und Anregungen schuf. Galionsfigur<br />

in diesem Kreis war jene legendäre Madame de Staël, deren essayistisches<br />

Hauptwerk „De lʼAllemagne“ (1813) eine unschätzbare Rolle bei der Vermittlung<br />

des deutschen Schrifttums in Italien gespielt hat. Sicher hat Verdi<br />

in diesem Kreis das Historiendrama „Attila, König der Hunnen“ von Zacharias<br />

Werner kennengelernt, aus dem ihm Temistocle Solera das Libretto<br />

des Dramma lirico von 1846 destillierte.<br />

Aber die dichte musische Atmosphäre dieses besonderen Ortes dürfte<br />

dem Komponisten auch weitere Sujets näher gebracht haben: so vor al-<br />

Leo Nucci als mordender Schottenkönig (© Decca Klassik-Magazin)<br />

Dichter, Übersetzer und Germanisten Andrea Maffei als Berater an die<br />

Seite. Gerade bei „Macbeth“ bewähren sich jene Tugenden, die mit dem<br />

Namen des Opernkomponisten Verdi untrennbar verbunden sind: effetto<br />

als verdichtete Bühnenwirkung, dazu parola scenica im Sinne der zupackenden,<br />

stimmigen Wortkraft und varietà als unerhörte Begebenheit im<br />

Schnittbereich von Abwechslung, Dringlichkeit und entladener Emotion.<br />

Auch bei der Aufführungspraxis achtete der Musiker peinlich auf die Einhaltung<br />

seiner unabdingbaren Normen und mehrfach begründeten Absichten.<br />

Berühmt geworden sind die Anforderungen an Maria Barbieri-<br />

Nini, seine erste Lady Macbeth, der er im Zeitalter des Schöngesangs das<br />

ästhetische Postulat der Wahrheit des Ausdrucks als Leitprinzip predigte:<br />

„Ungestalt und hässlich“ sollte sie singen, „mit einer rauen, erstickten, hohlen<br />

Stimme“ – eine Forderung, an der in den kommenden Generationen<br />

und bis heute manche ehrgeizige Primadonna zu nagen hatte.<br />

Als Salvatore Cammarano die Erstaufführung dieses Werks am Teatro San<br />

Carlo in Neapel zu beaufsichtigen hatte, erreichte ihn 1848 folgende Botschaft<br />

Verdis: „Wecken Sie die Aufmerksamkeit dafür, dass es zwei zentrale<br />

Stücke in dieser Oper gibt: Das Duett zwischen der Lady und ihrem Gatten<br />

und den Sonnambulismo. Wenn diese Szenen misslingen, ist es um die ganze<br />

Oper geschehen. Und diese Stücke dürfen absolut nicht gesungen werden. Sie<br />

müssen agiert und deklamiert werden, mit einer recht hohlen und verschleierten<br />

Stimme; andernfalls werden sie nicht den geringsten Effekt machen.“<br />

Auch in zwei anderen Merkmalen zeigt sich der dramaturgische Anspruch<br />

Verdis an seine Libretti schon in dieser frühen Periode: Wie später etwa<br />

im „Trovatore“ lässt er die Thematik der einzelnen Opernakte durch besondere<br />

Titel ankündigen und erläutern. In den „Lombardi“ finden wir<br />

die Übertitel „Die Rache“, „<strong>Der</strong> Mann in der Grotte“, „Die Bekehrung“ und<br />

„Das heilige Grab“. „Ernani“ wiederum gliedert sich in die Abschnitte „<strong>Der</strong><br />

Rebell“, „<strong>Der</strong> Gast“, „Die Milde“, „Die Maske“. In „Luisa Miller“ endlich<br />

werden dem Publikum gleichsam die Gliederungsbegriffe des Sujets an<br />

die Hand gegeben: „Die Liebe“ – „Die Intrige“ – „Das Gift“.<br />

Gleichfalls wie ein Vorgriff auf Verdis reifes Opernschaffen („Rigoletto“,<br />

Nicolai Ghiaurov, Hunnenkönig Attila (© Fayer)<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 3


Aktuelles aus Österreich<br />

lem zwei Werke des Lord Byron. Aus seinem Schauspiel „The Two Foscari“<br />

(1821) hat Francesco Maria Piave das Libretto zur entsprechenden<br />

Tragedia lirica von 1844 gewonnen. Den Stoff für das Melodramma tragico<br />

„Il Corsaro“ (1848) hat derselbe Textdichter von Byrons Verserzählung<br />

„The Corsair“ (1814) in einer italienischen Übersetzung hergeleitet.<br />

im Auftrag des Direktors der Mailänder Scala zwischen drei fertigen Libretti<br />

des angesehenen Felice Romani zu wählen und entschied sich für<br />

„das am wenigsten schlechte“ „Il finto Stanislao“, das vor ihm bereits Adalbert<br />

Gyrowetz komponiert hatte. Immerhin liegt selbst diesem ‚Durchläufer‘<br />

ein geschätztes Schauspiel – die Komödie „Le faux Stanislas“ von<br />

Alexandre-Vincent Pineux-Duval (1809) – zugrunde.<br />

Wesenszüge<br />

An einigen dramaturgischen Versatzstücken seien nun noch ein paar charakteristische<br />

Merkmale der frühen Opern Verdis hervorgehoben. Die Verbindungslinien<br />

zu den Werken seiner reifen und späten Meisterjahre ergeben<br />

und verstehen sich dabei wohl durchwegs von selbst.<br />

<strong>Der</strong> Sinnbezirk „Liebe und Politik“ durchzieht leitmotivisch eine ganze<br />

Reihe von Stücken aus dem betrachteten Jahrzehnt. Ob in „Nabucco“ die<br />

babylonische Königstochter Fenena dem feindlichen Hebräer Ismaele zugeneigt<br />

ist, in „Giovanna dʼArco“ die Titelheldin zwischen dem Kampf<br />

für das Vaterland und der Leidenschaft für ihren König schwankt, oder<br />

in „La battaglia di Legnano“ das emotionale Geschehen von den Wirren<br />

des Krieges überlagert wird: Immer ist es die Spannung zwischen subjektivem<br />

Gefühl und objektiven, realen Zwängen, die Friktionen und Konflikte<br />

erzeugt.<br />

<strong>Der</strong> Themenbereich „Vaterfiguren“, bei dem wir an spätere Werke wie „Rigoletto“,<br />

„La Traviata“ oder „Aida“ weiterdenken, ist gleichfalls eindrucksvoll<br />

repräsentiert: Ich erwähne in Auswahl den alten Dogen Francesco<br />

Foscari, die beiden konträren Gestalten Miller und Walter in „Luisa Miller“,<br />

den alten Massimiliano Moor in „I Masnadieri“, den Schäfer Giacomo,<br />

der seine Tochter Giovanna, die er von bösen Geistern besessen<br />

glaubt, verflucht.<br />

Auch an „Außenseitern“, modern gesprochen „Outlaws“, wie wir sie von<br />

Manrico, Alvaro oder Violetta Valéry kennen, mangelt es im Frühwerk keineswegs:<br />

Corrado, der Korsar, hatte sich einst aus enttäuschter Liebe den Piraten<br />

angeschlossen. Ernani, eigentlich Herzog Juan von Aragon, lebt nach<br />

der Hinrichtung seines Vaters als Rebell in der Verbannung. Und Carlo,<br />

also der Karl Moor der Vorlage, ist nach einem gefälschten Brief seines<br />

Anna Netrebko in Giovanna d‘Arco Salzburg 2013 (© Salzburger Festspiele)<br />

Und noch weitere Frühwerke aus dem so produktiven Dezennium verdanken<br />

sich der – zumindest nach damaligen Wertmaßstäben – großen<br />

Literatur. Die wohl merkwürdigste und nur schwach rezipierte Oper „Alzira“<br />

(1845, Salvatore Cammarano) mit ihrem exotischen Ambiente im<br />

Kriegsgeschehen zwischen Spaniern und Inkas geht auf Voltaires Tragödie<br />

„Alzire ou Les Américains“ (1736) zurück. Das Künstlertandem modernisierte<br />

den alten, ethisch-religiös befrachteten Stoff zu einem Liebesdrama<br />

mit politischem Hintergrund und verlieh der Handlung mit<br />

griffigen Etiketten weitere Brisanz: „<strong>Der</strong> Gefangene“ – „Leben um Leben“<br />

– „Die Rache eines Wilden“.<br />

Auch das beim Publikum ebenso erfolgreiche wie finanziell ertragreiche<br />

Dramma lirico „Ernani“ (1844, Francesco Maria Piave) verdankt sich einer<br />

bedeutenden literarischen Vorlage: Kein Geringerer als Victor Hugo,<br />

auf den die beiden Schöpfer später bei „Rigoletto“ erneut zurückgreifen<br />

werden, war der Autor des Schauspiels „Hernani ou Lʼhonneur castilien“<br />

(1830). Und selbst den stofflichen Hintergrund und die ästhetische Inspirationsquelle<br />

für „I Lombardi alla prima crociata“ (1843, Temistocle<br />

Solera) bildete das damals berühmte und vielgelesene gleichnamige Epos<br />

des renommierten Schriftstellers Tomaso Grossi.<br />

Etwas abseits steht nur das literarische Angebot zu Verdis – auch aus bekannten<br />

biographischen Gründen – nicht recht geglückter komischer<br />

Oper „Un giorno di regno“ (1840). <strong>Der</strong> blutige Anfänger hatte damals<br />

1995 in Wien: José Carreras als Stiffelio mit Mara Zampieri<br />

als ungetreue Ehefrau (© Axel Zeininger)<br />

intriganten Bruders Francesco zum Haupt einer Räuberbande geworden.<br />

„Die notorischen Gegner“, zumeist um die Gunst einer geliebten Frau,<br />

bisweilen auch („I Masnadieri“, „I Lombardi“) feindliche Brüder, sind regelmäßig<br />

auf verschiedene Stimmcharaktere verteilt. Meist ist der Tenor<br />

der erfolgreiche Kandidat (Carlo Moor, Ernani, Rodolfo in „Luisa Miller“).<br />

In „Alzira“ verkörpert der Inkahäuptling Zamoro zugleich den Zeittypus<br />

des edlen Wilden, der gleichwohl aus Eifersucht zum Mörder am<br />

Nebenbuhler wird. Dieser, der spanische Gouverneur Gusman verzeiht<br />

freilich wie später Riccardo im „Ballo in maschera“ noch im Sterben dem<br />

Attentäter und sorgt so für ein versöhnliches Ende.<br />

4 | DER NEUE MERKER 12/2013


Aktuelles aus Österreich<br />

„Entfesselte Frauen“, bald aus Machtgier, dann wieder aus Rachsucht oder<br />

enttäuschter Hoffnung bevölkern gleichsam als Sondertypus der „Pazze“<br />

die Bühne der frühen Werke: Ein Hinweis auf Abigaille („Nabucco“),<br />

Odabella („Attila“) und Lady Macbeth darf hier genügen.<br />

Ein in jeder Hinsicht unvergleichliches Werk steht mit „Stiffelio“ (1850)<br />

am Ende der hier skizzierten, hektischen Periode. Es ist zunächst ein Zeitstück,<br />

sein Handlungsmilieu lebt von der Spannung zwischen Religion,<br />

privaten Affekten sowie der Hierarchie familiärer Ordnung und weist<br />

gleichwohl einige vertraute Muster und Konstellationen auf: den strengen<br />

Vater (Stankar), zwei rivalisierende Männer (Stiffelio, Raffaele), eine<br />

am seelischen Konflikt verzweifelnde junge Frau (Lina). Am Ende steht<br />

eine Versöhnung der besonderen Art: Als der Titelheld in Ausübung seines<br />

geistlichen Amtes die biblische Geschichte von der Ehebrecherin vorträgt,<br />

verzeiht er zugleich als Ehemann seiner reumütigen Gattin, die davor<br />

ihre Beichte abgelegt hatte.<br />

Ein Werk an der Schwelle zu den Meisterjahren ist dieses Stück, über das<br />

Leo Karl Gerhartz überzeugend schreibt: „Diese Oper ist der vielleicht radikalste<br />

Versuch des jungen Theatermanns, zu erproben, welche Gegenstände,<br />

welche Formen auch von Konfliktdiskussionen, sein Operntyp zu tragen und<br />

zu ertragen in der Lage war.“ <br />

Oswald Panagl<br />

England:<br />

BRITTEN CENTENARY CELEBRATIONS<br />

There have been many performances all over the world to celebrate Benjamin<br />

Britten. In the U.K. Opera North has been touring Grimes’, ‘Midsummer<br />

Night’ and ‘Death in Venice’, Orchestras and singers have been<br />

performing his works all round the country, and here in London’s Barbican<br />

a weekend was devoted to his life<br />

and music, culminating in a BBC<br />

concert performance of ‘Albert Herring’<br />

under Steuart Bedford. Pleasures<br />

still to come include a newly<br />

choreographed ‘Prince of the Pagodas’<br />

from David Bintley and Birmingham<br />

Royal Ballet.<br />

I chose to visit the various offerings<br />

in Suffolk, his home county, since<br />

one could not do everything, and<br />

a rewarding time it was.<br />

Opera North at Snape Maltings:<br />

“DEATH IN VENICE” – 1.1.<br />

Yoshi Oida’s production, first seen<br />

at Snape in 2007, has travelled<br />

widely, and was enthusiastically<br />

reviewed by me at its first performance,<br />

when I hoped it would have<br />

an afterlife. Opera North have staged a worthy revival (by Rob Kearley).<br />

Tom Schenk’s set of walkways across shallow water, Richard Hudson’s<br />

perfect period costumes and Katharine Kurz’ choreography for the important<br />

dance scenes (revived by Katharina Bader), and if Paule Constable’s<br />

atmospheric lighting seemed a little subdued from its previous<br />

outing, there are obvious constraints when touring the production to several<br />

venues.<br />

I noted the spare setting and the intellectual rigour Oida brought to the<br />

piece, and thanks to Alan Oke returning to the role of Aschenbach, was<br />

as intense and engrossing as before. His step into the water as he surrenders<br />

to his feelings is just as shocking as before, and the whole experience<br />

is lit by his fastidious acting at first and later his physical decline, his crystal<br />

diction and vocal colour. There is nothing purely decorative in anything<br />

that happens on stage.<br />

Peter Savidge as the Traveller and other parts contrived to characterise<br />

them all, beautifully sung (managing the few important falsetto moments<br />

perfectly), and throughout providing a sinister presence without exaggeration,<br />

the play scene being particularly successful.<br />

Christopher Ainslie, an onstage presence as Apollo, was impressive and<br />

smoothly sung, blending tonally in the whole ensemble without exaggeration,<br />

particularly fine in the Dionysus scene, thrillingly alive with leaping<br />

figures and blazing torches.<br />

A word for Damian Thantrey’s English Clerk who created a real air of<br />

menace in his scene, and to the members of Opera North Chorus who<br />

gave a splendid account of themselves in the many solo parts and the choral<br />

scenes. Tadzio was danced by Emily Mezieres, suitably androgynous,<br />

and fleet of foot in the games on the beach.<br />

Richard Farnes seems to conduct all he touches with unerring style,<br />

and achieves wonderful textures from his orchestra, perfectly and attentively<br />

paced.<br />

All in all a revival which did not disappoint in any respect. Stephen Mead<br />

Jubilee Opera at the Jubilee Hall, Aldeburgh – 10.11.<br />

‘A TIME THERE WAS….’<br />

Jubilee Opera, a company of local children who provided singers for<br />

the Church Parables at this year’s Festival, presented an altogether enchanting<br />

programme of excerpts from Britten’s output, devised (perhaps<br />

for these 3 performances only) by Frederic Wake-Walker (director)<br />

and Steuart Bedford (conductor). The music was put together<br />

seamlessly, with excerpts from the song cycles, the children’s operas,<br />

and scenes from ‘Albert Herring’, “Turn of the Screw”, ‘Midsummer<br />

Night’s Dream’ and others.<br />

The Jubilee Hall was the first venue for Festival Operas, the small pit<br />

Das berühmte „red house“ in Aldeburgh (© Philip Vile)<br />

holding nearly 30 players on this occasion, and the stage decked out with<br />

cottonwool clouds. Through music we were led from childhood to maturity,<br />

about 30 performers being ingeniously cast for the age required.<br />

We began with the rehearsal for Albert Herring’s coronation (with adjusted<br />

words for BB, the birthday boy), and took us on a journey: the bath scene<br />

from ‘The Little Sweep’, the pirates from ‘The Golden Vanity’, a piece of<br />

‘Noye’s Fludde’, and not neglecting the mature and dark side of the composer.<br />

The indispensable Alan Oke gave us amongst other things “A time<br />

there was” from “Winter Words”, the lute song from ‘Gloriana’, and the<br />

battle for Miles with Alexandra Hutton’s Governess from ’Screw’. She<br />

played the mother figure when required and was a delightful Tytania in<br />

the sections from the ‘Dream’, where Alex Ashworth as the father was<br />

an amusing Bottom.<br />

The children of all ages were highly accomplished throughout, and the<br />

whole entertainment was supported by the care Bedford and his players<br />

took to match the abilities of his cast. <br />

Stephen Mead<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 5


Aktuelles aus Österreich<br />

BRITTEN CENTENARY AT ALDEBURGH MUSIC<br />

Aldeburgh and the BBC joined forces for the whole weekend, Radio 3<br />

in residence and broadcasting concerts and features, the BBC Symphony<br />

Orchestra with local Choruses, conducted by Oliver Knussen, giving rare<br />

performances of Britten’s Cantata Academica and Spring Symphony on<br />

the centenary evening (22.11.), and following up with a Sunday morning<br />

family concert including the Welcome Ode, written for School Choirs<br />

in honour of the Queen’s visit to Suffolk and Britten’s last completed<br />

work, and an enthralling setting of Dylan Thomas’s poem ‘Death shall<br />

have no dominion’ by 16 year old Jay Richardson. There was also a premiere<br />

of a setting of four poems for tenor, horn and strings by 18 year<br />

old Alexei Watkins which held real promise. Several other pieces were<br />

premiered by young composers.<br />

There were choral concerts, including a splendid St. Nicholas with Alan<br />

Oke in Aldeburgh Church where it premiered at the first Festival’s opening<br />

concert in 1948. All three of his string quartets were played, and the<br />

gifted musicians of the recently formed Aldeburgh Strings rounded off the<br />

celebrations on the Sunday evening with the Serenade which led without<br />

a break into Part’s Cantus In Memoriam Benjamin Britten, the glow of<br />

the Maltings acoustic making its own unique tribute.<br />

There were art installations, The Red House, his Aldeburgh home and his<br />

birthplace in Lowestoft (now a Guest House) had open days, the amateur<br />

Aldeburgh Music Club (founded by Britten) gave its own choral<br />

tribute… so much else to enjoy.<br />

The emphasis on young talent was absolutely in the spirit of how Britten<br />

saw his place in society. The set of songs for children, Friday Afternoons,<br />

was sung by 800 children at noon on the birthday at Snape, part<br />

of performances by an estimated 100,000 (!) children worldwide starting<br />

in New Zealand and finishing in California during the day. Because<br />

there was no room for an audience, the enterprising Jubilee Opera independently<br />

arranged a tea party in the Jubilee Hall with sandwiches and<br />

cake and invited guests – Britten’s nephews and others associated with his<br />

life and work – who answered questions, and the youngest and newest recruits<br />

gave their own performance.<br />

St. Margaret’s Church, Lowestoft: “NOYE’S FLUDDE” – 21.11.<br />

Britten’s home town got together for this community project with an enormous<br />

North Suffolk Youth Orchestra, led by the Navarra Quartet, an<br />

equally large array of children as the animals, and soloists as Noye’s children,<br />

their wives and gossips.<br />

Paul Kildea, Britten’s latest biographer, led the whole ensemble seemingly<br />

without any difficulty, and the buglers and hand bell ringers were immaculate.<br />

He also managed the audience rehearsal for the integral hymns with<br />

efficiency and good humour. Martin Duncan directed all his performers<br />

with confidence and clarity, everything could be seen on the acting area,<br />

ramped through the choir to the altar at the east end of the church. At<br />

the finish the lights dimmed and the outside floodlights glowed through<br />

the huge window.<br />

Francis O’Connor provided a wonderful set, Noye’s house pulled on its<br />

side formed the Ark, and the washing line became the sail. Suspended<br />

clouds revealed rain drops and lightning bolts and then opened again as<br />

flowers in front of the beautifully projected rainbow on a curtain of stage<br />

smoke. The animal masks were colourful and had many amusing details,<br />

above all they were fun for performers and audience alike! Chris Ellis<br />

devised the lighting. Gently simple choreography for the child raven<br />

and dove by Adam Scown fitted the little musical interludes like a glove.<br />

Andrew Shore was a forthright Noye, exactly what was required and<br />

most moving at the end when blessed. His Wife, the formidable Felicity<br />

Palmer, was also perfectly cast. Zeb Soanes, a well known radio voice<br />

and Lowestoft born, was the Voice of God; as the audience assembled he<br />

was reading the shipping forecast (an institution of our maritime nation)<br />

Noye‘s fludde, der Stoff über die Arche Noahs (© Robert Workman)<br />

over Noye’s radio, and it was when Noye tried to change the programme<br />

he found he was being instructed by God. A perfect little joke!<br />

Britten said: “I am first and foremost an artist, and as an artist I want<br />

to serve the community”. This extraordinary week end showed how his<br />

works have become his legacy, as he wished.<br />

I recommend a visit to www.britten100.org <br />

„Die Zauberflöte“ – entzaubert<br />

17.11. – Premiere in der Staatsoper<br />

Stephen Mead<br />

Als Wolfgang Amadé Mozart nach dem Höhenflug der Da Ponte-Opern<br />

zum Text eines etwas dubiosen Emanuel Schikaneder griff – wobei man<br />

nicht einmal genau weiß, ob nicht ein Herr Giesecke, Chorist am nämlichen<br />

Theater, daran beteiligt war – hatte das Stück zwar einen Riesenerfolg,<br />

aber die Nachwelt urteilte strenger. Gar zu sehr habe er sich auf die<br />

Maschinenkomödie der Vorstadt eingelassen, meinten selbst wohlmeinende<br />

Mozartfreunde, zu jäh kippten die Leitfiguren Sarastro und Königin<br />

der Nacht vom Guten ins Sinistre und im übrigen sei das Werk eine<br />

allzu simple Kinderoper.<br />

Dabei ist gerade durch die Mischung heterogener Elemente, die das Werk<br />

kennzeichnet, seine Einmaligkeit entstanden, denn wo können Volkstheater<br />

und Ägyptensehnsucht, priesterliche Erhabenheit und gestrenge Initiationsriten,<br />

Freimaurerei und sogar Frauenmissachtung und Rassismus<br />

miteinander auskommen? Ganz einfach: Durch die hohe musikalische<br />

Kunst des Meisters, durch volksliedhafte Schlichtheit, erhabene Polyphonie,<br />

ariose Innigkeit und Herzlichkeit, durch Witz und Charme. So<br />

entsteht das Werk, das fast Jahr für Jahr die Aufführungsstatistik anführt.<br />

Und das trotz aller Schwierigkeiten, die es bietet. Und diese Summe an<br />

Kraft, Wahrheit und Lebendigkeit ist ausgegangen von einem hölzernen<br />

Theater in der Wiedner Vorstadt.<br />

Nun ja. Die Tendenzen des Theaters heute machen eine „Zauberflöten“-<br />

Aufführung nicht einfacher. Ausgeklügelte Gags verdrängen den echten<br />

Humor, die Ausstattungen dürfen nicht mehr märchenhaft sein, sondern<br />

dienen der Erklärung gesellschaftlicher Gegensätze, die auch spürbar waren,<br />

als man das Stück noch vom Blatt spielte. Aber dafür wurde damals<br />

besser gesungen.<br />

So sieht die jüngste Neuinszenierung von Moshe Leiser/Patrice Caurier<br />

eben aus. Eine Produktion, mit der man leben kann (wahrscheinlich praktikabler<br />

als Marellis bereits in Schieflage geratene priesterliche Macht),<br />

6 | DER NEUE MERKER 12/2013


Aktuelles aus Österreich<br />

Die Königin der Nacht bleibt am Boden! - Olga Pudova<br />

das machte, war sehens- und hörenswert. Auch als 2. Priester setzte er im<br />

Umgang mit Papageno etliche Glanzlichter.<br />

<strong>Der</strong> prinzliche Nachfolger, Benjamin Bruns, phrasiert gut, spielt mit Anstand<br />

und ist so mit einigen Facetten für die Rolle versehen. Aber ich habe<br />

das Wiener Mozart-Ensemble der 40er- bis 60er-Jahre miterlebt und mir<br />

fehlt bei den meisten Mitgliedern des Ensembles einfach die klingende,<br />

„gesammelte“ (wie Jürgen Kesting sagen würde) Mittellage. Und ohne die<br />

klingt eben Mozart nicht wirklich. Irgendetwas läuft schief in der zeitgenössischen<br />

Sängerausbildung, denn auch Chen Reiss spielt mit Anmut,<br />

kann in der höheren Lage schöne Bögen bilden, aber die Pamina braucht<br />

eine warme, gut geformte Mittellage, ohne die klingt sie eben kühl. Olga<br />

Pudova hat eine funkelnde Höhe, die Dramatik der Königin kommt nicht<br />

ganz zu ihrem Recht, aber sie hielt sich tapfer, obzwar sie recht unköniglich<br />

entweder zu Fuß hereinspaziert oder – in einem untypischen knallroten<br />

Kostüm – mit ihren Mondsicheln aus der Unterwelt hochfährt. Aber<br />

dafür kann sie ja nichts. Ihr Personal war mit dem munteren Trio Olga<br />

Bezsmertna, Christina Carvin und Alisa Kolosova stimmkräftig und<br />

wortundeutlich besetzt.<br />

D e r Papageno von heute -<br />

Markus Werba mit dem historischen Vogelhändlerkorb<br />

die ein paar knallige Gags bietet, aber absolut charmefrei abläuft, was bei<br />

Franzosen verwunderlich ist – und in der ganz gut, aber nicht ohne eine<br />

gewisse Anstrengung gesungen wird.<br />

Ein Kastenraum ist der Schauplatz, Natur, Weite und Luft sind ausgespart.<br />

Christian Fenouillat ist für die Verdopplung des Bühnenrahmens<br />

mit abschließender Gebäudefront in trostlosen Brauntönen verantwortlich<br />

zu machen, Agostino Cavalca für Kostüme, die von überkandidelt<br />

aufgemotzten Damen bis zur grauen Masse des Chores reichten, der an<br />

vergangene DDR-Zeiten gemahnt. Die Tiere sorgen für die üblichen Kicherer<br />

(Choreographie: Beate Vollack), vom Schnürboden kam allerhand<br />

herunter, auch das Seil für Papagenos Selbstmordversuch, denn es gab keinen<br />

Baum, den er zieren hätte können. Am allerabsurdesten wirkten die<br />

Choristen, wenn sie, als Stasi-Typen mit Hut und Mantel angetan, hereinstürzten,<br />

plötzlich abbremsten und in die feierlichen Priestergesänge<br />

ausbrachen („O Isis und Osiris, welche Wonne!“) und dann wieder hinausstürzten,<br />

um offenbar ihrer Spitzeltätigkeit nachzugehen. Genug davon!<br />

Das ehemals unter dem Schutz des mächtigen Sonnenkreises blühende<br />

Reich des Sarastro ist ein von grauen Bürokraten bevölkertes Armenhaus<br />

geworden. In Bürokleidung von der Stange treten auch Tamino und Pamina<br />

nach ihrer unterirdischen Feuer- und Wasserprobe auf. Ob sich die<br />

auch ausgezahlt hat? Welche Botschaft wollten uns die Regisseure, von denen<br />

man sehr wohl Besseres gewöhnt ist, eigentlich verkünden?<br />

Brindley Sherratt ließ sich zwar ansagen, sang aber einen seriösen Sarastro.<br />

Dass die durch Kothurne geschaffene 2-Meter-Größe nicht ausreichte,<br />

ihm auch Bühnenpräsenz zu verleihen, blieb nicht verborgen, aber<br />

so kann man einen Sarastro wirklich nicht herrichten. Auch sein Sprecher<br />

gab einen gemütlichen Bürovorstand, aber w i e Alfred Šramek<br />

Das hohe Paar im Prüfungs-Streß (alle © Armin Bardel)<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 7


Aktuelles aus Österreich<br />

Das gefiederte Paar bot einen Lichtblick, denn es gab nichts auszusetzen,<br />

außer dem hässlichen und sicher sehr strapaziösen Rabenkostüm der Papagena<br />

Valentina Nafornita, die ihre Model-Figur erst im Höhenflug<br />

mit Papageno zeigen konnte. Gesanglich ist sie natürlich über die Rolle<br />

längst hinaus. Markus Werba ist ein sehr natürlicher, munterer und herzlicher<br />

Papageno, der alles absolut richtig macht, was für die Rolle erforderlich<br />

ist. Dafür hat er für seine Witze pünktlich die Lacher. Thomas<br />

Ebenstein (Monostatos), der von der Berliner Komischen Oper kommt,<br />

ist, wie dort üblich, äußerst spielfreudig. Auch seine Arie hat er im Griff.<br />

Marian Talaba und Dan Paul Dumitresco waren stimmkräftige Geharnischte,<br />

natürlich ohne Harnisch. Benedikt Kobel ergänzte die (sogenannte)<br />

Priesterschaft. Die drei Sängerknaben, die nicht zu ihrer Auftrittsmusik<br />

anfliegen durften, sondern erst mit Pamina, nachdem sie deren<br />

Selbstmord verhindert hatten, wegfliegen, waren außer Form. Auch da<br />

kriselt es offenbar, seit drei Chöre Geld verdienen müssen.<br />

Keine guten Impulse kamen vom Pult. Christoph Eschenbach hat zwar in<br />

mehreren Chefposten ein Repertoire angesammelt, das er jederzeit überall<br />

einsetzen kann, aber er tut es überhastet, so schnell, dass die Sänger kaum<br />

artikulieren können, oder so langsam, dass man einen Stillstand befürchtet.<br />

Mehr Ruhe, mehr Übersicht, mehr Begleitqualitäten würde er brauchen,<br />

um in der Oper reüssieren zu können, wie einstmals als Pianist. Das<br />

Staatsopernorchester spürte das auch, realisierte diszipliniert all die verlangten<br />

Tempi, aber gelegentlich hatte man den Eindruck, es würde den stärksten<br />

Fluch verhängen, den es auf Lager hat: „Wir spielen, was er dirigiert“!<br />

<strong>Der</strong> Staatsopernchor (unter Martin Schebesta) sang tadellos und trotz<br />

der schäbigen Verkleidung sehr animiert.<br />

Nehmt alles nur in allem: Mit Mozart geht es derzeit an der Staatsoper<br />

(und auch anderswo) nicht so gut.<br />

Trotzdem freundlicher Applaus. <br />

I.M.S.<br />

Ein verwüstetes und unheimlich-dunkles Kreta erwartet uns in der Inszenierung<br />

von Damiano Michieletto. Sind die vielen Gummistiefel, die auf<br />

dem vergammelten Sand des Strandes herumliegen, die kärglichen Überreste<br />

der Seeleute, die mit Idomeneo zurückkehrten und beim Scheitern<br />

seines Schiffes ertranken, obzwar er den verhängnisvollen Eid geleistet<br />

hatte, Neptun das erste Lebewesen zu opfern, das ihm nach seiner Rettung<br />

begegnen würde? Doch nein, er wird in einem Spitalsbett wach –<br />

offenbar nach einem Alptraum, denn der (lt. Homer) „lanzenberühmte“<br />

Held, der so stolz „mit achtzig dunkelen Schiffen“ gen Troja zog, ist nur<br />

mehr ein Schatten seiner selbst. Sein Sohn Idamante, den er, wie in einem<br />

Video während der Ouvertüre erklärt wird, mit der Einkleidung in den<br />

herkömmlichen Politikeranzug zum Statthalter und Nachfolger geweiht<br />

hat, ist offenbar seiner Aufgabe nicht gewachsen gewesen und hat stattdessen<br />

Ilia, die gefangene trojanische Prinzessin, geschwängert (Schwangere<br />

sind momentan in vielen Stücken zu sehen, wo sie gar nicht hingehören,<br />

das ist derzeit „in“). Und der politische Flüchtling Elettra geht<br />

hochmodische Teile shoppen und stöckelt damit über den verwüsteten<br />

Strand. Das ist die Situation.<br />

Michieletto hat aber eine bemerkenswerte Eigenschaft: Er kann faszinierende<br />

Bilder entwerfen! Wenn sie auch noch so triste sind, sie wirken packend<br />

und schaffen den Hintergrund einer Situation, auch wenn sie gar<br />

nicht der gerade zu spielenden entspricht. Als ihn Alexander Pereira in<br />

Salzburg aus dem Hut zog, hat er mit „Mimis Würstelstand an der Autobahn“<br />

(La Bohème) seine Blitzkarriere weltweit gestartet. Und so treibt er<br />

es auch im „Idomeneo“. Was hier aufgeführt wird, ist ein anderes Stück,<br />

wirkt aber gut gemacht. Er überzeugt das Personal, das sich die Seele aus<br />

dem Leib singt und spielt – und damit überzeugt er (zumindest teilweise)<br />

auch das Publikum.<br />

Und so taumelt die Bevölkerung des hundertburgigen Kreta wie vom Taifun<br />

verblasen umher, wälzt sich wie die aus Eifersucht und Neid wahnsinnig<br />

werdende Elettra im Dreck, der alte König stirbt und wird auch<br />

gleich im Sand verscharrt, Ilia bringt ihr Kind zur Welt und so hat das<br />

junge Paar auch sofort einen Thronfolger – fast wie in England. Wenn<br />

man Mozarts Idomeneo schon kennt und ohnedies der Decker-Inszenierung<br />

der Ära Holender nachweint, die nach zwei kurzen Serien spurlos<br />

verschwand, ist man zumindest interessiert daran, was die Regisseure mit<br />

den wehrlosen alten Stücken noch aufführen werden.<br />

Musikalisch ging allerdings alles seinen geregelten Gang. René Jacobs<br />

hat nie die magersüchtige Darstellungsweise der „echten“ Originalklangler<br />

goutiert, auch nicht ihr atemloses Hineinhacken. Er war immer bestrebt,<br />

eine schöne Linie zu finden, er ist oft gescholten worden wegen<br />

„üppiger“ Besetzungen oder (bei Monteverdi) auch ebensolcher Instrumentationen,<br />

die man als zu dick empfand. Offenbar hat er seine Sängererfahrungen<br />

für eine abgerundete Gesamtwirkung genützt. Und so ist<br />

er heute ebenso beliebt wie angesehen und wird bejubelt, wo immer er<br />

auftritt, und mit ihm sein hervorragendes Ensemble, das Freiburger Barockorchester.<br />

<strong>Der</strong> phänomenale Arnold Schoenbergchor macht höchst<br />

professionell alle Extreme mit, die der Regisseur fordert und singt dabei<br />

großartig, mit perfekter Phrasierung und Intonation. Und gute Sänger<br />

hat Jacobs auch immer wieder.<br />

Richard Croft, sehr zurückgenommen (sein böser Mitridate in Salzburg<br />

05/06 ist unvergessen!), gibt den alten, müden König mit Stil und Ausdruck.<br />

Idamante war für uns neu, ein aparter Mezzo in stimmlicher und darstellerischer<br />

Hinsicht: Gaëlle Arquez. Weitere Begegnungen sind erwünscht! Sehr<br />

fein und intensiv gestaltete Sophie Karthäuser die Ilia. Marlis Petersen<br />

sang nicht nur die gefürchtete Partie der Elettra fabelhaft, sie spielte auch<br />

ein weites Ausdrucksregister auf faszinierende Weise. Julien Behr machte als<br />

Theater an der Wien<br />

15.11. „IDOMENEO“<br />

<strong>Der</strong> Titelheld in Aktion - Richard Croft (© Werner Kmetitsch)<br />

Arbace mit einer sehr gut gesungenen Arie aufhorchen, Mirko Guadagnini<br />

war ein kraftvoller Sacerdote. Das Orakel kam vom Band. (Luca Tittoto.)<br />

Voller Erfolg. <br />

I.M.S.<br />

8 | DER NEUE MERKER 12/2013


Aktuelles aus Österreich<br />

16.11.: „LES DANAΪDES“ (konzertant)<br />

Wieder einmal konnte man im Theater an der Wien ein seltenes und äußerst<br />

interessantes Werk erleben, das in Kooperation mit dem Pariser Palazzetto<br />

Bru Zane aufgeführt wurde. Antonio Salieri bekam durch Gluck,<br />

der den jungen Kollegen sehr förderte, die Gelegenheit, dieses Sujet, das<br />

schon bei Metastasio ein Thema war, zu vertonen, und damit in Paris ein<br />

erfolgreiches Debut als Opernkomponist zu machen.<br />

Die Handlung – bei Aischilos überliefert – ist äußerst blutrünstig: es geht<br />

um die zutiefst verfeindeten Zwillingsbrüder Danaos und Aigyptos, die,<br />

um den Familienstreit zu beenden, beschließen, ihre je 50 Töchter und 50<br />

Söhne (wie außerordentlich fruchtbar!!) miteinander zu verheiraten. Danaos<br />

ist jedoch unversöhnlich und verpflichtet seine Töchter, ihre jungen<br />

Ehemänner in der Hochzeitsnacht zu ermorden. Nur die älteste Tochter<br />

Hypermnestra, die sich schon in ihren Bräutigam verliebt hat, folgt diesem<br />

Befehl nicht und warnt ihren Gatten Lynkeus. <strong>Der</strong> Vater bezichtigt sie<br />

des Verrats und wird von Lynkeus, der seine Brüder rächt, getötet. Danaos<br />

und seine Töchter müssen in der Unterwelt von Furien gequält für ihre Taten<br />

bis in alle Ewigkeit büßen.<br />

Salieri hat das Werk ganz im Stile von Glucks Reformopern komponiert,<br />

schon weit entfernt von barocken Traditionen. Das Orchester steigert<br />

sich in die Düsternis und Dramatik der Handlung wechselnd mit lieblichen<br />

Melodien, sodass man meint, schon die zukünftige Entwicklung zur<br />

französischen Grand Opéra ahnen zu können. <strong>Der</strong> Chor spielt sowohl in<br />

kommentierender als auch in handelnder Funktion eine tragende Rolle.<br />

Man könnte die „Danaiden“ als eine Choroper bezeichnen.<br />

Die Aufführung lag in den fähigen Händen von Christophe Rousset, der<br />

sein Ensemble Les Talens Lyriques zu wahrem musikalischen Ausdruck und<br />

Furor anfeuerte, der auch Bühne und Publikum mitriss. <strong>Der</strong> ausgezeichnete<br />

Chor Les Chantres du Centre de Musique baroque de Versailles, der hörbar<br />

nur aus mehrjährig ausgebildeten Sängern besteht, begeisterte das Publikum<br />

und war wesentlich am Erfolg des Abends beteiligt.<br />

Ferner gab es ein ausgezeichnetes Sängerensemble, das der Musik Salieris<br />

voll Rechnung tragen konnte:<br />

Zuerst möchte ich die niederländische Sopranistin Judith van Wanroij<br />

nennen, die mit schöner, klarer Stimme sowohl die lyrischen Aspekte der<br />

Hypermnestre ausfüllte als auch zu dramatischen Ausbrüchen in ihrer<br />

großen Bravourarie fähig war.<br />

Ihr Vater Danaos wurde vom Bass Thassis Christoyannis mit der hier<br />

notwendigen Strenge und Düsternis gesungen, sodass der rachsüchtige<br />

König auch ohne Kostüm auf der Bühne erstand.<br />

Im Gegensatz dazu stand der Bräutigam Lyncée von Philippe Talbot mit<br />

lyrischen und lieblicheren Tönen. Ergänzend in kleineren Rollen: Katia<br />

Velletaz und Thomas Dolié.<br />

Ein sehr schöner und interessanter Abend, der die Möglichkeit bot, den<br />

Komponisten Salieri, der im Bewusstsein der heutigen Musikfreunde meist<br />

nur durch die Mordgerüchte um Mozart verankert ist, einmal wirklich zu<br />

hören und an einem Jugendwerk zu messen. Silvia Herdlicka<br />

Kammeroper: „LA CENERENTOLA“ – Pr. 25.11. -<br />

Junges Ensemble zu bewundern<br />

<strong>Der</strong> jugendliche Antonio Salieri im zeitgenössischem Porträt<br />

Als Ableger des Theaters an der Wien, das sich damit wohl bis zu einem<br />

gewissen Grad den eigenen Nachwuchs aufbaut, hat die Kammeroper natürlich<br />

eine andere Basis als früher unter eigener Leitung. Die Sänger der<br />

Hauptrollen dieser Rossini-Buffa könnten wohl auch im größeren Haus<br />

schon sehr wohl bestehen.<br />

Als fabelhafte Titelrollensängerin gab es die Italienerin Gaia Petrone zu hören.<br />

Sie ist Besitzerin eines prachtvollen Mezzosoprans, apart timbriert, beachtlichen<br />

Volumens und vor allem butterweich sich jeder Kantilene anschmiegend<br />

und genussvoll dort verweilend, egal ob im lyrisch-elegischen „Una volta c’era<br />

un re“, als ruhig-feste vokale Basis in den Szenen mit ihren keifenden Schwestern<br />

oder im finalen Koloratur-reichen, virtuosen Höhenaufschwung. In dieser<br />

Stimme steckt wohl noch sehr viel mehr drinnen. Schlicht und sympathisch<br />

gestaltete sie die Angelina, ohne sich demonstrativ in den Mittelpunkt<br />

zu spielen. Die Gewinnerin mehrerer internationaler Gesangswettbewerbe<br />

wird u.a. noch in dieser Spielzeit den Sesto im „Titus“ singen.<br />

Einen ebensolchen Publikumserfolg konnte der Tenor Andrew Owens<br />

als Don Ramiro einheimsen. Kraft und Saft einer gut geführten Stimme<br />

vereinigte sich mit schönem Höhenglanz und sein temperamentvoll geäußertes<br />

Vorhaben, die geliebte Braut wiederzufinden: „Noi voleremo, domanderemo…“<br />

erntete hellen Jubel. Die kernige, flexible und schon recht<br />

große Baritonstimme seines „Dieners“ Dandini, Ben Connor gehörend,<br />

war seinem prinzlichen Herrn durchaus ebenbürtig.<br />

Obwohl sich der Bassist Igor Bakan, der in dieser Produktion gleich in beiden<br />

Rollen, als Don Magnifico und Alidoro, auftrat, wegen gesundheitlicher<br />

Probleme entschuldigen ließ, schlüpfte er mit viel Stimmkraft und großem<br />

spielerischem Einsatz von einer Rolle in die andere, sodass er trotz allem einen<br />

sehr positivnr Eindruck hinterließ. Gar so greisenhaft hätte er freilich nicht<br />

umhertapsen müssen. Und auch die beiden bösen Schwestern, Gan-ya Bengur<br />

Akselrod (Clorinda) und Natalia Kawalek-Plewniak (Tisbe) agierten<br />

derart überdreht und waren ebenso dümmlich aufgemacht, dass eine seriöse<br />

Beurteilung auch der durchaus respektablen vokalen Leistungen schwer fällt.<br />

Doch dafür ist wohl in der erster Linie die Regie verantwortlich. Jasmin<br />

Solfaghari ist zweifellos eine sehr musikalische Regisseurin, war (siehe das<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 9


Aktuelles aus Österreich<br />

Das Cenerentola-Ensemble in voller Spielfreude (© Armin Bardel)<br />

folgende Interview) Berufsmusikerin und bemüht sich, wirklich aus der<br />

Musik heraus zu inszenieren. Beginnend schon während der Ouvertüre mit<br />

dem Wäsche-Aufhängen der Cenerentola auf einer Leine, die nach jeden<br />

daran geklammerten Wäschestück einen Ruck höher im Rhythmus der<br />

Musik quer über den Orchestergraben hochgezogen wird, bewegen sich<br />

dann auch alle Personen auf der Bühne sehr genau zum jeweiligen musikalischen<br />

Ablauf. Dass da mitunter etwas zu viel des Guten getan wird,<br />

liegt auf der Hand. Auf jeden Fall hat Frau Solfaghari eine Menge Ideen<br />

und weiß diese auch umzusetzen. Im einfach gehaltenen Bühnenrahmen<br />

(Mark Gläser) und mit z.T. geschmackvollen (Angelina in schlichtem<br />

Weiß, der Tenor im Privatgewand, mit bloß einer Seidenschleife nach seiner<br />

Rückverwandlung in den Prinzen), aber zum größeren Teil überkandidelten<br />

Kostümen (Petra Reinhardt) war die Optik zwiespältig, aber die<br />

Bühne zumeist hell und somit alles gut zu sehen.<br />

Unnötig war der Einsatz eines Erzählers namens Luna, ein älterer Herr (Alexander<br />

Waechter), der sich als Mann vom Mond vorstellt, der immer wieder<br />

gern unseren Planeten besucht, weil es hier etwas gibt, was er zuhause<br />

nicht vorfindet: die Oper. Da schleicht er sich dann auch gerne von hinten<br />

in ein Opernhaus ein, ungeniert, ob er dabei erwischt wird oder nicht, und<br />

fühlt sich bemüßigt, die aufgeführten Stücke zu kommentieren. Das war<br />

nur mäßig witzig und bestand im Wesentlichen aus kurzen Inhaltsangaben<br />

dessen, was vorher passiert ist und demnächst passieren wird. Gegen<br />

Schluss der Oper bleibt er dann mit dem übrigen Ensemble auf der Bühne.<br />

Das mag für Kindervorstellungen ganz hilfreich sein. Am Premierenabend<br />

sah ich aber keine so jungen Gäste und fand die nicht von Rossini vorgesehenen<br />

Sprechtext eher störend.<br />

Viel Rossini-Vergnügen breitete sich hingegegen vom Orchestergraben aus.<br />

<strong>Der</strong> russische Dirigent Konstantin Chudovsky, der bereits auf ein erstaunlich<br />

vielfältiges Repertoire von Moskau bis Chile (wo er seit Jänner 2013<br />

Chefdirigent des Philharmonischen Orchesters in Santiago ist) vorweisen<br />

kann, hat u.a. Carmen, Kátja Kabanova, Die Sache Makropoulos, Rossinis<br />

Barbiere und an der Kammeroper La cambiale di matrimonio, ferner Siberia<br />

(Giordano), Lady Macbeth von Mzensk und Khovanshchina dirigiert. Mit<br />

Rossini kann er bestens umgehen. Da ist kein Leerlauf. <strong>Der</strong> oft (auch zuletzt<br />

an der Staatsoper unter Lopez-Cobos) so belanglos wirkende Beginn<br />

der Ouvertüre ist zugleich spritzig, von heller Harmonie geprägt und erhöht<br />

die Erwartungshaltung des Zuhörers, ehe das Stück dann auf Rossini-<br />

Tempo kommt. Das ist nie überdreht, sondern mitreißend in seiner ständigen<br />

Bewegtheit, meist mit wunderbaren Crescendi aufgebaut, und dann<br />

oft übersprudelnd vor lauter komponierter Lebensfreude. Die großen Ensembles<br />

samt dem sehr engagierten Chor gelangen durchwegs brillant. Das<br />

Wiener Kammerorchester hatte hörbar seine helle Freude am inspirierten<br />

musikalischen Geschehen. Sieglinde Pfabigan<br />

Die Regisseurin Jasmin Solfaghari<br />

Von Kindheit an Wagner<br />

Eine Woche vor der Premiere ihrer „Cenerentola“-Inszenierung in der<br />

Wiener Kammeroper stand die Regisseurin Jasmin Solfaghari dem<br />

„<strong>Merker</strong>“ Rede und Antwort.<br />

„Cenerentola“ in der Kammeroper<br />

Es ist nicht die erste Regiearbeit von Jasmin Solfaghari in Wien, aber die<br />

andere – „Eine Nacht in Venedig“ 1999 in der Kammeroper, damals von<br />

Josef Hussek engagiert – liegt lange zurück. (In den eigenen Kritiken kramend,<br />

habe ich damals geschrieben: „Regisseurin Jasmin Solfaghari, Assistentin<br />

von Harry Kupfer und anderen Großen, ließ sich auf keinerlei Experimente,<br />

sondern nur auf gute Laune ein.“)<br />

Sie hat auch in Linz und Klagenfurt gearbeitet, aber eines Tages kam der<br />

Anruf aus Wien, vom Theater an der Wien. Nicht von Direktor Geyer<br />

persönlich, aber von Sebastian Schwarz, der als künstlerischer Leiter am<br />

Haus fungiert. Ihn kennt Jasmin Solfaghari aus ihren und seinen Anfängen<br />

1992 in Rostock.<br />

Er dachte vermutlich an Jasmin, weil sie sich einen gewissen Ruf als Gestalterin<br />

auch von kindergerechten Opernaufführungen erworben hat,<br />

und die „Cenerentola“, die das Theater an der Wien in der Kammeroper<br />

zeigen will, soll sowohl für Kinder wie auch vollinhaltlich für Erwachsene<br />

geeignet sein.<br />

„Herr Luna erzählt“<br />

Für ihre „alt und jung“-Fassung der „Cenerentola“ greift die Regisseurin<br />

auf eine Figur zurück, die sie 2009 in Leipzig kreiert hat, als sie dort eine<br />

kindergerechte Fassung von „Figaros Hochzeit“ schuf. „Herr Mond“ ist<br />

bei ihr Opernfan und begibt sich gerne auf die Erde, um diese oder jene<br />

Vorstellung zu sehen. Er wird auch in Wien als deutschsprachiger Erzähler<br />

(bei italienischem Gesang) dabei sein und die Züge von Josefstadt-Schauspieler<br />

und Rosenburg-Intendant Alexander Waechter tragen. Er berichtet<br />

von der wahren Liebe eines Paares, des Prinzen und des Aschenputtels,<br />

und darauf legt die Regisseurin besonderen Wert: „Wir legen uns nicht fest,<br />

an welchem Ort, zu welcher Zeit das spielt – es ist einfach eine ewige Liebesgeschichte.“<br />

Mit nicht so liebenswürdigen Nebenfiguren, die alles tun, um<br />

gesellschaftlich aufzusteigen, wie das im Leben auch schon mal vorkommt.<br />

Für die Ausstattung hat Jasmin Solfaghari ihr eigenes Team mitgebracht.<br />

Das Bühnenbild stammt von Mark Gläser und vor allem die Kostüme von<br />

Petra Reinhardt sollten besonders schön werden, „Bei mir wird niemand<br />

wirklich hässlich gemacht“. Vielleicht erinnert die Angelina manchen Zuschauer<br />

spontan an Audrey Hepburn, und das wäre dann ganz richtig so…<br />

„Um das Ego geht’s erst ganz spät“<br />

Dass sie ihre Darsteller nicht hässlich machen will und dass es von ihr die<br />

Aussage gibt: „Es geht um die Stücke, um das Ego geht’s erst ganz spät“, hebt<br />

Jasmin Solfaghari aus dem Kreis der heute erfolgreichen Regisseure heraus.<br />

Sie hat kein Problem damit, dass es sie manchmal wie ein Vorwurf trifft,<br />

„werkkonservativ“ zu sein, aber ihr Sinn steht keinesfalls auf Zerstörung.<br />

Sie hat auch keinerlei „Inszenierungs-Masche“ entwickelt, so dass man sie<br />

auf Anhieb erkennen könnte. Sie fragt zuerst, was das Werk selbst und natürlich<br />

die Musik ihr erzählen, dann denkt sie sich ihr Konzept dazu aus.<br />

Dabei verweist sie auf ihre Homepage (http://www.solfaghari.com/), die<br />

sie selbst betreut, und wo sie sich den Spaß gemacht hat, lange Bilderserien<br />

von allen ihren Inszenierungen hineinzustellen…<br />

Übrigens gibt Jasmin Solfaghari gerne zu, dass nicht alles gelingen kann.<br />

„Tannhäuser“ beispielsweise, den sie 2008 an der Kölner Oper inszeniert<br />

hat, würde sie gerne noch einmal machen, obwohl sie einiges daran (etwa<br />

die Verstörtheit/Zerstörtheit der Elisabeth, wie Camilla Nylund sie damals<br />

zeichnete) ganz gelungen findet. Wie Jasmin Solfaghari zu ihrer besonderen<br />

Verbundenheit zu Wagner fand, dazu muss man weit zurückgehen –<br />

aber vielleicht fangen wir am besten gleich am Anfang an…<br />

10 | DER NEUE MERKER 12/2013


Aktuelles aus Österreich<br />

als Kollege ein gewisser Klaus Florian Vogt das Horn. Aber weder Jasmin<br />

noch Klaus Florian konnten sich vorstellen, lebenslang im Orchestergraben<br />

zu versinken. Man weiß, was daraus geworden ist – Klaus Florian<br />

Vogt ist heute einer der führenden Wagner-Tenöre nicht nur Deutschlands,<br />

sondern der Welt, und Jasmin Solfaghari baute sich eine bemerkenswerte<br />

Karriere als freie Regisseurin auf…<br />

Die Regisseuse Jasmin Solfaghari<br />

Erinnerungen an Persien<br />

Jasmin Solfaghari, die ihr Geburtsdatum (1963) keinesfalls verschweigt,<br />

kam in Freiburg im Breisgau zur Welt, übersiedelte aber schon im Babyalter<br />

nach Teheran. Ihr Vater hatte bei seinem Wirtschaftsstudium in<br />

Deutschland ihre Mutter kennen gelernt („Persisch-deutsche Ehen waren<br />

damals sehr häufig, da viele Perser aus bürgerlicher Familie in Deutschland<br />

studierten,– ich treffe immer wieder Leute wie mich, die aus solchen Beziehungen<br />

stammen!“). Jasmin Solfaghari hat nur positive Erinnerungen daran,<br />

als kleines Mädchen in Persien aufzuwachsen, inmitten einer riesigen Familie,<br />

in der sich ihre Mutter auch sehr wohl und keinesfalls unterdrückt<br />

fühlte. Dennoch waren die kulturellen Unterschiede im Lauf der Zeit zu<br />

groß – nach der Trennung ihrer Eltern kehrte sie mit ihrer Mutter nach<br />

Deutschland zurück. Problemlos. Die große Dramatik, die etwa in dem<br />

Buch der Amerikanerin Betty Mahmoody „Nicht ohne meine Tochter“<br />

geschildert wird, fand bei den Solfagharis nicht statt.<br />

„Ich habe aus meinen wunderschönen Jahren in Teheran den passiven Sprachschatz<br />

einer Sechsjährigen mitgebracht, verstehe viel mehr, als ich leider spreche“,<br />

meint Jasmin Solfaghari, die seit ihrer Kindheit nie mehr im Iran<br />

war, denn ihre Familie hat das Persien von einst mit dem Schah nach der<br />

Revolution verlassen. Heute wohnen die meisten in Los Angeles, wo sie<br />

ihren alten, vitalen Vater und ihren Bruder mit Familie gerne besucht.<br />

Freiburg und Wagner<br />

Aufgewachsen ist Jasmin dann in Freiburg im Breisgau, einem von Kultur<br />

durchdrungenen Universitäts-Städtchen, Frankreich und die Schweiz<br />

gleich „nebenan“ (Sprachen sind übrigens eine Leidenschaft von Jasmin<br />

Solfaghari, die an der ordentlichen französischen (ihre Großmutter stammt<br />

aus der französischen Schweiz) oder italienischen Aussprache ihrer Sänger<br />

unermüdlich arbeiten kann), und Wagner mittendrin. Josef Lienhart<br />

führte hier nicht nur eine traditionsreiche Bäckerei, die zum Zentrum aller<br />

Musik-Liebhaber wurde, er war auch Präsident des Internationalen<br />

Richard-Wagner-Verbands, und die kleine Jasmin, die dort Stammgast<br />

war, wuchs mit Musik auf – aber, was sie heute noch besonders schätzt,<br />

keinesfalls eindimensional. „Leute, die im Sommer nach Bayreuth fuhren,<br />

waren ebenso bei moderner Musik in Donaueschingen zu finden, gingen in<br />

Kammer- und Kirchenkonzerte.“<br />

Von familiärer Seite hatte sie zunächst positive Einflüsse durch ihren<br />

mehr als opernbegeisterten Onkel, der in seiner Freizeit Bühnenbildmodelle<br />

und Figurinen von u.a. Jean-Pierre Ponnelle nacharbeitete, und ihrer<br />

Tante, die Ballerina am Freiburger Stadttheater war. Dort gab Jasmin Solfaghari<br />

mit 18 Jahren innerhalb ihrer einjährigen Hospitanz im „Rheingold“<br />

auch als Statistin hinter der Bühne „die Welle rechts“ (Regie: Siegfried<br />

Schoenbohm).<br />

Für Jasmin begann die „praktische“ Auseinandersetzung mit Musik mit<br />

der Querflöte – später im Orchester der Hamburgischen Staatsoper blies<br />

Das Handwerk lernen und weitergeben<br />

Das Handwerk hat sie bei bedeutenden Regisseuren gelernt, und Namen<br />

wie Harry Kupfer, Götz Friedrich oder Marco Arturo Marelli heben sie<br />

auf ein ganz hohes Niveau. Aber Jasmin Solfaghari erinnert sich auch sehr<br />

gerne an Christine Mielitz, der sie ein besonderes Erlebnis verband: Wie<br />

deren „Fidelio“ nämlich kurz vor dem Fall der Mauer an der Dresdner<br />

Semperoper zu einem Beispiel politischen Theaters wurde („Wir sind belauscht<br />

mit Ohr und Blick“), wie man es selten so deutlich erleben konnte…<br />

Solange man es noch nicht wagen kann, in der Unsicherheit des „freien<br />

Schaffens“ zu leben, ist eine Anstellung natürlich wünschenswert, und<br />

Jasmin Solfaghari, die heute mit ihren beiden Söhnen in Berlin lebt, hat<br />

sich immer wieder gebunden: Von 1993 bis 1998 war sie Spielleiterin an<br />

der Hamburgischen Staatsoper, zuständige Betreuerin für den „Ring“ von<br />

Günther Krämer, dann von „Rheingold und „Siegfried“ an der Deutschen<br />

Oper, und „wenn man über Jahre immer wieder Sänger in ihre Rollen einweist<br />

und dabei auch ihre vielleicht nicht anwesenden Partner spielen muss,<br />

lernt man ein Werk auch so intensiv wie nur möglich. Gerne erinnere ich mich<br />

an meine „Einspringer“ bei Hamburger Bühnenorchesterproben als Riese, Wotan<br />

oder Mime im 1. Akt Siegfried, aber auch als Ida in der ‚Fledermaus’“.<br />

Diese Kenntnis hat sie immer wieder versucht, an Studierende weiterzugeben<br />

– nach (und neben) einigen Jahren (2001 bis 2004) als „inszenierende<br />

Oberspielleiterin“ in Bremerhaven („vier eigene Produktionen im Jahr<br />

klingt viel, ist aber machbar“) und 2004 bis 2006 Oberspielleiterin an der<br />

Deutschen Oper Berlin, hat sie an verschiedenen Hochschulen unterrichtet,<br />

Schwerpunkt Leipzig (5 Jahre als Professorin) und Dresden, sowie innerhalb<br />

ihrer internationalen Meisterkurse.<br />

Auf die Frage, ob es nicht eine Schwemme junger Sänger gibt, die keine<br />

Chance im großen Opernbetrieb haben, verweist Jasmin Solfaghari erstaunlicherweise<br />

auf die entgegen gesetzte Erfahrung: „Es gibt sogar manchmal<br />

immer wieder junge Leute mit Stimmen und Talent, die man geradezu<br />

ermutigen muss, sich in die Karriere hineinzuwagen.“<br />

Die Regisseurin, die so viel von Musik versteht (welche berühmten Regiekollegen<br />

nicht imstande sind, eine Partitur zu lesen, sagt sie natürlich<br />

nicht), rühmt sich auch ihrer guten Ohren: „Ich habe mich in Leipzig als<br />

Professorin sehr dafür eingesetzt, Anette Fritsch als meine ‚Figaro‘-Gräfin zu<br />

besetzen, weil ich wusste, dass sie es kann – und wenig später war sie schon<br />

Hanekes Fiordiligi in Madrid und Brüssel. Zu schade, dass ihr Staatsoperndebut<br />

als Marie in der ‚Regimentstochter’ krankheitshalber nicht zustande kam.“<br />

Vielseitigkeit ist ihre Stärke<br />

Ob „Tannhäuser“, ob „Eine Nacht in Venedig“, ob Händel oder Henze,<br />

ob die ganz Modernen (sehr gern erinnert sich an „L’absence“ der deutschjüdischen<br />

israelischen Komponistin Sarah Nemtsov, die sie 2012 bei der<br />

Münchner Biennale mit größtem Erfolg herausgebracht hat) – Jasmin Solfaghari<br />

setzt sich mit allem auseinander, was sie interessiert. Wagner steht<br />

dabei immer in vorderster Reihe – und ihn Kindern nahe zu bringen, ist<br />

ihr besonders wichtig. „<strong>Der</strong> Ring für Kinder“, den sie in Leipzig herausgebracht<br />

hat, war ein solcher Erfolg, dass er 2014 wieder aufgenommen<br />

wird, und ein „Ring in 100 Minuten“ wird im April 2014 im Atze Musiktheater<br />

in Berlin Premiere haben, ebenfalls mit dem Erzähler Luna. Ernst<br />

genommen, keine Parodie.<br />

Würde Jasmin Solfaghari gerne den „Ring“ in Bayreuth inszenieren? Welch<br />

eine Frage! Jedenfalls wäre es nach der Castorf’schen Willkür doch ganz<br />

schön, wieder einmal jemand Kompetenten zu holen, der das Werk nicht<br />

nur bis in jedes Detail kennt, sondern es auch liebt und ehrt und keinerlei<br />

Zerstörungsgelüste kennt? <strong>Der</strong> Name Jasmin Solfaghari böte sich da<br />

geradezu zwingend an… <br />

Renate Wagner<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 11


Aktuelles aus Österreich<br />

NEUE OPER WIEN<br />

1.11. Muqua-Halle E: „Paradise reloaded“<br />

(Lilith) – <strong>Der</strong>nière<br />

Die im Rahmen von WIEN MODERN uraufgeführte Oper von Peter Eötvös<br />

stieß auf so großes Interesse, dass sogar die letzte Aufführung dicht gefüllt<br />

war und mit starkem Beifall bedacht wurde. Dabei ist der Plot wirklich<br />

nicht einfach zu erzählen und der Abstieg in die Frühgeschichte über<br />

Adams erste Frau, die gleichberechtigt mit ihm vom Schöpfer aus Lehm<br />

geformt wurde, führt etymologisch bis ins alte Sumer. Die anschmiegsame<br />

Eva, aus Adams Rippe gestaltet, schaffte es bis in die Schöpfungsgeschichte<br />

und damit in die Bibel, die Lilith, selbstbestimmend und die Unabhängigkeit<br />

suchend, wurde in Apokryphen verbannt, wo sie der Vergessenheit anheimfiel.<br />

(Vor starken Frauen fürchten sich die Männer – und das in allen<br />

Religionen und Kulturkreisen. Eine Erinnerung an das Matriarchat?)<br />

Worüber soll man heutzutage noch eine Oper schreiben? An die verteufelte<br />

Lilith traut sich außer Albert Ostermeier kaum jemand heran. So schrieb<br />

er das Libretto für Eötvös, schon als zweite Auseinandersetzung mit dem<br />

Stoff, nach „Die Tragödie des Teufels“. Leider verstand man den Text nicht,<br />

eine Übertitelung gab es nicht, und so war man auf die nachträgliche Textlesung<br />

im Programm angewiesen, die einem dann auch nicht mehr viel hilft,<br />

weil man Text und Musik nicht mehr in Verbindung bringen kann. Scharfe<br />

Schlagzeugfetzen und eine farbige Instrumentation markieren die Dominanz<br />

der dämonischen Lilith; mit der Eötvös eigenen Sensibilität werden<br />

auch zarte, irisierende Farben gemischt, die, von Elektronik unterwandert,<br />

seinen Personalstil kennzeichnen. (Nicht umsonst hat er an IRCAM gearbeitet<br />

und das Ensemble InterContemporain geleitet.)<br />

Hervorragend gelang Walter Kobéra mit dem amadeus-ensemble wien<br />

die musikalische Realisierung des schwierigen Orchesterparts, die Regie von<br />

Johannes Erath musste zwangsläufig eher im Statischen verharren (Ausstattung:<br />

Katrin Connan), was den positiven Effekt hatte, dass man sich<br />

umso mehr auf die Musik konzentrieren konnte.<br />

Annette Schönmüller gab der Lilith die Wildheit und Dämonie, die man<br />

mit dieser Gestalt verbindet, und dazu einen kraftvollen Mezzo, Rebecca<br />

Nelsen formte den sanften Gegenpol Eva mit höhensicherem Sopran; Eric<br />

Stoklossa gab den Adam als Schwächling zwischen den beiden Frauen<br />

und sang mit sicherem Tenor. David Adam Moore tobte als Lucifer vergebens,<br />

Eva hat gewonnen.<br />

Peter Eötvös wurde auch bei der <strong>Der</strong>nière noch besonders gefeiert. I.M.S.<br />

den Parterrelogen, die Besucher der Ränge oder im hinteren Parkett können<br />

das sicher nur mit einem Feldstecher ausnehmen.<br />

Sehr gut hingegen in der Klosterszene die Tarnung von Luna. Da wird<br />

einfach der Christus vom Kreuz gestohlen und Luna legt sich darauf, um<br />

sich rechzeitig auf Leonora zu stürzen. Die Schlussszene hatte ihre Wirkung<br />

nur dank der enormen Bühnenpersönlichkeit von Frau Mavropoulou.<br />

Warum man die arme Azucena auch noch blenden muss? Eine keineswegs<br />

zwingende Art der Demütigung.<br />

Das nicht immer schöne Bühnenbild von Dieter Richter ist allerdings<br />

sehr praktisch zur Gänze auf der Drehbühne aufgebaut, was rasche Wechsel<br />

möglich macht. Sehr gut wirkt das Klosterbild, das auch dann Lunas<br />

Soldatenlager wird. Weniger glücklich, dass das Zigeunerlager auch die Zufluchtstelle<br />

von Manrico und Leonora ist. Na ja. Warum aber Luna die beiden<br />

dann in Leonoras Schlafzimmer zu Gericht führt, ergibt sich nicht unbedingt<br />

logisch. Somit ist dann das erste Bild, die Soldaten-Türmerstube,<br />

zum Kerker mutiert. Aber immerhin ist die Produktion repertoiretauglich.<br />

Die Kostüme von Renate Schmitzer sind einfallslos bis hässlich. Die<br />

Volksopernpremiere:<br />

„IL TROVATORE“ – 16.11.<br />

Ein ungeplantes sensationelles Comeback nach 11 Jahren<br />

Janina Baechle musste aus Gesundheitsgründen die Premiere am Vormittag<br />

absagen, und so hatte man das Glück, Chariklia Mavropoulou als Azucena<br />

zu erleben. Die Künstlerin sang die Bonner Premiere dieser Inszenierung<br />

und so lief für sie eigentlich alles wie gehabt. Die Stimme der Mavropoulou<br />

wurde in diesen elf Jahren noch größer, verlor aber nicht an Flexibilität<br />

und ist ideal für die „finsteren Verdi-Damen“. Ob „Stride la vampa“<br />

oder „Condotta“, man konnte alles so hören, wie man es von Zeiten einer<br />

Simionato oder Cossotto gewohnt war. Die Stimme hält diesen Vergleichen<br />

stand. Eine sehr gute Schauspielerin war sie ja immer, aber bei<br />

dieser Rollengestaltung lief es einem kalt über den Rücken. Sie lebt diese<br />

gequälte, auf Rache und Vergeltung sinnende Frau mit enormer stimmlicher<br />

und physischer Kraft.<br />

Das Regieteam, in Koproduktion mit der Bonner Oper, machte „gründliches“<br />

Theater. Da wird nichts ausgelassen. Die Personenführung von<br />

Dietrich W. Hilsdorf ist zum größten Teil perfekt, manchmal aber auch<br />

etwas zu dick aufgetragen, wie zum Beispiel: die abgehackten Finger von<br />

Manrico oder dass während des Soldatenchores Folterknechte armen Gefangenen<br />

die Fingernägel ziehen, wirkt bis zur ca. 5. Reihe Parkett und in<br />

Manrico, il trovatore und seine angebetete Leonora<br />

(Stuart Neill, Melba Ramos)<br />

Knochenarbeit der Einstudierung machte wohl Ralf Budde, der als Co-<br />

Regisseur angegeben ist. Das ganze wird zu einer Schauergeschichte. <strong>Der</strong><br />

romantische Ritterroman wurde nicht berücksichtigt.<br />

Die zweite große Dame war Melba Ramos, die erstmals die Leonora sang.<br />

Man bedauerte, dass es kein Duett Leonora-Azucena gibt. Sie singt diese<br />

Rolle schon mit etwas dramatischem Ausdruck, hat aber nach wie vor<br />

leichte, schöne Pianohöhen, die für die große Arie vor dem Miserere so<br />

wichtig sind. Schade, dass man sie die Cabaletta nicht singen ließ. Schönere<br />

Kleider hätte sie auf jeden Fall verdient, aber bei dem heutigen Regiestil<br />

sind die „Primadonnen“ ja nicht sehr verwöhnt. Die beiden Sängerinnen<br />

und der Bass Yasushi Hirano waren die Sänger, die wirklich<br />

12 | DER NEUE MERKER 12/2013


Aktuelles aus Österreich<br />

hatte man es noch auf dem Spielplan. Dann kam die Salzburger Inszenierung<br />

1963 von und unter Herbert von Karajan an die Staatsoper. Diese<br />

wurde leider in der letzten Direktionsära abgelegt und durch ein schlechtes<br />

Nichts ersetzt und auch bald wieder versenkt. Also sind wir froh, dass<br />

dieses herrliche Werk an der Volksoper gespielt wird und auf gute Gäste<br />

(die Wunschliste wäre lang) hoffen lässt. Eine Azucena vom Format der<br />

Mavropoulou sollte an der Tagesordnung sein.<br />

Für die Originalsprache bin ich ganz besonders dankbar, schon wegen der<br />

Vielfalt an an Gastiermöglichkeiten! <br />

Elena Habermann<br />

DIE WIENER STAATSOPER UND IHR<br />

PUBLIKUM FEIERN MIRELLA FRENI<br />

Ha! Welch ein Vormittag!<br />

Standing Ovations gleich zu Beginn, als Mirella Freni an diesem Sonntagvormittag<br />

die Bühne der Wiener Staatsoper betritt – am 10. November<br />

2013, fünfzig Jahre und einen Tag, nachdem sie als Mimi in der<br />

„Bohème“ an diesem Haus debütiert hat. Eine Sängerin, die man geliebt<br />

hat (und, da sie glücklicherweise noch lebt, liebt) wie wenige – und der<br />

an diesem Vormittag alle Herzen zuflogen wie eh und je. Eine Frau, die<br />

mit 78 nichts von ihrem Zauber verloren hat.<br />

Hundert Minuten Freni wurden zum Fest für Opernfreunde. So blond<br />

wie einst und unverkennbar noch die Frau, deren junges Gesicht mit<br />

den großen Kulleraugen von der Riesenleinwand strahlte, stand sie nicht<br />

nur Barbara Rett Frage und Antwort, sondern riss auch – unterstützt von<br />

Übersetzerin Christa Springer, wobei man den Eindruck hatte, dass oh-<br />

Azucena und Conte di Luna (Chariklia Mavropoulou und Tito You)<br />

(beide © B. Palffy)<br />

Premierenqualität hatten.<br />

Yasushi Hiranos Ferrando ist hier sehr passend, nämlich tatsächlich ein alter<br />

Mann (Kompliment an die Maske, er war nicht zu erkennen!), eben der<br />

alte Waffenträger des alten Conte di Luna. Er berichtet die Vorgeschichte<br />

mit schön strömender Stimme. Warum er immer dabei brutal mit der Peitsche<br />

herumschlagen muss, hat sich mir nicht erschlossen.<br />

War kein besserer Tenor für diese Premierenserie als Manrico verfügbar?<br />

Stuart Neill hat zwar schon Scala-Erfahrung aufzuweisen, war aber auch<br />

dort eher eine Notlösung. Wohl besitzt er eine starke Stimme, produziert<br />

aber gepresste und enge Höhen. Nur im Forte hat die Stimme etwas Klang.<br />

Auch die Vokalgestaltung war dementsprechend: Er pendelte sich auf eine<br />

Lautstärke ein und blieb dabei. Sein brüderlicher Gegenspieler war – sehr<br />

enttäuschend – Tito You. Sein Germont war weit besser. <strong>Der</strong> Luna liegt<br />

ihm anscheinend überhaupt nicht. Alles klang wie mit einem unsichtbaren<br />

Schleier überzogen und undifferenziert, nur im großen Duett mit Leonora<br />

ging es etwas besser. Darstellerisch ist er aber weit beweglicher als sein im<br />

Stück fünf Jahre jüngerer Bruder (der eigentlich Garcia heißt). Ruiz war<br />

Christian Drescher, der, in Frauenkleidung gesteckt, als Spitzel agiert und<br />

erwischt wird. Das Schauspiel nach Ende der Stretta Luna und seine Soldaten:<br />

fallen im Zigeunerlager ein und werfen die schon inhaftierte Azucena<br />

in eine Ecke, verhaften Leonora und Manrico, sowie auch Ruiz. Leonoras<br />

Begleiterin Ines war Eva Maria Riedl.<br />

<strong>Der</strong> Chor unter Thomas Böttcher sang sehr gut, aber viel Spaß scheinen<br />

die Damen und Herren an der Regie nicht zu haben. Enrico Dovico<br />

am Pult wirkte manchmal zu sorgsam. Ein wenig mehr „Pulver“ wäre bei<br />

manchen Szenen angesagt.<br />

Es war im Haus die 250. Aufführung dieses Meisterwerkes, das an der<br />

Volksoper absolut Tradition hatte. In den frühen 60er Jahre des 20. Jhs.<br />

Mirella und Plácido - ein Herz und eine Seele<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 13


Aktuelles aus Österreich<br />

Die Freni - im Kreise von lieben Kollegen und Freunden (beide © Michael Pöhn)<br />

nedies ein Großteil des Publikums ihr schönes Italienisch verstand – den<br />

Vormittag an sich. Am rechten Bühnenrand hatte man drei Freni-Kleider<br />

auf Puppen hingestellt – „Ecco i miei costumi!“ erkannte sie.<br />

Es begann, wie auch anders, mit Karajan, und vermutlich ist kein anderer<br />

Name an diesem Vormittag so oft gefallen wie seiner. Die „Bohème“, für<br />

die er die junge Freni in Mailand entdeckt hatte, war die gemeinsame Arbeit<br />

1963 in Wien – und der Stolperstein für Karajan als Operndirektor: Wiener<br />

Intrigen schaffen es immer, die Großen zu vertreiben. Immerhin hatte<br />

Karajan noch Salzburg, und die Freni und er arbeiteten noch 26 glückliche<br />

Jahre miteinander. „Ich habe zweimal in meinem Leben geweint“, sagte er<br />

zu ihr. „Beim Tod meiner Mutter und bei Deiner Mimi.“<br />

Karajan-Filme waren auch die Beispiele, die es von der jungen, hinreißenden<br />

Mirella Freni gab, als Mimi, als Desdemona, als Butterfly, als Micaela. Die<br />

Freni hat diese Filme nie gesehen, wollte sich selbst nie sehen und hören. Trug<br />

es jedoch mit Fassung – und befand es als „gar nicht so schlecht“. Fürwahr.<br />

Und noch ein Videobeispiel: Barbara Rett wollte dem Ehrengast zweifellos<br />

Freude bereiten, als sie die Philipp-Szene aus „Don Carlos“ mit Nicolai<br />

Ghiaurov spielte, dem 2004 verstorbenen zweiten Gatten der Freni. Bloß –<br />

diese konnte ihre Tränen nicht zurückhalten. Barbara Rett lief um Taschentücher,<br />

aber schon hatte eine mitleidige Seele aus dem Zuschauerraum eines<br />

heraufgereicht. Mirella war übrigens nicht die einzige, die beim Anblick<br />

dieses unvergesslichen, unersetzlichen Sängers, mit dem sie so glücklich war,<br />

weinte. „Sorry, Scusi“, sagte sie zum Publikum. (Lockerer wurde es später,<br />

als man erfuhr, dass Karajan ausgesprochen eifersüchtig war, als die Freni<br />

Ghiaurov heiratete… Ghiaurov seinerseits soll wieder eifersüchtig gewesen<br />

sein, wenn Mirella mit Domingo Liebesszenen spielte.)<br />

<strong>Der</strong> „Butterfly“-Film, den Karajan der Freni abgerungen hatte (sie wollte die<br />

anstrengende Rolle nicht auf der Bühne singen), ist bis heute ein Meisterwerk<br />

auch von Regisseur Jean-Pierre Ponnelle – und da konnte die Staatsoper den<br />

Vormittag einfach wunderbar bereichern. Zuerst Auftritt Placido Domingo,<br />

der damals den Pinkterton gesungen hat und nun als „Butterfly“-Dirigent<br />

an der Staatsoper ist. Und dann wieder Standing Ovations eines Publikums,<br />

das kaum begreifen konnte, dermaßen beschenkt zu werden: Auftritt Christa<br />

Ludwig, die damalige Suzuki, mit ihrer herrlich forschen Art. („Karajan hat<br />

Carmen viel zu langsam dirigiert“, meinte sie, „das ist eine französische Oper,<br />

keine italienische. Aber er konnte sich halt an Mirellas Stimme nicht satthören.<br />

Er hat sie einfach geliebt, platonisch natürlich – diese Kulleraugen!“)<br />

Das Gespräch Freni – Ludwig – Domingo,<br />

auf Deutsch (auch Domingo versuchte<br />

sich lobenswert in dieser Sprache),<br />

Englisch, Italienisch, war dann ein Fest<br />

für sich, drei Kollegen untereinander, deren<br />

Zuneigung und Achtung für die jeweils<br />

anderen zu spüren war und die auch<br />

herrlich miteinander lachen können.<br />

Mirella Freni hat am 21. Juni 1995 als Fedora<br />

(eine Rolle, zu der Domingo sie überredet<br />

hat) ihre letzte Vorstellung in Wien<br />

gesungen, knapp 32 Jahre nach ihrem Debut.<br />

Eine Zeitspanne, in der es ihr gelungen<br />

ist, das Wunder ihrer Stimme unverändert<br />

zu bewahren, weil sie stets sorgfältig damit<br />

umgegangen ist. Und der absolute Einsatz,<br />

mit dem sie jede Rolle gestaltete, sicherte<br />

ihr nicht nur die Bewunderung, sondern<br />

auch die Liebe des Publikums.<br />

Am Ende zeigte Direktor Dominique<br />

Meyer bessere Manieren als Burgtheaterdirektor<br />

Matthias Hartmann, der es<br />

nicht für nötig gehalten hatte, persönlich<br />

zur Festvorstellung von Michael Heltaus<br />

80er zu erscheinen. Meyer kam nicht nur<br />

mit Blumen und bewundernden Worten,<br />

sondern brachte auch ein zauberhaftes<br />

Geschenk: Jenen Muff, den die Freni als Mimi getragen hat (unglaublich,<br />

was da über ein halbes Jahrhundert in der Requisite überlebt…)<br />

Sie sei „überglücklich“ und „unendlich dankbar“ für das Wiener Publikum,<br />

sagte die Freni: „Ich wünschte, ich hätte so lange Arme, damit ich<br />

Sie alle umarmen könnte!“ <br />

Renate Wagner<br />

NEUES VON JOSÉ CARRERAS<br />

Im Rahmen einer Pressekonferenz stellte José Carreras am 4.11. seine <strong>neue</strong><br />

CD vor, die demnächst erscheinen wird. Eingedenk seines <strong>neue</strong>n Lebens,<br />

das jetzt 25 Jahre währt, sagt der Künstler: „Diese CD ist eine Ode an das<br />

Leben, und an das, was uns das Leben offeriert.“<br />

Meraviglisio 25 ist eine Sammlung von Virtuosen wie Lang Lang, David<br />

Garrett, Alison Balsom (Trompete) und Richard Galliano (Akkordeon)<br />

sowie Allzeitgrößen einer anderen Sparte der Musik wie José Feliciano,<br />

die den Tenor begleiten. Sämtliche Künstler arbeiteten ohne Gage, sie verzichten<br />

außerdem auf Tantiemen, die der Carreras-Stiftung zugutekommen.<br />

Von dieser gibt es weiterhin sehr Positives zu vermerken: eine Forschungsstation<br />

mit dem Ziel, die Ursachen der Leukämie zu erforschen,<br />

wird demnächst an 2 Standorten in und in der Nähe von Barcelona eröffnet,<br />

finanziert von der Carreras-Stiftung, wobei der laufende Betrieb von<br />

Katalonien finanziert wird. Auch die Gala für seine Stiftung, 18 Jahre ein<br />

Fernseh-Fixpunkt aus Leipzig im Advent, wird es wieder geben: jetzt auf<br />

Sky, das an diesem Abend frei zugänglich sein wird.<br />

In diesem Zusammenhang bedankte sich der Künstler in warmen Worten<br />

für die Hilfe, die ihm 18 Jahre durch die ARD zuteilwurde.<br />

Zusammen mit Christian Kolonovits kündigte der Künstler außerdem<br />

seine letzte Opernrolle an: „EL Juez“ aus der Feder des österreichischen<br />

Komponisten wird am 26. April 2014 in Bilbao aus der Taufe gehoben<br />

und dann am 9., 12. und 15. August in Erl vorgestellt werden. Die Oper,<br />

basierend auf einem Libretto von Angelika Messner, erzählt in einer fiktiven<br />

Geschichte das Schicksal von Kindern, die in der Franco-Ära ihren<br />

Eltern entzogen und in Klöster abgeschoben wurden. Christian Kolonovits<br />

bezeichnete seine Musik als tonal, spätromantisch und auch von Popmusik<br />

beeinflusst. Man darf gespannt sein!! Traude Steinhauser<br />

14 | DER NEUE MERKER 12/2013


Aktuelles aus Österreich<br />

Die Wiener Staatsoper im November<br />

1.11.: „LA FILLE DU RÉGIMENT“ – Blumen für die Kontrabässe<br />

Kein Wunder, dass das Haus bis auf den letzten Platz gefüllt war, sang<br />

doch Juan Diego Florez den dritten seiner nur vier Abende in dieser Saison.<br />

Passend zu Allerheiligen stand die vergnügliche Inszenierung der „Regimentstochter“<br />

auf dem Programm, die ursprünglich nur als Zwischenstation<br />

einer Reise durch verschiedene Opernhäuser geplant war und erst<br />

nachdem sie zu einem der größten Premierenerfolge der letzten Ära geworden<br />

war, ans Haus am Ring zurückgeholt wurde.<br />

Als dritte Marie in dieser Produktion war diesmal Iride Martinez zu sehen<br />

und sie machte ihre Sache sehr gut. Man sieht, dass es nun üblich ist, vor<br />

Vorstellungsserien auch wirklich zu proben und damit die ursprünglichen<br />

Inszenierungen doch weitestgehend zu erhalten. Sowohl das „Il faut partir“,<br />

als auch das „Par le rang“ gelangen ihr sehr berührend und ich finde es erfreulich,<br />

dass diese Partie auch aus dem Ensemble besetzt werden kann. Natürlich<br />

ist aber die „Fille“ eine Oper, bei der das Publikum auf die C’s der Bravourarie<br />

„Ah mes amis“ wartet. Und es wurde von Juan Diego Flórez nicht<br />

enttäuscht. Er schoss seine Acuti ins Haus und wiederholte, wie auch die<br />

letzten beiden Male, nach frenetischem Jubel das „Pour mon âme“, (was der<br />

Tonio (Juan Diego Flórez) mit Marie,<br />

seiner alpenländischen Braut (Iride Martinez)<br />

einsame Buhrufer auf der Galerie meinte, kann ich nicht nachvollziehen.)<br />

Carlos Álvarez scheint ganz gesundet und lieferte in seiner skurrilen Verkleidung<br />

wieder ein liebenswürdiges Portrait des bärbeißigen Sulpice, wobei<br />

ihm anzusehen war, welchen Spaß er an dieser Rolle hat. Aura Twarowska<br />

als Marquise, die das Resultat ihres Fehltrittes letztlich wieder in<br />

ihre Arme schließt, hatte da einen schweren Stand, auch wenn sie von dem<br />

köstlich spielenden Marcus Pelz blendend unterstützt wurde. In ihrem<br />

Kurzauftritt als Duchesse bewies Kiri te Kanawa mit ihrer 40-jährigen<br />

Bühnenerfahrung, wie man mit wenigen Gesten ein Publikum gewinnen<br />

kann und sich einen doppelten Auftrittsapplaus sichert.<br />

Was ist aber mit dem Orchester unter Bruno Campanella? Nicht dass<br />

er zu laut oder zu langsam oder schnell wäre, aber es klingt nach „Dienst<br />

nach Vorschrift“ und wirkt wie ein Gugelhupf ohne Staubzucker. <strong>Der</strong><br />

Chor (Einstudierung: Thomas Lang) kann in dieser Inszenierung wieder<br />

viel Spielfreude zeigen.<br />

<strong>Der</strong> Blumenwerfer bei den Schlussvorhängen sollte entweder noch etwas<br />

Krafttraining machen oder Zielwasser trinken, denn nahezu alle Blumen<br />

landeten bei den Kontrabässen. Erst Flórez zeigte ihm, wie man das richtig<br />

macht, und warf seine Blume weit in das Parkett. Wolfgang Habermann<br />

2.11.: „TANZPERSPEKTIVEN“ – Lehtinen; Esina, Konowalova, Poláková,<br />

Tsymbal, Yakovleva, Cherevychko, Babdullin, Konvlaev, Lazik, Shishov.<br />

3.11.: „ANNA BOLENA“<br />

Nach langer Wartezeit seit der Premierenserie stand diese schöne Opernproduktion<br />

endlich wieder auf dem Spielplan der Wiener Staatsoper. Es<br />

gab eine komplett <strong>neue</strong> Sängerbesetzung, die einige Überraschungen bot<br />

und das Werk in anderem Licht sehen ließ.<br />

Ein Fixpunkt hingegen war Evelino Pidò, der auch diesmal wieder<br />

Gaetano Donizettis Oper mit Einfühlungsvermögen für die Sänger und<br />

richtigem Gespür für die bei Belcanto nötigen Tempi und mit Drive leitete.<br />

Die Titelrolle übernahm die enorm vielseitige Krassimira Stoyanova,<br />

die obwohl sie jetzt ja schon bei Verd-Heroinen und Strauss-Rollen angelangt<br />

ist, durchaus überzeugen konnte. Stimmlich alles überhaupt kein<br />

Problem, Höhen, Tiefen, Piani, Legato, da passte alles. Dennoch ist sie<br />

keine wirkliche Belcanto-Diva, denn ihre Ausbrüche waren zu wenig dramatisch<br />

und mitreißend. Sie vermittelte nicht feuriges leidenschaftliches<br />

Donizetti-Temperament, sondern war eher die leidende, ungerecht behandelte<br />

Ehefrau, nicht die Königin, nicht die Frau, die aus Berechnung<br />

und Ehrgeiz den König erobert hatte. Auch in ihrer großen Schlussszene<br />

überzeugte sie mehr im Lyrischen als mit dramatischem Furioso.<br />

Ihre Rivalin Giovanna Seymour, gesungen von der in diesem Fach beheimateten<br />

Sonia Ganassi, konnte nicht vermitteln, warum sie des wankelmütigen<br />

Königs Zuneigung gewonnen hat. Sie warf sich zwar mit vollem Einsatz<br />

in ihre Rolle, aber ihre kernige Stimme wies doch ein recht deutliches<br />

Vibrato auf, das in diesem Genre kaum tolerierbar ist. Dadurch entstand<br />

nicht der Eindruck einer<br />

jungen, sondern einer<br />

etwas reiferen Hofdame.<br />

Eine Überraschung war<br />

für mich Luca Pisaroni<br />

als Enrico, den ich nie<br />

mit dieser Rolle in Zusammenhang<br />

gebracht<br />

hätte. Sein Bass-Bariton<br />

passte sich gut an<br />

den bösen Charakter<br />

der Figur und den Erfordernissen<br />

von Donizettis<br />

Musik an, und so<br />

gefiel er mir sowohl optisch<br />

als auch stimmlich<br />

sehr gut.<br />

Stephen Costello, der<br />

verlassene Riccardo<br />

Percy, ließ sich nach<br />

einer Absage zuvor,<br />

als indisponiert ansagen,<br />

man merkte aber<br />

kaum Probleme. Sein<br />

Die gramgebeugte Königin (Krassimira Stoyanova)<br />

lyrischer Tenor mit me-<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 15


Aktuelles aus Österreich<br />

tallischem Kern wird zwar in der hohen Lage etwas enger, klingt aber insgesamt<br />

ansprechend. Er ist in diesem Fach derzeit sicher gut eingesetzt.<br />

Als burschikoser Smeton gelang Zoryana Kushpler bis auf ein paar Unschärfen<br />

ein gutes Rollendebüt. Dan Paul Dumitrescu lieh seine warme<br />

Stimme dem unglücklichen Bruder der Anna, Carlos Osuma war der tenorale<br />

Überbringer aller schlechten Nachrichten.<br />

Fazit: ein schöner Opernabend mit guter Besetzung auf hohem Niveau,<br />

der aber zeigt, dass man für ein solches Werk wirkliche Stars aufbieten<br />

muss. Im ständigen Repertoire der Opernhäuser wird es sich wohl trotz<br />

wunderbarer Musik nicht platzieren können. Silvia Herdlicka<br />

4.11.: „LA FILLE DU RÉGIMENT“<br />

Ein tenorales Fest! Das soll aber nicht heißen, dass nur die Leistung von<br />

Juan Diego Flórez den unbedingten Erfolg sicherte.<br />

Da gab es zum Beispiel einen Marcus Pelz, der aus der Rolle des Faktotums<br />

Hortensius ein Kabinettstück an subtiler Komik zauberte, und sich<br />

auch von Vorstellung zu Vorstellung steigerte. Kiri Te Kanawa als „dritte<br />

Akt Komikerin“ – eine Version, die später auch in die Wiener Operette<br />

Sehr ordentlich auch die kleinen Rollen: Wolfram Igor <strong>Der</strong>ntl, Jaroslav<br />

Pehal und Francois Roesti als Bauer, Korporal und Notar.<br />

<strong>Der</strong> Chor unter Thomas Lang präsentierte sich musikalisch hervorragend und<br />

voller Spielfreude, was bei einer so wunderbaren Inszenierung nicht schwer<br />

sein kann. Ein Sonderlob an die „Putzschwadronen“ im 2. Akt!<br />

Bruno Campanella ist ein Spezialist für die Belcantooper, lässt sehr schön<br />

musizieren, doch das gewisse Etwas für Außergewöhnliches vermisst man hier.<br />

Das Publikum war sehr angetan und jubelte außergewöhnlich lang, auch<br />

die „Parkettbewohner“ blieben ungewöhnlich lange.<br />

Das Donizetti-Fest geht also weiter und lässt doch hoffen auf eine Wiederbegegnung<br />

mit Lucia di Lammermoor, La Favorita, Roberto Devereux<br />

und einiges mehr! <br />

Elena Habermann<br />

5.11.: Keine Vorstellung.<br />

6.11.: Solistenkonzert – LEO NUCCI –<br />

Noch ein Verdi-Fest!<br />

Auch so kann man dem Publikum Verdi-Genuss pur offerieren: begleitet<br />

von drei Streichern (Pierantonio Cazzulani – Violine, Christian Serazzi<br />

– Viola, Massimo Repellini – Violoncello), einem Klavier (Paolo<br />

Marcarini) und einer Harfe (Marta Pettoni), unter dem Motto „La parola<br />

scenica“. Nicht überraschend von einem Sänger, der seit vielen Jahren<br />

überhaupt nur mehr Werke dieses Komponisten singt und auf das<br />

expressive Wort immer genau so viel Gewicht gelegt hat wie auf den Gesang.<br />

Sein diesmaliges Motto besagte also nichts anderes, als dass beides<br />

untrennbar ist, wenn man großes Musiktheater machen will. Darin ist<br />

Leo Nucci Meister.<br />

Obwohl seine Stimme immer noch wunderbar trägt oder gerade weil dies<br />

in jeder Lage und Lautstärke der Fall ist, kann er es sich leisten, ein Kam-<br />

Großer Auftritt in kleiner Rolle - Kiri Te Kanawa<br />

übernommen wurde: Diese Duchesse de Crakentorp ist einfach eine Klasse<br />

für sich. Aber auch Aura Twarowska macht sich die Rolle der Marquise<br />

de Berkenfield immer mehr zu Eigen, und wirkt von Mal zu Mal gelöster.<br />

Ein Glückfall ist Iride Martinez. Eine junge Künstlerin aus dem Ensemble<br />

ersetzte eine schon international bekannte Kollegin allerbestens.<br />

Ihre Marie ist ein junger, frecher selbstbewusster Wildfang, ein Mädchen,<br />

das sich in „dieser“ Männerwelt supergut durchsetzen kann. Die Stimme<br />

der Künstlerin wird makellos sauber geführt, hat ein feines schönes Timbre,<br />

die Stimme trägt in jeder Lage. Mit einem Wort: alles wunderbar,<br />

auch von der stimmlichen Gestaltung durchwegs glaubhaft und schön.<br />

Carlos Álvarez als Sulpice ist natürlich auch ein Garant für den Riesenerfolgs<br />

dieser Produktion. Sein herrlicher Bariton klingt wieder frisch und<br />

schön, alle seine Duette und Szenen waren eine reine Belcantofreude und<br />

sein Spiel zum Niederknien lustig. Man würde sich doch sehr wünschen,<br />

ihn wieder oft hier zu hören, und zwar in seinen ganz großen Rollen.<br />

Ja, alle Neune, und das gleich zweimal, ließ Juan Diego Flórez los, der<br />

Star unter den so vielen sehr guten „Tenori di grazia“. Die große Arie im<br />

2. Akt, die eigentlich viel anspruchsvoller ist, vom Aufbau her, und laut<br />

Aussage des Künstlers auch schwieriger zu singen, wurde zwar ebenfalls<br />

bejubelt, aber sie hat halt „nur“ große Kantilenen und nicht diese „Acuti“.<br />

In dieser Vorstellung wurde sie auch ganz besonders schön und mit so viel<br />

Gefühl gesungen, dass man dieser Liebe nur nachgeben kann. Schauspielerisch<br />

ist dieses Dreierteam fast nicht zu überbieten.<br />

Harfe und Streicher reichen zur noblen Begleitung von Leo Nucci<br />

16 | DER NEUE MERKER 12/2013


Aktuelles aus Österreich<br />

merkonzert zu veranstalten, das mit Eigenbearbeitungen verschiedener<br />

Opernausschnitte die Vokalnummern umrahmt, aber auch vor großen<br />

Ausbrüchen – im belcantesken Rahmen – nicht zurückscheut.<br />

Ein schöner Beginn: die drei Gebete „La preghiera del poeta“, „Sgombra,<br />

o gentil“ und „Invocazione a Maria Addolorata“, wobei nur im 1. Lied die<br />

Stimme noch ein bisschen um Festigkeit kämpfte, aber danach schien<br />

alles von selber zu fließen. Erster Höhepunkt: „Dio di Giuda“ aus „Nabucco“,<br />

das jenen Babylonierkönig zeigte, dem Verdi eine Seele eingehaucht<br />

hat und dem man seinen vorherigen Hochmut nur zu gerne verzeiht.<br />

Aus seiner Leib- und Seelenrolle, dem alten Foscari, sang Nucci ein<br />

bewegendes „O vecchio cor, che batti“ mit jung gebliebenem Herzen. Nach<br />

von den Musikern (wie alles andere) sehr liebevoll und klangschön gespielten<br />

Fragmenten aus „Aida“ entließ uns der Sänger mit dem berühmten<br />

Lied „L’esule“, das uns die verzweifelten Gedanken und Gefühle eines<br />

Verbannten nahe brachte, in die Pause.<br />

Ein so inniges, zartes, poetisches „Di Provenza il mare, il suol“ habe ich gewiss<br />

noch nie gehört – das waren ja wirklich Schmeicheleinheiten, die Vater<br />

Germont da seinem Sohn verpasste. Mit „In braccio alle dovizie“ aus den „Vespri“<br />

ging’s gleich nochmals um eine unglückliche Vater-Sohn-Beziehung,<br />

wobei Nucci deutlich machen konnte, dass hier, im Gegensatz zur Situation<br />

in „Traviata“ härtere, nämlich politische Motive mitspielen, die dennoch<br />

seine väterlichen Gefühle nicht aus der Welt schaffen können. Renatos „Eri<br />

tu“, ganz Getroffensein von der vermeintlichen Untreue der Ehefrau, ließ<br />

die positive Seite seines Charakters hervortreten. Mit der offiziellen Schluss-<br />

Nummer, der hinreißend schön und in nobelstem Ebenmaß gesungenen<br />

Arie und dem Tod des Marquis Posa, war das Publikum endgültig ein Verein<br />

von Nucci-Fans, die mit „Bravo Leo!“-Rufen für Draufgaben sorgten.<br />

Die am öftesten in Wien gesungene Rolle des Künstlers, der Rigoletto,<br />

durfte natürlich nicht fehlen – sein Appell an die „Cortigiani“ war ebenso<br />

unwiderstehlich wie anschließend Graf Lunas Liebeserklärung „Il balen<br />

de suo sorriso“ – wie schon die Germont-Arie, Poesie pur. Zuletzt ein<br />

Sprung von Spanien nach Schottland mit Macbeths „Che macchia“, das<br />

den Mörder in seiner inneren Zerrissenheit fühlbar machte. Die Aufforderung<br />

Leo Nuccis an sein jubelndes Publikum in seiner letzten Zugabe:<br />

„Non ti scordar di me“ (wenn auch nicht von Verdi) hat es niemandem<br />

schwer gemacht, dieses Versprechen zu halten.<br />

Aber noch ist ja kein Grund, ans Vergessen oder Nicht-Vergessen zu denken<br />

– noch können wir Leo Nucci in weiteren Verdi-Rollen hören. Und<br />

möchten es noch lange tun! Tanti auguri! Sieglinde Pfabigan<br />

7. 11.: „UN BALLO IN MASCHERA“<br />

Die Besetzung dieses Abends wirkte in der Papierform homogen und versprach<br />

eine gute Aufführung, allerdings ließ sich Ramón Vargas vor Beginn<br />

der Vorstellung entschuldigen. Trotzdem war nach einer eher vorsichtigen<br />

Auftrittsarie des Tenors von einer Beeinträchtigung kaum etwas<br />

zu spüren, von einigen nicht allzu strahlenden Höhen im Lauf des Abends<br />

abgesehen. Die Vorzüge des Künstlers, schönes Timbre, perfekte Phrasierung,<br />

ein sich mit Verve In-die-Rolle-Werfen, gab es auch an diesem<br />

Abend. Ganz besonders zeigt sich das bei „Di` tu se fedele“, das ein Lehrstück<br />

an subtiler Gestaltung war. Die Spielfreude, die der Tenor dabei<br />

an den Tag legte, zeigte auch, dass, wie er in einem Interview verriet, die<br />

Rolle des Schwedenkönigs eine seiner liebsten ist.<br />

Sondra Radvanovsky, Besitzerin einer großen, interessant timbrierten,<br />

nicht unbedingt schönen Stimme, die sie ziemlich gut im Griff hat, zeichnete<br />

ein eindrucksvolles, wenn auch nicht allzu subtiles Porträt der Amelia.<br />

Mit ihrer Röhre ist sie durchaus auch leiser Töne fähig, allerdings gelingen<br />

sie, im Piano angesetzte, selten. Wirklich ergreifend fiel „Morrò,<br />

ma prima in grazia“ aus, und alles in allem schlug sie den langjährigen<br />

Durchschnitt an meist tremolierenden Rollenvertreterinnen beträchtlich.<br />

George Petean als ihr Ehemann war ihr in seinem gesunden, handfesten<br />

Zugang zur Rolle ein passender Partner. Seine große Stunde schlug beim<br />

„Eri tu“, das er zu Herzen gehend interpretierte.<br />

Monica Bohinec mühte sich mit den tiefen Tönen der Ulrica ein wenig,<br />

bestand aber erfolgreich. Mehr als das muss über Valentina Nafornita als<br />

Oscar gesagt werden: Obwohl ihre Stimme schon ein wenig in ein anderes<br />

Fach weist, erfreute sie mit schönem Timbre und blitzsauberen Koloraturen.<br />

Die Düsterlinge waren mit Alexandru Mosiuc und Sorin Coliban<br />

wie immer passend besetzt.<br />

Jesús López-Cobos dirigierte spannend, wenn auch nicht allzu subtil –<br />

manchmal hätte man sich einige leisere Passagen gewünscht.<br />

Lauter, wenn auch kurzer Jubel war der Lohn für eine Vorstellung, die<br />

über das Repertoireniveau hinausging und deren es gar nicht wenige in<br />

dieser Saison bis jetzt gegeben hat. Ein herzliches Dankeschön an den<br />

Herrn Direktor! <br />

Traude Steinhauser<br />

8.11.: „L’ELISIR D’AMORE“<br />

Ramón Vargas in seiner Lieblingsrolle<br />

Repertoire-Alltag an der Wiener Staatsoper in der Ära von Dominique<br />

Meyer: junge Stimmen, ein volles Haus und oft Inszenierungen, die man<br />

schon bei der Premiere vor 33 Jahren als „altmodisch“ einstufte; die man<br />

jedoch ohne großen technischen Aufwand spielen kann. Pragmatik ist<br />

die Devise – besonders in Sparezeiten! Die Otto Schenk/Jürgen Rose-<br />

Produktion des „Liebestranks“ wurde seit 1980 bereits 204 Mal gegeben.<br />

Am Pult ein 35-jähriger Spanier – Guillermo Garcia Calvo. Er ist noch<br />

mehr Lehrling als Meister. Aber irgendwann muss ja die Routine her. Von<br />

den Sängern muss an erster Stelle der Tenor Stephen Costello genannt<br />

werden. <strong>Der</strong> junge Amerikaner wurde in Philadelphia geboren, fiel in Salzburg<br />

als Cassio positiv auf, gehört seit Jahren zu den MET-„rising stars“<br />

und tritt seit 3 Jahren auch regelmäßig an der Wiener Staatsoper auf. Für<br />

den Nemorino bringt er alle Voraussetzungen mit – ein sympathisches<br />

Spiel, eine kräftige, angenehme Stimme und eine „sitzende“ Höhe. Hier<br />

dürfte ein Spinto-Tenor heranreifen, der zur Klasse eines Marcelo Alvarez<br />

gehört. Nicht ihren besten Abend hatte Sylvia Schwartz als Adina.<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 17


Aktuelles aus Österreich<br />

Die Sopranistin hatte Probleme mit den Spitzentönen und verzichtete<br />

zuletzt auf ihren Solovorhang. Immerhin – eine Adina voller Liebreiz!<br />

Bestens disponiert war hingegen Adam Plachetka als Dulcamara, den<br />

man sich allerdings diesmal nachdrücklich als Belcore gewünscht hätte.<br />

Er ist für den Quacksalber einfach zu jung, zu dynamisch – in der heutigen<br />

Neu-Sprache: Plachetka ist kein „loser“! Und er wäre wohl ein idealer<br />

Gegenspieler zu Nemorino. Alessio Arduini, der aktuelle Belcore,<br />

war vor allem vokal zu sehr ein „Leichtgewicht“. Die Wiener Staatsoper<br />

dürfte dem sympathischen Bariton doch eine „Schuhnummer zu groß“<br />

sein. Auch die <strong>neue</strong> Giannetta von Bryony Dwyer fällt in diese Kategorie<br />

von „Belcanto light“.<br />

Bleibt alles in allem: das Wiener Staatsopernorchester und der Chor der<br />

Wiener Staatsoper erweisen sich immer mehr als die Säulen des aktuellen<br />

Repertoire-Betriebes. Es gab ein Dutzend Vorhänge, das Haus war<br />

voll und die Kassa muss gestimmt haben. <br />

Peter Dusek<br />

9.11.: Ballettabend „TANZPERSPEKTIVEN“<br />

Einfach perfekt! Perfekt getanzt. Das Wiener Staatsballett präsentierte sich<br />

in dem im Februar unter dem nicht so ganz plausiblen Titel „Tanzperspektiven“<br />

erstmals gezeigten vierteiligen Programm von seiner besten, seiner<br />

allerbesten Seite. Vier Piecen im Stil der aktuellen Ballettmode, welche<br />

dass sich für den Betrachter nach den drei vorher gezeigten Stücken eine<br />

interessante <strong>neue</strong> Perspektive ergibt.<br />

Eine perfekte Dressur der Tänzer, welche auch ein breiteres Opernpublikum<br />

zum Staunen bringen kann. <br />

Meinhard Rüdenauer<br />

10.11.: „UN BALLO IN MASCHERA“<br />

Ein „Melodramma in 3 Akten“ ist angekündigt, das klingt nach „fad“,<br />

aber weit gefehlt, Auge und Ohr freuen sich gleichermaßen. Keine Modernisierungen,<br />

kein Boston. Nur 3 Hauptrollen und 2 wichtige Nebenrollen,<br />

aber die Bühne ist oft voll, Chor, Bühnenorchester und Staatsballett<br />

gestalten einen Maskenball, wie er 1792 wohl in der Stockholmer<br />

Oper stattgefunden haben könnte, wobei laut Geschichtsbuch Gustav III.<br />

von Ankarström von hinten erschossen, nicht erdolcht wurde. (Er lebte<br />

dann noch 14 Tage.) Aber die Zeit von 1792 ist in Bühnenbild (Emanuele<br />

Luzzati) und Kostümen (Santuzza Cali) bestens getroffen und die<br />

Regie (Gianfranco de Bosio) macht alles plausibel.<br />

Unter der robusten Leitung von Jesús López-Cobos spielt das Orchester<br />

typischen Verdi der mittleren Periode, noch nicht – so scheint es – lauter<br />

Höhepunkte, aber voll mit bekannten Stellen zum Mitsingen. Amelia<br />

Sondra Radvanovski wurde vorweg angesagt, kam aber gut über die<br />

Runden, nur bei 2 Tönen hörte man ein paar Unsauberkeiten. Respekt!<br />

König Gustaf wurde von Ramón Vargas gesungen. Die Rolle wurde berührend,<br />

weniger heldisch als lyrisch ausgeführt, passte aber wunderbar<br />

in das Bühnenbild hinein. Renato Ankarström, George Petean, machte<br />

seine Zweifel deutlich, sang aber auch die heldischen Passagen mit viel<br />

Einsatz. Furchterregend, wie es sich gehört, waren die Szenen der Ulrica<br />

Monica Bohinec. Erfreulicherweise waren Auge und Ohr gleichmäßig<br />

entzückt. <strong>Der</strong> Schlussbeifall war dementsprechend lange und herzlich,<br />

und zwar für alle Sänger gleich. <br />

Hans Peter Nowak<br />

11.11.: „MADAMA BUTTERFLY“ – Premierenstimmung: 4 wichtige<br />

Rollendebuts und dazu Plácido Domingo am Pult.<br />

Seit 1971, als ich ihn einmal auf der Orgel begleiten durfte, verehre ich<br />

ihn. Kollegen fahren extra nach Amerika, um ihn dirigieren zu sehen.<br />

A 1000 kisses to my skin - es küssen Olga Esina & Vladimir Shishov<br />

(© WSTB)<br />

extreme Motorik, rasante Tempi und artistischen körperlichen Einsatz erfordern.<br />

Und, auch klar, auf diese Manierismen setzen, welche den momentanen<br />

zeitgenössischen Ausdrucks-Standards entsprechen. Bravourös<br />

gemeistert von der ganzen Kompanie. Somit – es wäre unfair, hier eine<br />

oder einen der Mitwirkenden in den zahlreichen virtuos choreographierten<br />

und gemeisterten Passagen hervorzuheben.<br />

Tanz pur in drei durchgestylten Kreationen und ein etwas weniger gelungenes<br />

Anhängsel.<br />

Die stärkste expressive Kraft mag vielleicht Jean-Christoph Maillots<br />

„Vers un Pays Sage“ zu beißendem und unablässig dräuenden Sound<br />

von John Adams zuzusprechen sein. Die Choreographen David Dawson<br />

(„A Million Kisses to my Skin”, 1. Klavierkonzert von J. S. Bach)<br />

und Helen Pickett („Eventide“, Philip Glass und Ravi Shankar) beherrschen<br />

ihr gestalterisches Handwerk und halten ihre Kreationen in einem<br />

mitreißenden Bewegungsfluss. Solch einer wäre auch Patrick de Banas<br />

„Windspiele“ gegeben, doch da wirkt zum Ausklang des guten Abends<br />

bereits alles allzu gleichförmig, und die Tänzer eilen und hüpfen hier par<br />

distance zum ersten Satz von Tschaikowskys Violinkonzert herum, ohne<br />

Heimkehrer Neil Shicoff mit <strong>neue</strong>r Butterfly - Ana Maria Martinez<br />

18 | DER NEUE MERKER 12/2013


Aktuelles aus Österreich<br />

Nun konnte man dies bequem von den <strong>Merker</strong>sitzen aus tun. Man merkt<br />

– ein musikalischer Sänger dirigiert. Wird gesungen, muss das Orchester<br />

sich anpassen, bei Zwischenspielen darf es voll ausspielen. Domingos<br />

Bewegungen sind jugendlich frisch. Das Ergebnis ist dementsprechend.<br />

Das nächste Positivum, das allerdings gegen eine Premiere spricht (361.<br />

Aufführung), ist die Regie (Josef Gielen) und die hervorragende Ausstattung<br />

(Tsugouharu Foujita). Ein großes Positivum sind die Bewegungen<br />

von Butterfly und Suzuki, die so typisch japanisch sind. Auch stimmlich<br />

füllen beide Damen, Ana Maria Martinez und Alisa Kolosova, ihre Rollen<br />

voll aus. Und wenn man die Augen schließen und sich auf den Gesang<br />

konzentrieren will, geht das wegen des schönen Bühnenbildes und<br />

ihrer wunderbaren Bewegungen nicht.<br />

Neil Shicoff als Pinkerton ist kein Neuling, ein paar Töne sind ihm jedoch<br />

missglückt. Die Uniform machte aus ihm einen jugendlichen Schwerenöter.<br />

Gabriel Bermúdez als Sharpless ist ein guter Neuzugang. Einprägsam<br />

waren auch Herwig Pecoraro als Goro und Alexandru Moisiuc<br />

als Onkel Bonze.<br />

<strong>Der</strong> Beifall war einer „Premiere“ mehr als würdig. Domingo lenkte seinen<br />

Anteil hoch erfreut auf das Orchester ab. Hans Peter Nowak<br />

12.11.: „L’ELISIR D’AMORE“<br />

Stephen Costello wirkte an diesem Abend wesentlich gelöster als in der<br />

Aufführungsserie im März. Sein erster Auftritt erweckt zwar zunächst den<br />

Eindruck, dass er Wahlkampf für seine Wahl zum Bürgermeister betreibt,<br />

wenn er versucht, möglichst vielen Choristen die Hand zu schütteln.<br />

Dann aber verwandelt er sich doch in den gehemmten jungen Burschen,<br />

der so gerne die reiche Adina gewinnen möchte. Da er aber nicht einmal<br />

jonglieren kann, verlegt er sich auf einen stilistisch schönen Gesang und<br />

hat damit auch Erfolg. <strong>Der</strong> Bordeaux, der ihm vom smarten Quacksalber<br />

teuer verkauft wird, kann ja wohl nicht die Wirkung haben, da er vor<br />

dem Trinken auch noch ordentlich geschüttelt werden soll. Adam Plachetka<br />

als Dulcamara verdient schon allein für seine pantomimische Darstellung<br />

des alten Senators beim „Io son ricco, tu sei bella“ eine Auszeichnung.<br />

Wie er den nicht vorhandenen Stock in den Augen des Zusehers<br />

entstehen lässt, das ist große Klasse. Nebenbei singt er noch ausgezeichnet.<br />

<strong>Der</strong> Konkurrent um Adina ist Alessio Arduini als Belcore. Auch er<br />

überzeugt mit viel Spielfreude und sauber geführtem Bariton. Leider ist<br />

Sylvia Schwartz eine Adina mit ziemlich kleiner Stimme. Sie singt dann<br />

mit viel Druck und da gerät die Stimme doch ziemlich schrill. In der jungen<br />

Stipendiatin Bryony Dwyer scheint ihr aber mittelfristig keine Konkurrenz<br />

zu erwachsen.<br />

Das Orchester (insbesondere die Holzbläser), hatte unter Guillermo Garcia<br />

Calvo leichte Anfangsprobleme, danach wurde es aber eine zügige Wiedergabe,<br />

zu der auch der Chor das Seine beitrug.<br />

Dass nach über 200 Aufführungen die meisten Gags altbekannt sind, ist<br />

natürlich nicht überraschend, aber auch Dinner for one erzeugt zu Silvester<br />

immer wieder Heiterkeit. <br />

Wolfgang Habermann<br />

13. 11.: „UN BALLO IN MASCHERA“ – Ein Abend der Debüts<br />

Kamen Chanev sprang kurzfristig für den erkrankten Ramón Vargas ein<br />

und sang seinen ersten Gustaf III. Er hat eine sehr schöne Stimme und<br />

der kluge Künstler weiß um alle lyrischen Passagen dieser Partie genauest<br />

Bescheid und setzt diese auch gekonnt um. Sehr erfreulich auch seine<br />

Pianokultur und die Gestaltung des Gustaf in den beiden ersten Bildern,<br />

wo man wirklich den Eindruck hatte, der macht sich aus dem Besuch bei<br />

Ulrica eine „Riesenhetz“. Da es eine sehr traditionelle Inszenierung ist,<br />

hatte er auch nie Probleme mit der Rollengestaltung. Warum gerade der<br />

König keine Perücke hat, macht auf ein seltsames „Sparprogramm“ am<br />

schwedischen Königshof aufmerksam.<br />

Eine Freude ist es auch immer, dem Belcantoschmelz von George Petean<br />

zu lauschen. Sein Renato ist kein Racheengel, sondern ein zutiefst<br />

Große Verdi-Heroine - Sondra Radvanovsky<br />

gekränkter, in seiner Ehre getroffener Mann, der sich von seinen „Liebsten“<br />

hintergangen und verraten fühlt. Beide Arien waren ein großartig,<br />

ganz herrlich auf Linie gesungen. Amelia, die Dame, die die beiden<br />

Freunde trennt, wird von Sondra Radvanovsky sehr glaubwürdig dargestellt<br />

und hervorragend gesungen, wären da nicht so gewisse Schärfen bei<br />

den Fortehöhen. Aber sehr ergreifend die Arie im 3. Akt. Eine Ulrica mit<br />

enorm breiter Tiefe ist Monica Bohinec. Sehr beeindruckend gelang ihre<br />

große Szene mit dem Damenchor. Aber auch ihre restlichen Szenen zeigten,<br />

wie gut sich diese Künstlerin entwickelt. Erstmals als Oscar war Hila<br />

Fahima dabei. Eine eher soubrettige Darbietung des Pagen – da braucht<br />

es noch einiger stimmlicher Reifung. Mihail Dogotari zeigte nicht allzu<br />

viel als Christian, aber vielleicht habe ich mir auch zu viel erwartet. Die<br />

beiden Widersacher des Königs waren Sorin Coliban als edelklingender<br />

Graf Warting und raustimmig Alexandru Moisiuc als Graf Horn. Peter<br />

Jelostits ergänzte als Richter und Diener.<br />

Thomas Lang leitete den in allen Bildern gut studierten Chor. Die<br />

Tanzeinlagen sind entzückend und alles wirkte wieder bestens geprobt.<br />

Jesus Lopez-Cobos leitete den Abend routiniert und schwungvoll, und<br />

nahm auf alle Bühnenkünstler Rücksicht.<br />

Ein Kompliment an die Maske. Nur ein Barockkönig mit Messerhaarschnitt<br />

geht nicht. Da wird es doch eine Zopfperücke geben?!<br />

Ein sehr schöner Abend mit etwas zu wenig Applaus für die Protagonisten.<br />

<br />

Elena Habermann<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 19


Aktuelles aus Österreich<br />

14.11.: „TANZPERSPEKTIVEN“ – Besetzung wie 2.11.<br />

15.11.: „MADAMA BUTTERFLY“ – Puccini lebt!<br />

Fast will es scheinen, dass es die Wiener Staatsoper mit aller Emphase<br />

zurzeit darauf anlegt, den hohen Wert des Repertoire-Betriebs zur<br />

Schau zu stellen. Die älteste Inszenierung des Hauses (Josef Gielen,<br />

1957) erlebte mit einigen Rollendebutanten, bewährten Ensemblemitgliedern,<br />

einem nochmals eingesetzten Tenorstar von früher und einem<br />

noch größeren am Pult eine derart dichte, packende, hochemotionale<br />

Wiedergabe, dass man ein <strong>neue</strong>s Werk zu entdecken glaubte.<br />

Plácido Domingo – das ist die Verkörperung eines Lebens für die Oper.<br />

In allen denkbaren Funktionen, die hier nicht aufgezählt werden müssen.<br />

Das Dirigieren gehört dazu und gewinnt mit vermehrter Routine immer<br />

Hellwach und voller Liebe - Plácido Domingo am Pult<br />

mehr an Qualität. Es „zerreißt“ ihn nicht mehr im Affekt, er gibt ganz professionell<br />

die Einsätze dort, wo es nötig ist, und lässt Musiker und Sänger<br />

sich entfalten, wo sie keiner Nachhilfe bedürfen. Ich reihe ihn nun unter<br />

die sog. „Wohlfühl-Dirigenten“ ein. Damit meine ich die Maestri, denen<br />

man gerne zuschaut, weil alles so gut und richtig ist, was sie machen, und<br />

deshalb auch das optimale Resultat dabei herauskommt. Im konkreten<br />

Fall: Puccini ohne unnötigen Lärm, in den Japanismen des 1. Akts sehr<br />

locker und beschwingt, beim Einsetzen von Kantilenen (sei es orchestral<br />

oder vokal) jedesmal das Gefühl vermittelnd, als werde jetzt eine <strong>neue</strong><br />

Gefühlswelt geschaffen (wir sind ja schließlich auch bei den asiatischen<br />

Schauplätzen des Meisters aus Lucca noch immer in Italien!) und in den<br />

dramatischen Momenten mit einer quasi „sachlichen“ Konzentration, die<br />

die Tragödie sozusagen auf den Punkt bringt.<br />

So war z. B. der 2. Akt, der sich mitunter zieht, als kontinuierliche emotionale<br />

Steigerung aufgebaut. Bei Cio-Cio-Sans „Un bel dì vedremo“ nahm<br />

dieses Gefühls-Crescendo erstmals so überhand, das man genau wusste:<br />

es gibt für sie kein Zurück – entweder alles oder nichts. Wie Domingo<br />

da die Sängerin gleichsam emporhob und ihre große Liebe All-umfassend<br />

wurde (fast ein bisschen an Isoldes „Weltatem“ erinnernd), war ebenso<br />

überwältigend wie die beinah trunkene Hingabe der beiden Frauen an<br />

das Kirschblütenduett, das einen <strong>neue</strong>n Frühling heraufbeschwören sollte.<br />

Dabei blieb alles im kultivierten Rahmen, ohne Überhandnehmen übermäßiger<br />

Lautstärke, und es gab keinerlei Leerläufe bis zum fatalen Ende<br />

der Oper. Eine alles in allem wirklich meisterhafte Dirigentenleistung,<br />

die von den Musikern selbstverständlich mit Hochgenuss in Edelklang<br />

umgesetzt wurde.<br />

Die für Wien <strong>neue</strong> Butterfly von Ana Maria Martinez brachte keine wirklich<br />

große, ausladende Stimme mit. Gut und sicher geführt, kam sie über<br />

alle Runden bzw. bewältigte auch die extremen Höhen, aber mit etwas zu<br />

viel Nachdruck, sodass die Klangqualität ihres schlanken Soprans nicht<br />

optimal war. Stilistisch war sie im Bilde. Sie konnte dadurch auch die Figur<br />

berührend gestalten und somit das Publikum ganz auf ihre Seite ziehen.<br />

Weit lockerer sang ihre Leidensgefährtin, die erst 25-jährige Alisa<br />

Kolosova. Eine so warmstimmige Suzuki mit solch schönem, flexiblem<br />

Mezzo und derart lebhafter Anteilnahme an Freud‘ und Leid der ihrer<br />

Obhut anvertrauten jungen Braut und Ehefrau verdient gesondert hervorgehoben<br />

zu werden, gerät die getreue Dienerin doch allzu oft auf die<br />

Nebengeleise unseres Interesses.<br />

Mit Neil Shicoff muss wohl sein Tenorkollege persönlich gearbeitet haben.<br />

Natürlich war zu hören, dass Shicoffs Stimme nicht mehr taufrisch<br />

ist, aber nach dem vorjährigen „Maskenball“-Debakel hätte man kaum erwartet,<br />

dass er mit einem jugendlichen italienischen Liebhaber doch noch<br />

einigermaßen zurechtkommt. Er sah sehr gut aus, schlank und rank, mit<br />

schöner schwarzer Perücke und guter Maske, ließ es zwar bei Pinkertons<br />

Beteuerung seiner Lebensgenussphilosophie an Lockerheit fehlen, ließ dafür<br />

aber von Anfang an spüren, dass er moralische Bedenken mit in die<br />

999-Jahre währende Ehe mitnimmt. Seine immer schon sicheren Höhen<br />

waren da, auch wenn sein Gesang sich nicht durch extreme Geschmeidigkeit<br />

auszeichnete. Als Meister gebrochener Charaktere gelang ihm im<br />

3. Akt die glaubwürdige Darstellung des von Reue und neu erwachter<br />

Liebe gequälten Mannes, der nur noch aus dem Terrain seines Vergehens<br />

flüchten kann. Ein gut charakterisierender Konsul Sharpless war Gabriel<br />

Bermudez. Er gestaltete seine Rolle sehr wortdeutlich und teilnahmsvoll<br />

und sein jugendlicher Bariton konnte sich dank Domingos einfühlsamer<br />

Orchesterbegleitung auch durchsetzen, sollte fürs große Haus aber noch<br />

weit mehr Volumen entwickeln.<br />

Herwig Pecoraro als geschwätziger Goro, Simina Ivan als verständnisvolle<br />

Kate Pinkerton, Hans Peter Kammerer als abgewiesener Yamadori, Alexandru<br />

Moisiuc als zeternder Onkel Bonze, sowie Martin Müller (Standesbeamter),<br />

Martina Reder (Mutter) und Jung Won Han (Base) erfüllten<br />

ihre Rollen ebenso zufriedenstellend wie der von Martin Schebesta<br />

gut studierte Staatsopernchor.<br />

Die singuläre Glanzleistung Domingos vom Pult aus war nicht zuletzt ein<br />

Plädoyer für Puccinis geniales Gesamtkunstwerk. Sieglinde Pfabigan<br />

16.11.: „UN BALLO IN MASCHERA“ – Orrore!<br />

O Schreck! – was für ein Gegenschlag nach dem wunderbaren Puccini-<br />

Abend. Und das meine ich wörtlich: Dirigent und Primadonna lieferten<br />

einander ein Duell „Wer kann’s lauter?“ Jesús Lopez-Cobos drosch<br />

Verdi zutode. Gerade noch, dass die paar ruhigen Chorstellen leise belassen<br />

wurden und im 3. Akt Amelia sich um ein paar kultivierte piano-<br />

Phrasen bemühte, tat der Maestro alles, um Verdis wunderbare Noblesse<br />

und Kantabilität zu ständigen Attacken auf unsere Gehörorgane umzufunktionieren.<br />

Und was Sondra Radvanovsky an geschrieener Pseudo-<br />

Dramatik produzierte, war nicht minder unerquicklich. Schon im Vorjahr<br />

befleißigte sie sich in der Rolle der Amelia vor allem unkontrollierter Lautstärke,<br />

aber diesmal hatte ihr einstmals recht respektabler Sopran schon<br />

gar keinen Klang mehr, weder im ff noch in den bemühten piano-Phrasen<br />

– es gab nur noch durchdringende, scharfe, gequälte Töne. Welcher<br />

Teufel sie wohl bei dieser „Singweise“ geritten hat?<br />

20 | DER NEUE MERKER 12/2013


Aktuelles aus Österreich<br />

Ladies first? Ja, wenn sie es verdienen. Eine wahre Wohltat war daneben<br />

die noch im Volumen begrenzte, aber bezaubernde, süße Stimme des<br />

<strong>neue</strong>n Oscar: Hila Fahima. Locker und leicht daher perlend, verbreitete<br />

die junge Dame Anmut, Wohlwollen und Witz in der die Tragödie aufheiternden<br />

Pagenrolle. Am anderen Ende der Stimmregister beeindruckte<br />

die Ulrica der Monica Bohinec, die es sich leisten kann, ihren beachtlichen<br />

Mezzo mit voller Wucht aufzudrehen und in der Höhe wie in der<br />

Tiefe bedrohliche Mitteilungen zu machen.<br />

Gutes ist von allen singenden Herren zu berichten. Ramón Vargas, der<br />

die vorhergehende Aufführung hatte absagen müssen, musste sich zwar<br />

bei einigen Spitzentönen noch anstrengen, aber sein Verdi-Gesang mit<br />

der eleganten Phrasierung, dem goldenen, sinnlichen Timbre, das für spanischblütige<br />

Tenöre so charakteristisch ist, und die wunderbare italienische<br />

Diktion, dazu die im 1. Akt so unbeschwert-lockere, elegante Stimmführung<br />

und Rollengestaltung des lebensfrohen, verliebten schwedischen Königs<br />

– das alles war Balsam auf die uns Verdi-Liebhabern an diesem Abend<br />

zugefügten Wunden. Ein berührender Abschiedsgesang des Mordopfers<br />

beendete das Drama. Nicht gerade balsamisch, aber mit mächtigem Bariton,<br />

dem keine noch so fordernden dramatischen Momente etwas anhaben<br />

können, sang George Petean einen auch von der Figur her imposanten<br />

Grafen Ankarström. <strong>Der</strong> Jung-Bariton Mihail Dogotari machte<br />

als Christian angenehm auf sich aufmerksam. Aus den Kehlen der beiden<br />

Verschwörer Horn und Warting dröhnten mächtige dunkle Töne: Alexandru<br />

Moisiuc und Sorin Coliban konnten einem in ihrer unerbittlichen<br />

Rachsucht schon Angst machen. Peter Jelosits waltete seine Richteramts<br />

und als Diener mit solidem, klarem Tenor. <strong>Der</strong> von Thomas Lang betreute<br />

Chor fungierte wieder einmal als „Stammhalter“ alles Guten und<br />

Richtigen, wo das Orchester, dem Stab des Dirigenten folgend, der nie<br />

ein Zeichen einer gewünschten Lautstärke-Einschränkung von sich gab,<br />

einfach nach Gutdünken drauflos blies, fiedelte oder schlug. Kein Verdi-<br />

Festabend. <br />

Sieglinde Pfabigan<br />

17.11.: Premiere „DIE ZAUBERFLÖTE“ – siehe Seite 6<br />

18.11.: Keine Vorstellung.<br />

19.11.: „MADAMA BUTTERFLY“<br />

Die positive Überraschung dieses Abends: Plácido Domingo als Puccini-<br />

Dirigent. Von den großen, berühmten Dirigenten wird diese Tragödie der<br />

kleinen Geisha Cio-Cio-San nach wie vor geschnitten. Zumindest in Wien<br />

ist „Madama Butterfly“ zumeist eine Oper für Dirigenten-Anfänger, mitunter<br />

auch für Opern-Aufhörer. (<strong>Der</strong> Premierendirigent der Karajan-Ära, Dimitri<br />

Mitropoulos, oder die 4 Vorstellungen in der Saison 2008/09 unter<br />

Andris Nelsons gehören zu den rühmlichen Ausnahmen.) Diesmal wurde<br />

man eines besseren belehrt. Die zum Teil exotische Klangfülle verdeckt oft<br />

die Grundstruktur eines Werkes, das an musikdramatischer Aussagekraft<br />

der „Tosca“ oder „Bohème“ in nichts nachsteht. Die Unerbittlichkeit eines<br />

fatalen Missverständnisses sollte auch aus dem Orchestergraben erklingen.<br />

Unter der Leitung von Plácido Domingo tat sie dies mit großer Empathie<br />

und handwerklicher Souveränität. Da der Vollblutmusiker auch ein<br />

hochkarätiges Ensemble aufbieten konnte, war die Wirkung umso größer.<br />

Vor allem Ana Maria Martinez war eine exzellente Butterfly. Die in Puerto<br />

Rico geborene Sängerin erhielt ihre musikalische Ausbildung in New<br />

York, gewann u.a. den Domingo-Wettbewerb Operalia und debütierte<br />

bereits 1998 an der Wiener Staatsoper, wo sie vor allem in Pucccini-Rollen<br />

wie Mimi oder Liu zu hören war. Nun war sie eine junge, eher lyrische<br />

Cio Cio San, die aber die dramatische Entwicklung voll meisterte.<br />

Großartig das große Liebesduett und das Finale. Bei der großen Arie der<br />

Butterfly fehlt (noch) die Kraft für die Spitzentöne. Umso eindrucksvoller<br />

die Szene mit dem US-Botschafter Sharpless, der diesmal von Gabriel<br />

Bermúdez verkörpert wurde. Während Neil Shicoff als Pinkerton fast den<br />

Rahmen dieser Repertoire-Vorstellung sprengte – er begann im Grunde<br />

Die hoffnungsvolle Nachtwache (Ana Maria Martinez, Alisa Kolosova)<br />

gelangweilt, fing dann Feuer und zerbrach an der Wiederbegegnung mit<br />

Butterfly bzw. ihrem 2½-jährigen Sohn. Wirkte der spanische Bariton<br />

Gabriel Bermúdez zu gleichgültig, zu elegant. Sein Singen ist zu lyrisch.<br />

Schade! Großartig hingegen die junge Russin Alisa Kolosowa als dunkel<br />

timbrierte Suzuki mit großem emotionalem Einsatz. Das Blüten-Duett<br />

wurde so zu einem der Höhepunkte der Vorstellung. Positiv fielen noch<br />

auf: Herwig Pecararo als dramatisch intriganter Goro, Hans Peter Kammerer<br />

als Kommissar und Yamadori sowie Alexandru Moisiuc als polternder<br />

Onkel Bonze.<br />

Die Inszenierung von Josef Gielen (Ausstattung Tsugouharu Foujita)<br />

stammt aus dem Jahr 1957 und hält immer noch. Dank Plácido Domingo,<br />

dem Orchester und dem Chor der Wiener Staatsoper sowie einem hochkarätigen<br />

Sänger-Ensemble gab es auch bei der 363. Reprise noch keine<br />

Abnützungserscheinungen. Die „Butterfly“ wäre eine späte Entdeckung<br />

durch weitere Spitzen-Dirigenten dennoch wert. Peter Dusek<br />

20.11.: „DIE ZAUBERFLÖTE“<br />

Bis in den Mai dieses Jahres wurde an der Wiener Staatsoper die recht ordentliche<br />

Produktion von Marco Arturo Marelli gezeigt und brachte es<br />

auf 121 Aufführungen. Wenn nun also ein halbes Jahr später eine Neuproduktion<br />

herauskommt, so sollte es einen triftigen Grund dafür geben.<br />

Die <strong>neue</strong> Inszenierung des Duos Moshe Leiser und Patrice Caurier<br />

bleibt aber die Antwort auf diese Frage weitestgehend schuldig. In Anspielung<br />

auf die Uraufführung besannen sie sich auf die Tradition der Wiener<br />

Zauberoper und ließen sich von Christian Fenouillat eine leere Vorstadtbühne<br />

bauen, die durch Portaleinbauten verkleinert wurde. Durch einen<br />

Vorhang entsteht von Zeit zu Zeit auf der Vorderbühne ein zweiter Spielraum,<br />

der für Szenen genutzt wird, die in geschlossenen Räumen spielen.<br />

Schade ist, dass zwar die technischen Tricks von Versenkungen und<br />

„fliegenden Menschen“ zum Einsatz kommen, die auf der Bühne schön<br />

nachgebauten Kulissenzüge jedoch nie Verwendung für zumindest angedeutete<br />

Kulissen finden und einzig die Beleuchtung (Christophe Forey),<br />

einige Sessel und Mengen von leuchtenden Pyramiden und Kugeln für<br />

optische Abwechslung sorgen.<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 21


Aktuelles aus Österreich<br />

herangewachsen ist. Seine Pamina wurde von Chen Reiss gesungen, die<br />

sich sehr um die Gesangslinie bemühte und bewies, wie schwer die g-moll-<br />

Arie wirklich ist. Höchst erfreulich ist der sehr natürliche Papageno von<br />

Markus Werba. Er nützt auch die ihm von der Regie geschaffenen Möglichkeiten<br />

bei seinem Auftritt aus dem Zuschauerraum und hat nicht umsonst<br />

bei der Applauschoreographie den letzten Auftritt. Seine Papagena<br />

ist Valentina Nafornita. Sie hat es während ihrer ersten Auftritte nicht<br />

leicht, als Vogel zu agieren, löst diese Aufgabe aber mit Bravour. Nach<br />

dem entzückend gesungenen Pa-pa-pa –Duett verschwinden die Beiden<br />

dann Richtung Schnürboden.<br />

Ungewohnt ist der Sprecher mit Alfred Šramek besetzt. Er hat so gar<br />

nichts Hoheitsvolles, sondern ist der Typ „väterlicher Freund“. Stimmlich<br />

ist er erfreulicherweise sehr gut in Form und kann als 2. Priester (neben<br />

Benedikt Kobel) auch einige kleine Gags anbringen. Die drei Damen in<br />

ihren Faschingskostümen sind Olga Bezsmertna, Christina Carvin und<br />

Alisa Kolosova. Bei ihnen (und Chen Reiss) sind die Dialoge besonders<br />

schlecht verständlich. Thomas Ebenstein als Monostatos wirkt in seinem<br />

Aufzug, als käme er direkt aus Jonny spielt auf. Mit ziemlich scharfem Tenor<br />

charakterisiert er den schmierigen Opportunisten. Um das Transportieren<br />

des von Sarastro erlegten Hirschen in die Kühlkammer zu überwachen,<br />

wurden die beiden Geharnischten (Marian Talaba und Dan Paul<br />

Dumitrescu) in den akustisch ungünstigsten Winkel der Bühne verbannt,<br />

wo sie wie zwei Mafiosi die Geschehnisse beobachten und dann mit der<br />

Zigarette die Feuerprobe anzünden. Die drei Knaben haben mehr Spielfreude<br />

als Wohlklang zu bieten.<br />

Am Pult steht Christoph Eschenbach und beweist, dass die <strong>neue</strong> Produktion<br />

sicher nicht seinetwegen zustande kam. Eine solide Repertoireleistung,<br />

die aber aus dem Orchester sicher nicht das Mögliche herausholt.<br />

Gut der von Martin Schebesta einstudierte Chor, auch wenn ihm augenscheinlich<br />

nur die Polizistenszene Freude macht.<br />

Die Repertoiretauglichkeit dieser Produktion hängt an hohen Kothurnen,<br />

denn ein <strong>neue</strong>r Sarastro muss wohl erst ein Trainingslager absolvieren.<br />

Und hoffentlich findet man auch schwindelfreie Sänger für Pamina,<br />

Papagena und Papageno und – unter den vielen guten Mozart-Dirigenten,<br />

die es tatsächlich gibt, auch einen für die Wiener Staatsoper…<br />

<br />

Wolfgang Habermann<br />

21. und 22.11.: „TANZPERSPEKTIVEN“ – Besetzung wie 2.11.<br />

Überlebensgroßer Sarastro (Brindley Sherratt), Pamina (Chen Reiss)<br />

zu seinen Füßen<br />

Den oft gewählten Ansatz einer Einführung in die Freimaurerei ignorieren<br />

die Regisseure bewusst und interpretieren die Handlung als Entwicklung<br />

zum Erwachsensein. Lohnt es aber, Prüfungen auf sich zu nehmen,<br />

um dann Mitglied einer uniformen, hässlich gekleideten Masse (Kostüme:<br />

Agostino Cavalca), die marionettenhaft agiert, zu werden? Denn gerade<br />

dem Chor wird von der Regie eine grauenhafte Choreographie verschrieben:<br />

Im ersten Finale zappeln alle, als wären sämtliche Toiletten des Hauses<br />

besetzt, zum Adagio des „O Isis und Osiris“ laufen sie von der Seite<br />

herein, als wäre endlich eine frei geworden und im Finale beglückwünschen<br />

sich alle mit Handschlag, dass sie nun endlich eine gefunden haben.<br />

Natürlich gibt es, vor allem im 1. Teil viele schön gelungene Szenen, angefangen<br />

vom ersten Auftritt Taminos und der Schlange als überdimensionierte<br />

Schatten (die von der Galerie nur leider kaum sichtbar sind) oder<br />

den Papageno-Auftritt mit lebenden Tauben. (Ob die blendend dressierte<br />

weiße Taube, die ihm während der Arie zufliegt, bereits ein Angebot für<br />

einen Parsifal hat?). Dazu einige Holzhammer-Gags, die aber ihre Wirkung<br />

erzielen: Wenn Monostatos gleich seine Absichten verrät und in der<br />

Unterwäsche zu Pamina kommt oder die Sklaven in der Polizeiuniform,<br />

die bei „Das klinget so herrlich“ im Tutu von der Bühne tanzen. (Hoffentlich<br />

kriege ich nicht Probleme, wenn ich bei einer Verkehrskontrolle den<br />

Polizisten nach seinem Tutu frage.) Auch die wilden Tiere (Bären, Nashorn<br />

und Strauße) verfehlen ihre Wirkung nicht.<br />

Musikalisch sind in dieser Produktion jeweils die „Chefs“ für Wien neu<br />

und hier ist an erster Stelle die Königin der Nacht von Olga Pudova zu<br />

nennen. Ein wirklich dramatischer Sopran mit blitzenden Koloraturen,<br />

der auch die notwendige Attacke nicht fehlt. <strong>Der</strong> Sarastro von Brindley<br />

Sherratt überragt dank seiner Kothurne alle anderen. Er hat aber leider<br />

nur eine sonore Tiefe zu bieten. In den höheren Lagen wird die Stimme<br />

sehr flach. Möglicherweise ist das aber noch eine Nachwirkung der Verkühlung,<br />

die ihm bei der Premiere zu schaffen machte. Als Tamino war,<br />

wie in den letzten Vorstellungen der alten Inszenierung, Benjamin Bruns<br />

aufgeboten und er bewies, dass in ihm ein wirklich guter Mozart-Tenor<br />

23.11.: „PETER GRIMES“ – Wiederaufnahme der Inszenierung von<br />

1996 (34. Vorstellung), die zugleich die Erstaufführung an der Wiener<br />

Staatsoper (unter dem noch mit dem Komponisten befreundeten<br />

Mstislav Rostropovich) war.<br />

Damals war Benjamin Britten erst 20 Jahre tot, Peter Grimes aber schon<br />

50 Jahre „auf der Welt“. Ich hatte etliche Bühnenwerke des Komponisten<br />

in den 60er-Jahren in England kennen und schätzen gelernt. Heute<br />

liebe ich sie alle. Und es gibt sicher nicht mehr viele Opernfreunde, die<br />

es nicht tun. <strong>Der</strong> Britten-„boom“ anlässlich seines 100. Geburtstages ist<br />

überaus erfreulich.<br />

<strong>Der</strong> „<strong>Merker</strong>“ brachte bereits im Oktoberheft 2012 einen umfassenden<br />

Leitartikel unseres England-Korrespondenten und großen Britten-Kenners<br />

Stephen Mead mit einer Würdigung aller seiner Bühnenwerke. Auf<br />

meine Frage im Editorial jenes Heftes: „Wer (außer dem Autor des Artikels)<br />

alle Britten-Opern kennt, möge sich melden!“ kam keine Rückmeldung. Dass<br />

sich diese Situation zunehmend ändert, wäre wünschenswert. Das Hauptkriterium<br />

für geniale Schöpfungen, nämlich, dass sie mit jeder Wiederbegegnung<br />

an Faszination gewinnen, trifft nämlich auf alle Britten-Werke zu.<br />

Ich habe „Peter Grimes“ in den letzten 50 Jahren in den unterschiedlichsten<br />

Inszenierungen gesehen (London, Wien, Salzburg, Berlin, München,<br />

Karlsruhe, Zürich, Turin, Bratislava) und fand das Stück jedes Mal noch<br />

ergreifender. Interessanterweise erlebte ich in allen diesen Opernhäusern<br />

durchwegs erstklassige Sängerdarsteller. Das hängt vielleicht damit zusam-<br />

22 | DER NEUE MERKER 12/2013


Aktuelles aus Österreich<br />

Geglückte Facherweiterung - Herbert Lippert als Peter Grimes<br />

men, dass man das Stück nur aufführt, wenn die richtige Besetzung zur<br />

Verfügung steht und keinen Repertoireschlendrian einreißen lässt. Oder<br />

gar damit, dass es sich um durchwegs dankbare Rollen handelt, von denen<br />

die meisten keine übermäßigen stimmlichen Anforderungen stellen<br />

und leicht aus dem jeweiligen Ensemble rekrutiert werden können? Vor<br />

allem aber meine ich, dass Britten es den Opernsängern leicht macht, sich<br />

zu profilieren, weil er lebendige Menschen auf die Bühne stellt. Ebenso<br />

viel Freude macht das Werk ganz offensichtlich auch den Dirigenten und<br />

Musikern, denn die Musik zwingt einen einfach, sich mit den Charakteren<br />

und Situationen zu identifizieren, sodass ich auch diesbezüglich von<br />

ausschließlich positiven Erfahrungen berichten kann.<br />

So wurde auch die gegenwärtige Aufführungsserie unter Brittens Landsmann<br />

Graeme Jenkins zu einem Klangerlebnis der Sonderklasse. Nicht<br />

nur der Titelheld kommt vom Meer nicht los, das für die Bewohner des<br />

Fischerstädtchens die Existenzgrundlage darstellt. Auch als bloßer Zuhörer<br />

hat man das Gefühl, dass die so meisterhaft in Töne gesetzten kleinen<br />

Wellen und gewaltigen Wogen, von einzelnen Holzbläsern, dem<br />

Streicher-Corps oder dem dunkel dräuenden Blechbläserchor in lebendiger<br />

Bewegung oder trügerischer Ruhe dargeboten, einen erregen, verlocken,<br />

erheben oder verschlingen. Es ist, als hätte man den festen Boden<br />

unter den Füßen verloren, vertraut sich dem trügerischen Element<br />

aber doch immer wieder gerne an. Allein schon die oft konzertant dargebotenen<br />

„Sea interludes“ sind ein Faszinosum für sich. Ich empfinde<br />

diese Musik immer mehr als Droge, von der man nicht mehr loskommt.<br />

Wenn dann noch das Philharmonische Wiener Staatsopernorchester<br />

im Einsatz ist, kommen dank seiner betörenden Klangschönheit auch<br />

die grellen, dissonanten Stellen oder Szenen, die die Tragödie des unrettbaren<br />

Außenseiters Peter Grimes ebenso charakterisieren wie die ruhigen,<br />

verinnerlichten Passagen, in ihrer humanen Botschaft zur Geltung.<br />

Bei hochgelagerten Orchestergräben, wie an der Wiener Staatsoper, besteht<br />

natürlich die Gefahr, dass das Orchester zu dominant wird und manche<br />

Sängerstimmen untergehen. Diesmal konnte der Dirigent, der das Werk<br />

offenbar gut kennt und fest in der Hand hat, auch jenseits der rein orchestralen<br />

Passagen des öfteren loslassen, denn es standen genügend voluminöse<br />

Stimmen zur Verfügung. Dass nicht alle Rollenträger starke Charakterporträts<br />

zuwege brachten, „danken“ sie der Regisseurin Christine<br />

Mielitz, die zwar etliche Klischees des modernen Regietheaters bediente,<br />

aber keine wirklich profilierte Personenregie bot. (Siehe „<strong>Merker</strong>“ 3/1996)<br />

Dass der für den wieder einmal absagenden Ben Heppner einspringende<br />

Herbert Lippert diese Herausforderung souverän bewältigte, erhöht seinen<br />

Wert als Ensemblemitglied. Mit echter heldentenoraler Durchschlagskraft<br />

gab er dem Peter Grimes die nötige vokale Präsenz, konnte aber auch<br />

mit den leiseren kantablen Passagen beeindrucken. Die Verzweiflung über<br />

die für ihn ausweglose Situation des als Kindesmörder angeklagten Fischers<br />

glaubte man ihm, die psychisch unvermeidbare Zuflucht zu roher Gewalt<br />

sollte noch eindrücklicher gebracht werden, und sein Gesicht sollte noch<br />

deutlicher die Seelenqualen des Grimes „sprechen“ lassen. Es ist ja so etwas<br />

wie eine „Lebensrolle“, in die auch viele seiner großen Tenorkollegen<br />

erst hineinreifen mussten.<br />

Mit enormem Stimmvolumen und interessantem Timbre überraschte die<br />

Hausdebutantin Gun-Brit Barkmin (die bereits beim Japan-Gastspiel der<br />

Wiener Staatsoper im Herbst unter Peter Schneider die Salome gesungen<br />

hatte) als Ellen Orford, die meist von lyrischeren Sopranen gesungen wird,<br />

verkörperte eine starke Frau, die zu retten versucht, was möglich ist, indem<br />

sie Peter Grimes Halt zu geben und ihn zu freundlicher Behandlung<br />

des jungen Fischergehilfen zu bewegen trachtet. Ihr Schreck, wenn sie erkennen<br />

muss, dass es für ihn am Ende keinen anderen Ausweg als das von<br />

Balstrode vorgeschlagene „Sink the boat!“ geben kann, ist nicht nur gespielt.<br />

Wir sind nun doppelt neugierig auf ihre Salome und Sieglinde noch<br />

in dieser Saison. Ebenfalls Hausdebutant war der Bariton Iain Paterson<br />

als Captain Balstrode, eine Autorität, die in der kleinen Stadt nach dem<br />

Rechten sieht. Das bewies er sowohl mit seinem vollen, kernigen Bariton<br />

als auch durch seine Haltung und ein Minimum an passenden Gesten.<br />

Das übrige Ensemble konnte sich nur vokal profilieren, weil die Regie zu<br />

wenige Entfaltungsmöglichkeiten vorsieht – die Chorumtriebe waren ihr<br />

wichtiger. An vorderster Stelle ist da Norbert Ernst zu nennen, der die<br />

Zednik-Rolle des zynischen, stets betrunkenen Bob Boles mit gänzlich anderem,<br />

heldischerem Stimmcharakter eindringlich singt. Wolfgang Bankl<br />

als Dorfrichter, von Britten dezent als „lawyer“ bezeichnet, der schon im<br />

Prolog den Angeklagten zur Schnecke macht, indem er ihm immer wieder<br />

das Wort abschneidet, tat dies imposant mit seinem durchsetzungsfähigen<br />

Bassbariton. Monika Bohinec als Auntie, Donna Ellen als Mrs.<br />

Sedley und die beiden Nichten Simina Ivan und Hyuna Ko zeichneten<br />

sich durch Bemühen um verständliche englische Diktion ebenso aus wie<br />

die Herren Carlos Osuna (Reverend Horace Adams), Gabriel Bermúdez<br />

(Ned Keene) und Janusz Monarcha (Hobson). <strong>Der</strong> von Thomas<br />

Lang betreute Chor konnte seine Allmacht trefflich unter Beweis stellen.<br />

Während Britten und sein Librettist Montague Slater gerade in diesem<br />

Stück, wo die Masse Mensch einen Einzelgänger vernichtet, weil sie einen<br />

Sündenbock braucht, auf die genaue Zeichnung einzelner Individuen<br />

Wert gelegt haben, glaubte Christine Mielitz dies zugunsten einer vagen<br />

Modernität ignorieren zu müssen.<br />

Die gute Hintergrundbeleuchtung trug jedoch einiges zur optischen Bereicherung<br />

bei. Da wurde doch die düstere, gefahrvolle Atmosphäre geschaffen,<br />

die auch in der Musik vorherrscht.<br />

Zur Un-Ehre der Wiener Staatsoper muss ich leider feststellen, dass alle<br />

anderen mir bekannten Inszenierungen dem Stück weit besser gerecht<br />

wurden. Dank der grandiosen Musik und unserem vortrefflichen Ensemble<br />

konnte Brittens humane Botschaft trotzdem auch hier ankommen. <br />

<br />

Sieglinde Pfabigan<br />

24.11.: „DIE ZAUBERFLÖTE“<br />

Unser lieber alter Musikprofessor betrat in der 1. Klasse Gymnasium das<br />

Musikzimmer mit einem Klavierauszug der „Z“ unter dem Arm und erklärte:<br />

„Jetzt werdet ihr was vom Schönsten hören, dass es überhaupt gibt!“<br />

Dann begann er mit der Ouvertüre. Beifall. – Doch dann ging es los: Er<br />

sang zum Klavier alle Partien, die es gibt. Hohe, tiefe, lustige, traurige.<br />

<strong>Der</strong> Beifall war enden wollend. Doch ernste seelische Verletzungen gab<br />

es keine. Merke! Als Erst-Oper gar nicht so geeignet, wie man vielleicht<br />

glauben könnte. Zumindest mit Klavier.<br />

An dem Abend klang es schon viel, viel besser.<br />

Gesungen hat alles, was junge und schöne Stimmen hat. So gleich der Sarastro<br />

des Bridley Sherratt, ein wohltönender Bass, dem nur noch der Ausbau<br />

der tiefen Lage etwas fehlt. Dem Tamino des Benjamin Bruns fehlt<br />

an Stimme gar nichts, nur dass diese etwas dunkler und ausdrucksvoller<br />

sein könnte, was aber sicher nur eine Frage der Zeit ist, – Sprecher und 2.<br />

Priester liegen bei Alfred Šramek in wohlerprobter Kehle, der 1. Priester<br />

desgleichen bei Benedikt Kobel. Olga Pudova als nächtliche Königin ist,<br />

kurz gesagt, Erste Klasse. <strong>Der</strong>artig brillantene Höhen und scharf geschliffene<br />

Koloraturen hat man schon die längste Zeit nicht mehr gehört. Die<br />

Pamina der Chen Reiss besticht in ähnlicher Weise durch Schöngesang<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 23


Aktuelles aus Österreich<br />

Tamino umringt von drei Damen besingt, eine - vierte! (Benjamin Bruns)<br />

Ein echter Glücksfall für diese Serie ergab sich (durch die Absage von<br />

Ben Heppner) für Herbert Lippert. Sie ermöglichte ihm als Einspringer<br />

ein fulminantes Rollendebut in der packenden Rolle des Peter Grimes.<br />

Er meistert die gesanglichen Schwierigkeiten souverän – die Partie liegt<br />

ihm (im Gegensatz zum Erik und Lohengrin) ganz perfekt in der Kehle;<br />

seine darstellerischen Fähigkeiten ermöglichen ihm eine Charakterstudie<br />

dieses brutalen, harten Fischers – der aber auch seine Träume hat<br />

und unter dem Mobbing der oberflächlichen selbstgerechten „normalen“<br />

Leute leidet – wie man es nur selten auf einer Opernbühne erlebt.<br />

und den Beweis, dass belcanto nicht nur ein Privileg südlicher Kehlen ist.<br />

Die Drei Damen O. Bezsmertna, C. Carvin, A. Kolosova machen ihre<br />

Sache, munter gekleidet wie gespielt und gesungen, recht erfreulich. Auch<br />

Marcus Werba als Papageno ist ein Volltreffer, was die wienerische Seite<br />

des Volksstückes betrifft. Ob er nicht doch mit seinen vielen internationalen<br />

Verpflichtungen etwas mehr maßhalten sollte? Seine Papagena Valentina<br />

Nafornita ist als Alte recht komisch, als Junge erklärbar gebärfreudig.<br />

Drei singende Knaben sind leider kaum zu hören. Wohl aber der<br />

Monostatos des Thomas Ebenstein. Das Böse ist eben immer lauter als<br />

das Gute. Zwei Geharnischte, Marian Talaba und Dan Paul Dumitrescu,<br />

sind mit ihrem Doppelgesang eine ernste Mahnung.<br />

Christoph Eschenbach muss ein großer Mozart-Verehrer sein. So hört es<br />

sich an. Regie von Moshe Leiser und Patrice Caurier räumen mit alten<br />

Regiegedanken ziemlich radikal auf, was aber entschlackt, ohne zu stören.<br />

Prächtig tönen die Chöre unter Martin Schebesta und runden mit<br />

dem wunderbaren Orchester den Eindruck eines unvergänglichen Werkes<br />

ab. <br />

Fritz Tront<br />

25.11.: Keine Vorstellung.<br />

26.11.: „PETER GRIMES“<br />

„WELL DONE“ – Eine gelungene Würdigung von Benjamin Britten<br />

zum 100. Geburtstag stellt die wiederaufgenommene Serie dieser tief<br />

berührenden Oper über einen unglücklichen Menschen in den Fängen<br />

einer oberflächlichen, kleinbürgerlichen Dorfgesellschaft an der Ostküste<br />

Englands dar.<br />

Diese Regiearbeit von Christine Mielitz stammt aus einer Schaffensphase<br />

(1996 – für uns ihre beste Arbeit in Wien), in der noch das Werk<br />

– und nicht die Selbstdarstellung – im Mittelpunkt stand, und erzählt<br />

eindrucksvoll diesen fesselnden Stoff, der ja Benjamin Britten auch<br />

aufgrund seiner eigenen Lebensgeschichte so viel bedeutete. Die auch<br />

handwerklich gute Arbeit mit gekonnter Personenführung lässt auf der<br />

praktisch leeren Bühne nicht eine Sekunde Leerlauf zu – besonders der<br />

hervorragend singende Staatsopernchor hat offensichtlich zur Wiederaufnahme<br />

sehr erfolgreich geprobt und agiert sehr ambitioniert.<br />

Das Staatsopernorchester unter der Leitung des Engländers Graeme<br />

Jenkins zeigt wieder einmal seine Stärken bei der Interpretation von extrem<br />

ausdrucksstarker Musik. Die sinfonischen Zwischenspiele zählen<br />

– in dieser Qualität dargebracht – zu Höhepunkten der Opernliteratur.<br />

Rührt stets ans Herz - Peter Grimes hält den ihm anvertrauten toten Knaben<br />

Die Sopranistin Gun-Brit Barkmin, die im Rahmen der Wiener Staatsoper<br />

bisher nur als „Salome“ beim Japan-Gastspiel mitwirkte, wird in<br />

der laufenden Saison auch noch als Salome und als Sieglinde im Haus<br />

am Ring zu erleben sein. Aufgrund der Darstellung der Lehrerin, die<br />

auch als Außenseiterin der Gesellschaft eine interessante Persönlichkeit<br />

ist, kann man sich darauf durchaus freuen. Die Szene mit dem Buben<br />

am Strand – mit der betenden Gemeinde im Hintergrund – war eindrucksvolles,<br />

großes Theater. Ihre Stimme ist technisch sehr gut geführt,<br />

geradlinig und gut tragend.<br />

Die dritte Hauptrolle, der Balstrode, Handelsmarine-Kapitän in Ruhestand,<br />

wurde vom schottischen Bariton Iain Peterson (erstmals in<br />

der Wiener Staatsoper) mächtig und mit passendem stimmlichen Ausdruck<br />

dargestellt.<br />

Monika Bohinec war als „Auntie“ stimmlisch und darstellerisch sehr<br />

gut und lieferte gemeinsam mit ihren Nichten Simina Ivan (die reifere<br />

der beiden Schwestern – war sie doch immerhin schon bei der Premiere<br />

1996 mit dabei) und Hyuna Ko mit Gun-Brit Barkmin als Lehrerin<br />

im Quartett einen Höhepunkt des Abends.<br />

Wolfgang Bankl war als Swallow eine Luxusbesetzung – eigenartigerweise<br />

mussten wir beide während seines Gesanges an Ostern denken!<br />

Die kleineren Rollen – Norbert Ernst als Bob Boles, Donna Ellen als<br />

Mrs. Sedley, Carlos Osuna als Reverend Horace Adams, Gabriel Bermudez<br />

als Ned Keene und Janusz Monarcha als Hobson waren gesanglich<br />

und schauspielerisch sehr gut aus dem Ensemble besetzt und hatten<br />

einen großen Anteil am eindrucksvollen Ergebnis dieses Abends, der dem<br />

dritten Jubilar dieses Jahres, aber auch der Wiener Staatsoper, abseits<br />

vom populänen Repertoire, Ehre machte. Maria und Johann Jahnas<br />

27.11.: „DIE ZAUBERFLÖTE“<br />

Ich bin nicht traurig über den Verlust der einzigen Marelli-Inszenierung,<br />

die ich nicht für besonders gelungen erachtete. Die <strong>neue</strong> „Zauberflöte“<br />

von Moshe Leister und Patrice Caurier erzählt im Wesentlichen<br />

ein Märchen, als das es auch Helmut Lohner in der Volksoper<br />

und Otto Schenk in einer früheren Inszenierung gesehen haben. Allerdings<br />

gibt es dabei einige Brüche: Sarastro als Aufsichtsratsvorsitzender<br />

24 | DER NEUE MERKER 12/2013


Aktuelles aus Österreich<br />

passt in das Märchenkonzept nicht allzu gut, genauso wenig wie die<br />

naturalistische Erhängungsszene von Papageno sowie ein wenig anzügliches<br />

Betragen des Vogelmenschen. Das Bühnenbild von Christian<br />

Fenouillat bildet einen attraktiven Rahmen um die Kostüme von<br />

Agostino Cavalca, die teils schrill, wie bei den drei Damen, teils etwas<br />

einfallslos, wie bei Tamino und Pamina, aber nie hässlich sind.<br />

Schwebende Menschen und pyrotechnische Effekte waren nett, aber<br />

nicht sehr beeindruckend, die wilden Tiere allerliebst, und die Stimmung<br />

im Haus sehr angetan.<br />

Aus der soliden Besetzung ragte der sehr wienerische Papageno von<br />

Markus Werba hervor, der seine Rolle mit viel Charme erfüllte und<br />

seinen schlanken Bariton wirksam einsetzte. Benjamin Bruns ist Wiener<br />

Opernbesuchern schon seit einiger Zeit als zuverlässiger Interpret<br />

des Tamino ein Begriff. Seine schlanke, hell timbrierte Stimme setzt er<br />

mit Nuancen ein und spielt sehr gefällig, ein außerordentlicher Vertreter<br />

seiner Rolle ist er nicht. Chen Reiss gelangte zu Pamina-Ehren, weil<br />

die ursprünglich vorgesehene Sängerin ein Problem mit einigen Metern<br />

über dem Bühnenboden Entschweben hatte, was man ihr nicht verdenken<br />

kann. Für mich stellte sie nur optisch eine Idealbesetzung dar – ihrer<br />

Stimme fehlte die lyrische Wärme, die ich mir von diesem Mädchen<br />

erwarte. Olga Pudova als Königin der Nacht bot blitzsaubere Koloraturen,<br />

für die sie heftig beklatscht wurde; das Timbre ihres Soprans habe<br />

ich als ein wenig scharf empfunden.<br />

Ihr Gegenspieler Sarastro, verkörpert von Brindley Sherratt auf Kothurnen,<br />

wirkte vor allem deshalb; ein wenig fehlte mir bei seinem schlanken<br />

Bass die Wärme des Weisen.<br />

Thomas Ebenstein verkörperte den Monostatos gut, Marian Talaba<br />

und Dan Paul Dumitrescu waren, wie das gesamte „Personal“ von Sarastro,<br />

in Aufsichtsrats-Anzüge gekleidet. Alfred Šramek als Sprecher<br />

und 2. Priester erging es ebenso, doch er versah seine Rollen mit schöner<br />

Stimme und Würde, ebenso wie Benedikt Kobel als 1. Priester. Auch<br />

das hohe Paar erscheint am Ende in Kostüm und Anzug – gehören sie<br />

jetzt auch zum Establishment?<br />

Olga Bezsmertna, Christina Carvin und Alisa Kolosova waren sehr<br />

gut besetzte Drei Damen, die wie Marketenderinnen aus der Barockzeit<br />

gewandet waren und ihre Dialoge sehr natürlich lieferten, was für<br />

Pamina nur bedingt galt. Valentina Nafornita als Papagena war eine<br />

allerliebste Luxusbesetzung; ihre turnerische Leistung als alter Vogel<br />

fand ich beachtlich.<br />

Die drei Knaben waren mit Wiener Sängerknaben besetzt, deren Engelsstimmen<br />

stellenweise nicht ganz harmonisch klangen.<br />

Christoph Eschenbach am Pult dirigierte eine sehr rasche Auffassung<br />

von der Partitur. Ich fand sie kein bisschen langweilig, aber auch gar nicht<br />

außergewöhnlich, so, wie die Aufführung sich auch darstellte: solide.<br />

<br />

Traude Steinhauser<br />

28.11.: „MANON“<br />

Ein grandioses Trio ließ hier die emotionalen Funken sprühen: Olga<br />

Esina in der Titelrolle gestaltet in den 3 Akten die Figur der Manon<br />

vom unschuldig-naiv-unerfahrenen Mädchen über die glückselig<br />

Verliebte zur Frau, die der Verführung durch schnöden Mammon<br />

erliegt und ihre weiblichen Reize gezielt zu nutzen gelernt hat, um<br />

dann schließlich doch der Liebe zu folgen und auf der Flucht den Erschöpfungstod<br />

zu erleiden. Ihre packende Darstellung geht zu Herzen,<br />

die technische Umsetzung macht sie zur souveränen Bühnenerscheinung.<br />

Vladimir Shishov kann als Des Grieux mit intensivem<br />

Ausdruck glaubhaft seine tiefen und wahren Gefühle für seine Manon<br />

spürbar machen und damit kleine tänzerische Unsicherheiten<br />

zu Beginn rasch überwinden – hat er doch erst mit dieser Aufführung<br />

erstmals in dieser Saison eine Hauptpartie getanzt. Mihail Sosnovschi<br />

ist der Dritte im Bunde, der diese Vorstellung so sehenswert<br />

machte: präsent und charakterstark wie stets verkörpert er den windigen<br />

Lescaut, der nicht nur seine Geliebte „vermarktet“, sondern<br />

auch nicht davor zurückscheut, seine eigene Schwester gewinnbringend<br />

an den reichen Mann zu bringen. Sein eigentlich verwerfliches<br />

Tun auf der Bühne lässt ihn dennoch als Publikumsliebling beim<br />

Schlussapplaus heftig akklamiert werden. Bei diesen drei Künstlern<br />

sprühte es nur so vor explosiver Emotionalität und Leidenschaftlichkeit<br />

– so dass einige technische Pannen nur ganz kurz für Irritation<br />

sorgten – am auffälligsten der Schuss, der Lescaut töten soll, und zuerst<br />

zu früh und dann verspätet noch einmal fällt.<br />

Alice Firenze debütiert als Lescauts Geliebte und kann hier gute Akzente<br />

setzen. Thomas Mayerhofer (Monsieur G.M.) und Gabor Oberegger<br />

(Aufseher) tragen das Ihre bei zur gelungenen Vorstellung, indem sie<br />

überzeugend die Wirkung ihre Macht deutlich machen. Marcin Dempc<br />

gefällt zunächst als frech-verschmitzter Bettlerkönig und später gemeinsam<br />

mit Alexandru Tcacenco und Dumitru Taran als elegante Kavaliere<br />

im Haus von Madame (Dagmar Kronberger). Das Corps de ballet<br />

gefällt durch angeregtes Spiel.<br />

Peter Ernst Lassen leitete das Orchester (die Oper ist derzeit in Oman<br />

auf Gastspiel) mit eindringlicher Dichte. Ein sehr sehenswerter Abend<br />

mit viel Applaus. <br />

Ira Werbowsky<br />

29.11.: „PETER GRIMES“<br />

Noch unbeschwert von den kommenden tragischen<br />

Ereignissen - Ellen Orford (Gun-Brit Barkmin)<br />

Benjamin Brittens 100. Geburtstag wiegt offenbar nicht so schwer wie<br />

die zwei 200er. Freuen wir uns, dass die Staatsoper immerhin eine – und<br />

zwar überwiegend gute – Inszenierung von Christine Mielitz mit Bühnenbildern<br />

und Kostümen von Gottfried Pilz wieder ausgegraben hat.<br />

„Peter Grimes“ ist eine von fünf Britten-Opern, deren Titel aus Vor- und<br />

Familiennamen besteht. Wie bei fast allen ist der Titelheld kein Held,<br />

sondern ein kleiner Mann im Kampf mit widrigen Umständen, d. h. mit<br />

der Natur als Umgebung<br />

und Lebensraum<br />

sowie der kleinstädtischen<br />

Bevölkerung.<br />

Brittens persönliche<br />

Umgebung war ja ähnlich.<br />

Und auch in der<br />

Partitur siegt für mich<br />

als erstes das Orchester<br />

und sein Dirigent<br />

Graeme Jenkins<br />

bei den weit ausgebreiteten<br />

Sea Interludes<br />

in einer selbständigen,<br />

interessanten,<br />

gewaltigen und schönen<br />

Musiksprache, ex<br />

aequo der Chor (Leitung<br />

Thomas Lang).<br />

Dann kommt natürlich<br />

der Titel-(held?)<br />

Herbert Lippert, der<br />

auch unter den widrigen<br />

Umständen seinen<br />

klaren, kraftvollen Tenor<br />

souverän einsetzt<br />

und auch mit seinem<br />

Gehaben durchaus als<br />

englischer Fischer durchgehen kann. Die Damen stechen durch ihre<br />

hellen Stimmen aus der Masse hervor: Gun-Brit Barkmin als mitfühlende,<br />

schönstimmige Ellen Orford, Monika Bohinec als Auntie, und<br />

nicht zuletzt Simina Ivan und Hyuna Ko als die beiden Nichten im<br />

Minirock und Donna Ellen als Mrs. Sedley. Als schottischer Import ist<br />

Iain Paterson als Gegenspieler Balstrode mit prächtigem Bariton sehr<br />

überzeugend als Verteidiger des Geächteten. Ebenso Norbert Ernst als<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 25


Aktuelles aus Österreich<br />

Bob Boles, Wolfgang Bankl als Swallow, Carlos Osuna als würdiger<br />

Reverend Adams (sehr schön die Kirchenchorszene). Gabriel Bermúdez<br />

war Ned Keene und Andreas Hörl hatte sein Rollendebur als Hobson-Einspringer<br />

wegen Erkrankung von Janusz Monarcha. Erst die 36.<br />

Aufführung! Das Stück verdient noch viele weitere.<br />

P.S.: Das war für mich ein würdiger Abschluss des Tages, an dem wir uns<br />

von Christopher Norton-Welsh verabschiedet hatten. Er war rezensierender<br />

Kollege bei Opera News und wir hatten uns zuletzt bei der Eötvös-Oper<br />

getroffen. Ich lernte ihn vor 40 Jahren als Tenorsolisten (später wurde er als<br />

Bariton ein gefragter Liedsänger) in der Karmelitenkirche kennen und er<br />

machte mich auf Britten und seine Lieder aufmerksam. <br />

<br />

Hans Peter Nowak<br />

Man wollte dem Wiener Publikum <strong>neue</strong>re, bessere, stimmigere Mozartdeutungen<br />

bieten, aber leider hat das auch diesmal nicht geklappt. Irgendwie<br />

ist bei den Neuinszenierungen der Opern Wolfgang Amadeus<br />

Mozarts der Wurm drinnen, was sehr schade ist, da doch Österreich eine<br />

Vorreiterrolle bei der Interpretation dieses Komponisten innehabe sollte.<br />

Zuerst erblickt man einen zweiten Bühnenrahmen, nachempfunden der<br />

creme-goldenen Innenausstattung des Bühnenraums und dahinter ein<br />

großes Nichts – eine gähnend leerer Raum ( Christian Fenouillat), lediglich<br />

durch einen alten, schäbigen Heizungskörper aufgelockert. Dieser<br />

erste Eindruck ließ gleich mal die Hoffnungen sinken. <strong>Der</strong> Abend<br />

und die Inszenierung (Moshe Leiser und Patrice Caurier) plätscherten<br />

dann dahin, aufgelockert von einigen kleinen Gags um das Publikum<br />

zu amüsieren. Man bediente sich im ersten Teil vieler Knaller und<br />

pyrotechnischer Effekte, um die Auftritte der Königin, ihrer Damen<br />

und die Macht Sarastros zu demonstrieren. Im zweiten Teil wurde gern<br />

und viel an Seilen hängend über die Bühne geschwebt. Ob sich das für<br />

Gastsänger als praktisch erweisen wird? Die Männer Monostatos’ sind<br />

wie Wiener Polizisten gekleidet, die ihre Jacken öffnen, darunter Tutus<br />

anhaben und so zum Glockenspiel tanzen. Dies brachte zumindest Lacher<br />

im Publikum.<br />

Die wilden Tiere (ausgenommen die putzig trippelnden Strauße) sind<br />

wie aus einem Schauerfilm ausgeliehen, kamen aber auch gut an.<br />

Sarastros Welt gleicht einer extrem düsteren Jagdgesellschaft in eigenartiger<br />

trachtig angehauchter Kleidung (Kostüme: Agostino Cavalca)<br />

oder Trenchcoat und Hut, wie Geheimpolizisten; die Sonnenwelt wird<br />

nur durch kleine, beleuchtete Pyramiden und Sonnen angedeutet. Ich<br />

frage mich nur, was das märchenhafte junge Paar an dieser düsteren<br />

Welt verlocken soll? Oder will man erklären, dass Erwachsenwerden<br />

den Wechsel in eine graue trostlose Welt voll Konformität, wo nur eine<br />

kleine Sonne leuchtet, bedeutet?<br />

Die musikalische Seite der Aufführung war leider auch nicht strahlend,<br />

sondern recht durchwachsen und bieder.<br />

<strong>Der</strong> Dirigent Christoph Eschenbach ist traurigerweise derzeit anscheinend<br />

der einzige ,,Nachwuchs“ bei den Mozartdirigenten. Er leitete<br />

den Abend recht langatmig und schwergewichtig mit unausgewogenen<br />

Tempi, nicht premierenwürdig sondern durchschnittlich.<br />

<strong>Der</strong> Beste der Sängerriege war eindeutig Markus Werba in der dankbaren<br />

Rolle des Papageno trotz des hässlichen gagerlgelben Kostüms. Er<br />

durfte einige Witzchen reißen, durch das Publikum toben, in Falltüren<br />

verschwinden und durch die Lüft schweben, und hielt so den Abend<br />

am Laufen. Stimmlich ist er zwar kein Riese, scheint aber jetzt doch in<br />

diesem großen Haus angekommen.<br />

Benjamin Bruns, in einem Fantasiekostüm, wie aus 1000 und einer<br />

Nacht, war sowohl stimmlich als auch optisch ein netter Prinz Tamino,<br />

sang ohne Fehl und Tadel trotz nicht ganz mozart’scher Stimme und<br />

wirkte etwas zu ernst, fast musterschülerhaft.<br />

Seine Pamina, dargestellt von Chen Reiss, die ursprünglich für die Papagena<br />

vorgesehen war, wirkte auch ein wenig hölzern, sang schön, aber<br />

kühl, für die große Bühne vielleicht zu schwach, konnte den Zauber<br />

dieser Rolle nicht ins Publikum transportieren.<br />

30.11. ,, DIE ZAUBERFLÖTE“<br />

Leider vergebliche Liebesmüh<br />

Schwebend im Liebeshimmel - Papagena und Papageno<br />

(Hila Fahima mit Markus Werba) (alle © Michael Pöhn)<br />

Die Debutantin Olga Pudova gab die sternflammende Königin im roten<br />

Abendkleid. Sie musste sich ständig völlig gebrochen dahinschleppen.<br />

Ihre Koloraturen und hohen Töne sind ausgezeichnet, in der Mittellage<br />

vibriert es etwas, jedoch eine gute Leistung.<br />

Brindley Sherratt musste auf unter der Hose verborgenen Kothurnen<br />

herumstelzen und sah aus, wie ein überdimensionaler Freizeitjäger. Er<br />

sang eine schöne Linie und er gefiel mir recht gut, leider war er durch<br />

die Regie arg behindert.<br />

Hilla Fahima sang eine putzige Papagena, die die meiste Zeit als menschliche<br />

Krähe herum kreischen muss.<br />

Die drei Damen Olga Bezmerta, Christina Carvin und Alisa Kolosova<br />

waren nicht sehr einheitlich, und fielen durch schwer akzentbehaftetes<br />

Deutsch auf. Die drei Knaben habe ich schon lange nicht so<br />

schlecht und piepsig gehört.<br />

Monostatos Thomas Ebenstein musste sich als Witzfigur hinstellen<br />

lassen.<br />

Alfred Šramek als Sprecher im Anzug und als 2. Priester spielt mit<br />

dem Priester Bendikt Kobel gemeinsam das Spiel ,,Guter Polizist, böser<br />

Polizist“.<br />

Ferner trugen zu dem Abend Marian Talaba und Dan Paul Dumitrescu<br />

als Geharnischte bei.<br />

Man kann mit dieser <strong>neue</strong>n Zaubeflöte zwar leben, aber besser als die<br />

alte Inszenierung ist sie leider nicht gelungen. Daher siehe oben: vergebliche<br />

Mühe. Hätte man doch besser eine <strong>neue</strong> ,, Entführung“ gemacht!<br />

Silvia Herdlicka<br />

26 | DER NEUE MERKER 12/2013


Aus dem Volksopernrepertoire:<br />

2.11.: „DIE CSÁRDÁSFÜRSTIN“<br />

Diese wunderschöne Inszenierung von Robert Herzl in prächtigen Bühnenbildern<br />

von Pantelis Dessyllas und kleidsamen Kostümen von Silvia<br />

Strahammer stammt aus dem Jahr 1982 und hat es zu Recht schon auf<br />

306 Vorstellungen gebracht. Diesmal erweckte das Rollendebüt von Ursula<br />

Pfitzner als Sylva Varescu das besondere Interesse der Operettenfreunde.<br />

Es ist als durchaus geglückt zu bezeichnen. Natürlich konnte sie davon<br />

profitieren, dass sie eine Ballett- und Schauspielausbildung an der Wiener<br />

Staatsoper absolviert hat. So gelang ihr ein durchaus stimmiges Rollenportrait<br />

der Chansonette, in dem auch die stimmlichen Aspekte nicht zu<br />

kurz kamen. Sie sang, spielte und tanzte aus vollem Herzen und erzielte<br />

dadurch große Wirkung und volle Zustimmung beim Publikum. Nicht<br />

so gut war es um ihren Edwin Ronald bestellt. Thomas Sigwald spielte<br />

mit vollem Einsatz, hatte aber stimmlich doch einige Defizite aufzuweisen.<br />

Das Buffopaar hatte alle Sympathien des Publikums auf seiner Seite. Johanna<br />

Arrouas ist eine charmante, tanzfreudige Komtesse Stasi, Michael<br />

Havlicek war nach etwas steifem Beginn ein spiel- und sangesfreudiger<br />

Graf Boni. Nicht unproblematisch ist die Besetzung des Feri Bácsi<br />

mit Kurt Schreibmayer. Er kann in keiner Phase verleugnen, dass seine<br />

Ursula Pfitzner als rollendeckende Sylva Varescu (© Pallfy)<br />

Wiege in Klagenfurt stand. Die Welt des kleinen ungarischen Landadeligen<br />

ist ihm sichtbar und hörbar fremd, so dass konsequenterweise sein berühmtes<br />

„Jaj Mamám, Bruderherz, ich kauf mir die Welt!“ nicht die Wirkung<br />

beim Publikum erzielt hat, die bei seinen Vorgängern immer wieder<br />

mehrmalige Wiederholungen in verschiedenen Sprachen erzwungen hatte.<br />

Ein Kabinettsstück ist der Fürst Lippert-Weylersheim von Peter Matic.<br />

Seine Bühnengattin Anhilte, Regula Rosin, assistierte ihm humorvoll.<br />

Erwähnenswert sind noch Martin Bermoser, rollendeckend als besonders<br />

unsympathischer Baron Rohnsdorff, und Raimund-Maria Natiesta<br />

als Notar. Was sich aus einer scheinbar kleinen, unbedeutenden Nebenrolle<br />

an Bühnenwirksamkeit herausholen lässt, zeigte Nicolaus Hagg als<br />

Siggi Gross, Manager des Orpheum. Spielfreudig und um köstliche Pointen<br />

nie verlegen, zieht er die Fäden im 1. und 3. Akt.<br />

Für echte Operettenstimmung aus dem Orchestergraben sorgte der Doyen der<br />

Wiener Operette, Rudolf Bibl. Orchester und Chor der Volksoper Wien –<br />

einstudiert von Thomas Böttcher – hatten großen Anteil an der herrschenden<br />

Operettenseligkeit. Mit viel Applaus dankte das Publikum allen Künstlern.<br />

<br />

Hans Sabaditsch<br />

27.11.: „IL TROVATORE“<br />

Drei Rollendebüts machten die 4. Vorstellung nach der Premiere für<br />

Opernfreunde interessant. Die schon für die Premiere vorgesehene Janina<br />

Baechle konnte endlich ihre Azucena dem Wiener Publikum vorstellen.<br />

Hörbar hatte sie ihre Erkrankung noch nicht ganz überwunden.<br />

So fehlte ihr in manchen Passagen einfach die Kraft, was sich besonders<br />

im 3. Akt im Terzett mit Luna und Ferrando bemerkbar machte. Auch<br />

im Spiel wirkte sie seltsam zurückhaltend, von Leidenschaften war hier<br />

nicht sehr viel zu bemerken. Die Stärken von Janina Baechle liegen sicher<br />

eher im deutschen Fach. Kristiane Kaiser ist eine sehr lyrische, in<br />

den Koloraturen und in der Höhe sichere Leonora. Über weite Strecken<br />

hatte man den Eindruck, dass sie viele Passagen stilistisch wie eine Mozart-Arie<br />

singt (Kerkerarie!), was zu schönen musikalischen Momenten<br />

führte – die Neuinszenierung war aber doch dem Jahresregenten Verdi<br />

gewidmet. Besonders eindrucksvoll und ergreifend gelang ihr vielleicht<br />

gerade deshalb die Sterbeszene. Trotzdem hat der Musikfreund auch bei<br />

Kristiane Kaiser den Eindruck, dass ihr Sopran eher im deutschen Fach<br />

beheimatet ist. Die dritte Rollendebütantin, Renate Pitscheider, bewältigte<br />

die Ines mit kleiner Stimme sicher.<br />

Bei den Herren dominierte eindeutig Stuart Neill als Manrico. Mit großem<br />

dramatischem Tenor meisterte er die gefürchteten Höhen bombensicher.<br />

Beeindruckend war das hohe „C“ in „all‘ armi“. Aber auch die lyrischen<br />

Stellen phrasierte er sehr schön, ja sogar Pianotöne hatten in seiner<br />

Interpretation Platz – insgesamt eine ausgezeichnete Leistung. Tito You<br />

verfügt über eine breite Mittellage, die Stimme verengt sich aber in der<br />

Höhe, was gerade beim Luna zu Problemen führt. Auch machten sich<br />

immer wieder Intonationsschwierigkeiten bemerkbar. Die berühmte Arie<br />

„Il balen del suo sorriso...“ hatte besonders darunter zu leiden. Christian<br />

Drescher war ein skurriler Ruiz. <strong>Der</strong> Ferrando war mit Petar Naydenov<br />

stark unterbesetzt.<br />

Enrico Dovico leitete das Orchester der Volksoper Wien sicher, aber mit<br />

zu wenig Temperament und Leidenschaft. Die vielen langsamen Tempi<br />

bereiteten den Sängern einige Schwierigkeiten. Chor und Zusatzchor<br />

der Volksoper, einstudiert von Thomas Böttcher, waren auf der Höhe<br />

ihrer Aufgabe.<br />

Wieder einmal muss der Opernfreund mit einer Inszenierung leben, die<br />

als misslungen zu bezeichnen ist. Dietrich W. Hilsdorf siedelt diese Oper<br />

im Verismo an und zeigt vor allem zu Beginn des 3. Aktes Grausamkeiten<br />

und Brutalitäten, die in der Musik keinen Widerhall finden. Es ist jede<br />

Romantik ausgeklammert, in einigen Szenen schrammt die Regie hart an<br />

der Parodie oder an den Pradler Ritterspielen vorbei. Die Bühnenbilder<br />

von Dieter Richter sind unansehnlich, die Kostüme von Renate Schmitzer<br />

wenig kleidsam. Interessant ist, dass Direktor Robert Meyer von seinem<br />

Credo, alle Opern in deutscher Sprache zu spielen, abgegangen ist<br />

und „Il trovatore“ in der Originalsprache singen lässt, was offensichtlich<br />

mit der Koproduktion mit dem Theater Bonn zusammenhängt. Das Publikum<br />

zeigte sich zufrieden und feierte vor allem die Rollendebütantinnen.<br />

<br />

Hans Sabaditsch<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 27


Aktuelles aus Österreich<br />

MUSIKALISCHES THEATER<br />

Burgtheater: „SPATZ UND ENGEL“ – 18.11.<br />

In dem am 17.9. 2013 als Koproduktion mit dem Schauspielhaus Graz<br />

in Wien uraufgeführten Werk behandeln die Autoren Daniel Große<br />

Boymann und Thomas Kahry die Beziehung bzw. Freundschaft zwischen<br />

Edith Piaf und Marlene Dietrich. Die (einschließlich 1 Pause) rd.<br />

2-stündige Aufführung wurde von Matthias Hartmann gekonnt eingerichtet<br />

und wies in ihrer Dichte keinerlei Leerlauf auf (Ausstattung: Volker<br />

Hintermeier/Lejla Ganic). Alexandra Henkel, Marcus Kiepe und<br />

Dirk Nocker schlüpften glaubwürdig in verschiedene Figuren, waren jedoch<br />

nur Stichwortbringer für Sona MacDonald als Marlene und Maria<br />

Happel als Edith, die den Abend auf beeindruckende Weise trugen.<br />

Nicht nur, dass sie das komplizierte Verhältnis der beiden, in etwa demselben<br />

Genre tätigen Künstlerinnen und einzelne Lebensstationen derselben<br />

drastisch und persönlichkeitsstark ausspielten, begeisterten sie als Sängerinnen.<br />

Die Josefstädter „Leihgabe“ MacDonald kannte man ja schon<br />

von anderen Gelegenheiten als sehr gute Sängerin, dass jedoch das hauseigene<br />

Ensemblemitglied Happel fast ebenso überzeugend in die Kehle<br />

des „Spatzes von Paris“ zu schlüpfen vermochte, überraschte. Beide sangen<br />

einen großen Teil des bekannten Repertoires der Dietrich und der<br />

Piaf und als Zugabe wiederholten sie ein Spoliansky-Lied. Ihre musikalische<br />

Begleitung erfolgte durch ein von Otmar Klein angeführtes 10-köpfiges<br />

Ensemble, das seine Sache vorzüglich machte.<br />

Obwohl die Produktion großartig gemacht und ein riesiger Publikumserfolg<br />

ist, darf man bei dem dürftigen Spielplan an starken Klassiker-Inszenierungen<br />

schon bemerken, dass das zwar ein reizvoller „Herausreißer“,<br />

doch nicht unbedingt das ist, was man vom „Österreichischen Nationaltheater“<br />

erwartet. <br />

Gerhard Ottinger<br />

Wien modern – Palais Kabelwerk 15.11. (Pr.14.11.):<br />

„GATES“ (Kurzopern)<br />

Zweimal vier Operellen waren der Lilith zur Eröffnung von „Wien modern“<br />

leider nicht ebenbürtig. Es lag nicht an den bemühten Ausführenden.<br />

Im 1. Teil empfand ich die ständigen Textwiederholungen auch eher<br />

einem Kabarett als einer (Kurz-)Oper angemessen.<br />

Hier war das Stück „Inventur“, komponiert auf ein Libretto von Brigitta<br />

Falkner von Fernando Riederer, für mich eindeutiger Sieger. Theresa<br />

Dlouhy (Sopran) und Johann Leutgeb (Bariton) konnten brillieren.<br />

Es geht um Einwohner in Büchern, wie Bücherläuse. In den andern<br />

Stücken im 1. Teil waren noch Richard Klein, Clemens Kölbl und Ingrid<br />

Habermann als Sänger und Darsteller tätig. Das Ensemble Platypus<br />

spielte unter der animierten Leitung von François-Pierre Descamps.<br />

Die Regie führte Kristine Tornquist vom Sirene Operntheater. Von dort<br />

haben wir aber schon häufig bessere Sujets und Musik gehört.<br />

Im 2. Teil, betreut von progetto semiserio, waren die beiden ersten Stücke<br />

interessant. „Seelentore“ von Jörg Ulrich Krah, Libretto von Susanne<br />

Felicitas Wolf spielt auf einem Bahnhof und 3 Menschen erzählen<br />

von ihren Befindlichkeiten: Levent Bakirci (Bariton), Ingrid Habermann<br />

(Sopran) und Paul Schweinester (Tenor).<br />

Im besten Stück des Abends, „Wärme“, wird eine Japanerin in Europa<br />

geschildert. Ich musste auch an Butterfly denken. Kaoko Amano gestaltet<br />

eine wunderbare Szene. Konzept, Text und Komposition sind Tamara<br />

Friebel zu danken. Ein Blüten-Hintergrund wird eingespielt.<br />

Mit der Beschreibung der übrigen Stücke will ich mich nicht noch einmal<br />

unnütz ärgern. <br />

Hans Peter Nowak<br />

The Armed Man<br />

A Mass for Peace von Karl Jenkins<br />

Keine Zeit hat so furchterregende Waffen hervorgebracht wie das 20.<br />

Jahrhundert. Grund genug, für den Jahrtausendwechsel wenigstens mit<br />

den friedlichen Mitteln der Musik eine Friedensvision zu beschwören:<br />

Vom Royal Armouries Museum<br />

bei Karl Jenkins in Auftrag gegeben<br />

und den Opfern des Kosovo-Konflikts<br />

gewidmet, ist das Werk für<br />

Chor und großes Orchester ein zeitgenössisches<br />

Beispiel einer Messe<br />

auf der Grundlage des aus dem 15.<br />

Jahrhundert stammenden französischen<br />

Lieds „L‘Homme Armé“.<br />

Das Gesamtwerk beinhaltet religiöse<br />

und weltliche Texte, die als<br />

Kontrapunkte zwischen die Teile einer<br />

großen christlichen Messe gesetzt<br />

sind. Karl Jenkins verbindet<br />

die Tonsprache klassischer Musik<br />

mit Elementen von experimentellem<br />

Jazz und Weltmusik .<br />

Ein großartiges Werk, das den Zuhörer<br />

im Innersten aufwühlt: mal<br />

Karl Jenkins - ein echter Universal-<br />

Musiker (© unbezeichnet)<br />

durch zur Schlacht rufende Fanfaren,<br />

mal durch engelsgleiche Chöre<br />

- vom irdischen Kampf zum himmlischen<br />

Frieden, hoffnungsvoll endend<br />

mit der bitter bezahlten Erkenntnis „better is peace“.<br />

Kartenpreise: € 15/13/11 Loge € 25 Kinder und Jugendliche € 9/7/5<br />

Team und Besetzung<br />

Chorus Juventus der Wiener Sängerknaben<br />

Auswahlchor des Musischen Gymnasiums Salzburg (Chorleitung Thomas<br />

Huber), Landesjugendorchester Salzburg<br />

Dirigent: Norbert Brandauer<br />

5.11.: <strong>Merker</strong>-Kunstsalon mit zwei Opernraritäten:<br />

„PIGMALIONE“ von Gaetano Donizetti und<br />

„LA FALCE“ von Alfredo Catalani<br />

Am 5. November 2013 glänzte der <strong>Merker</strong>-Kunstsalon in Wien-Döbling<br />

wieder einmal mit Ausschnitten aus zwei Opernraritäten: „Pigmalione“<br />

von Gaetano Donizetti (1797 – 1848) und „La Falce“ von Alfredo Catalani<br />

(1854 – 1893), beides Erstlingswerke der italienischen Komponisten.<br />

Den lyrischen Einakter „Pigmalione“ schrieb Donizetti im Jahr 1816 als<br />

19-jähriger, doch wurde das Werk, dessen Libretto Antonio Simone Sografi<br />

verfasste, erst 1960 in seiner Geburtsstadt Bergamo uraufgeführt. Die mythologische<br />

Handlung zeigt uns Pygmalion, den König von Kreta, der den<br />

Frauen entsagt hat und sich der Bildhauerei widmet, wobei er versucht, die<br />

ideale weibliche Schönheit zu gestalten. Es gelingt ihm so perfekt, dass er<br />

sich in die von ihm geschaffene Statue verliebt und nicht mehr imstande ist,<br />

der Geliebten mit seinem Meißel Schmerzen zuzufügen. In seiner Not bittet<br />

er die Göttin Aphrodite um Hilfe, welche die Statue, die er Galathea nennt,<br />

zum Leben erweckt. Die beiden gestehen einander schließlich ihre Liebe.<br />

Die Titelrolle verkörperte der beliebte Tenor Pablo Cameselle, dem es mit<br />

seiner lyrischen, am Belcanto geschulten Stimme gelang, die Leidenschaft<br />

des Königs für die weibliche Schönheit wunderbar auszudrücken. <strong>Der</strong> zum<br />

Leben erweckten Galathea lieh die Sopranistin Anna Ryan ihre markante<br />

Stimme und die Attraktivität ihrer leider viel zu stark verhüllten Figur!<br />

28 | DER NEUE MERKER 12/2013


Aktuelles aus Österreich<br />

Auch das Egloga orientale genannte Werk „La Falce“ („Die Sichel“) von<br />

Alfredo Catalani ist ein Jugendwerk, das der Komponist mit knapp 21<br />

Jahren schrieb und dessen Libretto niemand Geringerer als Arrigo Boito<br />

verfasste. Die Oper wurde 1875 in Mailand uraufgeführt.<br />

In der Schlacht von Bedr, auf packende Art in der Ouvertüre musikalisch<br />

geschildert, wird das Mädchen Zohra zur Waise. Sie beklagt ihr Schicksal<br />

und wünscht sich den Tod. Als im Dunkel ein Fremder mit einer Sichel<br />

erscheint, hält Zohra ihn für den von ihr herbeigesehnten Todesengel<br />

Azraël und wünscht sich von ihm Liebe und Tod. <strong>Der</strong> Schnitter Said<br />

verspricht ihr aber Liebe und Leben – und so schließen sie sich unter Lobpreisungen<br />

Allahs einer vorbeiziehenden Karawane an.<br />

In der Rolle des Mädchens Zohra konnte Anna Ryan ihre prächtige Sopranstimme<br />

leuchten lassen. Wunderbar auch ihr Duett mit Said, der vom<br />

Tenor Raul Iriarte ausdrucksstark gesungen wurde. Begleitet wurden die<br />

Beiden am Flügel, wie schon im 1. Teil, von Pavel Kachnov, der auch die<br />

Ouvertüre eindrucksvoll wiedergab.<br />

Das von den Darbietungen begeisterte Publikum im Festsaal der Bezirksvorstehung<br />

Döbling<br />

(Bezirksvorsteher Adolf Tiller, bekannt für sein Kunstinteresse, hatte den<br />

Ehrenschutz übernommen), unter dem sich auch Gäste aus Frankreich<br />

befanden, dankte am Schluss dem dreiköpfigen Sängerensemble und dem<br />

Pianisten für ihre Darbietungen mit minutenlangem Applaus. Udo Pacolt<br />

Ehrbar-Saal, 19.11.: Felicity Lott in „La voix humaine“<br />

Das Monodram wurde in der Originalversion mit Orchester von Francis<br />

Poulenc nach einem Text von Jean Cocteau 1959 uraufgeführt. <strong>Der</strong><br />

Komponist selbst machte eine Klavierfassung, die jetzt zur Aufführung<br />

kam. Pianist war Graham Johnson.<br />

In der Partitur schreibt der Komponist u. a.: „Die einzige Rolle muss von<br />

einer jungen und eleganten Frau gegeben werden… Die Länge der Orgelpunkte,<br />

die so wichtig sind, hängt von der Ausführenden ab… Alles in einem<br />

sehr freien Tempo…“ Und der Textdichter macht Angaben über das Bühnenbild,<br />

das hier im Ehrbar-Saal durch ein Sofa und ein altertümliches<br />

Telefon gut wiedergegeben wurde.<br />

Das atemberaubende Ereignis des Abends war Felicity Lott, die die Dramatik<br />

um ein mehrfach unterbrochenes Telefongespräch mit ihrem Liebhaber,<br />

der sie verlassen will, in ¾ Stunden in tadellosem Französisch verdeutlicht.<br />

Man glaubt, das Stück sei für sie komponiert (war es aber für<br />

Denise Duval). Langer Beifall erzwang noch mehrere Zugaben und nach<br />

Schluss stellten sich die Besucher um Autogramme an. Hans Peter Nowak<br />

23.11., Mariahilferkirche: Erstaufführung „Mysterium mortis“<br />

– ein Requiem von 3 Komponisten<br />

Diese haben den Text in etwa 2 gleiche Teile geteilt. François-Pierre<br />

Descamps, der auch den Chor einstudiert und die Aufführung dirigiert<br />

hat, komponierte Introitus und Kyrie sowie den Schluss mit Agnus Dei,<br />

Libera und In Paradisum. Jury Everhartz, den wir auch vom sirene operntheater<br />

her kennen, komponierte den größten Teil der Sequenz. Von Christa<br />

Stracke stammen Lacrimosa, Offertorium und Sanctus mit Benedictus.<br />

Vor der Aufführung, die etwa 60 Minuten dauerte, hielt Christine<br />

Obonya-Raunigg eine Einführung mit Musikbeispielen live, also etwa<br />

„von Takt 26 bis 35“, die sehr hilfreich war. Sie bezeichnete die Aufführung<br />

als „work in progress“. Das heißt also, dass Verbesserungen möglich sind<br />

und dass z. B. mein einziger wesentlicher Einwand, das Sanctus möge fortissimo<br />

und mit Trompete beginnen, noch berücksichtigt werden könnte.<br />

Ich hatte Gelegenheit, die Chorpartitur zu studieren. Bei Everhartz ist<br />

Doppelchor, Sopran (Renate Stübner) und Mezzosopran (Nina Edelmann)<br />

als Soli vorgeschrieben, er nimmt ungewöhnliche Takteinteilungen<br />

(z. B. 11/4) vor, das hört sich alles aber sehr gut an. Christa Stracke<br />

schreibt manchmal generelle Vorzeichen. Ihre Schreibweise ist am wenigsten<br />

avantgardistisch. Trotzdem gibt es keine Bruchlinien.<br />

Neben den genannten Solistinnen spielten 7 Instrumente und Martin Nowak<br />

(nicht mit mir verwandt) auf der Orgel. <strong>Der</strong> Piaristenchor war gefordert<br />

und meisterte alle tonalen und taktlichen Schwierigkeiten.<br />

Die Aufführung geriet sehr schön und erhielt viel Beifall. In Zukunft<br />

könnte man also nicht nur vom Mozart- und vom Verdi-Reqiem, sondern<br />

auch vom „Mysterium mortis“ sprechen. Hans Peter Nowak<br />

Kaisersaal 8.11.: „Donauwalzer“ mit Arno Raunig<br />

Dies war ein Kompositionsabend des Tiroler Komponisten Norbert Zehm.<br />

Er war am Klavier, Franz-Markus Siegert an der Violine, Arne Kirchert<br />

am Cello, Roland Schrettl war für die Visuals, Irina Zehm für Soundeinspielungen<br />

zuständig. Arno Raunig bereicherte teils mit tiefer Sprech-,<br />

teils mit hoher Gesangsstimme (und einmal auch als Textdichter des Liedes<br />

„Tränen der Nacht“ das Programm. Zwei Ausschnitte aus der Oper<br />

„Cadence Macbeth“ waren für mich Höhepunkte des Programms: „Be someone“<br />

und „The year is a song“. „Time windows“ (Text Peter Wolf) und das<br />

vom Komponisten getextete „Frequencies need space“ gaben weitere Einblicke<br />

in eine interessante Kompositionsweise, die u.a. auch Klangeinspielungen<br />

wie Weltraumgeräusche (Signale der Cassini Huygens Raumsonde<br />

während der Landung auf dem Saturnmond Titan) verwendet. <strong>Der</strong> „Donauwalzer“<br />

(„so blau an der Donau“) wurde zur Uraufführung gebracht.<br />

An die ständig wiederholten Motive in der Klavierstimme (z. B. bei der<br />

Cellosonate und dem Klaviertrio Nr.4) musste ich mich erst gewöhnen.<br />

Als Zugabe brachte Arno Raunig ein Ave Maria von Caccini, also über<br />

400 Jahre alte Musik, in einer Besetzung für Klaviertrio, das sich nahtlos<br />

an das Zehm-Stück anfügte. Es gab großen Erfolg für den Komponisten<br />

und alle Mitwirkenden, am meisten natürlich für Arno Raunig. <br />

<br />

Hans Peter Nowak<br />

7.11.: 2. LEHÀRIADE im Lehár-Schikaneder-Schlössl<br />

(Wien 19., Hackhofergasse 18)<br />

Allein die Örtlichkeit, wo der große Franz Lehár so viele Jahre gewohnt<br />

und geschaffen hat, erweckt immer wieder erhebende Gefühle, zumal, seit<br />

der Festsaal so schön renoviert und Lehárs Flügel endlich wieder bespielbar<br />

ist und man inmitten<br />

von Erinnerungsstücken<br />

an den Komponisten<br />

sitzt. Hans Peter<br />

Nowak, der unermüdliche<br />

„Ausgräber“ verborgener<br />

Schätze, hat<br />

in Zusammenarbeit<br />

mit „Kultur Döbling“<br />

(verbindende Worte:<br />

Sepp Stranig) wieder<br />

ein hochinteressantes<br />

Programm zusammengestellt<br />

und auf<br />

dem kostbaren Flügel<br />

die Sänger begleitet.<br />

Dass man Lehár und<br />

Lilla Galambos - für die Operette prädestiniert -<br />

mit Stimme, Charme und tänzerischem Können<br />

(© Internet)<br />

Mozart, der wegen<br />

seiner Verbindung zu<br />

Schikaneder an diesem<br />

Abend die zweite<br />

Hauptrolle spielte, von ganz unterschiedlichen Stimmtypen zu Gehör<br />

bringen kann, war eine weitere positive Erfahrung. Die für Operettenrollen<br />

prädestinierte, sehr attraktive, charmante und temperamentvolle<br />

junge Ungarin Lilla Galambos, die ja auch ausgebildete Tänzerin ist, wusste<br />

mit ihrem hellen, schlanken Sopran und trefflichem Vortrag Effekt zu<br />

machen und der im Volksopernchor beheimatete Frederick Greene, der<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 29


Aktuelles aus Österreich<br />

dem Stimmcharakter nach eigentlich ein kraftvoller Heldentenor ist, bot<br />

ein sehr männliches Pendant zu der zarten Dame und gönnte sich sogar<br />

das Vergnügen, als Papageno und Don Giovanni in den Duetten des Vogelfängerpaares<br />

und mit „La ci darem la mano“ sein durchaus vorhandenes<br />

Bariton-Potential zum Einsatz zu bringen. Für die Operettennummern<br />

(Arien und Lieder) braucht er ja auch in den Tenorrollen eine gut<br />

fundierte Mittellage. Greene ließ es aber auch an Höhenglanz und dem<br />

für die Operette unverzichtbaren Humor nicht fehlen.<br />

Neben Bekanntem aus der „Lustigen Witwe“, dem „Land des Lächelns“<br />

„Paganini“ und Kálmáns „Czárdásfürstin“ erfreuten vor allem die Raritäten<br />

aus Lehárs „Die blaue Mazur“ und „Zigeunerliebe“. Köstlich das Tenorlied<br />

„Ja warum soll ich denn schlafen gehen?“ des weitgereisten polnischen<br />

Helden Adolar, der ein Doppelleben führt, untertags ganz brav ist,<br />

aber nach Sonnenuntergang zum Schürzenjäger wird, was man dem Sänger<br />

ebenso abnahm wie das Zigeunerkind, das sich mit Glut in den Adern<br />

im Sturmwind zuhause fühlt. Ein besonderes Zuckerl: Mozarts „Nun, liebes<br />

Weibchen“ KV 592a, das eigentlich aus Schikaneders „<strong>Der</strong> Stein der<br />

Weisen oder Die Zauberinsel“ stammt und sich zum Katzenduett „mausert“<br />

(ein amüsanter Vorläufer für den weit bekannteren Rossini-Spaß):<br />

„<strong>Der</strong> Teufel hol‘ das Miau-Geschrei…sie ist verhext…“<br />

Das Publikum war sehr angetan. <br />

Sieglinde Pfabigan<br />

Baden: „FIGAROS HOCHZEIT“ – 22.11. –<br />

Ein musikalischer Regisseur!<br />

Wie man heutig, schön, gut und richtig Mozart inszeniert? Wer es<br />

nicht weiß und nicht glaubt, dass dies im Jahre 2013 ganz mühelos<br />

möglich ist, der sehe sich den „Figaro“ am Stadttheater Baden an. <strong>Der</strong><br />

Regisseur ist niemand anderer als Robert Herzl, der künstlerische Leiter<br />

des Hauses, langjähriger Hausregisseur an der Volksoper und, jetzt<br />

Anfang 70, als alter „Theaterhase“ mit allen Wassern gewaschen, die<br />

fürs Musiktheater vonnöten sind, oder: mit allen Salben geschmiert,<br />

die dazu beitragen, Stücke als Ganzes, in Wort und Ton, mit Szene<br />

und Kostümen, Spiel und Tanz so auf die Bühne zu bringen, dass jeder<br />

Neuling sie versteht und der langjährige Opernbesucher sie spannend<br />

wie am ersten Tag findet.<br />

Testen das eheliche Lager aus (Jasmina Sakr/Susanna und<br />

Frans Fiselier/Figaro) (© Christian Husar)<br />

„Figaro“ quasi als Kammeroper in deutscher Sprache mit gesprochenen<br />

Dialogen statt der Rezitative – das hat zur Abwechslung durchaus seinen<br />

Reiz. Da größtenteils Sänger mit deutscher Muttersprache im Einsatz waren<br />

(der holländische Figaro, der Cherubin mit rumänischem Nachnamen,<br />

der slowenische Basilio und die russische Barbarina haben an deutschen<br />

Hochschulen studiert), die noch dazu alle von der hervorragenden<br />

Dialogregie Herzls gewaltig profitierten, gerieten diese Szenen durchwegs<br />

lebendig und hatten viel Lacherfolg. Die neu übersetzten Gesangstexte<br />

konnten mit dem bewährten „Nun vergiss, leises Flehn, süßen Kosen“ oder<br />

„Will der Herr Graf ein Tänzchen nun wagen“ nicht mithalten, und dass<br />

„Frau Gräfin, vergebt mir“ das „Contessa perdono“ nie und nimmer ersetzen<br />

kann, muss wohl nicht extra betont werden.<br />

Die Ausstattung von Pantelis Dessyllas beschränkt sich auf drei seitliche<br />

Soffitten links und rechts, die dann im Gartenbild einfach beseitigt werden,<br />

auf ein Doppelbett im Zentrum der Bühne, das schon während der<br />

Ouvertüre mit Leintuch, Decken und Polstern zubereitet und vom Grafen<br />

auf seine Tauglichkeit überprüft wurde, darüber hängend ein schön<br />

drapierter Baldachin und an der Vorderseite eine Sitzbank. Im 4. Akt wird<br />

das Bett zur Seite geschoben und dient auch da für allerlei Überraschungen.<br />

Alles ist hell und freundlich und für die unterschiedlichsten Aktionen<br />

tauglich. Cherubin etwa versteckt sich im 1. Akt einfach unter der<br />

Bettdecke oder Susanne verkriecht sich im 2. Akt, ehe der Graf sich das<br />

Werkzeug für das versperrte Gemach holt, unter diesem Bett. Dessillas<br />

war auch für die schönen, stilvollen Kostüme zuständig. Es stimmte einfach<br />

alles, incl. der Choreografie von Michael Kropf.<br />

Was kann man noch für Mozart tun, wenn man keine Weltstimmen zur<br />

Verfügung hat? Das führte der Dirigent Franz Josef Breznik, der musikalische<br />

Chef des Hauses, ganz wunderbar vor. Die Ouvertüre braust<br />

ganz revolutionär auf, wirkt vielleicht etwas zu robust, bringt aber Leben<br />

ins Haus. Im ganzen übrigen Stück beglückt die gute Balance nicht nur<br />

zwischen Bühne und Graben, sondern auch innerhalb der Arien, Szenen<br />

und Ensembles. Das Orchester der Bühne Baden spielte ausgezeichnet,<br />

mit Lust und Liebe, brachte den Humor, die Raffinesse und den Mozartschen<br />

Charme zu Gehör und unterstützte jederzeit die Sänger. Die Arie<br />

des Grafen im 3. Akt etwa mit dem gekonnten musikalischen Aufbau, sodass<br />

Breznik ein eigenes kleines Drama daraus machen konnte, sei als ein<br />

gutes Beispiel hervorgehoben. Zum Höhepunkt der Aufführung wurde<br />

– ganz ungewöhnlich, weil meistens eher ein ermüdenden Anti-Climax<br />

– der gesamte 4. Akt. Da hatten sich nicht nur alle Sänger freigesungen,<br />

sondern der Dirigent verstand es auch, die einzelnen Gesangsnummern<br />

bis zum krönenden Ensemblefinale wunderbar auszuformen, die pure<br />

Schönheit der Musik, aber auch die Doppelbödigkeit des ganzen Intrigenspiels<br />

fühlbar zu machen. Es war gesunder, stets lebendig pulsierender<br />

Mozart in durchwegs richtigen Tempi und Lautstärken bis hinein in die<br />

spannungserfüllten Generalpausen und das befreiende Finale, das letztlich<br />

alles offen lässt, aber dennoch Freude macht.<br />

Unter den durchwegs ordentlichen Sängern stach das hochzeitende Paar<br />

hervor. Im 1. Akt stimmlich noch etwas gehemmt wirkend, entfaltete<br />

sich der hübsche Sopran von Jasmina Sakr und der wohlklingende Bariton<br />

von Frans Fiselier zu immer klangvollerem und souveränerem Gesang,<br />

der sich mit entsprechend gewandtem Spiel verband. Als Graf Almaviva<br />

war Reinhard Alessandri figürlich ideal, aber die recht kraftvolle<br />

Stimme ging nicht so richtig auf. <strong>Der</strong> Gräfin von Julia Kamenik fehlte<br />

einfach das reizvolle Timbre, das vor allem ihre beiden Arien zu besonderen<br />

Mozart-Juwelen machen sollte. Cristina Pasaroiu wird im Programmheft<br />

als Sängerin unzähliger Sopranrollen vorgestellt und konnte mit zu<br />

heller Stimme demnach als Cherubin zu wenig punkten. Eine köstliche<br />

Type von Dr. Bartolo stellte Jürgen Trekel auf die Bühne, während seine<br />

Bühnenpartnerin Elisabeth Reichart der Marzelline eine charakteristische<br />

Mezzostimme vorenthalten musste. Als umtriebiger Gärtner Antonio<br />

konnte Daniel Ohlenschlsäger gefallen und sein Töchterchen Barbarina<br />

wurde von Lisa Koroleva ganz reizend gesungen und quicklebendig<br />

gespielt. Matjas Stopinšek durfte als Basilio sogar die meist gestrichene<br />

Arie – mit seiner sehr ansprechenden hellen Tenorstimme zum Besten<br />

geben und Beppo Binder sich an der Gestaltung des stotternden Don<br />

Curzio delektieren, ebenso der Chor an seinen mannigfachen Aufgaben.<br />

Alles in allem bereitete der Abend großes Vergnügen.<br />

<br />

Sieglinde Pfabigan<br />

30 | DER NEUE MERKER 12/2013


Aktuelles aus Österreich<br />

Neunkirchen: 30 Jahre „AMICI DEL BELCANTO“<br />

„VERDI – WAGNER“ – Stadtpfarrkirche 15. 11.<br />

Das war das letzte Konzert im Rahmen der 30 Jahrfeier des Vereins mit<br />

dem stets um beste Ideen bemühten Präsidenten Michael Tanzler, der unermüdlich<br />

immer <strong>neue</strong> Sänger bringt und auch sich gerne vom „0815-Programm-Trampelpfad“<br />

entfernt.<br />

Die Sänger sind international bekannt und an allen großen Häusern im<br />

ersten Fach zu hören. Für mich war „die“ Sensation der Violinist Michal<br />

Hudak. Er kommt aus dem Orchester der Oper von Banska Bystrica,<br />

wo er Konzertmeister ist, und wahrhaft meisterlich war sein Solo im Vorspiel<br />

und Terzett und Finale aus „I Lombardi“ mit den Solisten Dimitra<br />

Theodossiou, Gustavo Porta und Duccio dal Monte. Dieses Terzett<br />

war überhaupt der absolute Höhepunkt des Konzertes, das keine<br />

Schwachstelle hatte.<br />

Weiters bestach der Tenor Gustavo Porta mit überaus wortdeutlichen „Winterstürmen“,<br />

wunderbar auf Linie gesungen, dass sich so manch deutschsprachiger<br />

Kollege daran orientieren könnte. Im „Forza del destino“-Teil<br />

Graz: „Die Zauberflöte“ – Pr. 9.11.<br />

Meterhohes Gras, dazwischen Felsen, dahinter eine Hügellandschaft<br />

mit Gestrüpp, wo sich viel Plastik- und Papiermüll angesammelt hat,<br />

vorne links ein altes, verrostetes Wrack eines abgestürzten Flugzeuges:<br />

So präsentiert sich „Die Zauberflöte“ von Wolfgang Amadeus Mozart<br />

am Grazer Opernhaus im 1. Akt. Jetzt ist diese Koproduktion<br />

mit der Opéra du Rhin und der Opéra Nice Cote d’Azur, wo sie bereits<br />

Ende 2012 bzw. Anfang 2013 gezeigt wurde, in der steirischen<br />

Hauptstadt gelandet.<br />

Mariame Clément stellt in dieser Oper die Natur der Wissenschaft<br />

gegenüber. Nur ist die Natur nicht mehr intakt, sondern schon sehr<br />

geschädigt und teilweise verdorrt. Seltsame Menschen, wie aus einem<br />

Science Fiction Endzeitfilm bevölkern die Bühne. <strong>Der</strong> eine steigt aus<br />

dem Cockpit des Fliegers, der ihm offensichtlich als Wohnung dient,<br />

und fängt Vögel, die er dann in Plastiksackerln verstaut und aufhängt:<br />

Es ist Papageno, ein Gestrandeter, ein Sonderling, ein Aussteiger. <strong>Der</strong><br />

andere spricht eine unverständliche Sprache, offensichtlich Koreanisch,<br />

trägt eine Lederjacke und seltsame technische Geräte herum,<br />

scheint überhaupt aus einem anderen Sonnensystem zu kommen und<br />

hier auch gestrandet zu sein: Es ist Tamino. Die andere kriecht aus einem<br />

Erdloch und hat so gar keine königliche Präsenz an sich, obwohl<br />

sie die Königin der Nacht ist. Dann erscheinen Unmengen von Männern<br />

in Anzügen mit dicken Brillen und Notizblöcken und beginnen<br />

die Pflanzenwelt zu untersuchen: Es sind die Auserwählten. Und in einem<br />

cremefarbigen Anzug, wie ein Dandy gekleidet, stolpert einer daher,<br />

der sich mit einem langen Stab vortastet, denn er ist blind: Das ist<br />

Sarastro. So unpoetisch und unmärchenhaft sieht zumindest die französische<br />

Regisseurin die Figuren von Mozarts Meisteroper.<br />

Im 2. Teil folgt dann die Wissenschaft: Ein abgewohnter, garstiger Forschungsraum,<br />

eine Art Bunker mit dunkelbraunen Holzwänden, wo<br />

sich beleuchtete Vitrinen mit allerlei Grünpflanzen finden (Ausstattung:<br />

Julia Hansen). Dort fuhrwerkt auch ziemlich sinnlos eine Putzkolonne<br />

herum. Auch mit Videoprojektionen wird nicht gespart: Die<br />

furchterregende Schlange zu Beginn, die Feuer- und Wasserproben<br />

sieht man als Naturkatastrophenfilme. Und zum Finale dürfen dann<br />

Sarastro und die Königin der Nacht heftig herumzuschmusen und<br />

finden sich entgegen den Handlungsvorgaben zu einem Liebespaar.<br />

Die Verdi- und Wagner-Spezialisten im Bild (© H. Haider)<br />

hörte man die sehr und schön mit viel Piano vorgetragene Arie des Alvaro.<br />

Und bei den „Lombardi“ durfte das berühmte „La mia letizia infondere“<br />

natürlich nicht fehlen. Auch das wieder im besten Verdi-Stil<br />

perfekt vorgetragen. Duccio das Monte ist ein Bass aus Italien, mit einer<br />

Wienerin verheiratet und hat sein musikalisches Hauptziel bei Wagner<br />

gefunden. Ausgezeichnet die Szene des Gurnemanz – auch er mit brillanter<br />

Diktion! Das Gebet des König Heinrich aus „Lohengrin“ musste<br />

aus orchestertechnischen Gründen aus dem Programm genommen werden<br />

und wurde durch einen anderen Jahresregenten ersetzt, Pietro Mascagni,<br />

dessen 150er im Rummel um die beiden „200er“ doch leider sehr<br />

unterging. Gespielt wurde das berühmte „Intermezzo sinfonico“ aus „Cavalleria<br />

rusticana“. Weiters hörte man Duccio dal Monte noch als Pater<br />

Guardian in der großen Szene mit „Leonora“ aus der „Forza“ und als Pagano<br />

in den „Lombardi“.<br />

Die „Silberne Lyra“ der Amici, eine besondere Auszeichnung für Belcantosänger,<br />

ging diesmal an Dimitra Theodossiou, die an diesen Abend als<br />

Leonora in den „Forza del destino“ Szenen mit Duccio dal Monte brillieren<br />

konnte und als Griselda in „Lombardi“ mit dem Gebet aus dem 1.<br />

Akt und der Cabaletta aus dem 4. Akt voll überzeugte. Eine sehr vielseitige<br />

Künstlerin, die gerne, so wie die beiden Herren natürlich auch, wieder<br />

kommen wird.<br />

Das bemühte Orchester „Klangbogen“ wurde routiniert von Erwin<br />

Stoll geleitet.<br />

Die Kirche war zum Bersten voll! <br />

Elena Habermann<br />

Mutter und Tochter - sternflammende Königin (Hila Fahima) mit Pamina<br />

(Nazanin Ezazi) (© Werner Kmetitsch)<br />

Aber all dies Suchen nach Neuem, nach einer <strong>neue</strong>n Deutung, was es<br />

eigentlich nicht wirklich ist, wirkt extrem krampfhaft, teilweise sehr<br />

rätselhaft und geht nicht wirklich auf. Da helfen auch einige witzige<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 31


Aktuelles aus Österreich<br />

und noch mehr unwitzige Späßchen nicht zur Rettung der eher trostlosen<br />

Inszenierung.<br />

Trostlosigkeit ist beim Sängerensemble nicht auszumachen, aber auch<br />

nicht gerade eine umwerfende Qualität. Eine Ausnahme bildet zweifellos<br />

Yosep Kang, der im Frühjahr am Stadttheater Klagenfurt als<br />

Nadir in Bizets „Perlenfischer“ reüssierte. Sein Tamino klingt einfach<br />

prachtvoll mit seinem kräftigen, strahlenden Tenor. Auch André<br />

Schuen singt den Papageno mit großer Natürlichkeit, mit ausgesprochen<br />

schönem Bariton und exemplarischer Wortdeutlichkeit. Er wird<br />

im Frühjahr 2014 am Theater a. d. Wien in Harnoncourts konzertantem<br />

Mozart-Da Ponte Zyklus den Figaro, den Don Giovanni und<br />

den Guglielmo singen. Manuel von Senden ist ein fieser Monostatos<br />

mit idealem Stimmmaterial. Wilfried Zelinka als Sarastro hat wenig<br />

von einem Herrscher. Er wirkt stimmlich zwar sehr gepflegt, aber insgesamt<br />

eher blass und zurückhaltend. Hila Fahima, kurzfristig von<br />

der Staatsoper Wien eingesprungen, singt die Königin der Nacht zwar<br />

eher kleinstimmig, aber mit perfekten und blitzsauberen Koloraturen.<br />

Nazanin Ezazi verfügt als Pamina über eine feine Höhe, singt sehr<br />

warmherzig, hat jedoch Intonationsprobleme, die aber vielleicht mit<br />

der Premierennervosität erklärbar sind. Tatjana Miyus ist eine ideale<br />

Papagena. Vibratoreich hört man David McShane als Sprecher.<br />

Fehlerlos singen Konstantin Sfiris und Taylan Reinhard die Priester.<br />

Mit reinster Intonation hört man die drei Damen – Margareta<br />

Klobucar, Dshamilja Kaiser, Xiaoyi Xu –, die die drei Lebensalterabschnitte<br />

darstellen – eine sieht man als junges Mädchen, die zweite<br />

als Schwangere und die dritte als alte Frau, die am Stock geht. Hingegen<br />

nicht immer sauber singen die drei Knaben. Homogen klingt der<br />

Chor des Hauses (Einstudierung: Bernhard Schneider).<br />

Die Grazer Philharmoniker unter dem <strong>neue</strong>n Chefdirigenten Dirk<br />

Kaftan musizieren Mozart mit Leichtigkeit und Vitalität, aber auch<br />

mit extrem zugespitzten Tempi – teilweise mit solcher Eile, dass die<br />

Sänger nicht mehr folgen können. Starker Applaus! Helmut Christian<br />

Mayer<br />

nie in die Nähe von Lärm, wie das so oft passiert, weil es beachtlich<br />

gut vom Dirigenten disponiert und vom Orchester realisiert wurde.<br />

Das Vorspiel zu „Tristan und Isolde“ ist eines der meistdiskutierten und<br />

analysierten. 1860 erschien Wagners Interpretation als Programmbeitrag<br />

für die Pariser Konzerte im Jänner und Februar. Wenn man das<br />

liest, beneidet man den Dirigenten nicht mehr. Wenn er einen Aspekt<br />

von Wagners genialem Klangrausch realisiert, bleibt immer noch ein<br />

gehöriger „ Erdenrest, zu tragen peinlich“. Das sehr langsame Grundtempo<br />

(„langsam und schmachtend“) wurde vom Dirigenten etwas<br />

gestrafft, wodurch er die Spannung erhöhte. Die Kette der Dissonanzen,<br />

ein ganz wesentliches Merkmal in diesem revolutionären Stück<br />

am (oder schon) im Eingang zur Welt der Atonalität, fand im Orchester<br />

mit imponierender Farbkraft eine ausgeprägte Betonung.<br />

Den vokalen Beitrag zu diesem Abend leistete die hochdramatische<br />

Linda Watson, in den Medien gerne als „Sopran der Rekorde“ apostrophiert.<br />

Sie nahm bisher (angeblich) die meisten „Ring“-Gesamteinspielungen<br />

auf. Ihr etwas pompöses Kostüm und ihr majestätisches<br />

Auftreten passten gut zu Wagners Pathos. Die große Stimme glänzt<br />

und strahlt nach wie vor. Die Schlussszene aus „Götterdämmerung“<br />

bestach vor allem durch die sicheren exponierten Höhen. <strong>Der</strong> Liebestod<br />

gelang ihr recht gut, aber gegen Schluss schien das Orchester eine<br />

Art von Ekstase zu überkommen – es klang etwas unkontrolliert. „Unbewusst,<br />

höchste Lust“ konnte sich deshalb trotz des Wagner-Weltstars<br />

nicht so durchsetzen wie erhofft.<br />

Frenetischer Applaus! <br />

Ferdinand Rudolf Dreyer!<br />

Innsbruck: „DON PASQUALE“ – Von der comedia<br />

dell‘ arte inspiriert<br />

Einen Fehler dürfen die Besucher dieser Neuinszenierung von Donizettis<br />

meisterlicher Opera buffa nicht begehen – Dominique Menthas<br />

Salzburg:<br />

WAGNER-MATINEE des MOZARTEUM<br />

ORCHESTERS mit LINDA WATSON 10.11. –<br />

Geglückte Hommage zum 200. Geburtstag<br />

Wir saßen im Großen Festspielhaus und zum Glück nicht in der Rheinoper,<br />

wo der „Tannhäuser“ in Grund und Boden inszeniert worden<br />

war (Venus in SS- Uniform mit ihren Schergen, wie sie eine Familie<br />

tötet und Tannhäuser zum Morden anhält – wurde am Rhein Wagners<br />

„Idee vom Konflikt zwischen exzesshafter und keuscher Liebe“<br />

verwirklicht). „Unsere“ Tannhäuser-Ouvertüre machte Zusammenhänge<br />

und Gegensätze (Erlösung und Vergebung) eindringlich hörbar,<br />

ja spürbar. Geheimnisvolle Pianostellen wechselten mit auftrumpfenden<br />

Tutti. Überzeugend der Übergang in das Bacchanale, mit viel<br />

Temperament und Erotik dirigiert und gespielt. Das Mozarteum Orchester<br />

Salzburg musste auf den angekündigten, erkrankten Chefdirigenten<br />

Ivor Bolton verzichten. Ihn vertrat Johannes Wildner mit<br />

viel Routine und bewies, dass Wagners Vorspiele auch auf dem Konzertpodium<br />

attraktiv und mitreißend sein können.<br />

Nach dem filigranen, innigen Beginn des Vorspiels zu „Lohengrin“ mit<br />

„den klarsten, blauen Himmelstönen“ (Wagner) entfaltete das Orchester<br />

einen kraftvollen, mitreißenden klanglichen Prunk mit elektrisierenden<br />

Beckenschlägen und siegreichen Trompetenklängen. Schließlich<br />

kehrte die ursprüngliche ätherische Stimmung wieder zurück. Die<br />

achtstimmigen Violinen dominierten. <strong>Der</strong> vom Komponisten ersonnene<br />

weihevolle Orchesterklang verzauberte nochmals. <strong>Der</strong> Trauermarsch<br />

war von unheimlicher Wucht, aber auch die kurzen leisen Trauermomente<br />

ergriffen mich! Trotz der Klangmassen geriet dieses Stück<br />

2 tolle Buffo-Charaktäre: Malatesta (Davide Fersini) und<br />

Don Pasqaule (Noè Colin) (© Rupert Larl)<br />

virtuose Produktion von 1994/95 geistig abzurufen. Konzentriert man<br />

sich hingegen ausschließlich auf die Neudeutung durch Stefan Tilch,<br />

die von einem ganz anderen Aspekt ausgeht, wird man auch Freude<br />

an einer soliden, familientauglichen Produktion haben, trotz einiger<br />

sich tot laufender Gags (Italiener essen ausschließlich Spaghetti und<br />

rauchen ohne Unterlass). Ein Regie-Einfall wird wegen seiner Stimmigkeit<br />

besonders nachwirken: als der vom Onkel verstoßene Ernesto<br />

durch das Gassengewirr irrt und einen traurigen Clown auf der Straße<br />

sitzend antrifft, der die melancholische Einleitung zur Arie „Povero Ernesto“<br />

auf seiner Trompete intoniert.<br />

<strong>Der</strong> Regisseur verlegt die Handlung in die 50er des letzten Jahrhun-<br />

32 | DER NEUE MERKER 12/2013


Tanzwelt<br />

derts. <strong>Der</strong> titelgebende Hagestolz lebt in einem eher abgewirtschafteten<br />

Ambiente, auch die Wohnung macht einen ziemlich ramponierten<br />

Eindruck (hier würde man eher Don Magnifico mit seinen Töchtern<br />

erwarten). Norina singt ihre Cavatine während einer Filmvorführung<br />

in einem total verrauchten Kinosaal und schmiedet ihre Ränke mit<br />

Malatesta in einer Pizzeria. Im Haus des Heiratswütigen verhält sie<br />

sich dezent und verzichtet auf allzu furienhaftes Gehabe. Eine grundlegende<br />

Verschönerung von Pasquales Heim bleibt dem Publikum verwehrt<br />

(abgesehen von einem riesigen Bild mit einem in einem Kahn<br />

befindlichen Elefanten). Karlheinz Beers Bühnenlösungen zeigen<br />

verwinkelte Gassen und Piazzette, wo ein brillantes Comedia-dell‘-<br />

Arte-Trio (David Labanca – Pantaleone = Malatesta, Florian Stohr<br />

– Dottore und Samuel Müller – Innamorato = Ernesto) seine Späße<br />

treibt und sich immer wieder in die Handlung einmischt, um die Befindlichkeiten<br />

von Pasquale, Ernesto und Malatesta zu reproduzieren.<br />

Wie gesagt – herrlich gespielt, aber bedarf ein derart fabelhaftes, ausgefeiltes<br />

Werk wie „Don Pasquale“, wo sich Musik und Handlung in<br />

kongenialer Weise treffen, eine derartige visuelle Verstärkung, das den<br />

Witz eher bremst als ihn unterstützt?<br />

Ungetrübtes Glück bescherte die musikalische Umsetzung. Alle vier<br />

Solisten waren typenmäßig bestens besetzt und boten ein Belcantofest,<br />

das Vito Cristofaro am Pult des beherzt aufspielenden Tiroler Symphonieorchester<br />

Innsbruck mit feiner Dynamik und idealen Tempoabstufungen<br />

maßgeblich zu unterstützen verstand. Sophie Mitterhuber<br />

entzückte mit ihrem feingesponnenen, herrlich gerundeten<br />

lyrischen Sopran samt Koloraturgeläufigkeit und ihrem temperamentvollen<br />

Spiel, das ohne Klischees auskommt. <strong>Der</strong> drahtige, hochgewachsene<br />

Davide Fersini (Pistola der diesjährigen Salzburger Festspiele)<br />

verlieh dem Malatesta smarte Züge plus südländisches Flair und ließ<br />

seinen kultiviert geführten Bariton vorteilhaft erklingen. Noè Colin,<br />

der in den letzten Jahren der Intendanz Mentha Ensemble-Mitglied<br />

war, kehrte mit dem Titelhelden an die Stätte seiner ersten Erfolge zurück<br />

und bewies seine Kompetenz im Buffo-Fach. Da sitzt jede Pointe<br />

und das Zusammenspiel mit den Partnern. Gesanglich kommt ihm<br />

seine jahrelange Erfahrung auf internationalen Bühnen in diesem Repertoire<br />

sehr zugute. Diesen Pasquale muss man einfach gern haben.<br />

Zum absoluten Publikumsfavoriten wurde der Ernesto, den der junge<br />

Mexikaner Jesús León mit bübischem Charme verkörpert und dessen<br />

tenorale Qualitäten das Herz eines jeden Stimmliebhabers höher<br />

schlagen lässt. Was für eine flexible, betörende Stimme! Dürfen wir<br />

auf ein weiteres Engagement mit diesem hochtalentierten Sänger rechnen,<br />

Herr Intendant?<br />

Üppiger, ausdauernder Premierenjubel, der auch den Chor des TLT<br />

(wie immer präzise einstudiert von Michel Roberge) für den gewitzten<br />

Vortrag des Dienerchors und die für die zeitgemäßen Kostüme verantwortliche<br />

Iris Jedamski einschloss. <br />

Dietmar Plattner<br />

Tannhäuser 1470,– €<br />

Premiere 25. Juli<br />

Lohengrin 1210,– €<br />

31. Juli, 03., 06., 09.,17. Aug.<br />

Holländer 1210,– €<br />

26. Juli, 04., 08., 16., 20., 24. Aug.<br />

Tannhäuser 1210,– €<br />

02., 12., 18., 21., 28. Aug.<br />

Walküre 1210,– €<br />

05. Aug.<br />

Ring I (27.07.-02.08.) 4450,– €<br />

Ring II (10.08.-16.08.) 4450,– €<br />

Ring III (22.08.-28.08.) 4450,– €<br />

BAYREUTHER FESTSPIELE 2014<br />

Arrangement: 1 Ticket Parkett,<br />

1x ÜF in Bayreuth<br />

Arrangement Ring: 4 Tickets Parkett,<br />

6 x ÜF in Bayreuth<br />

Einführungsvortrag<br />

Willkommenspräsent<br />

Hotels in Bayreuth:<br />

Goldener Hirsch, Ramada, Arvena,<br />

Rheingold, Goldener Anker (Aufpreis)<br />

Hotel in Bischofsgrün:<br />

Kaiseralm inkl. Transfer<br />

Aus der Tanzwelt<br />

Wiener Stadthalle:<br />

Gastspiel des St. Petersburg Festival Ballett:<br />

„DORNRÖSCHEN“ – 23. 11. –<br />

Ein kleiner Etikettenschwindel<br />

Russlands wendige Geschäftemacher dürften zurzeit nicht nur mit Pussy<br />

Riot und Greenpeace und so manch anderen Gutmenschen ihre Probleme<br />

haben. Auch in der vormals so blühenden traditionsreichen Ballettszene<br />

muss man sich nun vor Säureattentaten in Acht nehmen, und mit dem<br />

ehemals so famosen Ruf der russischen Tanzkunst wird nun wohl gelegentlich<br />

ein kleiner Etikettenschwindel betrieben. Oder gar ein größerer,<br />

wie an diesem einen Abend „Dornröschen“ mit dem St. Petersburg Festival<br />

Ballett in der Wiener Stadthalle? Wie es eher richtiger aussehen dürfte:<br />

Die Tänzer haben ihre Trainingsstätte nicht in der Ballett-Hochburg St. Petersburg,<br />

sondern eventuell irgendwo am Ufer der Wolga – in Samara vielleicht?<br />

– bezogen. Und nicht von den großen Festivals wird diese Kompanie<br />

eingeladen, sondern das Management hat zur Zeit One-Night-Stands<br />

quer durch Deutschland arrangiert. Mit einem Abstecher nach Wien, in<br />

die Stadthalle. Und da diese Kurzfassung von „Dornröschen“ auch nicht<br />

mit besonderer Liebe zu stilvollen Details erarbeitet wurde, wäre eine Begegnung<br />

mit diesem wunderbaren Märchenballett wohl eher in Spielstätten<br />

in Leoben oder Steyr zu erwarten gewesen. Dort wäre zu erleben: vor<br />

allem die so klangschöne Tschaikowski-Musik, zwar von CD abgespielt,<br />

doch tänzerisch gut aufbereitet. Bunter Kostümzauber in einer romantischen<br />

Waldlandschaft. Ein klein besetztes und durchaus solide auftretendes<br />

Corps. Die anonym bleibenden Solisten dürfen kein besonderes Charisma<br />

entwickeln, doch das liebe Rotkäppchen, der Gestiefelte Kater und<br />

das Weiße Kätzchen oder der Blaue Vogel, die kommen in den Augen der<br />

doch zahlreichen Kinder im Publikum recht gut an.<br />

Somit: Kein Festival-reifes „Dornröschen“, doch ein milder Abglanz davon.<br />

Nur um dem Angebot die richtige Etikette zu verpassen.<br />

<br />

Meinhard Rüdenauer<br />

Festspielhaus St. Pölten:<br />

Sidi Larbi Cherkaoui – „milonga“ 16.11.<br />

Ist St. Pölten nun schon bald oder wird es erst später das <strong>neue</strong> Luftfahrtkreuz<br />

choreographischer Höhenflüge? –<br />

Nach dem Eröffnungsabend der <strong>neue</strong>n Intendanz von Brigitte Fürle mit<br />

Angelin Preljocajs „Les Nuits“ schien mir die Antwort darauf nicht mehr<br />

so klar. Wer auch immer die bezwingend wuchtige Strawinski-Choreographie<br />

seiner „Les Noces“ kennt und schätzt, war von seinem da neu präsentierten<br />

1001-Nacht-Verschnitt nicht eben sehr angetan, da wurde später<br />

zu viel an night-club-touch eingearbeitet, obgleich das Stück recht atmosphärisch<br />

mit einem sozusagen lebendig gewordenen Bild des berühmten<br />

Ingres-Gemäldes der Schönen im türkischen Bade begann.<br />

Wie man dem Tango argentino in einer sozusagen zeitgenössischen Choreographie<br />

huldigt, konnten wir bis dato optimal stringent ablesen am Beispiel<br />

von Hans van Manens stupenden „5 Tangos“! Da kommt schon die<br />

<strong>neue</strong> Arbeit von Sidi Larbi Cherkaoui, ein Projekt des „Sadlers Wells“-<br />

Theatre, aber wirklich nicht heran. Dessen Idee war die Koppelung von<br />

zwei zeitgenössisch ausgebildeten Modern-dance-Tänzern mit einer wohl<br />

ausgezeichnet tanzenden Amateur-Gruppe von Tango-argentino-Tänzerinnen<br />

und Tänzern. Zu der authentischen 5-köpfigen Live-Band gab es<br />

legendäre alte Tango-Klassiker wie „La Cumparsita“ oder diverse Astor-<br />

Piazolla-Tango-nuevo-Stücke, wie „Libertango“, einige waren umrandet<br />

von quicken lebensfrohen Milonga-Piecen. Am interessantesten fand ich<br />

z. B. einen Tanz von 3 Männern miteinander, der auf die Tanz-historischen<br />

Wurzeln des Tangos zurückführte, wo sich Männer beim Warten<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 33


Tanzwelt<br />

Tango mit „Zweitfrau“ (© Diego Franssens)<br />

im Bordell die Zeit damit vertrieben, sich untereinander – also Macho-<br />

Mann mit Macho-Mann – im Tango zu messen! Akkurate Live-Projektionen<br />

putzten im Hintergrund laufend die insgesamt recht kommerzielle<br />

Show optisch auf und nahmen ihr damit den doch etwas zweifelhaften<br />

Nimbus von Show-Wettbewerben beim „ball-room-dancing“…<br />

<br />

Norbert A. Weinberger<br />

Linz: „ROMEO UND JULIA“ – Musiktheater – 15.11.<br />

Die Premiere war für den 25. Mai vorgesehen, musste jedoch wegen Verletzung<br />

eines Tänzers verschoben werden. Choreografie und Inszenierung<br />

stammen von Jochen Ulrich, der am 10. November des Vorjahres im Alter<br />

von 68 Jahren verstorben ist. Es war ihm leider nicht vergönnt, seine<br />

Version des Stückes im <strong>neue</strong>n Musiktheater zu erleben.<br />

Es scheinen diesmal einige Personen auf, die in meinem sehr guten Führer,<br />

den ich zu Rate ziehen musste, gar nicht vorkommen, zumindest sind<br />

sie nicht namentlich genannt, bzw. solche, die wiederum hier keine Rolle<br />

spielen. Zudem gibt es eine Menge <strong>neue</strong>r Tänzer, die vermutlich von der<br />

<strong>neue</strong>n Ballettchefin Mei Hong Lin mitgebracht wurden. So fange ich<br />

einfach der Reihe nach an, wie sie im ursprünglichen Programmheft stehen<br />

bzw. auf dem Abendspielzettel, denn auch da gibt es jede Menge Abweichungen.<br />

DIE MONTAGUES: Romeo: Jonatan Salgado Romero, Mercutio: Alexander<br />

Novikov, Benvolio: Pavel Povraznik, Antonio: Julio Andrés Escudero,<br />

Balthasar: Geoffroy Poplawski, Rosalinde: Sabra Johnson, Bianca:<br />

Mireia González Fernández, Victoria: Nuria Gimenez Villaroya. Pater<br />

Lorenzo: Leonardo Barbu. DIE CAPULETS: Lord Capulet: Wolfgang<br />

Berner (Er sitzt übrigens im Rollstuhl. <strong>Der</strong> wievielte Rollstuhl in den verschiedenen<br />

Produktionen ist das eigentlich?) Die eiskalte Lady Capulet:<br />

Andressa Miyazato, die kindliche Julia: Ilja van den Bosch, deren betuliche,<br />

gütige Amme: Anna Stèrbová. Von fast animalischer Ausstrahlung<br />

ist Tybalt Ziga Jereb, vor dem seine Tante Lady Capulet (hier ganz und<br />

gar nicht kühl), angetan zu sein scheint. <strong>Der</strong> aalglatte, geschniegelte Graf<br />

Paris, Matej Pajgert, ist chancenlos bei Julia – da helfen auch seine roten<br />

Rosen nichts, die sie angewidert zur Seite wirft. Zudem gibt es 6 Damen<br />

und 6 Herren im Hause Capulet sowie einen Diener.<br />

Das Bühnenbild stammt von Kathrin Kegler. Von Verona ist nicht einmal<br />

ein Hauch zu spüren. Soll auch nicht so sein. Vielmehr ist hier der<br />

Schauplatz der Liebestragödie ein verbrannter und vom Krieg der Familien<br />

verwüsteter Ort, an dem das „militant faschistoid“ geführte Herrscherhaus<br />

Capulet mit einer jungen, revoltierenden „Streetgang“ der Montagues<br />

konfrontiert wird. Das erklärt, warum die Freundinnen und Freunde<br />

Romeos gekleidet sind, als seien sie gerade aus der „West Side Story“ gefallen.<br />

Und somit ist auch die „Garde der Capulets“ sonnenklar. Ob man<br />

das schön findet oder nicht, ist Geschmackssache. Im Gegensatz dazu sind<br />

die restlichen Kostüme, vor allem die der Damen (kreiert von Marie-Théresè<br />

Cramer) ein Traum oder die farbenfrohen schwingenden Umhänge<br />

der Herren. Dass mit Degen gekämpft wird, na ja, so ganz kommt man<br />

an der Renaissance halt doch nicht vorbei. Denn sonst müssten Julia und<br />

Romeo am Ende nicht Gift schlucken, Julia würde sich erschießen und<br />

nicht erdolchen, daher funktioniert die viel gepriesene Zeitlosigkeit wie<br />

so oft nicht. Die „Trauungszeremonie“ von Romeo und Julia findet vor<br />

einem goldschimmernden Vorhang statt, dazu gibt es eine Leiter, die geradewegs<br />

in den Himmel zu führen scheint. Sehr hübsch! Meine Angst,<br />

die beiden müssten womöglich hinaufklettern, erwies sich glücklicherweise<br />

als unbegründet!<br />

Daniel Linton-France leitete das Bruckner Orchester. Die Musik von<br />

Sergej Prokofjew ist ja äußerst facettenreich (das Blech fand ich des Öfteren<br />

empfindlich laut) und dann wieder so zart und fein, hinreißend! Die<br />

phantastischen Tänzerinnen und Tänzer sind eine Augenweide und jeder<br />

einzelne eine Klasse für sich. Das zeigt der frenetische Applaus. Die Poesie<br />

bleibt leider auf der Strecke – für mich hinterlässt der Abend recht gemischte<br />

Gefühle. <br />

Heide Müller<br />

Stuttgarter Ballett<br />

„FORT// SCHRITT//MACHER“ – Pr. 8.11. –<br />

Erweckte Theatergeister<br />

Drei Choreographen aus drei Generationen, die alle wesentlich zur Modernisierung<br />

des Balletts beigetragen haben und dies auch weiterhin verfolgen,<br />

markieren das <strong>neue</strong>ste Programm des Stuttgarter Balletts. In diesen<br />

zunehmend dunkleren Tagen hätte sicher so mancher Zuschauer etwas<br />

lichtvollere, für das Auge weniger anstrengende Arbeiten bevorzugt, doch<br />

bei konzentrierter Betrachtung förderten die drei gezeigten Stücke viel Sehenswertes<br />

ans Licht.<br />

William Forsythes „WORKWITHINWORK“ wurde im Oktober 1998<br />

in Frankfurt uraufgeführt und markiert den Abschluss seiner Ballette über<br />

das Ballett. Purer Tanz in einer etwas diffusen Beleuchtung, die die Tänzer<br />

manchmal nur wie Schatten aussehen lässt. Trotz aller Bewunderung der<br />

unendlich variierten <strong>neue</strong>n Zusammensetzungen des klassischen Ballettvokabulars<br />

in wechselnden kleineren und größeren Tänzergruppen, des<br />

exakten Schliffes aller Windungen und Wendungen zwischen kurz eingestreuten<br />

konventionellen Spitzendrehungen, beginnt das halbstündige<br />

Geschehen irgendwann auf der Stelle zu treten. Eine große Rolle spielt<br />

34 | DER NEUE MERKER 12/2013


Tanzwelt<br />

dabei natürlich die Musik, denn Luciano Berios „Duetti per due violini“<br />

mögen anfangs in ihrer feingliedrigen, ganz nach innen horchenden<br />

Musikalität, so wie sie von Wolf-Dieter Streicher und Luminitza Petre<br />

in harmonischer Übereinstimmung ausgefüllt wird, die Dichte des choreographischen<br />

Ausdrucks unterstützen – der zunehmend kontrapunktische<br />

Verlauf der beiden Geigenstimmen driftet letztlich in die Beliebigkeit<br />

unorientierten Geschehens.<br />

Für die 18 TänzerInnen in schwarzen Slips bzw. Shorts und verschieden<br />

farbigen Tops von Stephen Galloway bedeutet das erstmals in Stuttgart<br />

getanzte Stück zweifellos eine wertvolle Erweiterung ihres Repertoires,<br />

des Beweises ihrer sicheren technischen Ausrüstung und ihrer Fähigkeit<br />

in solcher Abstraktion ein gewisses Maß an Seele mitschwingen zu lassen.<br />

Dass keiner der 6 eingesetzten Ersten bzw. Solisten hervortritt, sondern in<br />

die Gruppe mit den Halbsolisten und Corps de ballet-Tänzern gleichberechtigt<br />

integriert sind, spricht sowohl für den Leistungs-Standard letzterer<br />

als auch für den bewussten Ensemble-Charakter.<br />

Nach dieser schweren Kost bedeutete die Wiederaufnahme von Hans<br />

van Manens 2005 uraufgeführten „FRANK BRIDGE VARIATIONS“<br />

fast eine Erleichterung, ja Befreiung, obwohl die Ansprüche des holländischen<br />

Grandseigneurs nicht zu unterschätzen sind. Die Strenge seiner<br />

handlungslosen Werke wird durch das Aufgreifen stets <strong>neue</strong>r gesellschaftlicher<br />

Themen rund um den Eros, die durch viel Augenkontakt und gegenseitige<br />

Reaktion erzielte zwischenmenschliche Komponente sowie<br />

humorvoll ironisierte Abgänge gelockert und unter Spannung gehalten.<br />

Nichts lenkt von den in grünen, dunkelroten und schwarzen Trikots steckenden<br />

10 TänzerInnen ab, wenn sie Benjamin Brittens faszinierend<br />

Alicia Amatriain und Evan McKie - schnittig dramatisch in van Manens<br />

„Frank Bridge Variations“ (© Stuttg. Ballett)<br />

instrumentierte 10 Variationen eines Themas seines Lehrers Frank Bridge<br />

in glasklar ausgerichteten Linien mit den van-Manen-typischen neoklassischen<br />

Formen diagonal nach oben gestreckter Arme oder langsamem<br />

Schreiten mit wechselndem Ausdruck erfüllen, so wie Britten die einzelnen<br />

Abschnitte den verschiedenen Charaktereigenschaften seines Lehrers<br />

zugeordnet hat und dabei mehrere musikalische Stile von Vivaldi bis Strawinsky<br />

parodierend aufgreift. Den beiden Hauptpaaren gelingt das so bestechend<br />

gut, auf eine ganz uneitel virtuose Art, präzisest in jeder Haltung<br />

und im Timing des Aufeinander-Abgestimmt seins. Eine weiblich aparte<br />

Note steuert Maria Eichwald bei, Alicia Amatriain bildet das sportivere,<br />

wie gewohnt unendlich dehnbar scheinende Pendant, Evan McKie vereint<br />

Ernst und mitreißende Attacke, Marijn Rademaker verblüfft mit<br />

der scheinbaren Unvereinbarkeit von Akkuratesse und Lässigkeit. Und<br />

die 6 Solisten/Halbsolisten Rachele Buriassi, Miriam Kacerova, Alessandra<br />

Tognoloni, Roland Havlica, Roman Novitzky und Brent Parolin<br />

vervollkommnen den Funeral March zum tief unter die Oberfläche<br />

dringenden Schreit-Akt.<br />

Bereits im Vorfeld hatte Haus-Choreograph Marco Goecke verlauten lassen,<br />

künftig mehr aus der Dunkelheit seiner bisherigen Arbeiten hervorzutreten,<br />

nach nun gewonnener Etablierung in der Tanzgeschichte sich<br />

mehr zum Publikum hin zu öffnen. Die Erwartungshaltung mag deshalb<br />

besonders spannend gewesen sein. Dass „ON VELVET“ (= auf Samt)<br />

denn gar zum unbestrittenen Höhepunkt und einhelligen Erfolg des von<br />

Pina Bausch geprägten Wuppertalers wurde, ließ diesen Abend in einem<br />

so nicht vermuteten Jubelgeschrei enden.<br />

Die gewohnt dunkel ausgekleidete Bühne gibt zusehends zwei Reihen Theatergestühl<br />

frei, auf dem sich die wie aus dem Nichts des Hintergrunds<br />

erwachenden Geister des Hauses räkeln, die verborgenen Geschichten,<br />

die so ein Theaterraum in sich birgt, in gewohnt nervösem, aber weiter<br />

als bisher ausgreifendem Spiel der Hände und Arme, sowie die Körper<br />

nicht mehr so streng vertikal einsetzenden Haltungen, erzählen, zum Leben<br />

erwecken und dabei manchmal wie über dem Boden zu schweben<br />

scheinen – mal verängstigt, verstört, mal berührend naiv. Es gibt zwar<br />

auch wieder einen Punkt, wo das Vokabular innerhalb dieses Kreises erschöpft<br />

scheint, doch füllen die 12 Tänzer das imaginäre Theater mit ausreichend<br />

durchhaltendem Leben. Einen wesentlichen Faktor leistet dabei<br />

das 2006 uraufgeführte Cellokonzert des jungen Tirolers Johannes Maria<br />

Staud, in dem er ein anfangs zitiertes Mozart-Fragment langsam in<br />

seine eigene moderne Klangsprache übergehen und in teils schroff peitschenden,<br />

teils extrem hohe Frequenzen berührenden zarten Verästelungen<br />

des Solo-Cellos (Zoltan Paulich mit bewundernswerter Tonkonstanz)<br />

kulminieren lässt. Die unterschwellig bedrohlichen Klangräume, die sich<br />

hier öffnen, werden von Goecke in den stets unruhigen Bewegungsfluss<br />

seiner Tänzer übertragen.<br />

Magdalena Dziegielewska tritt mit ihrer witzigen Körpersprache und<br />

flinken Beweglichkeit ebenso besonders hervor wie Arman Zazyan durch<br />

seine stille Anpassungsfähigkeit. Neben dem ohnehin von spezieller Körperhaltung<br />

geprägten Robert Robinson vermag auch erstmals Ludovico<br />

Pace in einem deutlich hervor gehobenen Part nachdrücklich auf seine Präsenz<br />

aufmerksam zu machen. Und mit Marijn Rademaker hat der Choreograph<br />

noch auf einen erfahrenen Hauptakteur, der bereits sein „Äffi“<br />

erfolgreichst aus der Taufe gehoben hatte, gesetzt und ihm zu den martialischen<br />

Klängen von Edward Elgars „March of the Mogul“ ein wahrhaft<br />

krönendes Solo mit irrsinnig schnellen Fall- und Stütz-Aktionen auf<br />

den Leib geschnitten. Ein so theatergerecht abschließendes Finale wäre<br />

Goecke aufgrund seines bisher in moderner Abruptheit oder Versickern<br />

im Nichts endenden Oeuvres gar nicht zuzutrauen gewesen. Nicht zuletzt<br />

dies hat (in der packenden Wiedergabe durch das Staatsorchester<br />

Stuttgart unter James Tuggle) zur begeisternden Publikums-Reflektion<br />

beigetragen. <br />

Udo Klebes<br />

Gauthier Dance Stuttgart<br />

„CANTATA SPECIALE“ – Pr. 14.11. – Viel Erfreuliches<br />

Eric Gauthier und seine Tanz-Compagnie sind im 6. Jahr ihres Bestehens<br />

so gefragt, dass ein beträchtlicher Teil ihrer Auftritte außerhalb von Stuttgart<br />

stattfindet. Diesen Herbst verschob sich der heimatliche Saison-Auftakt<br />

dadurch auf Mitte November. Wie gewohnt, mit einer launigen Begrüßung<br />

durch den Chef persönlich, mit der er das Publikum auf seine<br />

lässig humorvolle Art sofort auf seiner Seite hatte. An diesem Abend gebe<br />

es zwar choreographisch gesehen nicht so viel Neues, aber äußerst Erfreuliches.<br />

Zum einen die Rückkehr des Publikumslieblings Garazi Perez<br />

Oloriz nach einer einjährigen Verletzungspause, vorläufig zwar mit<br />

nur einem, aber was für einem persönlichkeits-fesselnden Auftritt in Alejandro<br />

Cerrudos bereits vor einigen Jahren hier gezeigtem „LICKETY<br />

SPLIT“, zum anderen die bevorstehende Faust-Preis-Verleihung an die<br />

dafür nominierte, ebenfalls in vorderer Publikumsgunst stehende Anna<br />

Süheyla Harms. Und nicht zuletzt die Gelegenheit, Mauro Bigonzettis<br />

umwerfend animierendes gut dreiviertelstündiges „CANTATA“ noch<br />

einmal mit dem Live-Auftritt des neapolitanischen Frauen-Quartett As-<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 35


Tanzwelt<br />

WOLVES“, in dem die gegenseitigen Mächte von Dirigent und Musikern<br />

in Wolfsmasken zu Beethovens viel strapazierter, hier aber das Thema<br />

trefflich unterstreichender Schicksalssinfonie (1.Satz) bitter, aber letztlich<br />

doch vergnüglich aufs Korn genommen werden. Unter den 7 Tänzern waren,<br />

wie auch in „Cantata“, die seit September erfolgten Neuzugänge im<br />

Ensemble, die beiden Französinnen Caroline Fabre und Sandra Bourdais,<br />

der Schweizer Maurus Gauthier und der Brasilianer Juliano Nunes<br />

Pereira erstmals zu erleben.<br />

Noch einer hat sich besondere Erwähnung verdient: der blonde Florian<br />

Lochner hat sich innerhalb kurzer Zeit von einem begabten Nachwuchstänzer<br />

zu einem bemerkenswert männlich gereiften und an körperlicher<br />

Aussagekraft sowie Ausstrahlung gewonnenem Künstler entwickelt.<br />

Bravo!<br />

Es bedarf fast keiner Erwähnung mehr, dass wiederum alle Folgevorstellungen,<br />

auch schon viele Wochen im Voraus, ausverkauft sind. Die Tanzfans<br />

haben auch allen guten Grund, das Theaterhaus zu stürmen und das<br />

Zugpferd dieser alternativen Bühneneinrichtung Abend für Abend zu feiern.<br />

<br />

Udo Klebes<br />

Festspiele Baden-Baden:<br />

„DIE KLEINE MEERJUNGFRAU“<br />

(Hamburg Ballett) 17.11. – Zwei Welten<br />

Präzise und lässig zugleich - Eric Gauthier in Goeckes „I found a fox II“<br />

(© Regina Brocke)<br />

surd erleben zu können, was in der Tat wesentlich zum Flair dieses Stückes<br />

zwischen überschäumender Lebensfreude und sich dahinter öffnenden<br />

Aggressionen beiträgt. Und vielleicht auch ein letztes Mal mit Egon<br />

Madsen als würdevollem Dorfältesten, dessen Präsenz auch bei reduzierter<br />

tänzerischer Aktivität Wellen schlägt. Reizvoll ist auch der immer wieder<br />

erfolgende Rollentausch, so dass den in italienischen Wortkaskaden entladenden<br />

Disput diesmal ein Mann und eine Frau austragen – für Muttersprachler<br />

Rosario Guerra und die temperamentvolle Belgierin Anneleen<br />

Dedroog im Verbund mit ihrer körperlichen Elastizität ein ideales Futter,<br />

Begeisterungsstürme zu entfachen.<br />

<strong>Der</strong> Jubel gilt neben der famosen Compagnie zu Recht dem mit Akkordeon<br />

und (wie die Tänzer barfuß auftretenden) musizierenden Vokalquartett,<br />

das aus traditioneller neapolitanischer Tradition gespeiste, wirklich<br />

großartige Volkskunst bietet.<br />

So südländisch ausgeprägt war die Zuschauerstimmung bei den kürzeren<br />

Beiträgen vor der Pause nicht, aber auch Marco Goecke holte sich für den<br />

uraufgeführten 2. Teil seines „I FOUND A FOX“ sehr viel Zustimmung,<br />

obwohl er im direkten Vergleich zum zuvor noch einmal präsentierten<br />

1. Teil nicht mehr ganz dessen Dichte erreichte. Eventuell war dies auch<br />

der parallel dazu erfolgten Premiere beim Stuttgarter Ballett geschuldet.<br />

Eric Gauthier zirkelte auch jetzt wieder mit messerscharfen Akzenten<br />

den Raum aus, ehe ihn 4 Tänzerinnen flankieren, den Fuchs quasi etwas<br />

in die Enge treiben. Ein aus den Lautsprechern dröhnender Kate Bush-<br />

Song überlagerte dabei beinahe das tänzerische Geschehen, auch wenn<br />

der theatralische Einschlag ganz gut passte.<br />

In der Tat „SO SO EASY“ erschien Gauthiers mit Selatin Kara im Frühjahr<br />

2013 gemeinsam geschaffenes Duo in der poppig rappigen Präsentation<br />

von Miriam Gronwald und David Valencia M. Für Heiterkeit und<br />

Erstaunen sorgte auch wieder sein vier Jahre altes „ORCHESTRA OF<br />

Unerfüllbare Liebe - Hélène Bouchet als kleine Meerjungfrau und<br />

Dario Franconi als ersehnter Prinz (© Holger Badekow)<br />

Anlässlich des 200. Geburtstages des dänischen Dichters Hans Christian<br />

Andersen im Jahr 2005 hat John Neumeier für das Königlich Dänische<br />

Ballett eine Choreographie zur wohl berühmtesten Schöpfung Andersens,<br />

der „Kleinen Meerjungfrau“ geschaffen und zwei Jahre später auch mit seiner<br />

Hamburger Compagnie einstudiert. Mit einer, wie von ihm gewohnt,<br />

wieder etwas überarbeiteten Fassung gastierte das Ensemble im Rahmen<br />

seiner regelmäßigen Herbsttour damit im Baden-Badener Festspielhaus.<br />

Die Kartennachfrage ist inzwischen so groß, dass der Zuschauerraum<br />

mit seinen 2500 Plätzen mühelos an drei Abenden gefüllt werden kann.<br />

Neumeiers Kreationen sind stets von komplexen Zusammenhängen getragen,<br />

da macht auch seine Version dieses Märchenstoffes keine Ausnahme.<br />

In diesem Fall begnügt er sich dementsprechend nicht mit einer<br />

eingleisigen Darstellung, fügt ihr vielmehr eine zweite, sich darin spiegelnde<br />

und dadurch psychologisch verdichtete Komponente hinzu. Den<br />

Ausgangspunkt bildet die Parallele zwischen einer wesentlichen biographischen<br />

Fußnote und dem Schicksal der dichterischen Figur: Andersen<br />

hatte sich in Edvard Collin, den Sohn seines Pflegevaters und Förderers<br />

verliebt. Genau in dem Jahr (1836) als er an der kleinen Meerjungfrau ge-<br />

36 | DER NEUE MERKER 12/2013


Tanzwelt<br />

arbeitet hatte, heiratete Edvard Henriette Thyberg. Wie das bedingungslos<br />

den Prinzen liebende Wasserwesen scheitert seine Sehnsucht an nicht<br />

erwiderter, einseitiger Liebe. Neumeiers Handlung setzt dort ein, wo der<br />

Dichter auf einer Seereise an Bord einem Hochzeitspaar begegnet, das Edvard<br />

und Henriette frappierend ähnelt. Die Erinnerungen übermannen<br />

ihn, eine Träne verwandelt sich in ein Meer voller Phantasien, seine Sehnsüchte<br />

personifizieren sich in der Gestalt der Meerjungfrau.<br />

Bereits hier, wo das reale Leben in die Unterwasserwelt übergeht, beginnt<br />

die szenische Faszination, mit der Neumeier in bewährter Personalunion<br />

als Choreograph, Regisseur, Bühnen-, Kostüm- und Lichtgestalter dem gesamten<br />

Ablauf einen Rahmen gibt: ein kleiner, erhöhter wie gerahmt erscheinender<br />

Bildausschnitt skizziert die Szene auf dem Schiff, wo sich der<br />

Dichter in seinem Erinnerungsschmerz über die Reling neigt und unter eine<br />

sich auf und ab bewegende geschwungene blaue Linie taucht, die die Meeresoberfläche<br />

und den Wellengang symbolisiert. Eine Gruppe von Tänzern<br />

deutet mit langsamen, fließenden Bewegungen das Wasser an, schillernde<br />

Blautöne, die bereits in dem als Vorhang dienenden Aquarell ineinander<br />

vermischt sind, sorgen im Rahmen des phantasievollen Beleuchtungskonzepts<br />

für die entsprechende Stimmung. Aus der Unterwasser-Perspektive betrachtet,<br />

überquert auf der Meeresoberflächenlinie ein Miniatur-Dampfer<br />

die Bühne. Die weiteren Szenen an Deck sind durch ein paar Schornsteine<br />

skizziert, die nach ihrer Verwandlung durch den Meerhexer unter den Menschen<br />

lebende Meerjungfrau kämpft in einer ganz vorne an der Rampe eingelassenen<br />

Mini-Kammer gegen ihre Schwerfälligkeit. An die Stelle von platter<br />

realistischer Ausstattung tritt das Angedeutete, die Konzentration richtet<br />

sich verstärkt auf die expressive Körpersprache der Tänzer.<br />

Des Dichters und des Wasserwesens Schicksal überlappt sich, wenn der<br />

Edvard gleichende Bräutigam einem ins Wasser bugsierten Golfball hinterher<br />

springt, von der für ihn vorerst unsichtbaren Meeresjungfrau vor<br />

einem vom Meerhexer entfachten Sturm (als Wille des Dichters) gerettet<br />

und schließlich geküsst wird. Doch seine Liebe gilt der ihn weckenden<br />

Prinzessin Helene, während des Wasserwesens Liebe so weit geht, dass es<br />

fest entschlossen ist, ein Mensch zu werden. Gewaltsam entledigt er sie<br />

ihres Schwanzes, für den Neumeier im japanischen Noh-Theater eine Lösung<br />

gefunden hatte: eine blaue dehnbare Hose, die dem menschlichen<br />

Körper eine andere Dimension gibt, unterstützt und durchs Wasser bewegt<br />

von drei Tänzern, die als schwarze Schatten tituliert sind.<br />

Als die Meerjungfrau an mangelnder Bewegungsfähigkeit leidet und sich<br />

in der Rolle als Brautjungfer bei der Hochzeit des Prinzen erniedrigt fühlt,<br />

sehnt sie sich zurück in ihre Welt. Wie wir auch aus anderen Verarbeitungen<br />

des Märchenstoffes wissen, ermöglicht ihr dies nur die Opferung des Prinzen.<br />

Bei Neumeier reicht ihr der Meerhexer das Messer, doch wieder lässt<br />

es der in ihr verkörperte Dichterwille nicht zu, dass sie den Geliebten tötet.<br />

In ihrem unendlichen Leid und Schmerz sind der Dichter und seine Kreation<br />

am Ende eins, auf der Suche nach einer <strong>neue</strong>n Welt verhelfen sie sich<br />

gegenseitig zur Unsterblichkeit. Die Bewegungen der beiden nun barfuß<br />

Tanzenden decken sich in schönster Synchronität. Bis dahin hat Neumeier<br />

die Darsteller mit viel psychologischer Expressivität miteinander verwoben,<br />

sie auf klassischer (Spitzen-) Basis mit vielfältigen Errungenschaften<br />

des modernen Tanzes und Tanztheaters charakterisiert.<br />

Die an diesem dritten Abend eingesetzte Alternativ-Besetzung zeigte sich ausgeglichen,<br />

ohne irgendwo herauszuragen oder zu wünschen übrig zu lassen.<br />

Hélène Bouchet in der Titelrolle glänzte auf stille Art, mit viel Sensibilität,<br />

wo es um ihre bedingungslose Liebe geht, aber auch Kraft und Selbstbewusstsein,<br />

wo sie Grenzen überschreiten will und gegen ihr Schicksal ankämpft.<br />

Jugendliches Wesen und doch schon sehr gereiftes Gestaltungsvermögen<br />

geben dem Part sowohl Glaubwürdigkeit als auch das nötige Gewicht.<br />

Carolina Agüero ist da als ihre prinzessliche Kontrahentin eine vergleichsweise<br />

blasse Tänzerin, doch mag das auch an der am wenigsten konturierten<br />

Hauptrolle liegen. Sicher im Umgang mit Neumeiers Anforderungen<br />

zeigt sich die Argentinierin allemal.<br />

Wiederum rollenbedingt gelingt Alexandre Riabko als Meerhexer die<br />

stärkste Bühnenvereinnahmung, zumal allein schon die ebenfalls dem japanischen<br />

Theater entstammende, mit viel aufgespritzter Farbe erzielte<br />

Spezialmaske eines Glatzköpfigen für die entsprechend bedrohliche Autorität<br />

und Macht sorgt. Darüber hinaus strotzt der aus Kiew stammende<br />

Publikumsfavorit der Compagnie vor kraftvoller Virtuosität und körperlicher<br />

Hochspannung.<br />

Zarter besaitet, aber trotz seiner Jugend steht der italo-amerikanische Gruppentänzer<br />

Sasha Riva als Dichter in Anzug und Zylinder seinen Mann,<br />

mischt sich mit Einfühlungsvermögen unters Geschehen und hat mit der<br />

Meerjungfrau als projizierte, übertragene Leidensgenossin die ausdrucksstärksten<br />

Momente.<br />

<strong>Der</strong> Solist Dario Franconi entspricht dagegen so ganz dem Bild des smarten<br />

Lovers, des schönen Prinzen und hat dazu noch Gelegenheit die mehr<br />

klassisch elegante Seite von Neumeiers Stil mit Leichtigkeit und schöner<br />

Balance zur Geltung kommen zu lassen.<br />

Das Ensemble ist mit zahlreichen Aufgaben aus den beiden gegensätzlichen<br />

Welten betraut – zum einen der Gestaltung der Unterwasserwelt<br />

mit magischen Schatten in teils fast punkartigen, in Türkis schillernden<br />

Gewändern, dann aber auch in traditioneller Matrosenkluft und schließlich<br />

als Hochzeitsgesellschaft inkl. Brautjungfern in schicken Haute Couture-Kreationen.<br />

Die Vervollkommnung des Ganzen liefert die in Neumeiers Auftrag eigens<br />

dafür erdachte Komposition der Lettin Lera Auerbach, eine ganz eigenständig<br />

geprägte Musik für großes, aber sehr differenziert aufgefächert<br />

eingesetztes Orchester, bei der man sich dennoch immer wieder ertappt,<br />

z.B. Schostakowitsch, Mahler oder auch Weill zu hören. Besonders aufhorchen<br />

lässt ein sogenanntes Theremin, bei dem Töne nicht durch Berührung,<br />

sondern durch die Bewegung der Hände in einem elektromagnetischen<br />

Feld rund um das antennenartige Instrument entstehen und<br />

dadurch einen geheimnisvollen, allem Menschlichen fremden Klang aufweisen,<br />

wie er der Außenseiter-Funktion der kleinen Meerjungfrau entspricht.<br />

Faszinierend – wie so vieles an diesem komplexen Ballett, für das<br />

die Compagnie viel Jubel erntet und Neumeier mit stehenden Ovationen<br />

gefeiert wird. <br />

Udo Klebes<br />

München:<br />

Bayerisches Staatsballett: „ROMEO UND JULIA“ – 10.11.<br />

(14.30 Uhr):<br />

In der Nachmittagsvorstellung gab es ein interessantes Debut zu erleben:<br />

Ivy Amista tanzte ihre erste Julia. Darauf konnte man deshalb besonders<br />

gespannt sein, weil man bisher doch noch nicht so oft die Gelegenheit<br />

gehabt hatte, diese technisch so souveräne Tänzerin auch einmal in einer<br />

darstellerisch anspruchsvollen Rolle zu sehen. An diesem Nachmittag<br />

zeigte sich dann, dass Ivy Amista auch eine sehr gute Interpretin ist.<br />

Man mochte kaum glauben, dass sie die Partie zum ersten Mal tanzte, so<br />

ausgereift erschien ihr Rollenportrait. Zuerst war sie eine wunderschön<br />

mädchenhafte, aber nicht zu kindliche Julia und entwickelte sich dann<br />

zu einer selbstbewussten Frau, die sich nicht scheut, gegen ihre mächtige<br />

Familie aufzubegehren. Dies alles trug sie mit großem Selbstverständnis<br />

und ohne Manierismen oder übertriebener Theatralik vor. Daneben<br />

beherrschte sie die Rolle auch technisch sehr souverän, von ihrem Ball-<br />

Solo bis zu den schwierigen Pas de deux. Ein rundum gelungenes Debut!<br />

Dass diese Vorstellung etwas Besonderes war, lag jedoch nicht allein an<br />

Ivy Amista, sondern zumindest zu gleichen Teilen an ihrem Partner, Tigran<br />

Mikayelyan. Sein Romeo war ein schwärmerischer, friedliebender,<br />

edler junger Mann, dem die Kämpfe und der Stolz seiner adligen Umwelt<br />

gänzlich fremd sind, der nur seinen romantischen Idealen lebt. So ist es<br />

ihm in der Ballszene fast unverständlich, warum sich die Gäste und natürlich<br />

die Capulets an seiner erwachenden Liebe zu Julia stören, scheint<br />

sie doch für ihn etwas ganz Natürliches zu sein. Selten habe ich in den letzen<br />

Jahren eine so stringente und feinsinnige Interpretation dieses Charakters<br />

gesehen. Großes Kompliment! Dazu kam, dass er Ivy Amista auch<br />

ein sehr guter Partner war, so dass die großen Pas de deux sehr flüssig und<br />

natürlich gelangen und die dramatische Kraft von Crankos Choreographie<br />

voll zum Ausdruck kam.<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 37


Tanzwelt<br />

Das genaue Gegenteil von Mikayelyans schwärmerischem Romeo war der<br />

gut aussehende elegante, jedoch kalte und adelsstolze Tybalt von Matej<br />

Urban. Auch Matej Urban tanzte seine Rolle in dieser Vorstellung zum<br />

ersten Mal. Schade, dass es auch für diese Saison schon wieder das letzte<br />

Mal war, zumindest in München. Man hätte ihm gerne noch bei der weiteren<br />

Entwicklung der Rolle zugesehen. Karen Azatyan war ein übermütiger,<br />

virtuoser Mercutio. Das „Montague-Trio“ wurde von Ilia Sarkisov<br />

als quirligem Benvolio komplettiert. Erik Murzagaliyev machte viel aus<br />

der undankbaren Rolle des Grafen Paris.<br />

Robertas Švernikas leitete das Bayerische Staatsorchester, das nach einiger<br />

„Einspiel-Zeit“ noch zu einer klangmächtigen, dramatischen Interpretation<br />

von Prokofjews herrlicher Musik fand. Insgesamt eine berührende<br />

Vorstellung. <br />

Gisela Schmöger<br />

Bayerisches Staatsballett: „ROMEO UND JULIA“ – 10.11.<br />

abends<br />

„So schön hab ich das noch nie gesehen“, seufzte mein Sitznachbar nach<br />

der überwältigenden Balkonszene in John Crankos „Romeo“-Realisation.<br />

Und in der Tat, da war nichts von Arbeit in dieser so anspruchsvollen, verausgabenden<br />

Szene zu bemerken – nur Liebe, ausgedrückt in edelstem Tanz<br />

und für jedermann verständlicher Körpersprache. Schon vorher ist man gefesselt<br />

wie Lucia Lacarra (Julia) allein „mit den Armen spricht“, geschweige<br />

denn letztlich mit dem gesamten Körper. Das ist schlichtweg faszinierend.<br />

Da sich ihr Partner Marlon Dino (Romeo) in ebensolcher Spitzenverfassung<br />

zeigte, gibt es wirklich nichts zu kritisieren, nur begeistert zu berichten.<br />

Einen brillanten Mercutio brachte Lukáš Slavický auf die Bühne, Javier<br />

Amo war Benvolio, Maxim Chashchegorov Prinz Paris und Cyril Pierre<br />

der bewährt finstere Tybalt.<br />

Robertas Šervenikas ging mit dem Orchester ganz schön in die Vollen,<br />

so dass die Tragik des Stückes dem Zuhörer akustisch manches Mal geradezu<br />

brutal entgegen geschleudert wurde. Dorothea Zweipfennig<br />

Bayerisches Staatsballett: „LA BAYADÉRE“ mit Polina Semionova,<br />

22.11.:<br />

Vom 22.11 bis 5.12. gibt es in München drei verschiedene Besetzungen von<br />

„La Bayadère“ (Choreographie: Marius Petipa, Patrice Bart) zu sehen, mit<br />

drei hochkarätigen Ballerinen in der Hauptrolle: Polina Semionova (22. und<br />

30.11.), Daria Sukhorukova (29.11.) und Lucia Lacarra (3. und 5.12.). Den<br />

Anfang machte am 22.11. Polina Semionova. Sie begeisterte das Publikum<br />

nicht nur mit ihrer technischen Brillanz und ihrem reinen klassischen Stil, sondern<br />

auch mit ihrer beeindruckenden Rollengestaltung. Im 1. Akt war sie die<br />

leidenschaftliche, für ihre Liebe in den Tod gehende Tempeltänzerin, im Schattenakt<br />

dann ätherisch kühl, aber dennoch sehr faszinierend. Ihr Partner als Solor<br />

war – wie auch schon bei ihrem letzen Auftritt als Nikija im März 2013 –<br />

Staatsballett-Solist Maxim Chashchegorov. Er konnte mit seiner feinen und<br />

zugleich intensiven Bühnenpräsenz und seinem eleganten, klassischen Stil sehr<br />

für sich einnehmen. Besonders schön und klar tanzt er das von Patrice Bart für<br />

die Münchner Produktion choreographierte Solo im 1. Bild, das wegen seines<br />

unkonventionellen Bewegungsflusses bei den meisten anderen Tänzern, die bisher<br />

in München den Solor getanzt haben, immer etwas unharmonisch aussah.<br />

Ivy Amista zeigte als Gamzatti ebenfalls eine hervorragende Leistung. Die anspruchsvolle<br />

Partie bereitet ihr keinerlei Schwierigkeiten, so dass sie die Schönheit<br />

und Brillanz dieser Rolle voll zur Geltung bringen kann.<br />

Auch die übrigen Solisten zeigten sich an diesem Abend in sehr guter<br />

Form, etwa Ilia Sarkisov als Goldenes Idol oder Lisa-Maree Cullum,<br />

Ekaterina Markowskaja und Ekaterina Petina in den Schatten-Soli. Das<br />

Corps de Ballet zeigte sich im Schattenakt ebenfalls auf sehr hohem Niveau.<br />

Die erste der drei Alternativ-Besetzungen war in jedem Fall schon<br />

mal ein voller Erfolg und man freut sich schon auf die noch folgenden<br />

Vorstellungen mit anderen, hoffentlich genauso mitreißenden Interpretationen.<br />

<br />

Gisela Schmöger<br />

Düsseldorf: Ballett am Rhein: „b.16“ – 13.10.<br />

Auch Martin Schläpfers 16. Programm beim Ballett am Rhein (in Düsseldorf<br />

und Duisburg) hat wieder eine dreiteilige Struktur, doch folgt diesmal<br />

mit Schläpfers eigener Choreographie „Nacht umstellt“ eine Großform<br />

auf zwei einleitende Miniaturen.<br />

„Afternoon of a Faun”, 1953 UA NYC Ballett, für Düsseldorf einstudiert von<br />

Anita Paciotti, vom Jerome Robbins dauert kaum länger als die dazugehörige<br />

Musik. Claude Debussys sinnliches „Prélude à l’après-midi d’un faun“, von<br />

den Düsseldorfer Symphonikern unter Wen-Pin Chien ist tanzgeschichtlich<br />

und inhaltlich ein hoch dosiertes Konzentrat. Historisch, weil er anspielt auf Vaslav<br />

Nijinskys berühmte Choreographie von 1912 zum selben Musikstück, die<br />

wegen ihrer untergründigen sexuellen Aufladung Skandal machte, inhaltlich,<br />

weil er diesem Stil- und Motivzitat eine zweite, reflektierende Ebene hinzufügt.<br />

Handfester geht es bei Hans van Manens „Without Words“ zu, 2010<br />

für Het Nationale Ballett kreiert, einstudiert von Mea Venema. <strong>Der</strong> Titel<br />

geht zurück auf die Idee des mit van Manen befreundeten Dirigenten<br />

Reinbert de Leeuw zu vier „Mignon-Liedern“ von Hugo Wolf als musikalische<br />

Grundlage. Operndirektor Stephen Harrison spielt am Klavier.<br />

Martin Schläpfers <strong>neue</strong>s Ballett „Nacht umstellt“ greift zu auf Musik zweier<br />

Komponisten, Franz Schuberts „Unvollendete“ ist eingerahmt von Salvatore Sciarrinos<br />

gesten- und geisterhaften Orchesterstücken „Il Suono e il tacere“ und<br />

„Shadow of Sound“ (2004 und 2005). Alle drei Stücke werden live und mit<br />

hoher Ausdrucksintensität von den Düsseldorfer Symphoniker unter Wen-Pien<br />

Chien gespielt. Die Außenschicht sind die 16 Deutschen Tänze D 783 Schuberts<br />

zu einer Aufnahme von Alfred Brendel aus 1988 und dem Männerchor<br />

„Die Nacht“ D 983c 1991 (Rundfunkchor Berlin unter Dietrich Knothe.)<br />

<strong>Der</strong> Abend treibt in die düstere Nacht-Seite der Romantik, ins Zwielicht, in<br />

den Zweifel. Er wird zum Sommernachts-Albtraum, wo einer dem anderen<br />

zum Gespenst wird. Sciarrinos sparsame, klagende und kratzige Musik wirkt<br />

wie eine Lupe, unter der die Gefühle des Verlassen seins zum Vorschein kommen.<br />

Im ganzen Ensemble wirkt die drahtige Marlúcia do Amaral wie die<br />

einzige, die nicht der Macht dieser Musik unterliegt, sondern sie zu bezwingen<br />

vermag. Mit energischen, blitzartigen Bewegungen wie eine Zauberin verscheucht<br />

sie schließlich Sciarrino und schafft Raum für die „Unvollendete“.<br />

Die aber erscheint fast wie eine Fortsetzung des Sciarrinoschen Nachtstücks.<br />

Es entfalten sich zwar Melodien, doch wirkt Schuberts Musik plötzlich<br />

eigenartig unberechenbar. In einem langen Solo reckt sich Yuko Kato<br />

immer wieder gen Himmel und wird von unsichtbarer Hand immer wieder<br />

heruntergedrückt. Anne Marchand geistert wie eine verstörte Giselle<br />

über die Bühne, mit starrem Blick in die Ferne und verliert ihren Partner<br />

Jackson Carroll aus den Augen. Höhepunkt des Spukhaften ist, wenn<br />

zu den kurzen Fortissimopassagen des langsamen Satzes fast die gesamte<br />

Bühnenmannschaft wie ein stampfendes Menschenknäuel vorbeizieht.<br />

Schubert gleitet wieder zurück in Sciarrino, und Marlúcia do Amaral hat<br />

am Ende noch größere Mühe, die bösen Geister zu verscheuchen. Am Ende<br />

bleibt sie übrig – mit Bruno Narnhammer und Bogdan Nicula, dem als einzigem<br />

die Nachtstimmungen nie so recht etwas anhaben konnten, zu Schuberts<br />

Männerchor-Vertonung „Die Nacht“. Ein wenig mehr lüftet sich die<br />

von Bühnenbildner Florian Etti entworfene dunkle Hinterwand, in der zuvor<br />

nur einzelne Risse den Blick auf das dahinter liegende Blau freigaben.<br />

Hinaus freilich kommt niemand aus dem Dunkel. Andreas Hauff<br />

Kaiserslautern: „DER PAGODENPRINZ“<br />

– 19.10.<br />

Indem es John Crankos und Benjamin Brittens Ballett „<strong>Der</strong> Pagodenprinz“<br />

(„The Prince of the Pagodes“) auf den Spielplan bringt, setzt das<br />

Pfalztheater in Kaiserslautern noch einmal einen besonderen Akzent<br />

zum Britten-Jahr. Das abendfüllende Werk, 1957 vom Royal Ballett in<br />

Covent Garden uraufgeführt, ist ein Stiefkind der Bühnen. Warum, lässt<br />

sich nach der Kaiserslauterner Aufführung und einiger begleitender Lek-<br />

38 | DER NEUE MERKER 12/2013


Tanzwelt<br />

türe schnell erschließen. Das Szenario ist wenig originell: „Das bekannte<br />

Cranko-Medley von Märchenmotiven zwischen ‚Aschenbrödel’ und ‚La Belle<br />

et la Bête’, mit einer Prise ‚König Lear’ und ‚Turandot’.“ (So der Ballett-Kritiker<br />

Horst Koegler in einer zornigen Rezension der Straßburger Fassung<br />

von Bertrand d’At 2002.) Schon die Namen der beiden weiblichen Hauptrollen,<br />

Belle Epine (Schöner Dorn) und Belle Rose (Schöne Rose) führen<br />

die Handlung unweigerlich ins Klischee. Dass der Choreograph Kenneth<br />

McMillan für eine Neuinszenierung 1989 am Royal Ballett zusammen<br />

mit dem Schriftsteller Colin Thubron eine psychologisch vertiefte Version<br />

entwickelte, half der Rezeption auch nicht auf. Dabei gab sich Benjamin<br />

Britten bei der Komposition viel Mühe, einen fernöstlichen Tonfall<br />

zu finden und unternahm dafür 1956 sogar eine Studienreise nach Bali.<br />

Das berühmte, doch zu selten aufgeführte Britten-Ballett ist wieder im Repertoire<br />

Und er weigerte sich zeitlebens, einer Kürzung seiner Musik zuzustimmen.<br />

In Kaiserslautern erleben wir nun den „Pagodenprinzen“ als Kammerspiel-<br />

Version auf der Werkstattbühne in einer um eine Stunde auf ca. 90 Minuten<br />

gekürzten Version. Die Musik kommt vom Band – wie die Nachfrage<br />

ergab, in einer Aufnahme mit dem BBC Symphony Orchestra unter Leonard<br />

Slatkin. In zwei Szenen (Luft und Wasser) hat Ballettdirektor Stefano<br />

Giannetti zudem die Musik gestrichen und stattdessen Geräusche<br />

unterlegt. So kommt man also leider um die Chance, ein großes Orchester<br />

mit sechs balinesisch agierenden Schlagzeugern zu erleben. Für die<br />

kleine Lösung sprechen dennoch zwei Argumente: Das aufwändige Originalszenario<br />

hätte die kleine Kaiserslauterner Ballettkompanie personell<br />

überfordert – und es hätte unweigerlich die Erwartung nach einer repräsentativen<br />

Ausstattung à la „Land des Lächelns“ befördert. So aber bietet<br />

sich die Chance, dem Klischee zu entkommen.<br />

In seiner Choreographie folgt Giannetti in den Grundzügen der von<br />

Cranko entworfenen Handlung. Einige Nuancen scheinen von McMillan<br />

entlehnt. Im Reich der Mitte erwartet der amtsmüde Kaiser (Chris<br />

Kobusch) vier Könige; mit einem von ihnen will er seine ältere Tochter<br />

Belle Epine (Laure Courau) verheiraten. Diese fängt Feuer für den vor<br />

Männlichkeit strotzenden König des Südens (Salvatore Nicolosi). <strong>Der</strong><br />

aber entfernt sich, ohne um ihre Hand angehalten zu haben. Da erscheint<br />

ein Bote des Pagodenprinzen mit einem Kästchen. Belle Epine vermag es<br />

nicht zu öffnen, allerdings ihre jüngere Schwester Belle Rose (Gabrielle<br />

Limatola), die nun mit dem Boten (wiederum Salvatore Nicolosi) durch<br />

die Elemente Luft, Wasser und Feuer ins geheimnisvolle Land des Prinzen<br />

reist. Ein faszinierender Salamander entpuppt sich als der verwandelte<br />

Pagodenprinz (Kei Tanaka). Die beiden verlieben sich. In der Heimat<br />

hat inzwischen Belle Epine die Macht an sich gerissen und den Vater<br />

eingekerkert. Belle Rose kehrt in Begleitung des Prinzen zurück. Sie befreien<br />

den Vater, der gerne in die Eheschließung einwilligt, und setzen<br />

Belle Epine ab. Dieser verzeiht der Kaiser und vermählt sie mit dem König<br />

des Südens, der sich inzwischen entschlossen hat. Ausgiebig wird die<br />

Doppelhochzeit begangen.<br />

Vor einem blau leuchtenden Horizont beschränkt sich das Bühnenbild<br />

von Julia Buckmiller und Barbara Kloos auf ein Gestell, dessen Stangen<br />

mehrere Quader andeuten. Das reicht tatsächlich, um den kaiserlichen Palast<br />

mit Zimmern, Balkonen und Verlies zu erkennen. Alle weiteren Szenarien<br />

ergeben sich aus der Bewegungskunst der Darsteller. Weiß gekleidet<br />

sind die Normalsterblichen, grün der geheimnisvolle Prinz, blau und<br />

rot die Darsteller von Wasser und Feuer. <strong>Der</strong> Tanz ist fast ganz im klassischen<br />

Stil gehalten; allerdings haben Giannetti<br />

und sein Ensemble enorme Sorgfalt darauf verwendet,<br />

jede einzelne Rolle und jede Szenenfolge<br />

charakteristisch zu gestalten – bei zahlreichen<br />

Doppelrollen eine besondere Herausforderung.<br />

Pfalztheater-Dramaturgin Tanja Herrmann hat<br />

durchaus Recht, wenn sie im Programmheft ausführlich<br />

von dem faszinierender tänzerischen Ergebnis<br />

dieser Detailarbeit schwärmt. (Allerdings<br />

meine ich, dass das nicht ihre Kernaufgabe ist<br />

und sie eher über das wenig bekannte Stück hätte<br />

informieren sollen.)<br />

Eine deutliche dramaturgische Schwäche ist die<br />

Rückkehr Belle Roses an den Kaiserhof. Eine<br />

kleine Geste des Pagodenprinzen genügt, um<br />

die Usurpatorin zum Verzicht zu bewegen und<br />

den Kaiser zu befreien. Gerade im Verhältnis zu<br />

den ausufernden, in der Auftrittsfolge aber sehr<br />

geschickt gestaffelten Hochzeitsfeierlichkeiten<br />

müsste die Überwindung des Bösen auch als<br />

Anstrengung deutlich werden. Britten orientiert<br />

sich bei den repräsentativen Abschluss-Tänzen<br />

anscheinend an den neoklassizistischen Ballettmusiken<br />

von Sergej Prokofjew, ohne dabei auf<br />

eigene Akzente zu verzichten. Besonders auffallend<br />

ist ein Art Walzer, der mehr im geraden als im Dreiertakt steht. Da<br />

fragt man sich, wie viel an Parodie oder Ironie in der Partitur steckt und<br />

ob nicht auch die Choreographie stärker ironische Züge tragen könnte.<br />

Giannetti nimmt sie über weite Strecken sehr ernst. Bei den vier Bewerbern<br />

um Belle Epine gönnt er sich karikierende Momente. Für den alten<br />

Kaiser aber hat er eine wenig elegante, groteske Bewegungssprache entwickelt.<br />

Wie Chris Kobusch am Ende die Hochzeitsleute wegschickt und<br />

– froh, wieder seine Ruhe zu haben – sich mit aufgestütztem Kopf vorne<br />

auf den Bühnenboden setzt, ist dann doch sehr witzig. Andreas Hauff<br />

Ludwigsburg: Gastspiel des Ballett Zürich<br />

„WOYZECK“ – 27.11. – Mit wenig Neuem viel erreicht<br />

Zürichs Ballettdirektor Christian Spuck hat Georg Büchners Drama<br />

2011 für das Norwegische Nationalballett in Oslo für den Tanz adaptiert.<br />

Nun hat er es passend zum 200. Geburtstags des in Zürich gestorbenen<br />

und begrabenen Dichters mit seiner eigenen Compagnie einstudiert und<br />

damit im Rahmen der begehrten Tanzreihe des Ludwigsburger Forums<br />

für 2 Vorstellungen in der Nähe seiner alten Heimat gastiert.<br />

Genauso knapp wie das Drama des jung verstorbenen revolutionären<br />

Schriftstellers als damals sehr modern anmutend entworfen ist, hat Spuck<br />

die Übertragung auf die tänzerische Ebene vorgenommen. In 80 pausenlosen<br />

Minuten richtet sich der Blick konzentriert aufs Wesentliche.<br />

Wer von ihm dabei eine Entwicklung oder gar Veränderung seiner Stilmittel<br />

erwartet hatte, wurde enttäuscht, greift der ehemalige Stuttgarter<br />

Hauschoreograph doch auf seine mehr oder weniger bewährten Me-<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 39


Tanzwelt<br />

taphern zurück. Angefangen bei der spartanisch ausgerichteten Bühne,<br />

in deren Mitte sich eine geschwungene halbhohe Wand für die schnellen<br />

Szenenwechsel dreht und mal ein Miniatur-Dorf mit Fachwerkhäuschen<br />

als Verortung des Geschehens oder ein paar Tische zu sehen sind.<br />

Die Einbeziehung letzterer wie auch von Stühlen in den choreographischen<br />

Aufbau wirkt inzwischen doch etwas abgegriffen, weil die Figuren<br />

und die damit verbundenen Bewegungsmuster doch zu sehr vielen Vorgänger-Arbeiten<br />

gleichen und keine werk-spezifische Verwendung mehr<br />

bedeuten. Optisch erinnert vieles an seine einige Jahre zuvor entstandene<br />

„Leonce und Lena“-Choreographie, quasi als tragisches Spiegelbild zum<br />

absurd ironischen Lustspiel Büchners.<br />

Nicht nur die die gesellschaftliche Norm verkörpernden Tanzpaare als Gegenbild<br />

zu den Bauern aus der Komödie, auch die Uniformen und Zylinder,<br />

die weitgehend schwarz-graue Ausrichtung der Kostüme (Emma<br />

Ryott) sowie auch der eckige, vielfach abgewinkelte Einsatz der Arme wurden<br />

von Spuck schon vielfach angewandt.<br />

Die Doppelbödigkeit der Charaktere zwischen Täter- und Opfer-Funktion<br />

sowie zwischen der Kreatur Woyzeck, Marie und ihren Demütigen<br />

kommt sowohl im Tanz als auch in der raffinierten Einbeziehung verschiedener<br />

Musik-Auswahlen zum Vorschein. Alfred Schnittke, György Ligeti,<br />

Phillip Glass, Bach und der beständig mit elektronischen Möglichkeiten<br />

arbeitende Komponist Martin Donner stehen für eine Vielfalt zwischen<br />

passenden Jahrmarkts-/Spieldosenklängen, live erfolgender Trommelwirbel,<br />

originell verfremdeten Polkas und Walzern sowie brillante Höhepunkte<br />

aufbauender Film-Musik. Schade nur, dass der Orchesterpart den Gastspiel-<br />

Umständen geopfert werden und eine Band-Aufzeichnung herhalten musste.<br />

Aber auch ohne das klangliche Live-Erlebnis setzte das Geschehen Emotionen<br />

frei, ließ einen, wie es auch Büchner beabsichtigt hatte, mit Woyzecks<br />

Ohnmacht mittrauern. Speziell in den Szenen mit Marie hebt die Choreographie<br />

zu Höhenflügen großzügigen Ballett-Vokabulars ab, während den<br />

holzschnittartigen, Karikaturen gleichenden Figuren der Peiniger entsprechend<br />

eckigere, mechanische Bewegungen zugeordnet sind.<br />

Im Falle der Titelrolle hat Spuck auf einen für diese Rolle ungewöhnlich<br />

jungen Tänzer gesetzt und Recht behalten. <strong>Der</strong> große schmächtige Belgier<br />

Jan Casier identifiziert sich total mit dem geschundenen und von seiner<br />

Umwelt getriebenen Soldaten bis in die kleinsten Partikel seines meist dicht<br />

am Körper und Kopf entlang gehaltenen Bewegungs-Kanons, der bereits<br />

in seinem ersten Auftritts-Solo in komprimierter Form vorgeführt wird.<br />

Wie befreit, von einem Funken Hoffnung getragen, agiert er in den Szenen<br />

mit Marie, die mit der Ex-Stuttgarterin Katja Wünsche sehr aufrichtig besetzt<br />

ist, mit einer Mischung aus Reife und Losgelassenheit. Dabei macht<br />

sie spürbar, dass sie die Armut des Geliebten weg von ihm in die Arme des<br />

Frauen imponierenden Tambourmajors treibt, der ihr Ohrringe schenkt, die<br />

dann Woyzecks Eifersucht bis zur wahnhaften Obsession steigern. Ihre tragische<br />

uneheliche Beziehung, gekettet durch den gemeinsamen Sohn, gipfelt<br />

in der musikalisch formidabel umhüllten Ermordung Maries unter einer<br />

angestrahlten Wasser-Gischt. Selbst da ergreift der Choreograph noch<br />

Partei für den ausweglosen Mörder, was auf der anderen Seite noch durch<br />

den sehr viel Sympathie ausstrahlenden Belgier unterstützt wird.<br />

In die Begeisterung wurde auch das weitere Ensemble und Christian<br />

Spuck selbst einbezogen, besonders der einstige Stuttgarter Publikumsliebling<br />

William Moore für seinen herrlich gockelhaften und athletisch<br />

stolzen Tambourmajor. Passende Profile hatten auch Christian Alex Assis<br />

als Hauptmann, Manuel Renard als Doktor, Filipe Portugal als Professor,<br />

Ty Gurfein als Andres und Galina Mihaylova als Margret. Udo Klebes<br />

Györ:„EIN SOMMERNACHTSTRAUM“ –<br />

16.11.<br />

Ein typischer Novembertag – nasskalt, sehr nebelig – verlockte dennoch<br />

zum Abstecher zu sommerlichen Reminiszenzen im Nationaltheater in<br />

Györ zur <strong>neue</strong>sten Ballettproduktion (Premiere war am 19.10.): „Ein Sommernachtstraum“<br />

in der Choreographie von Youri Vamos. Die Uraufführung<br />

von diesem Stück gab es bereits 1995 im Theater Basel.<br />

Die Intention des Choreographen ist es, vor allem klassische Ballettthemen<br />

in <strong>neue</strong>r Fassung und teilweise veränderter Handlung zu erschaffen.<br />

In seiner Version des Shakespeareschen Liebesverwirrspiels wird das neckische<br />

Treiben durch 2 Kobolde – Puck und Robin – durcheinandergewirbelt;<br />

lässt er die Irrungen statt in dezent-ästhetischer Andeutung in<br />

derb-deftiger Manier stattfinden. Es gibt viel Slapstick und viel Pantomime;<br />

aber auch schön getanzte Corps de ballet-Szenen in Gruppenformation.<br />

Als Mittel zum Liebeszauber kommt statt einer Wunderblume<br />

ein Glitzerhandschuh á la Michael Jackson zum Einsatz.<br />

Kostümmäßig ist die reale Handlung aus dem antiken Griechenland in die<br />

Jetztzeit versetzt; die Bühnenausstattung ist gut gelungen und lässt durch<br />

einfaches und praktikables Umdrehen der Büsche den raschen Wechsel vom<br />

Zauberwald in die Realität zu. Die Feenwelt ist durch silber- bzw. grünglänzende<br />

Ganzkörpertrikots gekennzeichnet; die Handwerker tragen Lederhosen<br />

– sogenannte „Krachlederne“, während bei den Liebespaaren die Mädchen<br />

in duftigen Blümchenkleidchen die Männer becircen, die in Hemd,<br />

Hose und Gilet durch entsprechende Farbgebung die Pärchenzusammengehörigkeit<br />

dokumentieren. Musikalisch kommen neben der eigentlichen<br />

Sommernachtstraum-Musik (aus der Konserve) noch andere Kompositionen<br />

von Felix Mendelssohn-Bartholdy zum Einsatz. Die beiden Liebespaare<br />

sind es auch, die durch Lebensfreude, unbeschwerte Fröhlichkeit und<br />

intensives Ausdrucksspiel am besten gefallen: Melinda Berzéki (Helena)<br />

und Krisztián Horváth (Demetrius) sowie Tatjana Shipilova (Hermia)<br />

und Artem Pozdeev (Lysander) finden letztendlich zueinander.<br />

Die beiden Schabernack treibenden Kobolde sind bei Daichi Uematsu<br />

(Puck) und Tamás Szanyi (Robin) bestens aufgehoben. Souverän über<br />

allem steht Balázs Pátkai als Feenkönig Oberon, ihm zur Seite Georgina<br />

Szendrei als hoheitsvolle Feenkönigin Titania, die sich durch den eingesetzten<br />

Zauber in den Esel verliebt – Bálint Sebestyén verkörpert selbigen.<br />

Dem Publikum im ausverkauften Haus hat es gut gefallen – viel Applaus<br />

bei dieser Repertoirevorstellung! <br />

Ira Werbowsky<br />

Buch / STUTTGARTER BALLETT-ANNUAL<br />

Ein traditioneller und immer schon sehnsüchtig erwarteter Band: Im Stuttgarter<br />

Ballett Annual. Hg. vom Stuttgarter Ballett und der John Cranko Gesellschaft<br />

(ISBN978-3-9814688-1-6) stehen diesmal die Spielzeiten 2011/12 und 2012/13<br />

im Fokus. Auf 200 Seiten findet sich alles Wissenswerte und Informative aus den vergangenen<br />

beiden Saisonen über die weltberühmte Ballettcompagnie. Wie gewohnt<br />

und bewährt, ist auch dieser Band mit unzähligen wunderschönen Farbfotos versehen<br />

– darunter wird natürlich dem Abschied von Christian Spuck, Katja Wünsche<br />

und William Moore sowie Alexander Zaitsev ebenso ausgiebig Raum gewidmet<br />

wie dem Jubiläum zu 50 Jahren „Romeo und Julia“. Als Bildimpressionen festgehalten<br />

sind auch die Gastspiele in Japan, Korea, China und zuletzt Moskau. Im Betrachten<br />

der Fotos fühlt man sich wie mitten drin in diesen lebhaften Geschehnissen<br />

– wunderbare Momente sind für die Ewigkeit festgehalten. Auch die Nachrufe<br />

auf die beiden wesentlichen Persönlichkeiten der aktuellen Ballettgeschichte finden<br />

sich im Annual: auf den unvergleichlichen Welttänzer Richard Cragun und auf den<br />

Ballettpapst Horst Koegler.<br />

Um der Bedeutung der international sehr renommierten Balletttruppe Rechnung<br />

zu tragen, sein alle Beiträge natürlich sowohl auf deutsch als auch auf englisch abgedruckt.<br />

Neben dem Vorwort des Ballettintendanten Reid Anderson gibt es auch<br />

ein ausführliches Interview mit ihm; ein Grusswort der John Cranko Gesellschaft<br />

und einen Artikel über selbige findet sich ebenso im Buch. Als Portraits werden die<br />

Tänzer Hyo-Jung Kang, Alexander Jones, Myriam Simon und Arman Zazyan sowie<br />

der <strong>neue</strong> Stuttgarter Hauschoreograph Demis Volpi vorgestellt. Die Spielzeitberichte<br />

rufen nochmals die vergangenen Highlights in Erinnerung. <strong>Der</strong> Beitrag über<br />

40 Jahre John Cranko Schule widmet sich dem Jubiläum der außergewöhnlichen<br />

Talenteschmiede. Vor den Vorhang geholt werden diesmal auch diejenigen, die für<br />

die gelungenen Aufführungen zuständig sind: die Ballettmeister. Ohne deren unermüdliche<br />

Arbeit im Hintergrund würde keine Vorstellung stattfinden können. Weiters<br />

wird die Initiative Stuttgarter Ballett JUNG vorgestellt – das Programm für<br />

die Jugend, das Angebot für Schulklassen und Familien. Den Abschluss bilden die<br />

Auflistung aller Compagnie-Mitglieder und vom Leading Team samt Portraitfotos<br />

und die Übersicht über die Vorstellungen (darunter alle Premieren und Wiederaufnahmen)<br />

mit den Besetzungen sowie anderen Veranstaltungen mit dem Stuttgarter<br />

Ballett bzw. der John Cranko Schule. Die Beiträge stammen von Nikolai Forstbauer,<br />

Claudia Gass, Andrea Kachelrieß, Udo Klebes, Hartmut Regitz, Angela<br />

Reinhardt, Kristina Scharmacher und Gary Smith. Eine wunderschön aufbereitete,<br />

sehr umfassende Dokumentation einer großartigen Ballettcompagnie – ein absolutes<br />

Muss für jeden Ballettinteressierten. <br />

Ira Werbowsky<br />

40 | DER NEUE MERKER 12/2013


Deutschland<br />

Berlin:<br />

Oper International<br />

Deutsche Oper: Verdi, Verdi, Verdi…<br />

„Don Carlo“ – 31.10.<br />

Diese Aufführung war des großen Verdi-Jubiläums 2013 absolut würdig. Hier<br />

brillierten nicht nur zwei Stars. Alle Mitwirkenden sorgten dafür, dass der<br />

Abend das Publikum zu Beifallsstürmen hinriss. Donald Runnicles am Pult<br />

des ausgezeichneten Orchesters war ein überlegener, temperamentvoller Leiter<br />

der Aufführung und gleichzeitig ein aufmerksamer Begleiter der Sänger, bei<br />

denen natürlich an erster Stelle die beiden starken Frauen des Abends standen.<br />

Anja Harteros, die ich leider jetzt erst in der Partie der Elisabeth von Valois<br />

erleben konnte, ist einfach überwältigend in ihrer Vollendung, mit<br />

der sie alle Facetten dieser leidenden Frau zur Geltung bringt, denn sie hat<br />

neben ihren engelhaften Piano-Tönen die dramatische Kraft, mit der sie<br />

auch ohne den Fontainebleau-Akt die Standhaftigkeit und Opferbereitschaft<br />

der unglücklich liebenden Frau in der Fremde verständlich macht.<br />

Ein stimmlicher Höhepunkt war dabei natürlich die große Arie im Schlussbild.<br />

Violeta Urmana, hier wieder im Mezzo-Fach (sie sang ja auch die<br />

Amneris in Verona) war eine Eboli der stürmischen Leidenschaft, für die<br />

sie fulminant ihre stimmlichen Mittel schonungslos einsetzte, wobei gelegentliche<br />

Schärfen in der Höhe überhaupt nicht störten.<br />

Neben diesen beiden großartigen Sängerinnen wurde Hans-Peter König<br />

stürmisch gefeiert als starker, zupackender Philipp II. mit großer Stimme,<br />

dem man allerdings die quälenden Zweifel, auch in der großen Arie, kaum<br />

anmerkt. Paata Burchuladze sang den Großinquisitor mit fahler, dunkler<br />

Stimme und war in der Darstellung ein überzeugend unerbittlicher Kirchenfürst.<br />

Die beiden jungen Rebellen waren bei Russell Thomas in der<br />

Titelpartie und Dalibor Jenis als Posa bestens aufgehoben. <strong>Der</strong> amerikanische<br />

Tenor mit seinem schönen Timbre sang und spielte den verzweifelten<br />

Infanten sichtbar noch ohne jede Routine sehr eindringlich und berührend.<br />

Die dramatische Stimme von Dalibor Jenis hatte schon in der<br />

konzertanten „Attila“-Aufführung beeindruckt, und auch hier überzeugte<br />

er als leidenschaftlicher Streiter für Gerechtigkeit.<br />

Die kleineren Partien waren ebenfalls durchweg ausgezeichnet besetzt.<br />

Erwähnt seien hier Alexandra Hutton als quicklebendiger Tebaldo, Slobhan<br />

Stagg mit ihrem glockenhellen Sopran (sie ist bereits als Waldvogel im<br />

„Siegfried“ sehr angenehm aufgefallen) im Autodafé als eine junge Frau,<br />

der man das Kind nimmt – eigentlich ja die Stimme von oben), sowie<br />

Tobias Kehrer, der nicht nur einen der flandrischen Deputierten sang,<br />

sondern auch mit schöner, klarer Stimme die Partie des Mönchs, der Don<br />

Carlo hier nicht vor dem Tode retten kann. Das Publikum war hörbar begeistert<br />

von diesem mitreißenden Opernabend, an dessen Gelingen auch<br />

der großartige Chor wieder führend beteiligt war.<br />

„Falstaff“ – Pr. 17.11.<br />

Ja, das Leichte ist oft schwieriger als das Schwere. Christof Loy, der mit<br />

seiner „Jenůfa“ sehr erfolgreich war, konnte mit Verdis Spätwerk weniger<br />

überzeugen. Dass man ihm allerdings vorwirft, sich wie einige andere Regisseure<br />

auf Verdis Casa di Riposo, das berühmte Mailänder Altersheim<br />

für bedürftige Künstler, zu beziehen, halte ich für absolut ungerecht, denn<br />

dieser Bezug bietet sich gerade für ein Werk an, bei dem es um das Altern<br />

geht. Da jeder auf seine Weise mit dem Thema umgeht, ist das kein<br />

Plagiat. Die Einleitung mit dem Kurzfilm über das Leben in der Casa di<br />

Riposo (gedreht in einem beliebten Berliner Künstlerhotel, das jetzt seinen<br />

Betrieb einstellen muss – und es erklingt „Quand’ero paggio“ mit der<br />

Stimme von Verdis Falstaff Victor Maurel) hat durchaus Charme und<br />

die Überleitung zur Bühne mit rotem hinteren Vorhang war gelungen.<br />

Vor diesem Vorhang wurden dann in aller Eile die jeweils benötigten Requisiten,<br />

sogar ein riesiger aufklappbarer Bücherschrank, auf die leere<br />

Bühne gebracht (Bühne: Johannes Leiacker). Auch der Wirbel, wenn die<br />

alten Menschen blitzschnell sich ihrer Perücken und Oberkleider entledigten<br />

und darunter ohne jedes Gebrechen die Sänger der Oper zum Vorschein<br />

kamen, entsprach weitgehend dem Wirbel der Handlung und der<br />

Musik. Leider wurde dieser schnelle Wechsel von alt zu jung und umgekehrt<br />

mitunter zu einem übertriebenen Durcheinander. Bei Falstaff kam<br />

noch hinzu, dass auch der Bauch jeweils abgeschnallt wurde, danach<br />

zeigte sich ein fast noch jugendlicher kräftiger Mann, der so gar nicht<br />

dem alternden Haudegen entsprach, den Verdi hier portraitierte. Dieses<br />

Manko wurde noch dadurch verstärkt, dass Noel Bouley, ein Stipendiat<br />

des Förderkreises der Oper, der für den erkrankten Markus Brück einsprang,<br />

auch nicht das stimmliche Format für diese Rolle hatte. Über das<br />

Bemühen kam der junge amerikanische Bassbariton mit seiner angenehmen<br />

Stimme leider nicht hinaus.<br />

Das weitere Ensemble konnte immerhin sehr solide Leistungen bieten –<br />

Michael Nagy war der temperamentvolle eifersüchtige Ehemann Ford,<br />

der auch stimmlich überzeugte, Barbara Havemann und Jana Kurucová<br />

sangen die spielfreudigen Damen, die sich für die Annäherungsversuche<br />

Falstaffs rächen wollten. Als Mrs. Quickly präsentierte sich Dana<br />

Beth Miller mit tiefen Tönen und als Sexbombe, später als Hexe verkleidet.<br />

Thomas Blondelle (Doktor Cajus), Gideon Poppe (Bardolfo) und<br />

Marko Mimica (Pistoia) konnten da sehr gut mithalten. Herausragend<br />

aus diesem Ensemble waren mit ihren schönen Stimmen die beiden jungen<br />

Liebenden Nannetta (Elena Tsallagova) und Fenton (Joel Prieto).<br />

In den ersten beiden Akten war vieles überdreht, was sicher auch dazu<br />

führte, dass es musikalisch mitunter zu Ungenauigkeiten kam. Andererseits<br />

liegt diese Art der Komposition dem Dirigenten Donald Runnicles<br />

doch weniger als die Werke der großen Dramatik und der symphonischen<br />

Breite. Doch trotz vieler Unzulänglichkeiten kamen diese beiden<br />

Akte dem Werk wesentlich näher als der 3. Akt nach der Pause, denn da<br />

wurde aus den stimmungsvollen Szenen eine mondäne Großveranstaltung,<br />

bei der die musikalische Poesie Verdis weitgehend auf der Strecke<br />

blieb. Am Schluss, nachdem sie wieder in ihr Altersdasein zurückgekehrt<br />

waren, konnten alle Mitwirkenden den freundlichen Beifall des Publikums<br />

entgegennehmen.<br />

„Macbeth“ – 21.11.<br />

Auch dieser Abend zeigte eindrucksvoll die musikalische Vielfalt des großen<br />

Komponisten, den wir gerade wegen eines Jubiläums feiern, obwohl<br />

keine Jahreszahl nötig wäre, sein Genie dankbar zu genießen, was ja zum<br />

Glück auch seit langer Zeit weltweit geschieht.<br />

<strong>Der</strong> Dirigent Paolo Arrivabeni bemühte sich erfolgreich, die vielen Aspekte<br />

dieser Shakespeare-Nachdichtung mit Leben zu erfüllen, und das<br />

Orchester folgte ihm dabei großartig.<br />

Bei den Sängern gab es zwei interessante Neubesetzungen. Liudmyla Monastyrska,<br />

die in der Philharmonie beim konzertanten „Attila“ bereits<br />

stürmisch gefeiert wurde, konnte auch hier durch ihre überwältigende<br />

Dramatik und den Umfang ihrer Stimme das Publikum zur Begeisterung<br />

hinreißen. Besonders eindrucksvoll ist es, dass sie auch die leisen Töne<br />

makellos beherrscht, so dass vor allem die Wahnsinnsszene zu einem Höhepunkt<br />

der Aufführung wurde. Simon Keenlyside, hier bisher vor allem<br />

als Konzertsänger bekannt, erfüllte die Titelpartie mit Leben, obwohl<br />

das in der hiesigen Inszenierung mit den Machtspielen eines autoritären<br />

Staates nicht ganz einfach ist. Bei Keenlyside war der Zwiespalt zwischen<br />

Amtsmissbrauch und Machtanspruch stets sichtbar, auch die Abhängigkeit<br />

von seiner Frau machte er gut verständlich. Hinzu kam seine großartige<br />

stimmliche Leistung, so dass kein Wunsch offen blieb. Die Besetzung<br />

des Banquo machte an diesem Abend Schwierigkeiten, da Ante Jerkunica<br />

ganz kurzfristig erkrankte, aber in der Lage war, die Partie auf der<br />

Bühne zu spielen. Daher gab es wieder einmal die Notlösung, dass auf<br />

der Bühne stumm agiert wurde, während am Bühnenrand Marco Mi-<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 41


Deutschland<br />

mica im Frack am Notenpult sang. Großen Beifall erhielt Yosep Kang<br />

als Macduff mit seiner wunderschönen Arie, auch zusammen mit Clemens<br />

Bieber in dem kurzen Duett der beiden Tenöre. Bei den kleinen<br />

Partien war besonders Fionnuala McCarthy als Kammerfrau und Erscheinung<br />

herausragend, obwohl sie in den Ensembles neben Liudmyla<br />

Monastyrska kaum eine Chance hatte, zur Geltung zu kommen. Dieses<br />

Problem hatten die eindrucksvollen Chöre unter William Spaulding<br />

überhaupt nicht, waren sie doch auch bei dieser Verdi-Oper die Garanten<br />

für die Kraft und Wirkung der Musik, sowohl in allen großen Ensembles<br />

als auch bei dem wunderbaren Chor der Flüchtlinge und nicht<br />

zuletzt als lebhafte Hexen der tollen Putzkolonne. Dafür wurden sie<br />

am Schluss ebenso begeistert gefeiert wie die Solisten dieses großartigen<br />

Abends. <br />

Käthe Wegler-Heinze<br />

Klar, dass sie auch klangschön sterben kann, so schön, dass das Publikum<br />

fast das Husten vergisst.<br />

Ein Einspringer – Gaston Rivero – gibt den Troubadour Manrico. In den<br />

leisen, lyrischen Passagen klingt sein Tenor ansprechend, verliert aber im<br />

Forte an Farbe. Gut gelingen ihm stimmlich die Szenen mit seiner Zigeunermutter<br />

Azucena. Die – Marina Prudenskaya – war mit ihrem satten<br />

Mezzo in Wien ebenso hoffentlich genau so großartig wie jetzt in Berlin.<br />

Zum Schluss erhält sie fast ebenso viel Applaus wie Anna!<br />

Und nun zu Plácido Domingo, dem ergreifenden Simone Boccanegra<br />

in 2009 und 2012 am gleichen Haus. Noch immer ist er voller Bühnenpräsenz<br />

und Spieleifer, doch ganz so überzeugend gelingt ihm diese <strong>neue</strong><br />

Baritonrolle nicht. Bei der Schilderung seiner Besessenheit für die (nicht<br />

Staatsoper: „IL TROVATORE“ – Premiere in Starbesetzung<br />

– 29.11.<br />

„‚Il Trovatore‘ ist ein Emotionsgewitter“, hat Regisseur Philipp Stölzl gesagt,<br />

aber auch eingeräumt, dass er den Inhalt erst nach mehrfachem Lesen<br />

verstanden hätte. Tatsächlich ist der sonderbar sprunghaft und nicht<br />

immer logisch.<br />

Die Story bloß nicht zu ernst nehmen – ist daher erkennbar Stölzls Devise.<br />

Also inszeniert er dieses durchaus so von Verdi gewünschte Schauermärchen<br />

– angesiedelt im mittelalterlichen Spanien – als einen frühen<br />

Comic, stellt aber das Geschehen auf eine zunächst völlig karge Schräg-<br />

Würfel-Bühne (erdacht von Conrad Moritz Reinhardt und ihm selbst).<br />

Musikliebhaber, die diese Inszenierung bereits in Wien gesehen haben, werden<br />

sich sicherlich an manche Details erinnern. So an Hauptmann Fernando,<br />

der – auf den Zehenspitzen tänzelnd – seiner rhythmisch swingenden<br />

Zylindersoldatentruppe die haarsträubende Geschichte von Prinzenraub, Zigeunerin-<br />

und Baby-Verbrennung zu Gehör bringt (Adrian Sâmpetrean).<br />

Sie werden sich auch an die Reifröcke erinnern, in denen die Damen<br />

durchs Geschehen kreisen wie Püppchen auf einem Spieluhrset (Kostüme<br />

Ursula Kudrna). Sicherlich haben auch viele über die altertümliche<br />

Kanone geschmunzelt, die mit einem gewaltigen Krachbumm ein<br />

Kampfgetümmel karikiert.<br />

Andere sehen vielleicht noch den Grafen Luna vor sich, der in dunkler<br />

Nacht seinen Rivalen Manrico mordlüstern umschleicht. Angetan mit<br />

Kapuze und Henkersbeil, das Leonora ihm zu entwinden versucht. Dem<br />

Filmemacher Stölzl ist vieles eingefallen, Lustiges, Sarkastisches und Makaberes,<br />

letzteres speziell bei den Massenszenen. Mit solchen Bildern belebt<br />

er das recht störrische Stück.<br />

Verdi, der Stimm-Fetischist, hat die in seiner mittleren Schaffensphase<br />

komponierte Oper auf die Sänger zugeschnitten, und die sind in der<br />

Staatsoper im Schillertheater andere als kürzlich in Wien.<br />

Wir erleben (und gar zu selten) Anna Netrebko, in diesem Fall als die von<br />

den beiden bereits genannten Männern begehrte Leonora. Einer von ihnen<br />

ist Plácido Domingo als Graf Luna. Diese Weltstars verleihen der<br />

Berliner Premiere und den folgenden Aufführungen gehörigen Glanz, so<br />

dass auch diese schon seit Monaten ausverkauft sind.<br />

Anna sieht trotz Blondperücke und Reifrock verführerisch aus. Bewegungsfreundlich<br />

ist solch ein Outfit allerdings nicht. Versiert, wie sie ist,<br />

macht sie das Beste daraus. Bei Verdi und auch hier zählt die Stimme und<br />

nicht das Kleid. Ihre ersten Töne kommen, vermutlich schmuddelwetterbedingt,<br />

noch etwas rau, doch schnell wird ihr weit reichender Sopran<br />

immer runder und glutvoller. Schon eingekleidet als Nonne, kommt ihr<br />

Beten wunderbar zart und innig herüber, schwingt sich aber – beim unerwarteten<br />

Erscheinen des totgeglaubten Geliebten – in kraftvoll strahlendem<br />

Jubel ohne jede Schärfe empor. (Vulgo: lieber Kerl als Kloster).<br />

Absoluter Höhepunkt wird durch sie der 4. Akt, in dem sie all ihr Können<br />

abruft. Fabelhaft, wie sie auf der Tonleiter balanciert. Auch bei den<br />

Koloraturen ist sie auf gutem Weg. Ungemein farbenreich gestaltet sie<br />

einzelne Sätze, auch manches Wort. Mal glutvoll, mal scheinbar nachgebend,<br />

kämpft sie vokal mit allen Finessen um das Leben des Geliebten.<br />

Netrebko und Domingo in <strong>neue</strong>n Verdi-Rollen in einer comic-strip-Inszenierung<br />

(© Website Deutsche Staatsoper)<br />

anwesende) Leonora bricht ihm im hohen Bereich mal die Stimme weg,<br />

klingt aber, wenn es um Kampf und Rache geht, wieder markig. Als „Domingo,<br />

the one and only,“ wird er bei der anschließenden Premierenfeier<br />

aufs Podium gebeten. <strong>Der</strong> bleibt ein Phänomen und ein Publikumsliebling.<br />

Außerdem bewähren sich Anna Lapkovskaja als Ines, Florian Hoffmann<br />

als Ruiz und „natürlich“ der Staatsopernchor, einstudiert von<br />

Martin Wright. Großes Lob verdient und erhält die Staatskapelle Berlin<br />

unter Daniel Barenboim. <strong>Der</strong> lässt nichts anbrennen und die Musik<br />

Verdi gemäß oft dramatisch aufrauschen. Doch auch in den lyrischen<br />

Passagen ist ihm sehr angenehm auf der Spur.<br />

Nach viel Zwischenapplaus dröhnt zuletzt kräftiger Beifall durchs Haus,<br />

vermischt mit einigen Buhs fürs Regieteam, aber mit vielen Bravos für die<br />

Sänger. Anna Netrebko und Marina Prudenskaya sind an diesem Ausnahmeabend<br />

die „Königinnen der Nacht“. Ursula Wiegand<br />

Komische Oper: „COSÌ FAN TUTTE“ – Pr. 3.11.<br />

Den Subtitel „Dramma giocoso“ sollten Liebhaber dieser Mozart-Oper<br />

nicht wortwörtlich nehmen, jedenfalls nicht das „giocoso“. Denn was so<br />

fröhlich beginnt, nimmt bekanntlich ein recht tragisches Ende. Aus der<br />

angeblichen „Schule der Liebenden“ gehen alle als Verlierer oder zumindest<br />

als Geschädigte hervor.<br />

42 | DER NEUE MERKER 12/2013


Deutschland<br />

Einfach „Schwamm drüber“ und, lebensklug geworden weitermachen wie<br />

vorher – diese Aufforderung von Don Alfonso stieße heutzutage eher auf<br />

taube Ohren. In der <strong>neue</strong>n Inszenierung des bekannten lettischen Schauspielers<br />

und Theaterregisseurs Alvis Hermanis an der Komischen Oper<br />

wird das deutlich. Bei ihm steht der zynische Ideengeber dieser Treue-<br />

Wette zuletzt recht zerknirscht da, als er merkt, was er angerichtet hat.<br />

Und müsste diese Oper nicht eher „Così fan tutti“ heißen? Schließlich<br />

sind es die Männer, die ihre Verlobten zu Testpersonen degradieren und<br />

deren Bedürfnis nach Liebe – übrigens ohne Rücksicht auf den Kompagnon<br />

als nur „ziemlich beste Freunde“ – voll auskosten? Verstört schaut der<br />

eine dem anderen bei der Verführung der eigenen Geliebten zu.<br />

Dass sich die beiden Frauen, angefeuert durch die mit allen Liebeswassern<br />

gewaschene Despina, „rumkriegen“ lassen, macht Hermanis verständlich.<br />

Er versetzt das Geschehen zunächst in eine sterile Restaurationswerkstatt<br />

(Bühnenbild: Uta Gruber-Ballehr). Alle arbeiten in weißen Kitteln und<br />

sind offenbar gefühlsmäßig unterkühlt. Die anfangs ungeschickten Annäherungsversuche<br />

der Männer finden bei den beiden ernsten, bebrillten<br />

Frauen eher Erstaunen, wecken aber Neugier und Sehnsüchte.<br />

Alvis Hermanis, nach eigener Aussage geschichtsbewusst, führt uns den durch<br />

die Verkleidung der Herren verursachten Stimmungswechsel alsbald tatsächlich<br />

und nicht ohne Ironie vor Augen. Bis auf Despina, hier als schwangere<br />

Putzfrau agierend (Mirka Wagner mit koloratursicherem Mezzo), werden die<br />

Paare wie zu Mozarts Zeiten ausstaffiert (Kostüme: Eva Dessecker).<br />

Schon die Rokoko-Gemälde, die von Anfang an die Bühne bevölkern<br />

und per Video (Ineta Sipunova) die Erotik jener Epoche detailreich vor<br />

Augen führen, haben die Richtung vorgegeben. Und bevor die Verkleidungsszene<br />

mit dem Partner-Wechsel beginnt, wurden bereits die Männerbildnisse<br />

auf den Staffeleien ausgetauscht, an denen die beiden Restauratorinnen<br />

zuvor gearbeitet haben.<br />

Nun beginnt ein turbulentes Drunter und Drüber auf dem Sofa. Die Männer<br />

grabschen nach den Frauen, doch die flüchten. Im 2. Akt, der insgesamt<br />

mehr hergibt, hantieren die Schwestern, teils unbeholfen, teils lüstern,<br />

mit einem dicken Entlüftungsschlauch, der womöglich die Schlange<br />

aus dem Paradies darstellen soll.<br />

Dorabella will sich als erste was gönnen und verschwindet mit ihrem Galan<br />

in einem Zimmer. Durch dessen Scheiben können wir das Geschehen<br />

beobachten. Selbst Fiordiligi, die Konservativere, lässt – wie auf einem Fragonard-Gemälde<br />

auf der Schaukel schwingend – Ferrando gerne unter ihre<br />

fliegenden Röcke gucken, bereut aber bald ihren (nicht gezeigten) Fehltritt.<br />

Wie sich das entwickelt und von einem Extrem ins andere kippt, wird<br />

überzeugend gespielt und zumeist auch gut gesungen. Den Don Alfonso,<br />

Cosi fan tutte - so machen es alle? (© Rittershaus)<br />

Initiator der üblen Wette, gibt Tom Erik Lie mit gebotenem Besserwisser-Zynismus<br />

und klangreichem Bariton. Dem Guglielmo verleiht Dominik<br />

Köninger, ebenfalls Bariton, stimmlich und darstellerisch gute Figur.<br />

Beim Gast Aleš Briscein (Ferrando) wird jedoch der Tenor im Forte<br />

einige Male platt und lässt mitunter Intonationstrübungen hören. Wenn<br />

er italienisch singt, tritt das weniger zu Tage. (In dieser Aufführung wird<br />

mal Deutsch, mal Italienisch gesungen).<br />

Am besten gefallen mir die beiden Damen. Die müssen sich jedoch (ebenso<br />

wie die Herren) öfter gegen Henrik Nánási durchsetzen, der das Orchester<br />

der Komischen Oper eher straff und lebhaft als lyrisch-schmeichlerisch dirigiert.<br />

Die US-Amerikanerin Nicole Chevalier, als Fiordiligi Guglielmos<br />

Partnerin, kann sich mit ihrem kräftigen Sopran dennoch überzeugend Gehör<br />

verschaffen. Theresa Kronthaler, jung und hübsch, wird mit schlankem<br />

Mezzo und mancher Munterkeit dem Namen Dorabella durchaus gerecht.<br />

Dem Beinahe-Heiratsfest folgt der Kater. Die ertappten Frauen wünschen<br />

sich (zumindest verbal) inbrünstig singend den Tod (Zwischenbeifall, insbesondere<br />

für Nicole Chevalier). Die gewonnene Erkenntnis ist für alle<br />

eine bittere Medizin, selbst wenn der gemeinsame Schlussgesang, angeführt<br />

von Don Alfonso, zu Klugheit und Versöhnung aufruft. Die zuvor<br />

heile Welt, an der wohl auch Mozart gezweifelt hat, ist kaputt. Ein Paar<br />

stiebt auseinander, das andere arrangiert sich vielleicht.<br />

Zuletzt kräftiger und anhaltender Applaus für alle Sänger, mit einigen<br />

Phon mehr für die Damen. Viel Zustimmung auch für Henrik Nánási<br />

und das Orchester, einige wenige Buhs fürs Regieteam, die vom Beifall<br />

schnell übertönt werden. Insgesamt keine außerordentliche „Così“, aber<br />

eine passable, die vermutlich dank Mozart ihren Weg machen wird.<br />

<br />

Ursula Wiegand<br />

Weitere Termine: 9. und 15. November, sowie 1., 10., 15. und 19. Dezember,<br />

wieder ab Mai 2014 (www.komische-oper-berlin.de)<br />

Komische Oper: Jubel umtoste Premiere von<br />

„WEST SIDE STORY“ – 24.11.<br />

Jubel ist gar kein Ausdruck für all die Begeisterung, die schon im Verlauf<br />

der „West Side Story“-Premiere immer wieder durch die Komische Oper<br />

Berlin brandet. Intendant Barrie Kosky hat einen <strong>neue</strong>n Knaller und sicherlich<br />

einen Dauerbrenner gezündet und dabei die hochgeschraubten<br />

Erwartungen noch übertroffen.<br />

Gemeinsam mit Otto Pichler hat er dieses krasse Kunstwerk von Leonard<br />

Bernstein aus dem New York der 1950er Jahre gekonnt ins Heute überführt,<br />

aus dem damaligen Amerika in die globalen Großstadt-Slums, wo<br />

mehr denn je die Gewalt grassiert. Vor allem bei den Tanzszenen (Choreographie<br />

Otto Pichler) wird das überaus deutlich.<br />

Zunächst sehen wir nur einen einzigen Ballkünstler auf einem markierten<br />

Basketball-Feld, doch dann stürmen die alteingesessenen Jets unter Führung<br />

von Riff auf die weitgehend kahle Bühne, die ihnen viel Platz zum<br />

Austoben lässt. Und den nutzen diese durchtrainierten Breakdance-Akrobaten<br />

aufs Allerbeste. Sie rasen, rollen über den Boden, schlagen Salti,<br />

klettern geschwind die Leitern an beiden Seiten empor. Einige, insbesondere<br />

Daniel Therrien, Chef der Riffs, kann dazu noch gut singen. Wo<br />

haben Kosky und Pichler diese Allround-Talente aufgegabelt?<br />

Ihre Konkurrenten, die aus Puerto Rico zugewanderten Sharks unter Führung<br />

von Bernardo (Gianni Meurer), eher tätowiert als gekleidet (Bühne<br />

und Kostüme Esther Bialas), stehen ihnen an Körperkönnen und Aggressivität<br />

keineswegs nach. Sie alle räumen sogleich beim Beifall ab, ebenso<br />

die rasant-charmante Girl-Truppe mit dem Temperamentsbündel Sigalit<br />

Feig (die spätere Anita) und dem Song „I like to be in America“. Für den<br />

vollen Sound sorgen zusätzlich einige Chorsolisten des Hauses.<br />

Die treibende Kraft bei diesen Ausbrüchen ist jedoch das Orchester der<br />

Komischen Oper Berlin unter Koen Schoots. <strong>Der</strong> setzt auf straffe Tempi,<br />

der spitzt die Synkopen zu, lässt aber auch die lyrischen Partien warm aufleuchten.<br />

Die Instrumentalisten musizieren diese knifflige Partitur, die<br />

europäische Operettentradition mit altjüdischen Klängen und US-Jazz<br />

genial kombiniert, mit solcher Verve, als täten sie das jeden Tag. So gut<br />

und so plausibel habe ich das weltbekannte Stück noch nie gehört und<br />

erlebt. Diese <strong>neue</strong> Berliner Variante stellt sogar das New Yorker Original<br />

und den berühmten Film in den Schatten.<br />

Doch was wäre das Stück ohne das passende Liebespaar? Das besitzt die<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 43


Deutschland<br />

Dann aber lang anhaltender Jubel, Gejohle und Standing Ovations für<br />

diese glühende Darbietung, die die Mehrheit der Musicals zu lauwarmen<br />

Übungen degradiert. Hinrennen, anrufen, eine Mail schreiben –<br />

das wäre jetzt ein Muss. Doch schon vor der Premiere waren die Folgenvorstellungen<br />

ausverkauft. Wer Glück hat, bekommt noch eine Restkarte<br />

an der Abendkasse oder muss auf den Frühsommer 2014 hoffen. <br />

<br />

Ursula Wiegand<br />

Konzerthaus Berlin: Leonard Bernsteins: „A QUIET PLACE”,<br />

konzertante Kammerfassung, 27.11.<br />

Maria and Toni - Julia Giebel und Tansel Akzeybek (© Iko Freese)<br />

Komische Oper mit Julia Giebel als Maria und Tansel Akzeybek als<br />

Tony in den eigenen Reihen. Die beiden trifft, das wird spürbar, die Liebe<br />

wie ein heller Blitz aus dem hier düsteren Himmel.<br />

Bei Tonys „Maria, Maria, Maria“ muss jedes Frauenherz schmelzen, und<br />

beim gemeinsamen „Tonight, tonight“ haben die Zwei nicht nur den (vorläufigen)<br />

Sieg über die Grenzlinien ihrer verfeindeten Gangs gewonnen,<br />

sondern auch die Herzen des Publikums. Diese Anteilnahme wächst noch<br />

im Verlauf, zumal Tansel Akzeybeks Tenor immer mehr an Wärme, Volumen<br />

und schließlicher Tragik gewinnt. Super!<br />

Denn auch Bernsteins Version von Shakespeares „Romeo und Julia“ endet<br />

bekanntlich in der Katastrophe, scheitert an der Gewaltgier, die den Vermittler<br />

(Tony) im Affekt selbst zum Mörder werden lässt. Nach dem Tod<br />

seines Freundes Riff stößt er Bernardo, Marias Bruder, das Messer ins Herz.<br />

Noch ahnt Maria nichts von dieser Eskalation und trällert spritzig „I feel<br />

pretty“. Danach bleibt nur fassungsloses Erschrecken, das jedoch in die Dennoch-Hoffnung<br />

auf ein friedliches Leben weit weg von der Großstadt mündet.<br />

Dieser 2. Akt, in dem ungezügelte Gewalt auch zwei Liebende zerstört,<br />

kann leicht in den Kitsch abgleiten, tut es hier aber nicht.<br />

Die Spannung bleibt erhalten, mucksmäuschenstill verfolgt das Publikum<br />

das schlimm-traurige Geschehen, auch die Vergewaltigung der Anita (Marias<br />

Freundin) von der anderen Gang.<br />

Das Gegengewicht bilden die anhaltend innigen Liebesbekundungen von<br />

Maria und Tony. Beide wollen beim Tod von Bernardo nicht stehen bleiben.<br />

Doch das Idyll endet abrupt. Tony, von einer Fehlmeldung Anitas sichtlich<br />

erschüttert, lässt sich widerstandslos vom herbei gerufenen Konkurrenten<br />

Chico (Kevin Foster) abknallen. Maria hält den Sterbenden in den Armen.<br />

Nun wird hier nicht mehr opernmäßig gesungen, Tony röchelt sein Leben<br />

aus, Maria setzt nur einige leise hohe Töne. Wunderbar und lebensecht.<br />

Und es hat gar nichts genützt, dass der mutige Obsthändler Doc (Peter<br />

Renz in einer Sprechrolle) die Gewalttätigen zuvor auseinander gejagt<br />

hatte. Die beiden Polizisten (Christoph Späth und Philipp Meierhöfer)<br />

hatten ein Eingreifen eh nur vorgetäuscht, während sich die jugendlichen<br />

Intensivtäter über den Sozial-Ansatz heutiger Tage lustig machten.<br />

(Deutsche Fassung von Frank Thannhäuser und Nico Rabenald).<br />

Wer nur Leonard Bernsteins schmissige „West Side Story“ mit ihren<br />

Ohrwürmern kennt, wird beim kurzen Hineinhören in „A Quiet Place“<br />

kaum vermuten, dass der auch diese Musik geschaffen hat, solch einen<br />

weitgehend dissonanten Parcours durch Dodekaphonie über streng Serielles<br />

bis zu diatonischen Choralklängen. „Trouble in Tahiti“ hieß die zunächst<br />

einaktige, 110 Minuten dauernde Oper von Bernstein und dem<br />

Theaterregisseur Stephen Wadsworth. Die aber stieß bei der Uraufführung<br />

am 17. Juni 1983 in Houston/Texas weitgehend auf Ablehnung. Nicht<br />

nur die ungewohnt extreme Komposition verstörte das Publikum, sondern<br />

auch das Thema: eine zerrüttete Familie mit all ihren, auch sexuellen<br />

Besonderheiten. Ein Tabubruch sondergleichen zur damaligen Zeit. Da<br />

Bernstein selbst mit dieser ersten Fassung unzufrieden war, wurde sie revidiert<br />

und in eine dreiaktige<br />

Oper verwandelt, die 1984<br />

in Mailand und dann –<br />

mit weiteren Korrekturen –<br />

1986 unter Bernsteins Leitung<br />

in Wien aufgeführt und<br />

auf CD eingespielt wurde.<br />

<strong>Der</strong> Maestro sah in diesem<br />

Werk einige seiner kreativsten<br />

Ideen verwirklicht, doch<br />

ein dauerhafter Erfolg stellte<br />

sich auch nach diesen Änderungen<br />

nicht ein, zumal die<br />

Darbietung wegen der erforderlichen<br />

72 Instrumentalisten<br />

äußerst aufwändig war.<br />

Die New Yorker Neuproduktion<br />

in 2008 verpuffte ebenfalls.<br />

Aus diesem Dilemma zog<br />

Garth Edwin Sunderland<br />

vom Leonard Bernstein Office,<br />

unterstützt vom Dirigenten<br />

Kent Nagano, die<br />

Konsequenzen. Er hat eine<br />

Kammerfassung für nur 18<br />

Kent Nagano dirigiert Bernstein-Rarität<br />

(© Felix Broede)<br />

Instrumentalisten geschaffen, die nach seiner Meinung das Beste aus der<br />

ersten und der revidierten Fassung kombiniert. Außerdem sind die einzelnen<br />

Teile neu geordnet.<br />

Im Konzerthaus Berlin war die 105-minütige konzertante Uraufführung<br />

dieser Zusammenfügung zu erleben. Unter der Stabführung von<br />

Kent Nagano gestalten das Ensemble Modern und Vocalconsort Berlin<br />

sowie zahlreiche britische Sänger diese Bernstein-Hommage. „Bestattungsinstitut“,<br />

„Das Haus der Familie“ und „<strong>Der</strong> Garten“ heißen die drei<br />

Akte. Doch hinter den harmlosen Bezeichnungen verbergen sich ungeahnte<br />

Abgründe.<br />

Anlass des Familientreffens ist der tödliche Autounfall von Dinah, Sams<br />

Frau. Wie es ein späterer, mit Keksen garnierter Abschiedsbrief nahe legt,<br />

war es ein Selbstmord. Das Ehepaar lebte getrennt. Auch die Kinder – die<br />

schöne Dede (Didi gesprochen) und der schwule Sohn, nur Junior genannt<br />

– waren weggezogen.<br />

44 | DER NEUE MERKER 12/2013


Deutschland<br />

Doch „A quiet place“ ist diese Leichenhalle mitnichten. Statt Totenruhe und<br />

gesitteter Trauer beherrscht zunächst nur unverbindlicher Small Talk das Geschehen,<br />

das alsbald in einen familiären Showdown mündet. Denn es sind<br />

viele persönliche Rechnungen offen, und alle lassen dem über die Jahre angestauten<br />

Frust vollen Lauf. Junior, auch psychisch gestört, legt am Sarg sogar<br />

einen (hier nicht gezeigten) Striptease hin. Schon als Junge hatte er ein<br />

sexuelles Verhältnis mit seiner kleinen Schwester Dede, zuletzt eines mit Francois,<br />

ihrem jetzigen Mann, der schließlich dieser total kaputten Inzest-Familie<br />

die Leviten liest. Francois und der Junior sind also „bi“ und deuten damit<br />

laut Programmheft auch Bernsteins Veranlagungen an. Sam, der Vater, zuvor<br />

immer ein Gewinnertyp, sieht sich durch den Selbstmord Dinahs plötzlich<br />

als Verlierer, regt sich darüber auf und entwickelt auch Schuldgefühle. Die<br />

heimgekehrte schöne Dede im leuchtend roten Kleid himmelt ihn jedoch an,<br />

wohl nicht nur in rein töchterlicher Zuneigung. Liebevolle Gefühle hegt sie<br />

nach wie vor auch gegenüber dem Bruder. Beide schwärmen von ihrer Kinderzeit<br />

in dem von der Mutter gepflegten Garten und schlafen im Doppelbett.<br />

„I want you“, sagt Junior unvermittelt. Die deutsche Übersetzung „Ich<br />

liebe dich“ auf den Übertiteln trifft das Gemeinte nicht so ganz.<br />

Aber noch mehr verlangt Junior nach der Liebe seines Vaters Sam, die der<br />

ihm stets verweigert hat. Erst ganz zum Schluss des Stückes schließt er seinen<br />

Sohn in die Arme. „Wir sind, wer wir sind“, lautet das Fazit.<br />

Engagiert musizieren die 18 Instrumentalisten Bernsteins wagemutiges, oft<br />

faszinierendes Werk. Auch die Interpreten der vier Hauptpersonen werfen<br />

sich voll und überzeugend in ihre Rollen. Mit klarem Sopran singt die<br />

aparte Claudia Boyle (Dede) ihre Partie. Mit Verve ruft Benjamin Hulett<br />

(Tenor) als Francois seine <strong>neue</strong> Familie zur Raison, schwärmt aber zärtlich<br />

für seine Frau Dede. Gekonnt in Stimme und Mimik gestaltet Jonathan<br />

McGovern die krankhaften Ausbrüche von Junior. Pointiert singt<br />

sich Christopher Purves (Sam) mit kräftigem Bariton in Rage.<br />

Mit starkem Beifall quittiert das Publikum im fast voll besetzten Großen<br />

Saal die erbrachten Leistungen. Ob mit dieser Kammerfassung ein Durchbruch<br />

für Bernsteins letzte Oper gelungen ist, wird die Zukunft zeigen.<br />

<br />

Ursula Wiegand<br />

Die Berliner Philharmoniker und Ian Bostridge<br />

huldigen Benjamin Britten zum<br />

100. Geburtstag – 22.11.<br />

22. November 1913 – ein für die britische Musikgeschichte signifikantes<br />

Datum, erblickte doch an diesem Tag Benjamin Britten das Licht der<br />

Welt. Jener Meister, der als bedeutendster englischer Komponist seit Henry<br />

Purcell der britischen Musik nach etlichen Jahrzehnten des Dornröschenschlafs<br />

mit seinem „Peter Grimes“ und all den anderen großartigen Opern<br />

dereinst eine gewichtige Stimme im Konzert der Völker verschaffen sollte.<br />

22. November 2013 – für die Berliner Philharmoniker und ihren renommierten<br />

Gast Ian Bostridge Ehrensache, dem Orpheus Britannicus zum 100.<br />

Geburtstag eine exquisite Soirée auszurichten. Und dabei den Blick betont<br />

auf seine Vokal- und Instrumentalmusik der intimeren Form zu richten.<br />

Eine Entdeckung war da schon seine Sinfonietta op. 1 für die solistische<br />

Besetzung von 10 Instrumenten – das frühreife Werk eines kaum 19-Jährigen,<br />

in dem sich bereits die für sein späteres Schaffen so markante kammermusikalische<br />

Gestaltung seiner Werke sowie die Abneigung gegen ausufernde<br />

Klanggemälde andeutet. Wie da die philharmonischen Solisten,<br />

ein Bläser- und ein Streichquintett, die klangfarbliche Ausdrucksindividualität<br />

jeder einzelnen Stimme wie auch die Transparenz des Klangbildes<br />

zelebrierten, dürfte wahrlich im Sinne des Tondichters gewesen sein.<br />

Dass auch Brittens instrumentale Musik stark vom Vokalen geprägt ist,<br />

zeigte seine Komposition „Lachrymae“, Reflections on a Song of John<br />

Dowland für Viola und Klavier op. 48 (1950) – zugleich ein Beleg für<br />

seine Verwurzelung in der altenglischen Tradition. Die Bratschistin Julia<br />

Gartemann und Julius Drake am Klavier ließen da aus einem dem<br />

Werk zugrundeliegenden Lied jenes Renaissancekomponisten einen Zyklus<br />

subtil geformter Variationen erstehen. Plastische Bildhaftigkeit der<br />

Tonsprache, in Brittens Opern immer wieder zu bewundern, findet sich<br />

auch in der musikalischen Gestaltung seiner „Sechs Metamorphosen nach<br />

Ovid“ für Solo-Oboe op. 49 (1951). Ein großer Tag für Jonathan Kelly,<br />

der mit faszinierender klanglicher Flexibilität den Charakterstudien antiker<br />

Götter und Figuren geradezu bildhafte Gestalt verlieh.<br />

Wie vielschichtig ist doch des Komponisten Vokalmusik! Liederzyklen mit<br />

Klavier und Gesangsstücke mit orchestraler Begleitung gehören zu seinen<br />

persönlichsten Schöpfungen. Wobei die vielfältigen Textvorlagen aus der<br />

Feder von rund 60 Autoren, zumeist englischen, aber auch ausländischen,<br />

sein weitreichendes literarisches Interesse bekunden. Dabei berührt immer<br />

wieder sein ursprüngliches Verhältnis zur menschlichen Stimme und damit<br />

zum kantablen Melos. Ein Glücksfall, dass der herausragende britische<br />

Tenor Ian Bostridge – nach dem Tod von Brittens Lebenspartner und Uraufführungsinterpreten<br />

Peter Pears der derzeit bedeutendste Protagonist der<br />

Vokalmusik des Jubilars – im Geburtstagskonzert mit von der Partie war.<br />

Fünf seiner Vokalwerke hat der Autor mit dem Begriff Canticle übertitelt,<br />

mit dem die anglikanische Kirche Hymnen, Psalmen und andere Lobgesänge<br />

bezeichnet. Bewegend wirkte da in Bostridges ergreifender Lesart Canticle<br />

III – basierend auf Edith Sitwells (1887-1964) Gedicht „Still Falls the<br />

Rain“ op. 55, das die deutschen Luftangriffe auf britische Städte 1940 thematisiert<br />

und dabei das historische Geschehen mit der christlichen Passionserzählung<br />

konfrontiert. <strong>Der</strong> Tenor wurde von Stefan Dohr (Horn) und<br />

Julius Drake (Klavier) feinfühlig unterstützt.<br />

Bestechend auch, wie Bostridge in den „Sechs Hölderlin-Fragmenten“<br />

op. 61 (1958) mit seinem Klavierpartner Drake dem zwischen Sehnsucht<br />

und Hoffnungslosigkeit changierenden Affektgehalt der Dichtung sensibel<br />

nachspürte. Als Krönung des Abends die Serenade für Tenor, Horn und<br />

Streicher op.31 (1943), in der der Tondichter 6 Gedichte verschiedener Autoren,<br />

die die „Nacht und ihre Erscheinungen“ besingen, in so wunderbare<br />

musikalische Stimmungsbilder gekleidet hat, dass man sich in diese abendlich-nächtliche<br />

Naturreflexionen direkt einbezogen fühlte. Zumal, wenn so<br />

exzellente Protagonisten wie Bostridge und Dohr sowie etliche philharmonische<br />

Mitstreiter unter Duncan Wards Leitung von der einleitenden Pastorale<br />

bis zum abschließenden Sonett einen ausdrucksmäßig höchst differenzierten<br />

Bogen spannten. <br />

Dietrich Bretz<br />

München:<br />

Bayerische Staatsoper: „IL TROVATORE“ – 12.11. – Alternativbesetzungen<br />

Es hat sich in mehrfacher Hinsicht gelohnt, zur 2. Serie von Olivier Pys<br />

„Trovatore“-Version zu gehen. Manches, worüber man sich vielleicht beim<br />

ersten Besehen geärgert haben mag, nahm man nun mit einem Schmunzeln<br />

oder gar Lachen hin. Die Nackedeis (Azucenas Mutter, in etwas entgruselter<br />

Personifizierung, und eine Tänzerin) tragen der Ästhetik zuliebe<br />

hautfarbene Stringtangas; der Leonora im vorletzten Bild geleitende<br />

schwarze Geist hält sich dezenter zurück. Das nie klappen wollende Timing<br />

zu Manricos „Infida!“ nach dem Ständchen im 1. Akt singt selbiger<br />

nun aus einer Seitenluke der Aufbauten, um zum Terzett dann rechtzeitig<br />

auf der Bildfläche zu erscheinen.<br />

Leonora trägt die hässliche Brille, welche ihre Blindheit (?) verdeutlichen<br />

soll, nur einmal, beim ersten Auftritt, dann erleben wir eine wunderbare<br />

Nachtwandlerin von Krassimira Stoyanova. Wie sie diese blinde Leonora<br />

darstellt, ist in höchstem Maße überzeugend und ergreifend, was ebenso für<br />

ihren Gesang gilt. In Stoyanovas Sopran schwingt all das große Gefühl mit,<br />

das ich bei der kunstvoll singenden Harteros so vermisste. War eigentlich der<br />

<strong>neue</strong> Bariton Ursache meines Aufführungsbesuches gewesen, so war es nun<br />

die Stoyanova, die mit ihrem intensiv überzeugenden Rollenportrait und<br />

ihrem ausdrucksstarken Gesang zum Ereignis wurde. Offenbar empfanden<br />

das die Zuschauer ebenso, denn das Haus bebte bei ihrem Schlussapplaus. –<br />

<strong>Der</strong> für München <strong>neue</strong> Bariton/Graf Luna ist Vitaliy Bilyy aus der Ukraine.<br />

Die Hörtests auf Youtube versprachen sehr viel. Die Bemerkung<br />

eines Kritikers nach der ersten Aufführung, Bilyy habe „sehr verhalten“<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 45


Deutschland<br />

Wehe, wenn er los gelassen - Oliver Pys „Trovatore“ mit<br />

Jonas Kaufmann und Elena Manistina (© Hösl)<br />

begonnen, reizte den Sänger offenbar zu größerem Stimmeinsatz. Aber<br />

gleich so sehr, dass er eigentlich den ganzen Abend über mit chronischem<br />

Überdruck sang, anstatt seinen potenten Bariton einfach mal richtig schön<br />

„strömen“ zu lassen. Nichtsdestotrotz wurde auch er vom Publikum gefeiert.<br />

– Eine begrüßenswerte Änderung gegenüber der „wobbelnden“ Premierenbesetzung<br />

(K. Youn) gab es bei der Rolle des Ferrando: Goran Jurić<br />

überzeugte vollkommen, mit seinem kernigen Bass ebenso wie darstellerisch.<br />

– Azucena war, wie bei der Premiere, Elena Manistina mit ihrem<br />

aufregend gurrenden Mezzo und intensivem Spiel rund um ihren Manrico.<br />

Manrico, il Trovatore = Jonas Kaufmann. Deshalb waren sämtliche Aufführungen<br />

auch bei der 2. Serie in kürzester Zeit total ausverkauft. Wer<br />

an diesem Tenor als Verdi-Interpret herummäkelt, beweist damit eindeutig<br />

seine diesbezügliche Inkompetenz, ja, begeht vielleicht gar ein „Sakrileg“.<br />

Man muss wirklich froh und dankbar sein, dass die Opernwelt gegenwärtig<br />

in ihm ein derart tolles tenorales Gesamtkunstwerk hat. Und<br />

für Verdi zumal, da ist alles da: Kraft, Höhenstrahl, der berühmte Squillo,<br />

ein wunderbares Legato und die Fähigkeit zu Crescendo und Diminuendo<br />

nach Belieben. Dazu Kaufmanns Aufgehen in jeder seiner Rollen<br />

(von der Optik ganz zu schweigen); ganz egal, was ihm von der jeweiligen<br />

Regie auferlegt wird, er macht immer was draus. Hier war das Zusammenspiel<br />

mit der Stoyanova besonders einnehmend und berührend.<br />

Paolo Carignani untermauerte das Schauerdrama zusammen mit dem<br />

Bayerischen Staatsorchester mit der nötigen musikalischen Dramatik.<br />

Und schließlich die finalen Jubelorgien samt Begeisterungs-Getrampel für<br />

alle – sie hatten es sich verdient. <br />

Dorothea Zweipfennig<br />

Bayerische Staatsoper: „DIE ZAUBERFLÖTE“ – 23.11.<br />

Nachdem in der letzten Saison auch die traditionelle Inszenierung von<br />

„Hänsel und Gretel“ einer Neuproduktion weichen musste, wird die Liste<br />

der Stücke, die geeignet sind, Kinder an die Oper heranzuführen, in München<br />

immer kleiner. Die „Zauberflöte“ in der zeitlosen Inszenierung von<br />

August Everding (Bühne und Kostüme: Jürgen Rose; Neueinstudierung:<br />

Helmut Lehberger) ist noch so eines. Und so waren dann auch viele Kinder<br />

mit ihren Eltern oder Großeltern in dieser Familienvorstellung. Da<br />

herrscht vor Beginn im Zuschauerraum schon gespannte Erwartung und<br />

während der Aufführung sind die Reaktionen der (kleinen) Zuschauer<br />

immer besonders direkt und herzlich.<br />

Publikumsliebling ist natürlich der Papageno, der an diesem Abend von<br />

Daniel Schmutzhard gesungen und gespielt wurde. Er spielte die Rolle<br />

sehr sympathisch und witzig, ohne übertriebenen Klamauk. Sängerisch<br />

konnte er mit seinem eher dunkel timbrierten Bariton ebenfalls voll überzeugen.<br />

Ein Papageno, wie man ihn sich vorstellt. Kein Wunder, dass er<br />

am Ende mit dem meisten Beifall bedacht wurde. Aber auch die übrigen<br />

Protagonisten standen beim Publikum hoch im Kurs, insbesondere Albina<br />

Shagimuratova als fulminante Königin der Nacht. Besonders die<br />

2. Arie sang sie mit atemberaubender Souveränität. Ihr Gegenspieler als<br />

Sarastro war an diesem Abend Günther Groissböck, der wieder einmal<br />

zeigte, dass er nicht nur ein hervorragender Sänger, sondern auch ein<br />

wunderbarer Schauspieler ist. Sein Sarastro war zwar ein noch sehr junger,<br />

aber dennoch würdiger Herrscher mit großer Autorität. Toby Spence<br />

sang den Tamino mit ausdrucksstarker, strahlkräftiger Stimme. Beeindruckend<br />

war außerdem seine deutliche Diktion und sein (fast) akzentfreies<br />

Deutsch in den Dialogen. Genia Kühmeier als Pamina begeisterte vor<br />

allem durch ihre differenzierte musikalische Gestaltung und ihre weiche,<br />

fließende Stimme.<br />

Tareq Nazmi als Sprecher, Laura Tatulescu, Tara Erraught, Okka von der<br />

Damerau als die „Damen“ sowie Ulrich Reß als Monostatos und Mária<br />

Celeng als Papagena komplettierten das hervorragende Solistenensemble.<br />

Ivor Bolton dirigierte das Bayerische Staatorchester sehr zupackend,<br />

so dass manche Nuance der Partitur verloren ging. Einige Male gab es<br />

auch Abstimmungsprobleme mit den Sängern. Insgesamt jedoch eine<br />

sehr schöne Aufführung, besonders für die vielen Kinder. Gisela Schmöger<br />

Im Gespräch: Josef E. Köpplinger<br />

<strong>Der</strong> Niederösterreicher Josef E. Köpplinger war am 14. November<br />

2013 zu Gast bei den Künstlergesprächen des „IBS-Münchner Opernfreunde“.<br />

Seit der Spielzeit 2012/13 ist Köpplinger Intendant des<br />

Staatstheaters am Gärtnerplatz in München. Dies ist seine vierte Intendanz,<br />

nach dem Musicalfestival Schloss Prugg/NÖ, der Position<br />

des Schauspieldirektors am Theater St. Gallen und der Leitung des<br />

Stadttheaters Klagenfurt.<br />

Das Gärtnerplatztheater wird seit Beginn Ihrer Intendanz generalsaniert,<br />

zum Spielzeitbeginn 2015/16 soll die Wiedereröffnung stattfinden.<br />

Wie kommen Sie mit den wechselnden Spielstätten zurecht?<br />

Wunderbar! Es ist eine große Herausforderung. Aber unser „Wanderzirkus“<br />

bringt schon auch logistische Probleme: Wann muss ich wo sein, wie<br />

viel Zeit brauche ich von einer Spielstätte zur anderen, vom Büro zum<br />

Probengebäude. Die Räumlichkeiten bekommen wir nicht, wie und wann<br />

wir sie wollen, sondern wie sie frei sind. Im Normalfall, an einem festen<br />

Haus, hat man 8-9 Produktionen zum Repertoire dazu, was auch schon<br />

sehr viel ist. Jetzt muss ich mich den zur Verfügung stehenden Räumen<br />

anpassen. Wenn ich nur zweimal für wenige Wochen ein Haus habe, in<br />

dem große Oper oder Operette möglich ist, kann ich dort nicht vier Stücke<br />

machen. Bei der Spielplangestaltung braucht man gute Nerven, bis<br />

sich das Puzzle mit allen Spielstätten ausgeht.<br />

Beispiel Cuvilliéstheater, in dem wir im letzten Jahr „Don Pasquale“ und<br />

heuer „Semele“, ein Werk von Händel, aufgeführt haben. Das Haus wird<br />

ab 9 Uhr morgens geöffnet, bis 13 oder 14 Uhr kann ich dort arbeiten.<br />

46 | DER NEUE MERKER 12/2013


Deutschland<br />

Dann ist dieses Rokoko-Theater für Touristenführungen geöffnet, also<br />

fällt der Eiserne und ich kann auf der Bühne nichts mehr machen. Punkt<br />

18 Uhr geht der Eiserne wieder hoch und dann erst kann ich proben.<br />

Werden Sie die Herausforderung der wechselnden Räume vermissen,<br />

wenn das Stammhaus wieder bespielbar wird?<br />

Vielleicht, denn das Herumreisen ist natürlich auch eine große kreative<br />

Herausforderung, andererseits freuen wir uns alle auch wieder auf einen<br />

geordneten Spielbetrieb an einem festen Haus.<br />

Sie inszenieren 3 Produktionen pro Spielzeit in München, machen noch<br />

Gastregien und haben nebenbei während der Ferien im Burgenland<br />

„Hänsel und Gretel“ inszeniert. Können Sie ohne Arbeit nicht leben?<br />

Ich will ja gar nicht, ich kann schon. Die Gastregien sind zum Teil noch<br />

alte Verträge. Außerdem bringen die Kooperationen und das Inszenieren<br />

So kennen wir ihn - Josef E. Köpplinger (© Sarah Rubensdörffer)<br />

an anderen Häusern unserem Haus Geld. Was ich einstellen musste, ist<br />

die Arbeit an großen internationalen Häusern. Vom Ministerium habe<br />

ich die Vorgabe, zwei bis drei Inszenierungen am Haus selbst zu machen.<br />

Allerdings bin ich nicht der Ansicht, dass man am Haus der beste Regisseur<br />

sein muss. Als Intendant muss man schauen, dass man die spannendsten<br />

Kollegen herbekommt und ihnen das anbietet, mit dem sie dann dem<br />

Haus auch bestmöglich dienen.<br />

Sie erhielten am 7.11.13 den Bayerischen Kulturpreis in der Kategorie<br />

Kunst. In der Laudatio heißt es u. a. „Mit herausragender Kreativität,<br />

Mut und hohem Arbeitseifer gibt Köpplinger dem Staatstheater<br />

am Gärtnerplatz seine eigene Note…“<br />

Wir werden derzeit mit Lob überschüttet: Die Feuilletons der Münchner<br />

Zeitungen bedenken uns mit „Sternen“ und „Rosen“. Neben dem Bayerischen<br />

Kulturpreis wurden wir von „Die deutsche Bühne“ (Magazin des<br />

Deutschen Bühnenvereins) in deren Ranking als Nr. 5 aller deutschsprachigen<br />

Theater genannt. Da haben wir uns höchst überrascht und beglückt<br />

die Augen gerieben und festgestellt: das, was wir machen, wird<br />

auch überregional angenommen.<br />

Haben Sie trotz der vielen Arbeit gelegentlich noch Stunden der Muße?<br />

Man findet schon einige Mußemomente – die muss man haben. Ich bin<br />

bei aller Besessenheit definitiv kein Workaholic. Egal welchen Beruf man<br />

hat, je höher die Verantwortung und die Position, desto geringer der Lustgewinn,<br />

und dann muss man eben auch die Mußestunden einplanen, um<br />

etwa in Ruhe eine Besetzung durchzudenken. Außerdem versuche ich, obwohl<br />

kein ausgewiesener Morgenmensch, die Kreativarbeit, die ja zu einem<br />

inszenierenden Intendanten dazu gehört, entweder nachts zu machen<br />

oder frühmorgens. Dann bleibt Zeit fürs Klavierspielen – und da<br />

kann ich herrlich entspannen.<br />

Sie fordern viel von sich und anderen. Können Ihre Mitarbeiter da<br />

mithalten?<br />

Ich glaube, im Prinzip ganz gut. Das Gros meiner Mitarbeiter ist hoch<br />

motiviert. Als ich bei meinem Arbeitsantritt das Ensemble schweren Herzens<br />

auflösen musste, war mir klar, dass es einen Rattenschwanz von Problemen<br />

nach sich zieht. Man stößt auf Unverständnis, bekommt Prügel<br />

von allen Seiten. Es war aber aus finanziellen Gründen nicht anders möglich.<br />

Das ist die eine Seite. Die andere ist die künstlerische Verpflichtung,<br />

die man hat: Ich muss die Sänger doch beschäftigen. Bei den Bedingungen,<br />

unter denen wir momentan Theater machen müssen, hatte ich aber<br />

keine dauernde Beschäftigung für die Solisten. Ich kann einem Künstler<br />

nicht 13 Gehälter zahlen und ihm dazu eineinhalb Partien anbieten. Am<br />

Anfang dachte ich noch, ich könnte zu den Unkündbaren etwa 10 Sänger<br />

im Ensemble als Stamm halten. Aber es ging nicht.<br />

Aber Sie haben doch die Kollektive (Chor und Orchester) behalten,<br />

dazu die eigenen Werkstätten, insgesamt 500 Menschen, die Sie bezahlen<br />

müssen?<br />

Das Orchester ist natürlich mit jeder Produktion beschäftigt. Dieses hervorragende<br />

Orchester halte ich für das flexibelste der Stadt. Da wird ohne<br />

Probleme von einem Broadway-Klassiker über eine Revue-Operette zum<br />

Feuervogel und zur Barockoper gewechselt, wirklich phantastisch. Auch<br />

der Chor ist gut ausgelastet: Wir machen Gastspiele in anderen Städten.<br />

Ich habe von Beginn an gesagt, keine einzige künstlerische Planstelle bei<br />

den Kollektiven wird bei mir gestrichen. Die brauchen wir. Sowohl Chor<br />

als auch Orchester sind teilweise mehr ausgelastet als in einem normalen<br />

Repertoirebetrieb. Die spielen vormittags im Kinderkonzert, am Abend<br />

Oper oder Ballett und dazwischen gibt es noch Probeneinheiten. Da kommen<br />

Menschen auch an die Grenze ihrer Belastbarkeit. Da muss man miteinander<br />

reden und schauen, wie man neben Zeiten mit großer Belastung<br />

auch Zeiten mit weniger Diensten schafft. Wir setzen uns selbst die Herausforderung,<br />

100 Vorstellungen pro Spielzeit zu spielen. Das ist für das<br />

Haus, das eben kein festes Haus hat, also nicht Repertoire spielen kann,<br />

gar nicht so wenig.<br />

Wien, Berlin, Paris und London haben je zwei Opernhäuser (Berlin<br />

und Wien sogar drei). Das sind Hauptstädte. Braucht die Provinzstadt<br />

München zwei Opernhäuser?<br />

Brauchen tut man in der Kunst gar nix. Aber Kunst ist die höchste Form<br />

der Sozialisierung. Man kann alles wegsparen, die Frage ist jedoch, was<br />

will sich eine Stadt, ein Staat leisten. Unser Theater ist nicht nur für München<br />

gedacht, wir haben auch die Aufgabe, Menschen aus dem Umland<br />

in unser Haus zu locken. Und: Was niemand bedenkt, die am Theater<br />

Beschäftigten zahlen hier ihre Steuern, das sind 30-35 % direkter Steuerrückfluss.<br />

Dazu kommt die Umweg-Rentabilität. Taxifahrer, Gastronomie,<br />

Hotels leben auch vom Kulturangebot einer Stadt.<br />

Wir müssen keine Kopie der Staatsoper sein, die Bayerische Staatsoper ist<br />

eines der führenden Häuser der Welt. Aber mal ehrlich, wie viele Münchner<br />

können sich mehrere Besuche im Jahr in der Staatsoper leisten? Deswegen<br />

sind wir die Volksoper, auch im Bereich der Kartenpreise. Wir machen<br />

Musical, Operette, Tanz, Spieloper, aber auch große Oper.<br />

Was sollte ein guter Intendant tun oder besser lassen?<br />

Zunächst: Intendant sein kann man nicht lernen, irgendwie muss man etwas<br />

in sich tragen, dass man sich das antut. Denn es ist wirklich viel Arbeit<br />

– und einsame Arbeit. Die Eitelkeit darf nie größer sein als die Begabung;<br />

das Ego (ich spreche von inszenierenden Intendanten) darf sich nie<br />

über die Bedürfnisse des Hauses stellen; man sollte sich nicht einbilden,<br />

nur das eigene Haus sei gut und alles Andere nichts; man hat unabhängig<br />

zu bleiben von Kulturpolitik; man muss wissen, dass der Unterschied<br />

zwischen Opportunismus und Diplomatie löschblattdünn ist; man muss<br />

in der Kunst, in der Neugierde sehr beweglich bleiben; mit Respekt all seinen<br />

Mitarbeitern begegnen, keinen Unterschied machen, auch wenn man<br />

eventuell Ja sagen möchte, aber in Verantwortung für das Haus Nein sagen<br />

muss. Ein bisschen sollte ein Intendant auch eine despotische Ader haben,<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 47


Deutschland<br />

um die nötigen Entscheidungen zu treffen. Wichtig ist es, Ressortleiter zu<br />

haben, denen man vertraut, und gleichzeitig in einem gesunden Maß die<br />

Kontrolle nicht aus der Hand zu geben, damit man dann, wenn etwas passiert,<br />

schnell handeln kann. Das alles gibt es auch in jedem Wirtschaftsunternehmen.<br />

Aber: Wir am Theater stellen keine Kühlschränke her, sondern<br />

wir arbeiten mit Kunst. Egal was hinter der Bühne passiert, der Vorhang<br />

hat hoch zu gehen, das Publikum hat bezahlt und will davon nichts wissen.<br />

Marcel Prawy hat einmal gesagt, dass man bei einer Opern-Neuinszenierung<br />

sich das Video anschauen solle, ohne Ton. Wenn man dann<br />

bis zum Ende des 1. Akts wisse, um welches Werk es sich handele, habe<br />

der Regisseur seine Arbeit gut gemacht… Wie muss Musiktheater heute<br />

sein? Aufrüttelnd, provozierend, verstörend, unterhaltend?<br />

Ich habe einen sehr großen Toleranzpegel – den erwarte ich auch vom Publikum.<br />

Ich möchte nicht etwas so machen, wie Sie sich das genau wünschen,<br />

denn dann müssen Sie selbst Regie führen. Theater muss nicht<br />

immer etwas zwingend Neues, aber etwas Ehrliches haben. Wenn in einer<br />

Aufführung das Liebespaar an der Rampe herumsteht, sich nicht ansieht,<br />

während sie ‚Ich liebe dich, ich liebe dich‘ singen und den Dirigenten<br />

niederstarren – dann ist das für mich kein sinnvolles Musiktheater.<br />

Jeder Mensch, gleich welchen Alters und welcher sozialen Schicht, hat<br />

seine freien Gedanken, aber er sollte sich doch bitte eine Offenheit und<br />

einen Respekt vor einer Kunst bewahren, die auch als höchstes menschliches<br />

Gut die Freiheit hat. Man kann durchaus buhen oder ablehnen. Unsere<br />

Sehgewohnheiten hängen auch von Tagesverfassungen ab: Wenn ich<br />

ins Theater gehe und etwas Entspannendes erwarte und ich sehe etwas nicht<br />

Entspannendes, dann gehe ich beim nächsten Mal nicht mehr hin. Womit<br />

ich ein Problem habe, sind die Ewig-Gestrigen, die einfach nur ihre Sichtweise<br />

bestätigt sehen wollen. Es wird nie möglich sein, 100 % des Publikums<br />

gleich glücklich zu machen. Das geht einfach nicht.<br />

Sind junge Menschen heute eher bereit, in ein angesagtes Event zu gehen,<br />

statt in die Oper oder Operette?<br />

Ich sehe das Theater immer auch als etwas Generationenverbindendes. Ich<br />

bitte Sie alle, die jungen wie die älteren Semester, die andere Altersgruppe<br />

mal in der Pause anzusprechen und sich auszutauschen. Wir müssen uns<br />

doch fragen: Wie viele unter 20-jährige oder unter 25-jährige finden Sie<br />

in der Oper? Warum gehen die nicht hin? Welche Schuld tragen wir oder<br />

Sie, dass es als abschreckendes Beispiel gilt, in die Oper zu gehen? Theater<br />

bewegt sich, verändert sich mit der Gesellschaft. Ich muss auch an die<br />

junge Generation denken, Musicals spielen, vermeintlich Unkonventionelles<br />

zulassen, <strong>neue</strong> Sichtweisen anbieten, sonst haben wir in 20 Jahren<br />

kein Publikum und dann bald keine Oper mehr.<br />

Ist vielleicht in den 50-60 Opern, die vorwiegend in unseren Theatern,<br />

vor allem an den großen Häusern, gespielt werden, inzwischen<br />

alles gesagt – wurde jedes Detail ausgeleuchtet? Ist da überhaupt dem<br />

Zuschauer noch etwas Neues zu vermitteln beim x-ten „Trovatore“?<br />

Das zahlende Publikum hat ein Anrecht darauf, das Stück, die Geschichte,<br />

die man erzählt, zu verstehen. Wir haben eine Verpflichtung, als Regisseure<br />

eine Geschichte klar zu erzählen, ohne dass man im Programmheft<br />

mehrere Seiten lesen muss, um sie zu verstehen. Was man einfordern<br />

kann, ist die Beherrschung des Handwerks…es kann natürlich manchmal<br />

auch schief gehen.<br />

Ich mache Theater, weil ich der festen Überzeugung bin, dass Theater unsere<br />

Gesellschaft verbessert, dass es ein Ort der letzten gelebten Utopien<br />

sein kann. Vielleicht können auch die Engstirnigsten einmal eine Scheuklappe<br />

öffnen und nach links oder nach rechts sehen, um sich zu begegnen,<br />

vielleicht auch über ein befremdendes Erlebnis. Ich bin kein Vertreter<br />

dessen, dass man alles wie 1880 macht oder 1950, denn wir sind<br />

inzwischen im 21. Jahrhundert.<br />

Am Gärtnerplatz gibt es für Zeitgenössisches eine gute Tradition, die Sie<br />

mit Cerhas „Onkel Präsident“ und demnächst Wilfried Hillers „<strong>Der</strong><br />

Flaschengeist“ weiterführen. Werden Sie weitere Aufträge vergeben?<br />

Ja, bis 2017/18, solange wie mein Vertrag läuft, sind bereits alle Aufträge vergeben.<br />

Mit dem Fokus auf volksoperntaugliche Stoffe, entweder musikalisch<br />

oder im Libretto, im besten Fall beides. Es wird zwei Musical-, zwei Opern-,<br />

und drei Ballett-Uraufführungen geben. Bei der Operette wird es schwierig,<br />

aber mir schwebt so eine Art Volksoperette oder Singspiel vor – wahrscheinlich<br />

werden wir da auch zwei Uraufführungen haben. Ich versuche,<br />

in den nächsten sechs Jahren zehn bis dreizehn Uraufführungen zu machen.<br />

Sie sind bekennender Operettenliebhaber. Was macht Operette heute<br />

noch interessant?<br />

In der Zeit vor dem 2. Weltkrieg hat man alles Jiddische, Transvestitische,<br />

Schwule, Brisante, Sozialkritische aus der Operette gestrichen. Ab den 50er<br />

Jahren spielte man dann Operette – nicht überall, aber sehr häufig – in<br />

einer netten, leicht vertrottelten Haltung. Seit einiger Zeit scheint eine<br />

Trendwende beim Publikum stattzufinden. Man will wieder Operette sehen,<br />

Operette ist wieder salonfähig. Und zwar in der <strong>neue</strong>n, alten Form,<br />

also fernab von der Betulichkeit der Wirtschaftswunderzeit. Für diese <strong>neue</strong><br />

Operette stehen die Komische Oper Berlin, wo man die Revue-Operette<br />

pflegt, das Gärtnerplatz-Theater mit einem Mix aus klassischer und Revue-Operette<br />

und natürlich die Wiener Volksoper.<br />

Bei manchen szenischen oder konzertanten Operettenaufführungen<br />

fällt auf, dass gerade junge Sänger sich schwer tun, dem Gesang und<br />

der Sprache die nötige Leichtigkeit zu geben.<br />

Man muss junge Sänger auch mit dem Operette-Singen betrauen, damit<br />

sie es lernen. Wir werden im zukünftigen Gärtnerplatz-Ensemble vier Positionen<br />

haben für Operette und Spieloper. Ich möchte ein Opernstudio<br />

speziell für Opéra comique machen – das muss finanziert werden. Wie,<br />

weiß ich noch nicht. Aber wir müssen das machen. Denn es ist jetzt schon<br />

schwierig, genügend begabte Singschauspieler für Operetten zu finden.<br />

Sie als Publikum können auch helfen, junge Sänger für die Operette zu<br />

begeistern: Applaudieren Sie nicht nur dem hohen C des Operntenors,<br />

sondern bejubeln Sie ebenso den Operettensänger.<br />

Wie geht es weiter mit dem Gärtnerplatztheater?<br />

In diesen „Wanderjahren“ muss ich zu 80 % Stücke bringen, die ich, wenn<br />

wir wieder eröffnen, übernehmen kann ins Repertoire. Eigentlich müsste<br />

ich sofort anfangen, ein Ensemble zu beschäftigen. Damit fängt man zwei<br />

Jahre vorher an. Aber wir warten noch, bis der endgültige Einzugstermin<br />

ins renovierte Haus feststeht.<br />

Was für Theaterbesucher wünschen Sie sich?<br />

Bewahren Sie sich Ihre Aufgeschlossenheit, Ihren Enthusiasmus und seien<br />

Sie allen Theatern Münchens gewogen. Und haben Sie Humor – besser<br />

drüber lachen als sich ärgern. <br />

Jakobine Kempkens<br />

Tareq Nazmi – Bass und Münchner –<br />

Dass Tareq Nazmi 1983 in Kuwait das Licht der Welt erblickte, lag daran,<br />

dass sein ägyptischer Vater dort als Musiklehrer tätig war. Tareqs<br />

Mutter ist Deutsche, und schon als Baby kam er mit seiner Familie nach<br />

München. Hier ist er aufgewachsen, zur Schule gegangen und hat an der<br />

Hochschule für Musik und Theater studiert, bis 2010 bei Edith Wiens.<br />

Seit Herbst 2010 war er Meisterklassenstudent von Christian Gerhaher.<br />

Neben seinem Studium besuchte Tareq Nazmi Meisterkurse bei Matthias<br />

Goerne, Dmitri Hvorostovsky, Malcolm Martineau, Brian Zeger, Rudolf<br />

Piernay, Margot Garret, Denise Massé und Stephan King.<br />

<strong>Der</strong> Bassist mit dem exotischen Namen ist also ein Münchner durch und<br />

durch. Dass Tareq Sänger wurde, was ihn ursprünglich gar nicht interessiert<br />

hatte, hat sich erst nach und nach ergeben. Zunächst lernte er Geige<br />

bei seinem Vater, dann zog ihn die Schwester mit zum Chor, in dem sie<br />

sang, dort entdeckte man sein beachtliches „Material“ – und dann nahmen<br />

die Dinge ihren bestmöglichen Lauf.<br />

48 | DER NEUE MERKER 12/2013


Deutschland<br />

Tareq wurde Mitbegründer der Nostalphoniker, eines Ensembles in der<br />

Tradition der Commedian Harmonists, wo er sein naturgegebenes komisches<br />

Talent ausleben konnte.<br />

In der Liste der „möglichen“ Rollen führt Nazmi u. a. Rossinis Basilio<br />

an – das wär’s doch: eine Idealpartie für den langen Kerl mit dem komischen<br />

Talent und der tollen Bass-Stimme.<br />

Diverse Preise, national und international, konnte Tareq Nazmi erringen<br />

und erste Bühnenerfahrung sammelte der junge Bass bei den Produktionen<br />

der Bayerischen Theaterakademie und des Opernstudios der Bayerischen<br />

Staatsoper. Als Mitglied des Opernstudios war er in München in einigen<br />

Produktionen zu sehen, wie z. B. in einer „Fidelio“-Inszenierung von Calixto<br />

Bieito (2. Gefangener), in „Cenerentola“ (Alidoro), als Marquis d’Obigny in<br />

„La Traviata“ oder als Sir Gualtiero in „Roberto Devereux“ mit Edita Gruberova.<br />

– Mit der Spielzeit 2012/2013 wurde Tareq Nazmi fest ins Ensemble<br />

der Bayerischen Staatsoper übernommen, wo er als Zuniga, Masetto,<br />

Don Fernando und zunehmend immer größeren Partien zu erleben ist.<br />

Als Sarastro, also in einer der wohl wichtigsten Bass-Partien, hat er bereits<br />

am Theater Augsburg gastiert und war bei der bayerischen „Zauberflöte“<br />

von Enoch zu Guttenberg Anfang November in derselben Rolle zu<br />

erleben, hier allerdings als verkleideter König Ludwig - diese Produktion<br />

wurde erfreulicherweise aufgezeichnet.<br />

Neuer vielversprechender Baß -<br />

Tareq Nazmi (© privat)<br />

Als Konzertsänger war Nazmi<br />

schon während des Studiums<br />

sehr gefragt, nicht nur in und<br />

um München, sondern auch<br />

landesweit und bei Auslandseinsätzen<br />

in Übersee. Da hat<br />

er sich bereits ein recht umfangreiches<br />

Repertoire erarbeitet.<br />

Bei zahlreichen Konzertveranstaltern<br />

kann man seinen<br />

Namen lesen, bei Oratorien<br />

und Messen ebenso wie bei<br />

weltlichen Programmen. Tareq<br />

Nazmi war bei unterschiedlichen<br />

konzertanten Opernaufführungen<br />

des Münchner<br />

Rundfunkorchesters dabei, u.<br />

a. in „Macbeth“ unter der Leitung<br />

von Friedrich Haider, in<br />

„Silvana“ von Carl Maria von<br />

Weber und „Orfeo“ von Monteverdi/Orff,<br />

in „La Bohème“<br />

als Colline, alles unter der Leitung des Chefdirigenten Ulf Schirmer. 2009<br />

war er an der dortigen Erstaufführung von Beethovens 9. Sinfonie in Hanoi<br />

(Vietnam), mit dem Vietnam National Symphony Orchestra unter<br />

der Leitung von Jonas Alber, beteiligt.<br />

Mit Enoch zu Guttenberg arbeitet Tareq Nazmi regelmäßig zusammen, unter<br />

dessen Leitung er im Sommer 2012 mit Beethovens 9. Sinfonie beim Herrenchiemsee-Festival<br />

zu hören war. Sein Einstand beim Schleswig Holstein<br />

Musik Festival bei einem Goethe-Abend gemeinsam mit Christiane Karg,<br />

Michael Nagy und Gerold Huber war mehr als erfolgreich: „<strong>Der</strong> junge Bass<br />

Tareq Nazmi – eine sensationelle Entdeckung!” – so das Hamburger Abendblatt<br />

im August. Unter der Leitung von Manfred Honeck war er zu Gast<br />

beim Wolfegg Festival sowie auf einer Tournee mit Mozarts Requiem mit<br />

dem Münchner Kammerorchester unter Alexander Liebreich in Berlin,<br />

Weingarten und München. Eine Tournee mit dem Orchestre des Champs<br />

Elysées unter Philippe Herreweghe führte ihn zu den Festivals nach Edinburgh,<br />

Luzern und Grafenegg (auf dem Programm: Bruckners Te Deum).<br />

Mit dem Requiem von Mozart debütierte er 2013 auch beim Washington<br />

National Symphony Orchestra unter Christoph Eschenbach. Im selben<br />

Werk war er gerade in München in der Michaelskirche zu erleben.<br />

War Nazmi bei zu Guttenberg Sarastro, so ist er in der „Zauberflöten-<br />

2-November-Serie der Bayerischen Staatsoper als Sprecher vertreten. Großes<br />

Ziel: noch nichts Bestimmtes. <strong>Der</strong>zeit arbeitet Nazmi an der Erweiterung<br />

seiner Höhe (weiß man, wo das hinführt?), die schöne, volle Tiefe<br />

hat er ohnehin. Große Wunschpartie: Da erwartet den jungen Künstler<br />

ja noch bergeweise das große Bass-Repertoire. – Was er schon griffbereit<br />

hat und was bald kommen könnte u. m. findet man auf seiner Website -<br />

ebenso beeindruckende Hörproben.<br />

Das mit dem Rigoletto als Wunschpartie dürfte wohl eher dem interessanten<br />

Rollencharakter geschuldet sein denn als stimmliches Ziel angesehen<br />

werden – wäre ja schade um den schönen Bass…<br />

Eine eigene Familie hat Tareq Nazmi noch nicht gegründet. Für Hobbys<br />

bleibt nicht viel Zeit, wobei ja sein Hobby auch sein Beruf ist. Zum Ausspannen<br />

geht Nazmi gerne mal in Berge zum Klettern. Ansonsten müsste<br />

er sich eigentlich wie im 7. Himmel fühlen, weil alles so wunderbar läuft<br />

für ihn und er nun auch gleich an seiner heimischen Staatsoper engagiert<br />

wurde, worüber nicht zuletzt auch die Opernbesucher glücklich sind,<br />

die diesen immer freundlichen Menschen und großen Hoffnungsträger<br />

der Bass-Gilde bereits ins Herz geschlossen haben. Dorothea Zweipfennig<br />

Philharmonie: ANGELA GHEORGHIU auf Tournee<br />

– mit Tenor CHARLES CASTRONOVO – 8.11.<br />

Sie sei eine Diva par excellence, heißt es allgemein. Kann einem doch<br />

egal sein, entscheidend ist, was für den Zuschauer/-hörer dabei herauskommt.<br />

Vor längerer Zeit erlebte ich eine Traviata an der Staatsoper mit<br />

ihr, wobei sie von mehreren geplanten Aufführungen nur die erste sang,<br />

die aber war eine Sternstunde im Zusammenspiel mit Jonas Kaufmann.<br />

Bei ihrem Konzert in München sang sie zwar sehr gepflegt mit ihrem apart<br />

edel timbrierten Sopran, aber doch wohl ein wenig auf Sparflamme, wie<br />

mir schien. Nach einigen etwas lauter produzierten Spitzentönen flippten<br />

ihre Fans dann allerdings jedes Mal beglückt aus. Ein bisschen mag<br />

es auch platzabhängig gewesen sein, wie gut Gheorghius Stimme beim<br />

jeweiligen Hörer ankam. (Das hat nicht explizit etwas mit der Münchner<br />

Philharmonie zu tun, das ist in ziemlich allen Konzertsälen so).<br />

Diese ihre erste Tournee dieser Art führte sie derzeit durch drei deutsche<br />

und weitere europäische Städte. 3 Tenöre durften La Gheorghiu auf dieser<br />

Tour begleiten: In Frankfurt der Amerikaner Stephen Costello, in<br />

Hamburg der Brasilianer Atalla Ayan und in München der Amerikaner<br />

Charles Castronovo.<br />

Charles Castronovo ist nun wirklich so ein Typ zum Liebhaben. Bei seinem<br />

Auftritt an der Staatsoper in „Lucrezia Borgia“, neben der Gruberova,<br />

hatte er sowohl gesanglich als auch darstellerisch stark überzeugen können.<br />

Auf dem ergreifenden DVD-Mitschnitt von „Il Postino“ mit Domingo<br />

ergreifen einen diese beiden zu Tränen. Gerade war Castronovo zu 3 Aufführungen<br />

der Münchner „Cosi“ im Lande und sollte hier auch Mitte Dezember<br />

eine „Bohème“-Serie singen (die wurde aktuell mit Stephen Costello<br />

umbesetzt). Geplant sind zum Jahreswechsel noch 3 „Traviatas“ mit<br />

Castronovo und Costellos Ehefrau Aylin Perez. Castronovos jugendlicher,<br />

mit strahlenden Höhen gesegneter Tenor erfreute in den (intensiv ausgespielten)<br />

Duetten aus „Traviata“, „Amico Fritz“, „Elisir d’Amore“, und<br />

dem großen Liebesduett aus „Romeo et Juliette“ – nein, was schmuste<br />

die Diva da mit ihrem bel Tenore (im Juli war ihr sogar ein Techtelmechtel<br />

mit ihm nachgesagt worden*), sowie mit Arien aus „L’Arlesiana“ und<br />

„Romeo et Juliette“ (Ah, lève toi…). Angela Gheorghiu sang neben den<br />

erwähnten Duetten Arien aus Händels „Serse“, Rusalkas Mondlied und<br />

Catalanis Wally-Arie.<br />

Das Konzertprogramm, erweitert durch ein paar mehr oder weniger befriedigende<br />

Zwischenspiele der Philharmonie Bohuslav Martinů unter<br />

Tiberiu Soare, endete um 22:00 Uhr; dann aber gab es noch 35 Min. Zu-<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 49


Deutschland<br />

gaben. Bedauerlicherweise reservierte Frau Gheorghiu diese alle für sich.<br />

Sogar die beiden Tenorschlager, „Non discordar di me“ und „Granada“ sang<br />

sie unisono zusammen mit dem Tenor, dabei hätte man „Charly“ dieses<br />

durchaus gerne alleine schmettern hören. Angela sang hier noch das „Ave<br />

Maria“ aus „Otello“, „Il mio babbino caro“, sowie für das deutsche Publikum<br />

„Guten Abend, gut‘ Nacht“ und für ihre anwesenden rumänischen<br />

Landsleute ein rumänisches Volkslied a cappella – hier klang ihre Stimme<br />

besonders schön. <br />

Dorothea Zweipfennig<br />

„Konstantin Wecker & Angelika Kirchschlager“:<br />

„Liedestoll – 9.11.<br />

Gemischtes Doppel - Angelika Kirchschlager und Konstantin Wecker<br />

(© Nikolaus Karlinsky)<br />

Einer der beliebtesten deutschen Liedermacher und eine Opernsängerin<br />

singen gemeinsam Politisches, Poetisches – Bekanntes und Neues von Wecker,<br />

Schumann, Schubert und Strauss. Als kongeniale Partner begleiteten<br />

Jo Barnikel am Klavier, Sebastian Trimolt am Schlagwerk und das<br />

Spring String Quartett.<br />

Man war gespannt, wie das zusammengehen sollte: Ein Widerborst wie Wecker<br />

und eine glutvolle Mezzosopranistin wie Kirchschlager. Und war überrascht<br />

– denn Wecker war (das wissen seine altgedienten Fans seit langem)<br />

niemals nur linker Revoluzzer, sondern er ist vor allem ein hinreißender<br />

Poet, einer der die Worte und Verse wägt und dreht und dann ganz zarte,<br />

filigrane Melodien für seine Texte findet. Und Angelika Kirchschlager, sie<br />

wollte schon immer mal politische Lieder singen, noch besser ein Kampflied<br />

– bekennt sie. Wecker wiederum verehrt Schumann und noch mehr<br />

Schubert, versuchte sich schon früh, nämlich als 11-Jähriger, mit hohem Sopran<br />

am „Heideröslein“, wie die Einspielung zu Beginn des Abends zeigte.<br />

Beiden Künstlern gelang ein fulminanter Abend. Wecker- sowohl wie<br />

Kirchschlager-Fans durften <strong>neue</strong> Seiten an ihren Lieblingen entdecken<br />

und spätestens bei den Zugaben, beim wilden Improvisieren auf dem Flügel<br />

zwischen Wecker und Jo Barnikel verschwammen die Grenzen zwischen<br />

E- und U-Musik. Zuvor war man berührt von Konstantin Wecker<br />

als „Leiermann“, begleitet von Angelika Kirchschlager am Flügel oder „Sag<br />

mir liebe Erde“ aus Weckers Hundertwasser-Musical, das schlicht und dafür<br />

umso eindringlicher von Angelika Kirchschlager vorgetragen wurde.<br />

Es gab immer wieder Nachdenkliches, Zartes wie das „Kleine Herbstlied“<br />

und Großartiges, Ungewohntes wie das gemeinsam vorgetragene „<strong>Der</strong><br />

Tod und das Mädchen“ oder der „Erlkönig“ begleitet von einer E-Gitarre.<br />

Natürlich fehlten auch die vom Publikum stürmisch begrüßten Ohrwürmer<br />

wie „Was ich an dir mag“, „Empört euch“ oder „Liebesflug“ nicht.<br />

Man spürte den großen Spaß, den beide Künstler bei diesem Austausch<br />

hatten, die Sorgfalt, mit der das Programm zusammengestellt wurde. Wecker<br />

moderierte launig und erzählte augenzwinkernd so manche Entstehungsgeschichte<br />

von Liedern.<br />

Standing ovations für ein großartiges Konzert, ein sich begeistert Zugaben<br />

erklatschendes Publikum, das schließlich gegen 23 Uhr mit einem<br />

kleinen Gedicht von Wecker heimgeschickt wurde. Jakobine Kempkens<br />

MOZART im Michaelskonzert/Jesuitenkirche St. Michael –<br />

17.11.<br />

Hatte bei der Jubiläums-Matinee der Bayer. Staatsoper Landtagspräsidentin<br />

Stamm noch erzählt, dass man seinerzeit Mozart an Münchens Oper aus dem<br />

einfachen Grund nicht gebrauchen konnte, weil keine Planstelle frei war, so<br />

wies Dr. Frank Höndgen vor Beginn des Konzertes darauf hin, dass in St. Michael<br />

schon immer Platz für Mozart gewesen sei, zumindest für seine Werke.<br />

Am Sonntag, 17.11. um 16 Uhr wurde in St. Michael in einem festlichen<br />

Chor- und Orchesterkonzert das Requiem d-Moll KV 626 von W. A.<br />

Mozart aufgeführt. Mozarts letztes Werk wurde mit einem ebenfalls in<br />

seinen letzten Lebenswochen entstandenen Werk kombiniert, dem Klarinettenkonzert<br />

KV 622.<br />

Die Musik an der Jesuitenkirche St. Michael blickt auf eine über 400-jährige<br />

Tradition zurück und war immer ein besonderer kultureller Anziehungspunkt.<br />

1597 von Wilhelm V. ins Leben gerufen und von Orlando di Lassos Bruder Rudolfo<br />

begründet, war der Chor maßgeblich an der Wiederbelebung der Musik<br />

alter Meister beteiligt. Auch als 1804 das angegliederte Seminar aufgehoben<br />

wurde, gelang es, einen eigenen Chor und auch ein eigenes Orchester zu erhalten.<br />

So hat bis heute die Kirchenmusik ihren besonderen Stellenwert in St. Michael.<br />

<strong>Der</strong> große Chor der St. Michaelskirche gestaltet hauptsächlich das sonntägliche<br />

Hochamt. Das Repertoire umfasst alle bedeutenden Ordinariumsvertonungen<br />

vom 17. – 19. Jh. In den nächsten Jahren wird der Chor neben der<br />

selbstverständlichen Pflege des traditionellen Repertoires auch Messkompositionen<br />

des 20. Jhs. erarbeiten. Neben seinen liturgischen Aufgaben singt der<br />

Chor große Werke des geistlichen Konzertrepertoires.<br />

Im Orchester St. Michael spielen Musiker aus allen bedeutenden Orchestern<br />

der Landeshauptstadt. Unter dem langjährigen Leiter Prof. Elmar Schloter<br />

wurden fast alle großen Messvertonungen aufgeführt. Nun hält auch das<br />

Repertoire für Orgel und Orchester und die Musik des 20. und 21. Jhs. nach<br />

und nach Einzug in Liturgie und Konzert der Michaelskirche.<br />

Die beiden Klangkörper stehen für hohe künstlerische Qualität und haben<br />

in Dr. Frank Höndgen einen hochqualifizierten und ambitionierten<br />

Chef. Die zahlreichen Konzerte in St. Michael verzeichnen sowohl einen<br />

sehr guten Zuhörer-Zulauf als auch reichlich Anfragen von Künstlern, dort<br />

musizieren zu dürfen. Dies betrifft u. a. auch namhafte Organisten, welche<br />

gerne an der von Michaelsorganist Peter Kofler betreuten Rieger-Orgel<br />

(2011 modernisiert und erweitert) spielen wollen. <strong>Der</strong> letzte Orgelherbst<br />

wies in diesem Sinne zahlreiche bedeutende Kirchenmusiker-Namen auf.<br />

17.11.: <strong>Der</strong> Soloklarinettist des Bayerischen Staatsorchesters, Andreas<br />

Schablas, spielte zu Beginn Mozarts Klarinettenkonzert A-Dur, KV 622,<br />

mit großer Intensität und angenehm weichem Klang.<br />

Dann zum Hauptwerk, Mozarts Requiem d-Moll KV 626. Darf man<br />

als Rezensent eine Vokabel wie „erbaulich“ verwenden? Zumindest empfand<br />

nicht nur ich diese Aufführung so.<br />

Man muss sich zwar erst einmal an den starken Hall in diesem zwar gar nicht<br />

so großen, aber sehr hohen Kirchenraum gewöhnen, ein Raum für vorzugsweise<br />

getragene Tempi. Frank Höndgens Dirigat war nicht nur dem angemessen,<br />

er ließ auch wohltuend normal musizieren, soll heißen, er vermied<br />

klanglich übertriebenes „Historisieren“, eine Sache, die ja nicht unbedingt<br />

jedermanns Gusto entspricht. Neben dem großartigen Chor und Orchester<br />

trug auch das ausgezeichnete Solistenquartett zum hohen Niveau der Aufführung<br />

bei. Voran Tareq Nazmi mit seinem Samtbass, gefolgt von Okka<br />

von der Damerau mit warm tönendem Mezzo. Bettina Kühnes klarer Sopran<br />

hatte fast etwas Knabenhaftes und Markus Zeitlers heller Tenor den<br />

typischen Evangelisten-Klang (Oratorien). Dorothea Zweipfennig<br />

50 | DER NEUE MERKER 12/2013


Deutschland<br />

Dresden: „Tannhäuser“ – 31.10.<br />

Peter Konwitschnys „Tannhäuser“ – Inszenierung stammt aus dem<br />

Jahre 1997. Von Abnutzungserscheinungen kann keine Rede sein. Bereits<br />

die Ouvertüre offenbarte die Qualitäten der Sächsischen Staatskapelle<br />

Dresden. Wagner selber hätte an seiner „Wunderharfe“ ungetrübte<br />

Freude gehabt. Constantin Trinks und seine Musiker zelebrieren<br />

einen mit angemessenen Tempi ausgestatten nervigen Wagner. Da wird<br />

nichts zu dick aufgetragen oder unnötig in die Länge gezogen. Wunderbar<br />

gelingt es, die Situationen auf der Bühne musikalisch zu untermalen.<br />

<strong>Der</strong> Sängerkrieg besitzt Präzision und dramatische Spannung –<br />

das Vorspiel zum 3. Akt gestaltet sich zu einem atmosphärisch dichten<br />

Stimmungsbild.<br />

Bei Konwitschny ist Tannhäuser der nach Wahrheit suchende Künstler.<br />

Die Wartburggesellschaft ist in ihrem Denken und Handeln verkrustet.<br />

Tannhäuser muss ihr den Rücken kehren. Die antike sinnliche Welt<br />

der Venus scheint ein Pendant zu sein, entpuppt sich jedoch als Albtraum.<br />

Die Suche nach dem Heil in Rom erweist sich ebenfalls als Irrfahrt.<br />

Während die anderen Pilger entsühnt, jedoch ihrer Identität beraubt,<br />

aus Rom zurückkehren, kriecht Tannhäuser zerknirscht auf die<br />

Bühne. An der Seite Elisabeths gibt er sich den Tod. Konwitschny findet<br />

für seine Lesart mit seinem Ausstatter Hartmut Meyer und seiner<br />

Kostümbildnerin Ines Hertel beeindruckende Bilder und Momente.<br />

Nicht jeder im Publikum wird diese Ansicht teilen. Freilich schlägt Konwitschny<br />

bei der einen oder anderen Szene auch über die Stränge. Aber<br />

das kennt man inzwischen.<br />

Innerhalb kürzester Zeit hatte Frank von Aken die Titelpartie übernommen.<br />

Er weilte in Dresden, um sich intensiv auf den Tristan vorzubereiten.<br />

Das Ergebnis muss daher mit Respekt betrachtet werden.<br />

<strong>Der</strong> Sänger verfügt über einen baritonal gefärbten Tenor, der sich kraftstrotzend<br />

in Szene zu setzen weiß. Angesichts tagelanger „Tristan“-Proben<br />

ging der Sänger ökonomisch mit seinen Kräften um. Ermüdungserscheinungen<br />

zeigte er im 3. Akt. Dort deklamierte er mehr, als dass er<br />

sang. Mich störte es nicht. Ich empfand es eher als rollendeckend, denn<br />

Tannhäuser ist am Boden zerstört.<br />

Marjorie Owens war im 2. Akt eine sehr selbstbewusste Elisabeth, die<br />

sich emotionsgeladen schützend vor Tannhäuser stellt. Im 3. Akt gefällt<br />

ihre beseelte Gestaltungsintensität. Die Partie der Venus wurde mit verführerischem<br />

Ton und äußerst höhensicher von Michelle Breedt gesungen.<br />

Christoph Pohl war ein gesanglich wie darstellerisch ein hinreißender<br />

Wolfram. Mit herrlich fließender und wohlklingender Stimme<br />

stattete er diese Figur aus. Hervorzuheben ist seine beispielhafte Artikulation.<br />

Jede Phrasierung war angemessen und durchdacht.<br />

Selbst Insider können sich nicht daran erinnern, dass in dieser Inszenierung<br />

außer Tom Martinsen ein anderer Interpret den Walther von<br />

der Vogelweide gesungen hätte. Ein zuverlässiger Sänger, der mit schöner<br />

Stimmgebung und ansprechendem Tenor seine Aufgabe erfüllte!<br />

Erstmalig sang Tilmann Rönnebeck die Partie des Landgrafen. <strong>Der</strong><br />

Bassist verfügt über eine sehr kultiviert klingende Stimme. <strong>Der</strong> Sänger<br />

ging allerdings recht vorsichtig zu Werke. Raumfüllend war sein Vortrag<br />

nicht. Seiner Stimme fehlte es gelegentlich auch an Tiefe. Die Figur des<br />

Landgrafen blieb aus meiner Sicht daher etwas unterbelichtet. Gut in<br />

Szene zu setzen wusste sich dagegen Bernd Zettisch als Biterolf. Seine<br />

robuste Stimme passte so recht zu der Person, die Tannhäuser sehr treffend<br />

beschreibt. Timothy Oliver als Heinrich der Schreiber und Tomislav<br />

Lucic Reinmar von Zweter passten sich nahtlos in die Gruppe<br />

der Minnesänger ein. Tadellos erfüllte Christiane Hossfeld ihre Aufgabe<br />

als Hirtenknabe. Ein Garant für die Qualität der Aufführung waren<br />

die von Pablo Assante hervorragend einstudierten Chöre, die weder<br />

Klangfülle noch Perfektion vermissen ließen.<br />

Das Publikum honorierte die solistischen Leistungen mit entsprechend<br />

abgestuftem Applaus. Einhellig und frenetisch war jedoch der Jubel für<br />

Constantin Trinks und die Staatskapelle. Christoph Suhre<br />

„Carmen“ – 25.11. (Pr.28.10.)<br />

Opern, die in der Publikumsgunst sehr weit oben stehen, sind zweifellos<br />

mit vielen Erwartungshaltungen und Klischees beladen. Um dem zu entgehen,<br />

versuchen Regisseure oftmals, <strong>neue</strong> Lesarten zu konzipieren, die<br />

mit dem eigentlichen Stück kaum noch etwas gemein haben. Dem geht<br />

Axel Köhler bei seiner Dresdner „Carmen“-Inszenierung aus dem Weg.<br />

Er stellt Beziehungen zwischen den Figuren her und bezieht Impulse aus<br />

der Partitur. Für ihn ist Carmen eine begehrenswerte junge Frau, die nicht<br />

mit ihren Reizen geizt und die leidenschaftlich unterschiedlichste Situationen<br />

bis zur Neige auskostet und auslebt. Dass José ihr nicht sofort zu<br />

Füßen liegt, befremdet sie. Sie muss aktiv werden. Don José verfällt ihr.<br />

Dann begegnet sie Escamillo. Durch ihn fühlt sie sich aufgewertet. Er,<br />

der aus einer höheren Schicht stammt, bekennt ihr gegenüber öffentlich<br />

seine Liebe. Axel Köhler erzählt das geradlinig und schnörkellos. Er ist<br />

sich allerdings auch dessen bewusst, dass ganz im Shakespearschen Sinne<br />

tragische Momente auch komische Gegengewichte brauchen. Auch das<br />

funktioniert im Wesentlichen ohne Brüche. Die Choreografin Katrin<br />

Wolfram nutzt die stellenweise leichte und federnde Musik Bizets dazu,<br />

einige Auftritte tänzerisch zu gestalten. Betroffen sind davon vor allem<br />

die Szenen der Schmuggler. Viel Bewegung gibt es auch in dem Bühnenbild<br />

von Arne Walther. Es entstehen immer wieder <strong>neue</strong> Räume, die, obwohl<br />

sie klare Strukturen besitzen, dem Publikum Fantasie abverlangen.<br />

Carmen - Nadja Mchantaf mit Escamillo - Kostas Smoriginas<br />

(© Creutziger)<br />

Die Dresdner Inszenierung besticht freilich auch dadurch, dass alle Partien<br />

sehr ausgewogen besetzt werden können und dass die Staatskapelle<br />

unter der musikalischen Leitung von Josep Caballé-Domenech Bizets<br />

Musik in allen möglichen Schattierungen exzellent zu Gehör bringt. Es<br />

fehlt weder an Leidenschaft und Feuer noch an Sinnlichkeit und Anmut.<br />

Einzelnen Orchesterstimmen lauscht man mit Genuss.<br />

Anke Vondung stellt eine sehr selbstbewusste, aber nie vordergründig<br />

agierende Carmen auf die Bühne. Sie lässt die Titelfigur nicht unbedingt<br />

als „femme fatale“ erscheinen, die mit ihrem Eroszauber die Männerwelt<br />

herabzieht. Sie singt mit schöner natürlicher Stimmgebung, bleibt ihrem<br />

Part vielleicht in den Tiefen etwas schuldig, besticht dafür aber mit mühelosen<br />

Höhen. Die sogenannte Kartenarie gestaltet sie besonders bewegend.<br />

Es ist ein Moment innerer Zurückgezogenheit, in dem alles andere<br />

um sie herum erstarrt. Dass sie sich am Schluss ihrem Schicksal relativ<br />

widerstandslos ergibt, befremdet allerdings. Die Micaela ist ein sehr ernst<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 51


Deutschland<br />

zu nehmender Widerpart zu Carmen. Sie gibt sich in allen Situationen sehr<br />

couragiert. Ihre Liebe zu Don José bekennt sie recht offen. Nadja Mchantaf<br />

aus dem Ensemble der Staatsoper hat sich in letzter Zeit großartig entwickelt.<br />

Ihre raumfüllende und tragfähige Stimme besitzt Geschmeidigkeit<br />

und Glanz. Ihre Arie in der Felsenschlucht (hier eher ein Schmugglercamp)<br />

stattet sie mit kräftigen und leuchtenden Spitzentönen aus. Das war höchst<br />

beeindruckend. Das Selbstbewusstsein dieser jungen Frau wird auch durch<br />

ihr Outfit (Kostüme: Henrike Bomber) unterstrichen. Blonde Zöpfchen<br />

und blaues Kleidchen wären völlig deplatziert! Marcello Giordani ist alles<br />

andere als ein naiver Bursche vom Land. Dieser Don José hat eine gehörige<br />

Portion an Charisma. Dazu passt auch die kräftige, ebenmäßig glänzende<br />

und höhensichere Stimme des Tenors. Giordani verfügt auch über<br />

entsprechende Reserven, um die Schlussszene emotional glaubhaft zu gestalten.<br />

Nicht zu überhören waren einige Anpassungs- und Abstimmungsprobleme.<br />

Als Escamillo hat Kostas Smoriginas in der Schenke reichlich<br />

Gelegenheit, seinen Modellkörper zu präsentieren. Seinen Auftritt begleiten<br />

drei Prostituierte. Für diesen Torero scheint zunächst alles Show zu sein.<br />

Die Begegnung mit Carmen hinterlässt allerdings Spuren. Dieser Bassbariton<br />

aus Litauen gefällt durchweg mit seiner kernig männlichen Stimme.<br />

In der Taverne des Lillas Pastia begegnet man auch anderen zwielichtigen<br />

Gestalten. Da sind zum einen Frasquita und Mercédès, die hier jobben und<br />

zum Vergnügen der Männer auch mal eine Tanznummer auf dem Tisch vollführen,<br />

und zum anderen Remendado und Dancairo, die nebulösen Geschäften<br />

nachgehen. Axel Köhler nutzt diese Figuren, um den tragischen<br />

Elementen zu begegnen. Singend und tanzend scheinen sie das Leben zu<br />

genießen. Die Musik gibt das her. Das Musical lässt grüßen. Norma Nahoun<br />

und Angela Liebold wirbeln ebenso agil und munter über die Bühne<br />

wie auch Timothy Oliver und Simeon Esper. Gesanglich sind sie bestens<br />

aufeinander abgestimmt. Tilmann Rönnebeck gefällt als Zuniga, Pavol<br />

Kubán als Moralès. In der Einstudierung von Pablo Assante konnte der<br />

Staatsopernchor wie immer seine Klasse unter Beweis stellen. Ein großes<br />

Kompliment verdient auch der engagiert singende Kinderchor.<br />

Diese turbulente und weitgehend stimmige Inszenierung dürfte den Dresdnern<br />

und ihren Gästen gefallen. <br />

Christoph Suhre<br />

Nicht nur Dresden, sondern auch die zauberhafte Umgebung dieser Stadt<br />

sind seit jeher magischer Anziehungspunkt für Maler, Dichter und Komponisten.<br />

Richard Wagner verbrachte einige Jahre seiner Kindheit in Elbflorenz,<br />

ehe er 1827 wieder in seine Geburtsstadt Leipzig zurückkehrte. Anstellungen<br />

führten ihn danach u. a. nach Würzburg, Magdeburg und Riga.<br />

Die Furcht vor Gläubigern trieb ihn schließlich nach London und Paris,<br />

ehe er 1842 als Kapellmeister an die berühmte Dresdner Oper verpflichtet<br />

wurde. Nachdem hier seine Opern „Rienzi“, „<strong>Der</strong> fliegende Holländer“ und<br />

„Tannhäuser“ uraufgeführt wurden, gönnte er sich im idyllisch vor den Toren<br />

Dresdens gelegenen Graupa eine Art Auszeit. Hier holte er sich Anregungen<br />

für Neues. Und das sollte der „Lohengrin“ sein. Ausgedehnte Wanderungen<br />

führten Richard Wagner mit Sicherheit auch in den „Liebethaler<br />

Grund“. Eine einzigartige Landschaft! Wer die Einmaligkeit dieser Region<br />

genießen will, lässt am besten sein Auto in Lohmen stehen.<br />

<strong>Der</strong> Grund galt ursprünglich als Eingangspforte zur Sächsischen Schweiz.<br />

<strong>Der</strong> jetzige Fußweg wurde 1841 angelegt. Mit Sicherheit wandelte Wagner<br />

auf diesem Pfad und ließ sich inspirieren. Man wähnt sich der Welt entrückt.<br />

Ab und an huscht ein Sonnenstrahl durch den laubbedeckten Wald.<br />

Sandsteinfelsen schließen den Grund ein. <strong>Der</strong> Wasserlauf der Wesenitz<br />

wird zum Wegbegleiter. Und plötzlich vernimmt man in der Stille das Vorspiel<br />

zum ersten Akt „Lohengrin“… Sphärenhafte Klänge, die nach wenigen<br />

Takten eine monumentale Größe annehmen. Und nun gewahrt man<br />

auch in Form eines 12,5 Meter hohen bronzenen Denkmals den Meister<br />

selbst. Es zeigt Richard Wagner überlebensgroß als Gralsritter mit Harfe und<br />

der Schale des heiligen Grals. Die fünf Gestalten, die ihn umgeben, verkörpern<br />

Elemente seiner Musik: <strong>Der</strong> Jüngling mit dem Schwert das tragische,<br />

die Frauengestalt mit dem Schatzkästlein das lyrische, das lauschende<br />

Mädchen das sphärische und der Jüngling mit dem Becher das dionysische.<br />

<strong>Der</strong> Schöpfer dieses Denkmals ist der Dresdner Bildhauer Professor Richard<br />

Guhr, der ein großer Verehrer des Komponisten war. Das 1912 entworfene<br />

Denkmal sollte zunächst im Großen Garten in Dresden aufgestellt werden.<br />

Das Richard-Wagner-Denkmal im<br />

Liebethaler Grund<br />

Ein Denkmal seiner selbst - in der Sächsischen Schweiz (© Christop Sure)<br />

Es wurde jedoch in dieser Version nicht realisiert. Bei der Suche nach einem<br />

geeigneten Standort kam man zu dem Schluss, dass der Aufstellungsort<br />

mit dem Leben und Werk Wagners in Einklang stehen sollten. Deshalb<br />

wurde es 1932/33 an dem Ort errichtet, an dem die ersten Kompositionsskizzen<br />

zu „Lohengrin“ (1846) entstanden. Wanderer verweilen in Demut<br />

vor dem monumentalen Bau. In einer Vase gewahrt man frisches Grün. Irgendwann<br />

lenkt der Wanderer seine Schritte weiter. Die Klänge des „Lohengrin“<br />

Vorspiels klingen ab, um schließlich ganz zu verhallen. Es dauert,<br />

ehe man sich dem Zauber des Ortes entzogen hat! Christoph Suhre<br />

Detmold: „Tristan und Isolde“ – 1.11.<br />

Es begann mit einer Überraschung: Detmold kann mit einem prachtvollen<br />

Theatergebäude aufwarten, das bereits Anfang des 19. Jhs. gebaut wurde.<br />

Trotz vieler Schwierigkeiten aufgrund von Kriegen, Bränden und den damit<br />

verbundenen finanziellen Verlusten gelang es dem Haus immer wieder, sich<br />

zu konsolidieren. Vom anfänglichen Hoftheater wandelte es sich in das heutige<br />

Landestheater, das mit seinen ca. 650 Sitzen nichts von dem damaligen<br />

Charme der Innenausstattung sowie Außenfassade verloren hat.<br />

Dass dort auch wunderbares Musiktheater gespielt wird, war die zweite<br />

Überraschung.<br />

52 | DER NEUE MERKER 12/2013


Deutschland<br />

„Nahezu das gesamte Geschehen in‚ Tristan und Isolde‘ ist innerlich“. So stand<br />

es in einem Opernführer, und so hat es wohl auch Kay Metzger gesehen,<br />

der die Inszenierung am Landestheater Detmold in ein Kammerspiel verpackt.<br />

Damit ist ihm ein Regiestreich gelungen, denn so logisch, so schlüssig<br />

und doch so spannend und intensiv habe ich diese Oper selten auf der<br />

Bühne erlebt. Zusammen mit seiner Bühnen- und Kostümbildnerin Petra<br />

Mollérus verlegt er die Handlung auf kleinsten Raum, der durch die<br />

Drehbühne, dem Regiekonzept folgend, in Tagräume, weiß und hell, sowie<br />

Nachträume, dunkel und von einem Sternenhimmel beleuchtet, verwandelt<br />

werden kann. Bei Wagner (im Gegensatz zum Epos) schafft der Liebestrank<br />

nicht die Leidenschaft zwischen den Liebenden, sondern er macht sie frei,<br />

frei für die höchste Erfüllung, den Tod. Deshalb schafft Metzger diese Kontraste:<br />

die Realität, der Alltag läuft in der Helligkeit des Tages ab, bewegt sich<br />

in gesellschaftlichen Normen. Die Nacht jedoch ist intim, verströmt Geborgenheit<br />

und Innigkeit, gehört jeder Person allein. Die Schwelle zu übertreten,<br />

kann alles bedeuten, sogar den Verlust des Lebens. Wenn Marke die<br />

Frage an Tristan nach dem Warum (des Verrats) stellt, antwortet ihm Tristan<br />

„Das kann ich Dir nicht sagen“ noch jenseits der Schwelle, dann tritt er<br />

ein in den Nachtraum, den Raum der Liebe, und fragt von dort aus Isolde,<br />

ob sie ihm folge. Liebe und Musik sind untrennbar miteinander verbunden.<br />

So gestalten Metzger und Mollérus die Nachtwelt als Musikraum, in<br />

dem ein Flügel steht und das Liebespaar Notenblätter in die Hand nimmt.<br />

Und komponiert?? Die Assoziation zu Richard Wagner und Mathilde Wesendonck<br />

ist offensichtlich, denn auch sie waren Liebende, die wie Tristan<br />

und Isolde nicht zusammen kommen konnten. Ohne Zweifel brachten die<br />

beiden ihre eigene Geschichte in diese schicksalhafte Oper ein, denn auch sie<br />

haben unter der ausweglosen Verbindung gelitten. Von diesem Leid, tiefstem<br />

Verständnis und einfacher Logik ist die gesamte Inszenierung geprägt.<br />

Man spürt, dass Kay Metzger sich sehr intensiv mit den Hintergründen zur<br />

Entstehung der Oper beschäftigt hat. Als Beweis könnte man Vieles aus dem<br />

Schriftverkehr zwischen Wagner und Mathilde zitieren, aber das würde an<br />

dieser Stelle zu weit führen. Belassen wir es bei einem Brief, in dem Wagner<br />

Mit Michael Baba holte man einen Tristan, der am Anfang einer großen<br />

Karriere im Heldentenorfach steht. Unter Gustav Kuhn sang er u.a. bei<br />

den Festspielen Erl den Tristan, Siegmund, Pasrsifal, Stolzing und Kaiser<br />

in „Frau ohne Schatten“, in Karlsruhe konnte man ihn als Florestan erleben.<br />

Seine Stimme hat eine durchsetzungsfähige Mittellage, auf der er die<br />

Höhen mit einem sicheren Legato aufbaut. Keine Anstrengung ist zu spüren.<br />

In allen Lagen klingt sein interessantes Timbre warm und ohne Schärfe.<br />

Den gefürchteten 3. Akt bewältigte er mit starker Stimme, mit intensiver<br />

Darstellung und imponierte durch einfühlsamen schmerzvollen Ausdruck.<br />

Beachtenswert ist auch seine klare Aussprache. Joanna Konefal gestaltete<br />

mit bezauberndem Charme und blonder Schönheit die Isolde. GMD Rademacher<br />

musste vor der Aufführung leider ansagen, dass Frau Konefal<br />

noch nicht ganz von einer starken Erkältung genesen sei und voraussichtlich<br />

nicht die gewohnte Leistung bringen könne. Das spürte man bei den<br />

extremen Höhen, wo sie zu viel Kraft aufbringen musste, was einige scharfe<br />

Töne hervorbrachte. Aber ihre faszinierende Gestaltung der Figur und ihre<br />

schöne Mittellage und wunderbare Piani über weite Strecken zeigten ihre<br />

Begabung. Vielleicht ist die Isolde für die junge Polin noch zu früh, es wäre<br />

schade, wenn ihre Stimme durch solch schwere Partien Schaden nähme.<br />

Über eine außergewöhnlich schöne Stimme verfügt Monika Waeckerle.<br />

Ihr Mezzo fesselte von Anfang an. Mit warmem, schönem Ton sang sie<br />

die Brangäne, überzeugte durch sympathisches Spiel und bot dazu noch<br />

eine perfekte Diktion, die jedes Wort verstehen ließ. Die Warnrufe im 2.<br />

Akt „Einsam wachend in der Nacht… habet acht, habet acht“ klangen strahlend,<br />

fast überirdisch. In vielen Inszenierungen sieht man Brangäne in dieser<br />

Szene nicht, weil sie aus dem Hintergrund singt. Hier jedoch dreht sich<br />

die Bühne einmal ganz herum und mit ihr Brangäne, an einer Wand lehnend.<br />

Sie zieht quasi einen schützenden Kreis um ihre Isolde.<br />

Doch das hilft nicht. Marke mit seinem Gefolge erscheint, das Unheil<br />

nimmt seinen Lauf.<br />

Einen tiefen, satten schwarzen Bass ließ Jens Larsen, Gast von der Komischen<br />

Oper Berlin, als König Marke vernehmen. Ausdrucksvoll sang<br />

er seinen langen Monolog und legte das ganze Leiden über den Verrat in<br />

seine Stimme. Das ging zu Herzen.<br />

Als Kurwenal begeisterte Andreas Jören mit einem kräftigen und runden,<br />

italienisch geprägten Bariton. Ungewöhnlich stark war seine Darstellung<br />

als Gefolgsmann von Tristan. Das Mitgefühl für seinen Herrn,<br />

das Mit-Leiden brachte er mit intensiver Mimik und Körpersprache zum<br />

Ausdruck. Auf gutem Niveau sangen Jundong Kim den Verräter Melot,<br />

Markus Gruber den Hirten, Chun Hoe Kim den Steuermann und Kai-<br />

Ingo Rudolph den Seemann. <strong>Der</strong> Herrenchor mit Extrachor des Hauses<br />

war von Marbod Kaiser tadellos einstudiert.<br />

Eine außergewöhnliche Aufführung! Man war gefesselt von der hohen<br />

Qualität der musikalischen Durchführung dieses äußerst schwierigen<br />

Werkes und den <strong>neue</strong>n szenischen Ideen. Das Publikum fühlte sich angesprochen<br />

und bedankte sich mit begeistertem Applaus. Leider war es die<br />

letzte Aufführung. Man kann nur hoffen, dass es eine Wiederaufnahme<br />

geben wird, denn diese tiefsinnige, durchdachte Inszenierung sollte nicht<br />

in Vergessenheit geraten. <br />

Inge Lore Tautz<br />

Joanna Konefal (Isolde) und Michael Baba (Tristan) (© Klaus Lefebre)<br />

am 21. Dezember 1861 an Mathilde Wesendonck aus Paris schrieb: „Dass<br />

ich den Tristan geschrieben, danke ich Ihnen aus tiefster Seele in alle Ewigkeit!“<br />

Auch musikalisch war der Abend ein Genuss. Das Symphonische Orchester<br />

des Landestheaters fand unter der Leitung seines <strong>neue</strong>n Generalmusikdirektors<br />

Lutz Rademacher zu einer außerordentlichen Leistung.<br />

Durch den nach hinten unter der Bühne erweiterten Orchestergraben, der<br />

vor allem alle Bläsergruppen aufnehmen kann, wurde ein ausgewogenes<br />

Klangbild geschaffen, das an Bayreuth erinnert. So werden die Streichergruppen<br />

nie übertönt, im Gegenteil. Weich und zart ertönt es aus dem Graben.<br />

Die Bläsergruppen standen dem in nichts nach, mit exakten, sauber<br />

geführten Klängen runden sie das ungewöhnlich schöne Hörerlebnis ab.<br />

Essen: „TRISTAN UND ISOLDE“ – 10.11.<br />

Vorbemerkung: <strong>Der</strong> „leise“ „TRISTAN“<br />

Gerade, als ich in Essen für die „Tristan“-Aufführung eingetroffen war,<br />

erhielt ich obigen Bericht und freute mich über die Meldung, wie eindrucksvoll<br />

Wagner an einer „Provinz“-Bühne ganz ohne Pomp sein kann.<br />

Ich hatte ja in Detmold auch schon mehrfach Wagner-Produktionen dieses<br />

Kalibers erlebt. Nach meiner Heimkehr las ich in einer Mail die folgenden<br />

Äußerungen des Nürnberger GMD Marcus Posch (dessen großartige<br />

„Tristan“-Wiedergabe in Nürnberg ich vor einem Jahr bewundert<br />

hatte): „Ein wichtiges Anliegen ist es mir, Wagners Musik aus dem Geiste Mendelssohns<br />

heraus zu dirigieren. Wenn man allein das Vorspiel zu „Rheingold“<br />

hört und „Die schöne Melusine“ im Ohr hat, dann weiß man, an welchen<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 53


Deutschland<br />

Ideen Wagner sich erfolgreich bedient hat. Das ‚falsch Pompöse‘ an Wagner<br />

liegt mir fern. Insofern ist die Suche nach Transparenz für mich wesentlich.“<br />

Dort wie da scheint also innere Stimmigkeit und Wortverständlichkeit<br />

oberstes Gebot, ohne dass dadurch das „Tristan-Mysterium zu kurz käme.<br />

Sollte damit eine <strong>neue</strong> Wagner-Ära angebrochen sei?<br />

Auch in Essen…<br />

Zusammen mit vielen anderen angereisten Opernfreunden hörte ich am<br />

Aalto Theater Wagners opus immensum in ebenfalls völlig <strong>neue</strong>r musikalischer<br />

Interpretation. Die nun wiederaufgenommene Inszenierung<br />

von Barrie Kosky hatte ich bereits 2007 (ein Jahr nach ihrer Premiere)<br />

mit denselben Titelrollensängern, damals sehr leidenschaftlich dirigiert<br />

von Stefan Soltesz, kennen gelernt. Nach dem Ausscheiden des langjährigen<br />

GMD wurde nun Peter Schneider für drei Reprisen eingeladen.<br />

Eine simple Wiederholung seiner Wiener, Hamburger oder Bayreuther<br />

„Tristan“-Interpretationen, wo die (wohlbeherrschte) orchestrale Wucht<br />

(neben allen Subtilitäten) schon gelegentlich auch recht beeindruckend<br />

war, fand jedoch nicht statt. Die Essener Vorstellung erreichte nicht einmal<br />

den halben Lautstärke-Pegel, den wir etwa unter Wiens GMD zuletzt<br />

verzeichnen konnten. Und das lag nicht etwa am tiefer liegenden<br />

Orchestergraben, sondern an der Dirigierweise des Maestro. Hauptgebot<br />

war offensichtlich: Wort und Ton zu gleichem Recht kommen zu lassen,<br />

die seelischen Regungen der handelnden Personen in den Vordergrund zu<br />

stellen und dabei Wagners Ton- und Gedankenflut allezeit in pulsierender<br />

Bewegung zu halten. Keine Rede von orchestraler Dominanz, trotz<br />

„normaler“ Orchesterbesetzung, wohl aber eine ganzheitliche Vermittlung<br />

der Aussage dieser Musik, bestehend aus Instrumental- und Vokalbeitrag.<br />

Wir haben natürlich in vielen Aufführungen den Text des Liebesduetts,<br />

den von Markes Monolog oder den Beginn des 3. Akts deutlich vernommen,<br />

aber „wann ward es erlebt“, dass man von Brangäne im 1. Akt jedes<br />

Wort verstand? „Heut hast du’s erlebt!“ konstatierten wir nach der Aufführung.<br />

Und trotzdem ging nichts an Intensität und Klangschönheit verloren,<br />

schon deshalb, weil niemand zu forcieren brauchte, um gehört zu<br />

werden. Dahinter steckt natürlich ein immenses Können von Seiten des<br />

Dirigenten und der gute Wille der Essener Philharmoniker, sich davon<br />

inspirieren zu lassen. Vielleicht wollte Schneider aber auch auf Koskys Inszenierung<br />

eingehen, die das Liebespaar sowohl im 1. wie im 2. Akt, zusammen<br />

mit den anderen Personen, in einen engen Raum zwängt, aus<br />

dem für die beiden kein Entkommen ist. In der Liebesnacht dreht sich<br />

das kleine Zimmer, wo sie abwechselnd stehen, knien oder aneinander<br />

geschmiegt liegen, im Kreise. Auch im 3. Akt, wo Tristans Wunde von<br />

Kurwenal sehr realistisch gepflegt wird, ruht der Helde nur im Lehnstuhl<br />

oder steht daneben. Dass der Tote zu Beginn von Isoldes „Liebestod“<br />

einfach aufsteht und abgeht, ebenso wie sie zum orchestralen Ausklang,<br />

muss nicht unbedingt goutiert werden, bietet aber zumindest ein Gegengewicht<br />

zum vorangegangenen szenischen Realismus, sodass der Dirigent,<br />

passend zur Szene, endlich „loslassen“ und nach dem stundenlangen unerfüllten<br />

Sehnen, Aufbegehren und Leiden der Liebenden als Erlösung<br />

von der schmerzlichen Tristan-Chromatik zuletzt ein wunderbar crescendiertes,<br />

hymnisches H-Dur-Finale aufbauen kann, das jene Transzendenz<br />

suggeriert, die Wagner nun einmal komponiert hat.<br />

Mehr als beachtlich auch die Sängerbesetzung. Bei Evelyn Herlitzius hat<br />

man sich daran gewöhnt, dass sie keine Balsamstimme besitzt. Ihr furioser<br />

Einsatz in allen Belangen, körperlich, mimisch, in der sprachlichen<br />

und vokalen Gestaltung der Rolle (und aller anderen!) hat oftmals die<br />

Befürchtung aufkommen lassen, ihre Karriere werde kurz sein. Aber ihr<br />

Gestaltungswille und ihre latente Kraft sind offenbar größer als geglaubt.<br />

Diese Isolde glüht innerlich, kämpft wie eine Tigerin um ihr Glück und<br />

gibt sich dem gemeinsamen, verklärten Nachterlebnis dann mit derselben<br />

Totalität hin. Vergleichsweise zurückhaltend, nicht nur im 1. Akt,<br />

spielt Jeffrey Dowd seine Rolle, singt den Tristan jedoch hervorragend,<br />

mit immer schönem, rundem Ton, durchgehend im Legato, bis hinein<br />

in die Wahnsinnsausbrüche des 3. Aktes. Einziges Manko: sein Gesichtsausdruck<br />

kennt keine Varianten – immer gleich gram- und schmerzvoll.<br />

Möglich auch, dass er unter weniger rücksichtsvollen Dirigenten an großen<br />

Häusern Durchsetzungsschwierigkeiten hätte. Aber einen Künstler<br />

im Hausensemble zu haben, der das gesamte schwere Fach so souverän<br />

bewältigt, ist schon ein Privileg für ein Theater.<br />

Allererste Klasse waren auch Brangäne und Kurwenal. Die Schwedin Martina<br />

Dike (in Bayreuth eine der Walküren, andernorts im gesamten deutschen<br />

Mezzofach zu hören) bringt einen leuchtenden Mezzo zum Einsatz,<br />

der in allen Lagen bis in die strapaziösen Höhen mit wunderbarer Selbstverständlichkeit<br />

funktioniert und durch eine fabelhafte Wort-Ton-Gestaltung<br />

Evelyn Herlitzius (Isolde) und Jeffrey Dowd (Tristan)<br />

(© Mathilde Jung)<br />

begeistert. Sie ist für Isolde eine ebenbürtige Partnerin, deren Argumente<br />

nicht zu ignorieren sind. Ich bin überzeugt, dass diese Sängerin ebenso wie<br />

der prächtige Kurwenal Heiko Trinsinger an jeder Weltbühne reussieren<br />

könnte. Auch er fesselt mit seinem kernigen, flexiblen, ausdrucksstarken Bariton<br />

und lebhaftem Spiel. Ebenfalls sehr präsent der schönstimmige, sein<br />

trauriges und humanes Anliegen gut artikulierende König Marke von Ante<br />

Jerkunica. Mateusz Kabala als Melot, Albrecht Kludszuweit als Hirte,<br />

Rainer Maria Röhr als Seemann und Thomas Sehrbock als Steuermann<br />

boten treffliche Ensemble-Beiträge. <strong>Der</strong> über Verstärker von außen singende<br />

Herrenchor kann hinsichtlich Klangqualität nicht wirklich beurteilt werden.<br />

Dass Wagners Botschaft angekommen ist, bewiesen die Schweigeminuten<br />

nach dem letzten Takt. Immerhin gab es mehrere Verbeugungsdurchgänge<br />

für alle Solisten, unter denen natürlich die leidenschaftliche Isolde<br />

den größten Beifall einheimste, und nachdem Peter Schneider bereits vor<br />

dem 2. Akt mit etlichen Bravo-Rufen und vor dem 3. Akt mit sehr vielen<br />

bedacht worden war, durfte er sich am Ende über den stärksten Applausanteil<br />

freuen. <br />

Sieglinde Pfabigan<br />

54 | DER NEUE MERKER 12/2013


Deutschland<br />

Philharmonie Essen:<br />

VITTORIO GRIGOLO & FILARMONICA DELLA SCALA<br />

Im sog. Stadtgarten, der eigentlich ein Kulturpark ist, steht schräg gegenüber<br />

dem Aalto Theater das Gebäude der Philharmonie, wo dasselbe Orchester<br />

beheimatet ist, das auch in der Oper auftritt. Ein paar Schritte<br />

weiter findet sich das berühmte Folkwang-Museum. Außen um den Park<br />

herum flutet der Verkehr der wichtigsten Geschäftsstadt des Ruhrgebiets,<br />

die auch noch ein Schauspielhaus, das sog. Grillo-Theater (nach dem Erbauer<br />

benannt) und ehem. erstes Opernhaus der Region, anzubieten hat.<br />

Das Jahresprogramm der Philharmonie ist beachtlich. Alle Musikgattungen<br />

kommen zum Zug, viele prominente Namen aus der internationalen<br />

Musikwelt sind zu lesen.<br />

So nützte ich den Abend vor der „Tristan“-Aufführung zum Kennenlernen<br />

dieser Institution. <strong>Der</strong> außen wie innen freundlich-helle Bau bietet<br />

großräumige Foyers und einen holzgetäfelten Saal mit breiter Bühne, ansteigenden<br />

Sitzreihen und guter Akustik. Eine Büste im Eingangsbereich<br />

stellt nicht, wie erwartet, einen Komponisten oder Dirigenten dar, sondern<br />

Alfred Krupp, den vielfachen Kulturstifter dieser Region.<br />

Gäste aus Italien bestritten den Abend. Vittorio Grigolo, das „Zugpferd“<br />

dieses Konzerts, brachte echtes mediterranes Flair ins dichtest besiedelte<br />

Gebiet Deutschlands. Leider mit nur drei Arien, die er ganz wunderbar<br />

sang: Aus Donizettis unvollendeter Oper „Il Duca d’Alba“ die beliebte<br />

Tenor-Nummer „Angelo casto e bel“ des Marcello, der sich als Sohn des<br />

Herzogs von Alba, des grausamen spanischen Unterdrückers von Flandern,<br />

dem flandrischen Widerstand angeschlossen hat und in einer herzzerreißenden<br />

Kantilene seiner geliebten Amalia gedenkt, seines „Engels“,<br />

mit dem ihm kein anhaltendes Liebesglück winkt. In kultiviertem Legato<br />

flößt der Sänger mit schönem Tenortimbre dem unglücklichen jungen<br />

Mann viel Gefühl ein. Genauso berückend gelingt ihm Nemorinos<br />

„Una furtiva lagrima“, mit langem Atem wunderbar gesteigert und am<br />

Schluss in ein berührendes pp zurückgenommen – er muss und wird seine<br />

Adina bekommen! Locker und natürlich in Haltung und Auftreten, belässt<br />

Grigolo es dann bei Besingung der „gelida manina“ nicht beim Stehen,<br />

sondern macht uns glauben, dass er die Arie – mit strahlendem hohem<br />

„speranza“-C – seiner (fingierten) Mimi zusingt, für die er am Ende<br />

an der Rampe sogar in die Knie sinkt.<br />

Was man instrumental aus italienischen Opern hörte, ließ viele Wünsche<br />

offen. Nicht nur hätte man statt zwei langer Ouvertüren (Rossinis<br />

„Barbiere“ und Verdis „Vespri“) und dem Zwischenspiel aus „Cavalleria<br />

rusticana“ gern mehr vom Tenorstar gehört, sondern der Dirigent Andrés<br />

Orozco-Estrada (uns als Leiter des Niederösterr. Tonkünstlerorchesters<br />

wohlbekannt) verabsäumte es, daraus Opernmusik zu machen. Alles<br />

klang zu symphonisch-neutral, es fehlte am rechten Aufbau, am Stimmungsgehalt<br />

und als Begleiter des Sängers drifteten die Gruppen mehrmals<br />

auseinander. Vittorio Grigolo musste selbst das Ruder in die Hand<br />

nehmen, um seine Gesangsnummern kompakt darbieten zu können. Bei<br />

dem als Draufgabe zum Verdi-Jahr präsentierten „La donna è mobile“, das<br />

der Sänger mit hinreißender Vitalität startete, konnte das Orchester überhaupt<br />

nicht mithalten. Dass der Maestro im rein symphonischen Bereich<br />

besser beheimatet ist, konnte er nach der Pause bei Mussorgskys „Bildern<br />

einer Ausstellung“ (in der orchestrierten Fassung von Ravel) beweisen,<br />

wo die Filarmonica della Scala sich als ebenso kompetenter Klangkörper<br />

präsentierte. <br />

Sieglinde Pfabigan<br />

Lübeck: „TRISTAN UND ISOLDE“ – NI 10.11.<br />

In Lübeck inszenierte der mit dem „Ring“ und „Parsifal“ hier sehr erfolgreiche<br />

Anthony Pilavachi mit dramaturgischer Assistenz von Richard Erkens<br />

nun „Tristan und Isolde“ als unerfüllte romantische Liebesbeziehung<br />

Richard Wagners (alias Tristan) zu Mathilde Wesendonck (alias Isolde)<br />

und siedelte das Stück in einem großbürgerlichen Ambiente an. Gleich zu<br />

Beginn sieht man statt auf ein Schiffsdeck in ein schon etwas vom Verfall<br />

gezeichnetes hochherrschaftliches Zimmer. Es ist bereits zum eleganten<br />

Diner gerichtet, welches natürlich nie stattfinden wird…Tatjana Ivschina<br />

ist für das über die drei Aufzüge weiter verfallende Bühnenbild und die<br />

zu dieser Ästhetik passenden Kostüme aus der Entstehungszeit des Werkes<br />

verantwortlich. Dass wir uns dennoch auf einer Reise befinden, einer<br />

Reise durch stärkste Emotionen und Gefühle, wie sich bald herausstellen<br />

wird, ist an den Schiffsplanken des Bodens sichtbar, die später das Licht<br />

von unten durchlassen.<br />

Anthony Pilavachi – und das hat er an diesem Hause, welches untrennbar<br />

mit dem Namen Thomas Manns verbunden ist, schon wiederholt unter<br />

Beweis gestellt – ist ein Meister der Psychologie. Man erlebt mit seinem<br />

„Tristan“ ein äußerst spannendes psychologisches Musikdrama, welches<br />

alle emotionalen Facetten und menschlichen Enttäuschungen der Protagonisten<br />

konsequent aufzudecken vermag.<br />

Schon bei der ersten Begegnung Tristans mit Isolde, nachdem Isolde und<br />

Brangäne in wartender Haltung schwer vom jungen Seemann, Kurwenal<br />

und deren Entourage gedemütigt worden sind, gibt es eine zärtliche Annäherung,<br />

welche die ganz große Liebe wenig später unmissverständlich erahnen<br />

lässt. Ein Liebestrank ist kaum noch nötig. Die Kussorgie mit überstürzten<br />

Entkleidungsversuchen, die zum Schluss des 1. Aufzugs Tristan<br />

und Isolde für den gebieterischen Eintritt König Markes und seines Gefolges<br />

erblinden lässt, sucht in „Tristan“-Inszenierungen der letzten Jahre<br />

sicher ihresgleichen… Auch hier dachte Pilavachi nicht zuletzt wohl an<br />

Biografisches aus dem Leben des Komponisten…Die Lichtregie von Falk<br />

Hampel trägt enorm zur Suggestivkraft dieser und späterer Szenen bei.<br />

Mit einer unerträglichen Fixierung Isoldes durch Marke beginnt der 2.<br />

Aufzug in ebenso tiefer Depression wie der erste im Liebestaumel endete.<br />

Sublim, aber schon Gefahr andeutend, sieht man langsam die Fackelträger<br />

der Jagdgesellschaft im Wald verschwinden und die Hörner verhallen –<br />

auch hier psychologisch stark aufgeladene Bilder. Schon kündigt sich der<br />

Herbst mit Laub im verfallenden Zimmer an, der Kronleuchter hängt in<br />

Edith Haller (Isolde) und Wioletta Hebrowska (Brangäne)<br />

(© Jochen Quast)<br />

Trümmern herunter, die Dinner-Stühle sind achtlos in die Ecke geworfen.<br />

In diesem Ambiente lebt beider Liebe noch einmal höchst romantisch<br />

auf, als Tristan zu Isolde tritt und ihr, also Mathilde Wesendonck,<br />

ihre von ihm vertonten (Wesendonck-) Lieder übergibt – eine Szene von<br />

größter Poesie und Intimität, zweifellos das Herzstück dieser Inszenierung.<br />

Die über alles loyale Dienerin ihrer Herrin, Brangäne, hat zuvor mit mehr<br />

oder weniger Erfolg Melot vertrieben.<br />

Die Romantik der Liebe hat aber bei Pilavachi auch eine erotische und<br />

damit durchaus wirklichkeitsnahe Entsprechung. Während der in Liebesschwelgen<br />

versinkenden Musik nach dem Duett gehen beide kurz<br />

aus der Szene und kommen mit Badehandtuch bzw. heraushängendem<br />

Hemd wieder herein. Da war also doch was…In der „echten“ Liebesbeziehung<br />

Wagners zu Mathilde blieb das ja bis heute im Dunkel. Man war<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 55


Deutschland<br />

allerdings gut beraten, diesen kurzen Ausflug in den Verismo sinnbildlich<br />

zu deuten, denn ein „Quickie“ solcher Art hätte der bisher zu erlebenden<br />

Ästhetik doch widersprochen… Realistisch drastisch ist dann allerdings<br />

auch der Selbstmordversuch Tristans, der sich das Messer Melots<br />

mehrmals in den Leib rammt. Isolde wird überhastet weggerissen, ein tiefer<br />

Fall… Bei aller poetischen und psychologischen Schwerpunktsetzung<br />

macht der Regisseur immer wieder klar, dass ihm auch am Realitätsgehalt<br />

dieses Meisterwerkes gelegen ist.<br />

<strong>Der</strong> 3. Aufzug bringt tiefgründige Assoziationen an das Ende Wagners<br />

in Venedig. Verschwommen gewahrt man den dunklen Canale Grande<br />

über der Szene, in der Tristan an einem Flügel sitzt und letzte Noten für<br />

Mathilde schreibt. Die kontemplative Aura wird zweimal unterbrochen<br />

von dem „jungen Tristan“, der mit einem Grabkranz an den Tod in Venedig<br />

erinnert, während einige schwarz gekleidete Männer im Hintergrund<br />

Wagners Sarg aus dem Palazzo Vendramin hinaustragen…Düstere Melancholie<br />

liegt über allem, verstärkt natürlich durch ein wunderschön gespieltes<br />

Englischhorn-Solo von Wolfgang Eickmeyer an Tristans Seite. In<br />

einem wundersam poetischen Schluss siegen Liebe und Kunst über den<br />

Tod: Isolde tritt aus gleißendem Licht zum sterbenden Tristan, der noch<br />

einmal erwacht und ihr die aus allen Richtungen herabfallenden Notenblätter<br />

gibt – wie im 2. Aufzug, ein letzter Akt der Liebe und Zuneigung.<br />

Sie setzt ihm den Lorbeerkranz auf, und er schläft in poetischem Frieden<br />

mit sich selbst ein. Ein Schluss, der in seiner Subtilität und Gefühlsintensität<br />

wie damals Pilavachis Finale der „Götterdämmerung“ bestens<br />

zum vorher Erlebten passte.<br />

Edith Haller sang ihre erste Isolde mit ihrem in der Mittellage gut fundierten<br />

hellen Sopran und exzellenter Diktion und Phrasierung. Sie scheint<br />

bei aller darstellerischen Qualität in der Umsetzung dieses Rollenprofils<br />

sängerisch gleichwohl noch nicht hundertprozentig in der Partie angekommen<br />

zu sein. Schon im 1. Aufzug, mehr noch aber im Duett mit Tristan<br />

im zweiten, wo auch hohe Cs zu singen sind, neigt ihr Sopran in der<br />

Höhe zu leichter Schärfe. Für den Rezensenten ist sie stimmlich doch eher<br />

noch eine Sieglinde. Peter Svensson als äußerst kurzfristiger Einspringer<br />

für Richard Decker bestach durch seinen kraftvollen Heldentenor und<br />

eine an psychologischer Intensität im Leiden keine Wünsche offen lassende<br />

Darstellung. Svensson ist ein wahrer Heldentenor mit stählerner,<br />

glanzvoller Höhe. Seine stimmliche Kraft könnte er manchmal zugunsten<br />

einer feineren Modulierung etwas zurücknehmen, wie sein Vortrag<br />

bisweilen auch weniger expressiv sein könnte. Er hat dazu alle stimmlichen<br />

Mittel. Das bewies er u.a. mit wunderschönem Legato etwa bei „Das<br />

Schiff, siehst Du’s noch nicht…?“<br />

Die dem Rezensenten in Lübeck schon länger auffallende polnische Mezzosopranistin<br />

Wioletta Hebrowska bekam nun mit der Brangäne auch<br />

eine erste große Wagner-Rolle. Sie machte dies darstellerisch und auch<br />

sängerisch mit ihrem hell getönten und farbigen Mezzo vorzüglich. Nur<br />

bei einigen Höhen kam sie leicht an ihren stimmlichen Grenzbereich.<br />

Martin Blasius sang einen erschütterten und unglaublich leidenden König<br />

Marke mit großem Bassvolumen, viel Ausdruck und guter Phrasierung,<br />

wenn auch nicht immer mit bester stimmlicher Beweglichkeit.<br />

Michael Vier gab einen kantig prägnanten und stimmstarken Kurwenal,<br />

fand im 3. Aufzug aber auch zu schönen lyrischen Momenten. Tadellos<br />

der Rest des Ensembles mit dem sehr guten Melot von Jonhoon<br />

You, den Pilavachi wie Ägisth in „Elektra“ abstechen lässt, Daniel Jenz<br />

als jungem Seemann und Hirten mit klangreinem Tenor und Kong Seok<br />

Choi als Steuermann. Exzellent auch die Herren des Chores und Extrachores<br />

des Theater Lübeck. Allerdings klangen – wohl auch begünstigt<br />

durch die relativ kleine Bühnenbox – fast alle Stimmen oft zu laut,<br />

zumindest im Parkett.<br />

<strong>Der</strong> frühere GMD Roman Brogli-Sacher kehrte an das Theater in der Beckerstrasse<br />

zurück. Er machte mit seiner fesselnden Wagner-Interpretation<br />

deutlich, was er an diesem Hause für die Musik des Bayreuther Meisters<br />

geleistet hat. Das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck<br />

spielte wieder einmal auf beeindruckend hohem Niveau. Er ließ im Vorspiel<br />

auch etwas – hier durchaus einmal angebrachtes – Pathos aufkommen<br />

und modulierte die vielen Steigerungen und kontemplativen Phasen<br />

mit der versierten Hand eines Kenners der Wagnerschen Musik. Ein<br />

erneutes Lob für das doch relativ kleine Lübecker Haus, ein solch hohes<br />

Niveau regelmäßig zu erreichen. <br />

Klaus Billand<br />

Die ebenso sehens- wie hörenswerte Produktion ist noch zu erleben am<br />

29.12.2013, 19.1., 23.2., 23.3., 13.4., 27.4. und 11.5.2014.<br />

Füssen:<br />

Schloss Neuschwanstein: „TRISTAN UND ISOLDE“<br />

– Konzert 22.9.<br />

Dara Hobbs‘ fabelhafte Isolde<br />

Im Sängersaal von Königs Ludwigs des Zweiten Schloss Neuschwanstein<br />

finden seit einigen Jahren beachtenswerte Konzerte statt. Dieses Jahr stand<br />

sogar an drei Abenden die konzertante Wiedergabe des 2. Aktes von Wagners<br />

„Tristan und Isolde“ auf dem Spielplan. Aufgespielt hat die Deutsche<br />

Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz unter dem Dirigenten Karl-Heinz<br />

Steffens. Dieser, ehemaliger Solo-Klarinettist der Berliner Philharmoniker,<br />

leitete den mehr als ordentlichen Klangkörper auch unter den erschwerten<br />

akustischen Bedingungen des für Wagner-Klänge eigentlich zu kleinen<br />

Sängersaales sicher<br />

und fest. Seine Tempi<br />

waren flüssig, die Orchester-Besetzung<br />

gerade<br />

noch dem Raum<br />

angepasst, wenn auch<br />

in Forte-Stellen gar<br />

etwas dröhnend, aber<br />

sonst war nichts zu<br />

beklagen. Die Soli der<br />

Instrumentalisten waren<br />

tadellos. Also, der<br />

Klang-Teppich war gelegt<br />

für eine erstaunliche<br />

Besetzung.<br />

Viel hatte man schon<br />

gehört von einer<br />

<strong>neue</strong>n Wagner-Sängerin,<br />

der Isolde aus<br />

Bonn, die dort und zuvor<br />

in Minden schon<br />

mächtig Furore gemacht<br />

hatte. Dara<br />

Hobbs, gebürtig aus<br />

Wisconsin USA, groß<br />

gewachsen, blond, gut<br />

Dara Hobbs (Isolde) (© M. Stutte)<br />

aussehend, sympathische<br />

Ausstrahlung und<br />

vor allem: eine richtige Wagner-Stimme. Nirgends war da irgendeine Anstrengung<br />

zu hören, mit der sie hätte gegen das Orchester ansingen müssen.<br />

Im Gegenteil, die Stimme ist herrlich ausgewogen, hat ein Timbre,<br />

das nicht von ungefähr an das von Birgit Nilsson anklingt. Ganz klar wird<br />

die stimmliche Verwandtschaft in der absolut freien Höhe, deren die Partie<br />

der Isolde einige aufzuweisen hat. Zwei hohe C’s im Liebesduett, die<br />

sie tadellos und strahlend platzierte. Auch das vorangegangene „Es werde<br />

Nacht!“ war zum Niederknien. Dazu eine flexible Mittellage, die Farben<br />

aufweist, die für die Gestaltung von Wagner-Partien besonders wichtig ist.<br />

Und immer wieder staunt man bei anglosächsischen Sängern über deren<br />

fabelhafte deutsche Aussprache. Keine Vokalverfärbung. die Vokale waren<br />

wunderbat natürlich geformt und die sie umschließenden Konsonan-<br />

56 | DER NEUE MERKER 12/2013


Deutschland<br />

ten gaben den Tönen ihre Form, ohne übertrieben „gespuckt“ zu werden.<br />

Als Brangäne war die mir unbekannte Julia Faylenbogen zu hören. Mit einer<br />

schönen Mezzostimme versehen, mit guter Höhe, sang sie den Wachtgesang,<br />

auf dem Balkon über dem Orchester platziert, volltönend und<br />

eindringlich. Als Tristan war Michael Baba mit von der Partie. Ein solider,<br />

guter Wagner-Sänger, alles gelingt ihm und man hat bei ihm nie das<br />

Gefühl, dass es ihm sonderlich Mühe bereiten würde, gegen die Wagnersche<br />

Orchesterflut anzusingen. Doch während seine Isolde in Ausdruck<br />

und Gebärde ganz in der Rolle war, wirkte Baba dagegen eher wie ein reservierter<br />

Konzertsänger und gab nicht viel Ausstrahlung ab. Leider war<br />

die Besetzung des Königs Marke mit Robert Holl kein guter Griff. Holl,<br />

eine lange und solide Karriere hinter sich wissend, investierte viel in den<br />

Monolog, aber leider wollte die Stimme nicht recht mitmachen. Zu hohl<br />

und knarrig klang sie, um den Argumenten Markes jene Eindringlichkeit<br />

zu verleihen, die sie sonst auch haben. Schade, dass wir Holl so hören mussten.<br />

Dagegen nahm Thomas de Vries als Melot seine Chance wahr, seine<br />

Anklage bebend vor Wut vorzubringen. Leider hat der Kurwenal im 2. Akt<br />

nur höchst wenig zu singen – von Marios Sarantidis hätte man gern mehr<br />

vernommen. – Nach der Pause gab‘s dann noch ein hervorragend musiziertes<br />

Vorspiel zum 1. Akt und einen herrlich durchglühten Liebestod, in<br />

dem Dara Hobbs einmal mehr beweisen konnte, dass sie ein großer Gewinn<br />

für die Welt des aktuellen Wagner-Gesangs darstellt. Freuen wir uns<br />

auf weitere Begegnungen mit ihr! <br />

John H. Mueller<br />

Nürnberg: „DAS RHEINGOLD“<br />

Pr. – 30.11. –<br />

Freia und die Riesen (Michaela Maria Mayer mit Taehyun Jun und Nicolai<br />

Karnolsky) (© Staatstheater Nürnberg)<br />

Zum Abschluss des Wagner (und Verdi) Jahres 2013 hätte man sich ja<br />

gleich den ganzen RING DES NIBELUNGEN von Richard Wagner gewünscht,<br />

aber so mussten wir uns mit einem sehr vielversprechenden Ausblick<br />

des restlos ausverkauften Staatstheaters Nürnberg auf den RING<br />

mit RHEINGOLD zufrieden geben. Wenn das Publikum in atemloser<br />

Stille verharrt und kein auch noch so kleiner Laut die Andacht trübt, und<br />

man erwartungsvoll lauscht…dann beginnt das tiefe Es der Kontrabässe…<br />

und der erste wohlige Schauer überläuft den Rücken des Wagnerianers…<br />

dann ist es so weit: Mit dem Vorabend des Bühnenfestspiels RING DES<br />

NIBELUNGEN beginnt die erhabene Tetralogie.<br />

Das Bühnenbild von Stefan Brandtmayr in der Inszenierung von Georg<br />

Schmiedleitner hinterlässt so den Eindruck, dass alles auf einer riesigen<br />

Müllhalde passiert. Und dies in den mehr oder weniger beliebigen Kostümen<br />

von Alfred Mayerhofer. Unmengen von Plastikfolie und Wasserflaschen<br />

sind auf dem Boden mehr oder weniger kunstvoll drapiert, sollen<br />

wohl die Wogen des Rheins darstellen. Dann senkt sich noch ein Algenwald<br />

herab und wir sind wirklich unter Wasser. Inmitten dieser Szenerie<br />

erhebt sich ein riesiges Podest mit echten Badewannen, in denen die Rheintöchter<br />

umher plantschen und den armen Alberich nassspritzen. Dieser<br />

bemächtigt sich ja bekanntlich des Goldes und lässt selbiges in flüssiger<br />

Form mit so einer Art Dusche aus dem Kanister über sich laufen…Wotan<br />

bedient Fricka erst von hinten, dann von vorne und genießt schlussendlich<br />

auf einem Sofa, das sich in den Plastikmüll verirrt hat, die sogenannte<br />

Reiterstellung. Da allen Wagners Musik heilig ist, ertönen keine<br />

Szene-Buhs. Was Wunder, dass der Götterboss von diesen Aktivitäten, die,<br />

damit sie auch ja keiner verpasst, per Videoprojektion von Boris Brinkmann<br />

und Stefan Brandtmayr auf den Bühnenhintergrund in Großaufnahme<br />

projiziert werden, ermattet ist; aber mit den Worten „Wotan! Gemahl!<br />

Erwache!“ wird der Chef nach gehabten ehelichen Vergnügungen<br />

nun wieder auf die Bühne heldisch-göttlicher Aktion zurück gerufen. Und<br />

die ist bitter vonnöten, nahen doch die finsteren Riesen Fasolt und Fafner,<br />

um Freia als Lohn für die Vollendung Walhalls einzuklagen. Georg<br />

Schmiedleitner hat nicht mal den Versuch unternommen, uns mit Riesen<br />

zu konfrontieren, es sind einfach etwas derbe Herren in blauen Anzügen…<br />

Mit Loge geht’s dann ab in die Unterwelt. Hier sitzt, inzwischen kann er<br />

sich vom Golde einen Smoking leisten, Alberich, und dirigiert das ambosshämmernde<br />

Nibelungenorchester. Mime sieht aus wie ein Spätachtundsechziger<br />

Hippie-Aussiedler aus dem Haight/Ashbury District in San<br />

Francisco und muss viele Tritte und Schläge kassieren. <strong>Der</strong> Tarnhelm ist,<br />

wie schon oft gesehen, ein goldenes Tuch, das man sich über den Kopf<br />

legt, und Alberich wird erst zu einer Riesen-Raupe oder so und dann zu<br />

einem Froschkönig, der von Loge und Wotan auch gleich übel misshandelt<br />

wird. Ebenso kommt hier (in Video-Großaufnahme) die Version zur<br />

Darstellung, wonach Wotan Alberich den Finger abschneidet, um an den<br />

„gelben Reif“ zu kommen. Meiner Meinung nach gibt Wagner das aber<br />

nicht her…Wieder in der Götterwelt zurück, erscheint mit einem gewaltigen<br />

Blendscheinwerfer, der die Zuschauer die Hände vor die Augen halten<br />

lässt, Erda – mit blankem Busen und einer Fasanenfederkrone wie die<br />

Königin der Nacht, um Wotan zu ermahnen. Während Fricka ein weißrosa<br />

blinkendes Lebkuchenhaus, das sehr an die Walhalla bei Regensburg<br />

erinnern soll und mit einem „W“ verziert ist, hochhält, kann von der Burg<br />

Besitz genommen werden: Im Hintergrund der Bühne erscheint ein düsteres<br />

Gemäuer, das sehr an ein südamerikanisches Foltergefängnis erinnert,<br />

und zu den Klängen des „Einzugs der Götter nach Walhall“ transformiert<br />

sich dies in eine lichtdurchbrochene Fensterfront, während Loge<br />

über das Ende der Götter sinniert…<br />

Marcus Bosch am Pult der Staatsphilharmonie Nürnberg lässt das Rheingold<br />

quasi kammermusikalisch erklingen. Die Sänger werden’s ihm gedankt<br />

haben – und für Kenner war das ein echtes Bayreuth-Feeling. Allerdings<br />

glaube ich, dass die Mehrheit der Zuschauer einen laut krachenden<br />

Wagner bevorzugt hätte. <strong>Der</strong> Nürnberger Meistersinger, Stimmwunder<br />

Vincent Wolfsteiner (obwohl angesagt), führte die großartige Sängerriege<br />

an. Fabelhafte Darstellung des listigen Loge, perfekter Sang; aber ich<br />

glaube, hier hat er sich erst warmgelaufen für den „eigentlichen“ RING.<br />

Beeindruckend souverän der Wotan von Gast Egils Silinš, der mit überaus<br />

gepflegter Stimme kurzfristig für den eigentlich vorgesehenen Randall<br />

Jakobsh dankenswerterweise eingesprungen ist. Antonio Yang – ein unvergesslicher<br />

Alberich. Stark in der Stimme, stark im Spiel. Hans Kittelmann<br />

hatte als geplagter Schmied Mime zwar nur einen kurzen Auftritt,<br />

wusste sich aber insbesondere auch durch seine Darstellung der Partie in<br />

die Herzen der Zuschauer zu singen. Adäquate Leistungen von David Yim<br />

als Froh, Martin Berner als Donner, Taehyun Jun als Fasolt und Nicolai<br />

Karnolsky als Fafner. Ein Lob geht auch an Roswitha Christina Müller<br />

als Fricka und Michaela Maria Mayer als Freia und ein Extralob an Leila<br />

Pfister als Erda. Nicht zu vergessen auch die sexy drei Rheintöchter in –<br />

überraschend – zivilen Kostümen, nämlich Hrachuhí Bassénz als Woglinde,<br />

Leah Gordon als Wellgunde und Judita Nagyová als Flosshilde.<br />

Riesen-Applaus hochverdient für alle, am meisten für Vincent Wolfsteiner.<br />

Bei der Regie gab es im Publikum offenbar eine Große Koalition zwischen<br />

Buhrufern und Bravoschreiern: Unentschieden!<br />

Versäumen Sie nicht WALKÜRE am Sa.5. April 2014 in Nürnberg!<br />

<br />

Rüdiger Ehlert<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 57


Deutschland<br />

Schweinfurt:<br />

„<strong>Der</strong> Fliegende Holländer“ – 23.11.<br />

Ukrainisch-deutsches Kulturprojekt<br />

Eine ganz besondere Wagner-Aufführung konnte man am Theater der<br />

Stadt Schweinfurt erleben. Besonders deshalb, weil es die erste Inszenierung<br />

einer Oper eines deutschen Komponisten in der Ukraine überhaupt<br />

ist und dort als „das Kulturereignis“ bezeichnet wurde. Man hatte sich zu<br />

Richard Wagners 200. Geburtstag für dieses Werk entschieden. Die Premiere<br />

im Nationaltheater Donetsk hatte bereits im Dezember 2012 stattgefunden.<br />

Außer einer Tournee innerhalb des Landes wurde die erste Vorstellung<br />

außerhalb der Ukraine in Schweinfurt gezeigt.<br />

Verantwortlich für den kulturellen Austausch ist der Geschäftsführer von<br />

Pro Musica Classic GmbH, Alexander Jankow, der seit Jahren mit Vasyl<br />

Ryabenkyy, Generaldirektor des Nationaltheaters Donetsk, befreundet ist.<br />

Als eine „nie da gewesene ukrainisch und deutsche Symbiose“ bezeichnet der<br />

deutsche Botschafter in der Ukraine, Dr. Christof Weil, dieses Ereignis.<br />

Mit der jungen deutschen Mara Kurotschka hatte man eine Regisseurin<br />

gewonnen, die auch der Inszenierung einen besonderen Stempel aufdrückte.<br />

Sie verpackt die Sage über den Holländer in eine Rahmenhandlung,<br />

in der Senta diese Geschichte „nur“ träumt, in der die realen<br />

Erlebnisse als metaphorische Traumbegebenheiten und -begegnungen erscheinen.<br />

Damit legt sie eine <strong>neue</strong> Interpretation in die Handlung, was<br />

aber weder den Inhalt verzerrt noch stört. Im Gegenteil. Dank eines unglaublich<br />

schönen Bühnenbildes und effektvoller Videoclipse von Momme<br />

Hinrichs und Torge Möller, die bereits bei den Opernfestspielen in Salzburg,<br />

Bregenz und Bayreuth mitwirkten, wurde die Inszenierung zu einem<br />

eindrucksvollen, spannenden Erlebnis.<br />

Wenn man den Zuschauerraum betritt, sieht man ein auf den Bühnenvorhang<br />

projektiertes Hochzeitsbild, das Senta und Erik als Hochzeitspaar<br />

zeigt. Erklingt die Ouvertüre, hebt sich der Vorhang, das Bild löst sich<br />

auf, Senta steht leibhaftig auf der Bühne und erschießt sich. Mit diesem<br />

Selbstmord löst sie sich aus den Zwängen der Ehe sowie der Dominanz<br />

ihres Vaters. Die Phase zwischen dem Schuss und dem Tod wird nun als<br />

Traum erzählt. Hebt sich der zweite Vorhang, sieht man ein Bett, auf dem<br />

Senta mit einem weißen blutbefleckten Kleid liegt. Plötzlich verwandelt<br />

sich das Laken in wogende Wellen, die immer größer werden, die ganze<br />

Bühne einnehmen. Senta schreitet in die Wasserfluten. Das Wasser, das<br />

von den beiden Videokünstlern Hinrichs und Möller so visuell und realistisch<br />

dargebracht wird, ist das beherrschende Element der ganzen Inszenierung.<br />

Diese Video-Bilder, vermischt mit realen Requisiten, erzeugen<br />

eine ungeheure Wirkung und damit extreme Spannung. Man sieht die<br />

Ankunft des Holländers, der sein Schiff durch übergroße Wellen steuern<br />

muss, massig schwappt das Wasser durch die Tür von Sentas Elternhaus,<br />

zieht sich wie Ebbe und Flut zurück und wird am Ende wieder auf die<br />

Bühne gespült, wenn Senta mit dem Holländer in den Fluten verschwindet,<br />

beide erlöst, er von seinem Fluch, sie von den Zwängen, die ihr Leben<br />

belastet haben. Das Schlussbild zeigt Senta tot auf dem Bett liegend.<br />

<strong>Der</strong> Traum ist zu Ende.<br />

Am besuchten Abend waren neben den russischen Sängern zwei namhafte<br />

Gäste aus Deutschland und Österreich engagiert. Zum einen Stefan<br />

Stoll, der die Titelrolle übernahm. Mit klarer Dominanz sang und spielte<br />

er einen faszinierenden Holländer. Sein ausdruckstarker Heldenbariton<br />

beherrschte die Szene. Mit dunklem Bass und klarer Diktion spielte KS.<br />

Walter Fink den Daland. Tatjana Plekhanova, mehr zu Hause im italienischen<br />

Fach, konnte die Schwierigkeiten, die Richard Wagner in die<br />

Partie der Senta komponierte, nur bei den lyrischen Stellen bewältigen.<br />

Darstellerisch gestaltete sie die Traumfigur jedoch absolut überzeugend.<br />

In den weiteren Rollen zeigte Vitalij Kosin als Erik einen zu leichten lyrischen<br />

Tenor, Natalia Matvejeva als Mary ließ mit einer sehr schönen<br />

Mezzostimme aufhorchen, während Vladimir Kamrajev als Steuermann<br />

keinen Eindruck hinterließ. <strong>Der</strong> Chor des Akademischen Nationaltheaters<br />

Donetsk unter Leitung von Lyudmyla Streltsova ergänzte den musikalischen<br />

Teil mit wohlklingender Gestaltungskraft.<br />

Senta entrückt - Tatjana Plekhanova (© Theater Schweinfurt)<br />

Als Dirigent und musikalischer Gesamtleiter fungierte Mykhaylo Synkevych,<br />

der am berühmten Mariinski-Theater St. Petersburg seinen festen<br />

Arbeitsplatz hat. Da waren die Erwartungen hoch gesteckt, die jedoch<br />

im orchestralen Bereich nicht erfüllt wurden. Das Orchester des Akademischen<br />

Nationaltheaters für Oper und Ballett Donetsk spielte zu<br />

laut, und besonders bei den Bläsergruppen gab es Intonationsschwierigkeiten.<br />

Bei einem Gespräch nach der Aufführung mit den Verantwortlichen<br />

der Produktion erfuhr man, dass ein Teil der Instrumente in keinem<br />

guten Zustand ist und das Budget die Kosten für <strong>neue</strong> nicht zulässt.<br />

In vielen Fällen spielen die Musiker sogar mit ihren eigenen Instrumenten.<br />

Dies erklärte den nicht so perfekt klingenden Orchesterapparat, was<br />

jedoch die Gesamtleistung nicht wesentlich schmälerte.<br />

Umso mehr bewundernswerter ist es, dass diese Aufführung – es gab insgesamt<br />

vier in Schweinfurt – stattfinden konnte. Dieser deutsch-ukrainische<br />

Kulturaustausch ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie erfolgreich die<br />

internationale Zusammenarbeit im Kulturbereich sein kann. Gerade bei<br />

den momentanen politischen Schwierigkeiten in der Ukraine ist „dieses<br />

zeitgenössische Kunstwerk“, d. h. die Gemeinschaftsarbeit von Ukrainern<br />

und Deutschen, eine wichtige Botschaft für ein friedliches Zusammenleben<br />

aller Länder, wofür gerade Kultur und Musik die ausschlaggebende<br />

Basis ist. <br />

Inge Lore Tautz<br />

P.S.: Ein außerordentlich gut gestaltetes Programmheft mit ausführlichen<br />

Informationen über die Entstehung der Produktion und die Gastspielreise<br />

nach Deutschland, einem interessanten Interview mit der deutschen<br />

Regisseurin sowie umfangreichen Künstlerprofilen bot eindrucksvolles<br />

Hintergrundwissen.<br />

Hannover:<br />

„DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG“<br />

– WA 9.11.<br />

Sicher, in einer unkonventionellen, ja teilweise befremdenden Optik kamen<br />

sie daher, diese „Meistersinger von Nürnberg“ in der Inszenierung von<br />

Olivier Tambosi, mit dramaturgischer Assistenz von Klaus Angermann,<br />

die in leicht abgewandelter Form auch schon in Linz zu sehen war. In simplizistischen<br />

Bühnenbildern von Bengt Gomér, der die Handlung in einen<br />

einfachen lackweißen Rahmen bei meist wenig variierender Lichtregie<br />

von Elana Siberski stellt, mit teils humoresken Assoziationen an das mittelalterliche<br />

Nürnberg und die Geschichte vom Parnass, aber mehr noch<br />

durch die ebenso simplen wie knalligen T-Shirts aller Protagonisten und<br />

Nebenrollen von Carla Caminati, mögen viele der Hannoveraner nicht<br />

58 | DER NEUE MERKER 12/2013


Deutschland<br />

das erkannt haben, was sie so allgemein für die „Meistersinger“ halten.<br />

Nicht zuletzt das könnte die relativ schwach besuchte Aufführung erklären,<br />

ein selten bei Wagner zu sehendes Phänomen. Dabei sind die Hannoveraner<br />

doch spätestens seit dem „Ring“ von Barrie Kosky alles andere<br />

als traditionelles Wagnersches Musiktheater gewohnt…<br />

Nun ja, dass alle Meistersinger, Eva und Stolzing sowie die Lehrbuben<br />

und auch viele Choristen auf ihren bunten T-Shirts jeweils eine Hauptstadt<br />

der Länder dieser Erde zur Schau tragen, geht nicht jedem sofort<br />

ein, wenngleich es möglicherweise allzu plakativ, aber doch nachhaltig<br />

auf eine großartige Idee des Regisseurs verweist: Das Stück aus seiner engen<br />

Umklammerung durch das Deutsche und das Deutschtum – nicht<br />

zuletzt verkörpert durch das mittelalterliche und kleinbürgerliche Nürnberg<br />

mit seinen Butzenscheiben und anderen Apercus – zu befreien und<br />

zur Huldigung eines globalen Kunstbegriffs auszuweiten. Überzeugende<br />

Regieansätze, die deutschnationale Vereinnahmung der „Meistersinger“<br />

abzuarbeiten, sind schwer zu verwirklichen, wie u.a. die weitgehend gescheiterte<br />

Bayreuther Inszenierung von Katharina Wagner aus dem Jahre<br />

2007 gezeigt hat. Wenn auch optisch nicht immer ganz eingängig, wirkt<br />

Tambosis Regiekonzept hingegen überzeugend, denn er leitet es konsequent<br />

aus seinem Verständnis des Werkes in drei Aspekten ab: Zunächst<br />

geht es ihm um die menschlichen Beziehungen im Stück, insbesondere<br />

das Dreiecksverhältnis zwischen Sachs, Eva und Stolzing. Die menschlichen<br />

Aspekte dieser drei zentralen Figuren sieht er hier bei Wagner viel<br />

stärker verwirklicht als bei den Protagonisten seiner anderen Werke. Zweitens<br />

steht für ihn die Frage der Kunst zur Diskussion. Ist Kunst überhaupt<br />

notwendig? Sollte sie nur einer Elite vorbehalten, oder sollen Kunst und<br />

Kreativität allen zugänglich sein? Und wie geht man mit der Avantgarde<br />

um? Alles total aktuelle Themen! Die für Wagner immer so wichtige gesellschaftliche<br />

und politische, ja bisweilen religiöse (man denke an den in<br />

der Literatur kolportierten Begriff der „Kunstreligion“) Dimension der<br />

Kunst führt schließlich zum dritten Aspekt, den Tambosi in seiner Inszenierung<br />

herausarbeitet, wie er in einem Gespräch mit Klaus Angermann<br />

im Programmheft schildert: „…das Nationale, das bei der Beschäftigung<br />

mit dem Stück heute immer wieder zu Irritationen führt. Wagners Auffassung<br />

von Kunst und Gesellschaft versteht sich hier ausschließlich als „deutsch“,<br />

grenzt Anderes radikal aus und warnt am Ende der Oper explizit vor schädlichen<br />

fremden Einflüssen.“<br />

Dass dieser Abend trotz der manchmal auch von Freunden des Werkes<br />

zugegebenen Längen eine inhärente Spannung hielt, ist Tambosis Hervorhebung<br />

des humanistischen Ideals und der konsequenten Umsetzung<br />

dieser drei Aspekte zu danken. Seine Personenführung ist ganz intensiv<br />

auf die menschlichen Beziehungen konzentriert. Und vor dieser Intensität<br />

wurde der schlichte optische Rahmen zweitrangig, obwohl auch hier<br />

immer wieder klar auf das einzig relevante Thema „Liebe“, welches man<br />

in den Sprachen aller Länder auch auf einem Riesentableau sieht, abgestellt<br />

wird. Auch das Preislied, das Sachs niederschreibt, besteht nur aus<br />

einem Herzen und dem Wort „Liebe“.<br />

Eine noch spartanischere Schusterstube hat der Rezensent nie gesehen<br />

– ein rechteckiger Ausschnitt in der weißen Wand, mit einem Stuhl, einem<br />

Tisch, ein paar Schusteruntensilien. Aber was der Wagner-erfahrene<br />

Oskar Hillebrandt mit seiner enormen Bühnenpersönlichkeit in dieser<br />

kargen Szene macht, ist schon beeindruckend. Er singt und spielt immer<br />

noch mit unveränderter emotionaler Intensität, stets passender und somit<br />

glaubhafter Mimik, bester Diktion sowie starkem Ausdruck den zwischen<br />

großen Gefühlen wankenden Schuster. Dabei lässt er die weiterhin blendenden<br />

Höhen seines Heldenbaritons hören. Wunderbar nachdenklich<br />

auch sein Flieder-Monolog! Hillebrandt war mit seiner großen Menschlichkeit<br />

und Altersweisheit ausstrahlenden Präsenz das Gravitationszentrum<br />

dieser „Meistersinger“-Aufführung – wie schon vor Jahren in der<br />

Mielitz-Produktion an der Wiener Volksoper oder vor ein paar Jahren in<br />

Erl. Es ist wohl kein Zufall, dass ausgerechnet Sachs hier die Stadt Tel Aviv<br />

verkörpert – und Stolzing Teheran…<br />

Auch der Hannoveraner Loge und Siegfried, Robert Künzli, kann mit<br />

seinem beherzten Auftreten viel Emotionalität und jugendliche Direktheit<br />

ausdrücken. Schon beim ersten Treffen mit Eva – natürlich ist weder<br />

eine Katharinenkirche noch ein Chor zu sehen (aber gut zu hören)<br />

– lässt ihn Tambosi nach einem langen und intensiven Blick Eva ebenso<br />

intensiv küssen… Künzli singt den Stolzing mit heldischem Aplomb und<br />

guten Höhen, das Preislied zwar strahlend, aber doch zu sehr mit Kraft.<br />

Sara Eterno verkörpert die Eva mit viel Empathie und singt sie mit einem<br />

klaren, leuchtenden und bestens artikulierten Sopran beeindruckend<br />

gut. Auch die Figur des Beckmesser zeichnet Tambosi bei aller Zurschaustellung<br />

seiner Schwächen und Komplexe schon im Laufe der Handlung,<br />

aber besonders am Ende mit menschlichen Zügen. Er versöhnt sich mit<br />

einer berührenden Geste nach der Niederlage auf der Festwiese mit Stolzing.<br />

Stefan Adam liefert eine exzellente Charakterstudie des Stadtschreibers,<br />

der als einziger keine Stadt auf der Brust trägt, sondern zunächst die<br />

Sonne gibt und am Ende zum Mond mutiert… Stimmlich bleibt Adam<br />

dem Beckmesser auch mit kraftvoller Höhe keine Note schuldig – eine<br />

insgesamt ausgezeichnete Leistung! Per Bach Nissen singt gut den Pogner,<br />

bisweilen mit etwas zu klangloser Höhe, Michael Dries einen gesanglich<br />

nicht überzeugenden Kothner. Ivan Tursic ist ein David mit<br />

klangvollem hellem Tenor, der auf weitere Rollen neugierig macht, Mareike<br />

Morr eine ansprechende Magdalene. Die übrigen Meister singen<br />

anstandslos. Hervorzuheben ist noch die profunde Nachtwächterstimme<br />

von Shavleg Armasi – aus dem 1. Rang.<br />

Tambosi kommt, ganz anders als Peter Konwitschny in seiner Hamburger<br />

Inszenierung, zu einer konstruktiven und ebenso zeitgemäß wie angemessen<br />

wirkenden Alternative in der Schlussansprache des Sachs.<br />

Wenngleich Eingriffe in das Libretto immer problematisch sind, erscheint<br />

dieser gerechtfertigt. Denn er trägt mehr zur Entnationalisierung des Stückes<br />

bei als mancher Regieansatz mit dem Holzhammer. Wagner schrieb<br />

selbst in seiner produktiven theoretischen Zürcher Schaffensphase, dass<br />

das Nationale im Kunstwerk nur eine Dekoration sei…<br />

Karen Kamensek schuf mit dem Niedersächsischen Staatsorchester<br />

Hannover den zu dieser Interpretation genau passenden Klang mit stets<br />

flüssigen Tempi aus dem Graben. Leicht, locker und beschwingt kam sogleich<br />

das Vorspiel daher. Klangvolle Bläser machten auch das Vorspiel<br />

zum 3. Aufzug zu einem wahren Hörgenuss. Hier war kein Raum für Pathos.<br />

Das Orchester spielte den ganzen Abend über fehlerfrei und entfaltete<br />

einen großen klanglichen Facettenreichtum, begünstigt durch die<br />

gute Akustik des Hauses. Hinzu kam der starke und homogen singende<br />

Chor und Extrachor der Staatsoper Hannover. Schade, dass die Produktion<br />

offenbar nicht von allen (ganz) verstanden wurde… Klaus Billand<br />

Kaiserslautern: „REGINA“ (Lortzing) – 31.10.<br />

Albert Lortzings in Wien entstandene Oper „Regina“ ist ein authentisches<br />

Dokument der Revolution von 1848. <strong>Der</strong> Komponist war damals<br />

Kapellmeister am Theater an der Wien (mit einem bis Ende September<br />

befristeten Zweijahresvertrag). Am 31.5.1848 begann er mit der Arbeit<br />

am Textbuch, am 20.10. war die Oper bis auf die Ouvertüre fertiggestellt,<br />

und im November übersandte er Partitur und Textbuch an seinen Verlag<br />

Breitkopf & Härtel in Leipzig. <strong>Der</strong> Verlag lehnte ab, und mit den Scheitern<br />

der Revolution zerschlugen sich die Hoffnungen auf eine Aufführung.<br />

Lange nach Lortzings Tod gab es zwei Bearbeitungen von fremder<br />

Hand: Adolph L’Arronge machte für die Aufführung an der Königlichen<br />

Oper in Berlin 1899 aus „Regina“ eine „vaterländische Oper“ mit antifranzösischer<br />

Tendenz, indem er die Handlung in die anti-Napoleonischen<br />

Freiheitskriege verlegte. In der DDR stellte Wilhelm Neef eine linientreue<br />

Fassung her, die 1953 in Rostock uraufgeführt wurde.<br />

150 Jahre dauerte es, bis die Oper in Originalfassung auf die Bühne kam:<br />

1998 gab es in Gelsenkirchen eine szenische und in Karlsruhe eine halbszenische<br />

Inszenierung. Dass nun gerade das Pfalztheater in Kaiserslautern<br />

(in Kooperation mit dem Ludwigshafener Theater im Pfalzbau)<br />

den Bann bricht, hat eine gewisse Logik. Zum einen zeigt sich die kleine<br />

Bühne im deutschen Südwesten seit Jahren programmatisch aufgeschlossener<br />

als die meisten größeren Häuser im Umkreis. Zum andern ist in der<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 59


Deutschland<br />

Pfalz die Erinnerung an die deutsche Demokratiebewegung besonders lebendig.<br />

1832 fand bei Neustadt an der Weinstraße mit dem Hambacher<br />

Fest die eindrucksvollste demokratische Kundgebung des Vormärz statt.<br />

Die Pfalz und das benachbarte Baden waren die beiden Regionen, in denen<br />

die 1848er am längsten kämpften. Erst im Juni 1849 schlugen preußische<br />

und hessische Truppen den Volksaufstand brutal nieder. In Wien hatte die<br />

Reaktion damals längst wieder die Oberhand. Schon am 9.11.1848 hatten<br />

kaiserlich-königliche Truppen den Abgeordneten des Paulskirchen-Parlaments,<br />

Robert Blum, einen Freund Lortzings, unter Missachtung seiner<br />

Immunität in der Brigittenau standrechtlich erschossen.<br />

In der Oper ist dieses Ende nicht absehbar; denn weder Lortzing noch<br />

seine Bühnenfiguren ahnten, wie die Revolution ausgehen würde. Es beginnt<br />

mit den Arbeitern des Fabrikanten Simon. Sie streiken – einmal um<br />

mehr Lohn, aber auch aus Prinzip gegen jegliche Form von Unterdrückung.<br />

Simon selbst ist verreist, aber dem Geschäftsführer Richard gelingt<br />

es, das Personal zu beruhigen. „Frei geboren sind wir alle“, stimmt er zu,<br />

verweist aber auf den Verhandlungsweg: „Freiheit ohne Einigkeit gewährt<br />

kein Glück auf Erden.“ <strong>Der</strong> Fabrikant selbst ist ein wohlhabender, aber<br />

sozial denkender bürgerlicher Patriarch. Er ist auch bereit, seine Tochter<br />

Regina mit Richard zu verheiraten, obwohl dieser aus armen Verhältnissen<br />

kommt, und damit die Sehnsucht der beiden jungen Leute zu erfüllen.<br />

Simons Werkmeister Stefan ist gleichfalls in Regina verliebt. Aus<br />

Enttäuschung und Verzweiflung schließt er sich einem Trupp von wilden<br />

Freischärlern an, die von seinem lange inhaftierten alten Freund Wolfgang<br />

angeführt werden und einen Rachefeldzug gegen den Adel führen.<br />

Die Freischärler machen Stefans Sache zu der ihren, sprengen Richards<br />

und Reginas Verlobungsfeier, entführen Regina und legen die Fabrik in<br />

Schutt und Asche. (So etwas geschah durchaus. Lortzing nahm, wie Andreas<br />

Bronkallas interessantem Programmheft zu entnehmen, Mitte März<br />

1848 an Patrouillien teil, „denn der Pöbel plünderte in den Vorstädten.“)<br />

Zwar nimmt Richard mit etlichen Arbeitern die Verfolgung auf, doch die<br />

Freischärler entkommen in die Berge. (Lortzing dachte an eine Szene an der<br />

badischen Grenze zur Schweiz.) Dort legen sie Rast in der Hütte einer alten<br />

Frau ein. Diese ist zufällig Barbara, die Mutter von Simons Diener Kilian.<br />

Zu Beginn des Aktes singt sie ein Couplet „Nicht so bleiben kann dies Treiben“<br />

und artikuliert die Ansicht derjenigen im Volk, die weder für Kriege<br />

noch Revolutionen etwas übrig haben und vor allem das Glück des Friedens<br />

schätzen. Auch Kilian flüchtet mit seiner Kollegin Beate in die Hütte<br />

seiner Mutter. Dem gewitzten Diener gelingt es, die Freischärler mit Wein<br />

betrunken zu machen. Er singt ihnen auch das verlangte Lied zur Unterhaltung,<br />

dessen Text „Hinaus, hinaus in schnellster Frist, was nicht dem Land<br />

von Nutzen ist“ Lortzing bei dem Wiener Publizisten Johann Nepomuk<br />

Vogl (1802-1866) entlehnt hat. Die Tendenz gefällt den Freischärlern, die<br />

den Refrain gleich mitsingen, aber sie ist nicht so radikal, dass Kilian sich<br />

verbiegen müsste. Lortzings alter Spielopern-Witz kommt durch, wenn aus<br />

dem vom Männerchor imitierten Gitarrenklimpern „didldum“ ein hintersinniges<br />

„dumm dumm dumm“ wird. Das Lied versandet in müdem Ritardando,<br />

sogar der Fagottist im Orchestergraben verschläft den Schlusston.<br />

Kilian gelingt es, mit Regina zu fliehen, er wird aber von den Freischärlern<br />

wieder eingeholt. Sie nehmen die Unternehmerstochter mit zu ihrem Lager<br />

in den Bergen, wo sie in einem alten Turm Pulver und Munition horten.<br />

Kilian alarmiert Simon und Richard, die auf dem Land Zuflucht gefunden<br />

haben. Zusammen mit einer Gruppe Bauern nehmen die Männer<br />

die Verfolgung auf und stellen die Entführer am Turm. Als diese unterliegen<br />

und sich Stephan in die Enge getrieben sieht, besteigt er mit Regina<br />

den Turm, um sich mit ihr in die Luft zu sprengen. Regina gelingt es im<br />

letzten Moment, ihn mit seiner eigenen Flinte zu erschießen. Als sie aus<br />

der Ohnmacht erwacht, sieht sie nicht nur Vater, Verlobten und vertrautes<br />

Hauspersonal um sich. Im Textbuch heißt es: „Landleute, Arbeiter aus<br />

allen Klassen mit Büchsen, Hacken, Sensen, bunten Fahnen etc., Soldaten<br />

stürmen von allen Seiten herbei.“ Richard berichtet: „Von allen Seiten Freiheitsboten<br />

nah’n.“ Und die Menge stimmt die von dem Frankfurter Dichter<br />

Friedrich Stoltze (1816-1901) gedichtete und von Lortzing hier als<br />

Krönung des Finales vertonte „Deutsche Volkshymne“ an: „Heil, Freiheit,<br />

Dir, o Völkerzier.“ Aus der konkreten Handlung wächst die ersehnte<br />

Utopie: Das Volk hat gesiegt – über den Adel, aber auch über die buchstäblich<br />

mit dem Feuer spielenden Radikalen.<br />

In Wirklichkeit aber siegte die Reaktion, und das dürfte der Grund dafür<br />

sein, dass Lortzing die als letztes in Angriff genommen Ouvertüre nicht<br />

mehr fertig stellte. Zwar wurde das Vorspiel später von dem Schweriner<br />

Musikdirektor Komponisten Gustav Härtel sach- und stilgerecht komplettiert<br />

und in dieser Form auch in die 1998 vom Verlag Ricordi vorgelegte<br />

„Regina“-Originalausgabe von Irmlind Capelle aufgenommen.<br />

Die Pfalztheater- Aufführung bricht mit Takt 133 ab, wo Lortzing den<br />

Stift niedergelegt hatte, motiviert dies aber szenisch: <strong>Der</strong> Chor der streikenden<br />

Arbeiter kommt aus dem Hintergrund hervor.<br />

„Regina“ kann man vermutlich nicht inszenieren, ohne auf die eine oder<br />

andere Weise zur deutschen Geschichte (einschließlich der österreichischen)<br />

Position zu beziehen. Regisseur und Ausstatter Hansgünther<br />

Heyme, Intendant des Ludwigshafener Theaters, der am eigenen Haus<br />

Regina - zur Flucht entschlossen (© Pfalztheater)<br />

gerade erst Wagners „Ring“ inszeniert hat, ist sich dessen bewusst. Und<br />

so wendet er das moderne Konzept des „historic re-enactment“ (also des<br />

Nachspielens historischer Szenarien) auf eine Situation kurz nach dem 2.<br />

Weltkrieg an. Vorne auf einer kleinen Holzbank sitzt ein junger Knabe<br />

(Tabea Koch) und verfolgt gebannt die Geschichtslektion seines Geschichtslehrers,<br />

der ihm als Richard die Oper vorspielt – zusammen mit<br />

vielen anderen seriösen Studienräten im dunklen Anzug und ältlichen<br />

Lehrerfräuleins im hochgeschlossenen Kostüm. Dabei definieren sich die<br />

Akteure jeweils durch schwarze, rote und goldene Plastik-Überzüge als<br />

Arbeiter, Freischärler und Bauern. Schwarz, Rot und Gold, heute die deutsche<br />

Nationalflagge, waren damals die Farben der demokratischen Bewegung.<br />

(Auf dem Hambacher Schloss wird noch eine Originalfahne von der<br />

Kundgebung 1832 aufbewahrt.) Drei große Plastikbahnen in diesen Farben<br />

bestimmen auch die Hinterwand der sparsam ausgestatteten Bühne.<br />

<strong>Der</strong> Regieansatz erschließt sich erst nach einer Weile, und er passt auch<br />

nicht ganz. Denn als sein eigener Librettist hat der Komponist den Menschen<br />

„aufs Maul geschaut“ und viele seiner Szenen dem Alltag abgelauscht.<br />

Unter dem Verlust dieser Unmittelbarkeit leidet vor allem Daniel Ohlmann<br />

als Richard, dem man bei allem Engagement den jugendlichen Berufsaufsteiger<br />

und Liebhaber nicht abnimmt. Dass er bei den Spitzentönen<br />

seines Tenors immer wieder an Grenzen stößt, dürfte auch mit der Steifheit<br />

seiner Geschichtslehrer-Rolle zu tun haben. Leichter damit tun sich<br />

60 | DER NEUE MERKER 12/2013


Deutschland<br />

der von Ulrich Nolte gut einstudierte und gut geführte Chor mit Extrachor<br />

und Statisten. Unglücklich wirkt auch die Reginas Stilisierung per<br />

Kostüm zu einer Mischung aus Gretchen und Germania. Adelheid Fink<br />

spielt mit ihrem darstellerischen und sängerischen Charme tapfer gegen<br />

dieses doppelte Klischee an.<br />

Den übrigen Darstellern bleibt die Rolle hinter der Rolle erspart. <strong>Der</strong><br />

Bassist Christoph Stegemann gibt mit Würde den alternden Unternehmerpatriarchen.<br />

Daniel Kim als Kilian und Ludovica Bello geben mit<br />

frischen Stimmen ein charmantes Dienerpaar. Pfalztheater-Urgestein Geertje<br />

Nissen, die bei ihrem Barbara-Couplet das sprichwörtliche Hühnchen<br />

tatsächlich rupft, glänzt wieder als Charakterdarstellerin. Sehr eindrucksvoll,<br />

mit prägnant geführtem Bariton und darstellerischem Feuer,<br />

verleiht Daniel Henriks dem verzweifelten Stephan zunehmend dämonische<br />

Züge. Und wie Daniel Böhm als Wolfgang hinter dem Freiheitskämpfer<br />

den Zyniker aufblitzen lässt, hat darstellerische Klasse. Überzeugend<br />

finde ich die Regieidee, die Schulbank im Vordergrund durch ein<br />

schlichtes Holzkreuz zugleich als Altar erscheinen zu lassen. Denn in dieser<br />

Oper wird umso mehr gebetet, je gefährlicher die Situation sich zuspitzt.<br />

Da richtet sich dann der Blick zum Kreuz, aber zugleich zu dem daneben<br />

sitzenden Knaben als anwesendem Zeugen des Geschehens.<br />

In der Verlobungsfeier lässt Heyme die Tänzer einfrieren. Stattdessen wird<br />

zu Lortzings Tanzmusik ein kleiner Totentanz eingelegt, in dem ein Skelett<br />

einem kleinen Jungen in Uniform und einem kleinen Mädchen mit<br />

einer Puppe ein Schwert in die Hände gibt. Die von Éva Adorján konzipierte<br />

Tanzhandlung illustriert die Erziehung zum Militärischen im Deutschen<br />

Kaiserreich, aber auch die fatale Todessehnsucht der Deutschen, die<br />

sie bis in die Endphase des Zweiten Weltkriegs hinein trieb. Diese Einstellung<br />

wirft tatsächlich schon im Finale der Oper ihre Schatten voraus,<br />

wenn es in Stoltzes „Deutscher Hymne“ heißt: „Fließ hin, o Blut, fließ in<br />

den Sand, o süßer Tod fürs Vaterland.“ Zur Ehre des Komponisten sei gesagt,<br />

dass die Musik beim Eintritt dieser Zeilen vom strahlenden C-Dur<br />

in ein nachdenkliches c-moll kippt. <strong>Der</strong> Pazifist Lortzing war niemand,<br />

der über Tod und Schrecken hinwegkomponierte wie viele seiner Kollegen!<br />

Spätestens im 3. Akt weitet sich die Spieloper in Richtung Grand-Opéra<br />

aus. Die Macht, der Sog und die Durchschlagskraft der Chöre erinnern<br />

an Verdis „Nabucco“. Hätte die Revolution gesiegt, wäre „Regina“ wohl<br />

die deutsche Nationaloper geworden. So aber fristet ihr Komponist nur<br />

mehr ein Mauernblümchen-Dasein im Spielbetrieb der Opernhäuser.<br />

Unter seinem 2. Kapellmeister Rodrigo Tomillo, der die Aufführung von<br />

GMD Uwe Sandner übernommen hat, kostet das Orchester des Pfalztheaters<br />

die Nuancen der Partitur von Mozartischer Delikatesse bis zu<br />

düsterer romantischer Leidenschaft voll aus. Obwohl der Dirigent manchmal<br />

das Tempo leicht überzog und einige Spannungspausen zu wenig auskostete,<br />

gelang doch eine sehr eindrucksvolle Aufführung. Man geriet ins<br />

Staunen darüber, was Lortzing geleistet hat und noch hätte alles leisten<br />

können, wäre er nicht unter armseligen Umständen schon 1852 in Berlin<br />

gestorben. <br />

Andreas Hauff<br />

Düsseldorf: „BILLY BUDD“ – WA 8.11.<br />

Die Rheinoper hatte in der vergangenen Spielzeit einige herbe Kritik einzustecken,<br />

so dass man glücklich war, zum Britten-Jahr eine hervorragende<br />

Präsentation der aus dem Jahre 2011 stammenden Inszenierung von Immo<br />

Karaman im Bühnenbild und mit Kostümen Nicola Reicherts zu erleben.<br />

Dunkle Stahlwände, die leicht verschiebbar sind, beherrschen die Bühne<br />

und unterstützen den düsteren Charakter der Novelle von Melville. Nur<br />

sehr wenige bunte Lichter hellen die Szene auf. Besonders gelungen ist die<br />

Personenführung der zahlreichen Darsteller. Für jede – auch die kleinste<br />

Figur – ist eine Individualisierung zu erkennen, was bei 17 Männerrollen<br />

eine enorme Leistung ist. Allein anfechtbar ist die hinzugedachte Figur<br />

einer Krankenschwester, die Captain Vere in einem Pflegeheim betreut,<br />

und die auch in der rückblickend erzählten Handlung auf dem Schiff<br />

auftaucht. Vielleicht sollte dadurch die reine Männerriege der Darsteller<br />

durchbrochen werden, wirklich erkennbar wird der Sinn der Aktion nicht.<br />

Die Lichteffekte von Volker Weinhart sind ausgesprochen eindrucksvoll,<br />

da zum Beispiel der Nebel in dieser Oper eine besondere Rolle spielt.<br />

<strong>Der</strong> Dirigent Peter Hirsch hat offenbar eine besondere Beziehung zur<br />

Britten‘schen Tonsprache. Wie er einzelne Instrumente hervorhebt, sie aber<br />

auch wieder in den Orchesterklang einwebt, ist meisterhaft. Die Sängerführung<br />

ist höchst genau. Man hört das Düsseldorfer Orchester selten<br />

in einer so fabelhaften Form. Was an Farben und Instrumentalbrillanz zu<br />

Tage trat, begeisterte den Hörer. Selbst in den aufbrausenden Klangmassen<br />

blieb alles durchhörbar und schlank, so dass die Sänger nie forcieren<br />

mussten. Die gewaltigen Männerchöre, die für dieses Werk von entscheidender<br />

Bedeutung sind, sangen tonschön und dynamisch glänzend abgestimmt.<br />

Ein Bravo für den Chorleiter Gerhard Michalski.<br />

Lauri Vasar, ein schlanker Blondin, gab einen zunächst unbekümmerten<br />

Titelrollenträger. Erst als der einfache Bursche in für ihn unentwirrbare Situationen<br />

gerät, machen sich seine Schwächen – Stottern – bemerkbar. Sein<br />

Gesicht verzerrt sich und er wird zur geschundenen Kreatur, die vergeblich<br />

beim Kapitän Hilfe sucht. In der zunächst angstvollen Erwartung seiner<br />

Hinrichtung löst sich langsam seine Verkrampfung und er geht ruhig seinem<br />

Tod entgegen. Hier müssen auch schon härtere Gemüter schlucken, um<br />

die Tränen zurückzuhalten, zumal der Sänger diese Szene geradezu beängstigend<br />

intensiv gestaltet. Seine samten timbrierte lyrische Baritonstimme ist<br />

in allen Lagen gleich gut durchgebildet und besonders ausdrucksvoll. Eine<br />

solche absolute Spitzenleistung hört man selten.<br />

Raymond Very als Captain Vere zeigt eine gebrochene Figur. Dieser Intellektuelle<br />

passt kaum auf ein Kriegsschiff und zerbricht an der Ausweglosigkeit<br />

seiner Situation. Er möchte Billy retten, sein Pflichtgefühl gestattet es<br />

ihm aber nicht. Mit wenigen sparsamen Bewegungen vermag der Sänger<br />

dies ausgezeichnet darzustellen. Seine jugendliche Heldenstimme bewältigt<br />

die nicht einfach zu singende Partie glänzend. Sami Luttinen als John Claggart<br />

ist der Bösewicht im Jago‘schen Sinne schlechthin. In der Tat scheint<br />

er sich in einer Ordnung wie in der Hölle wohlzufühlen, was er in seiner<br />

Darstellung deutlich zum Ausdruck bringt. Seine düstere Bassstimme prädestiniert<br />

ihn geradezu für diese Rolle.<br />

Die Offiziere – Michael Druiett, Ashley Holland, Torben Jürgens –<br />

sind darstellerisch und stimmlich sehr zufriedenstellend. Unter den vielen<br />

Comprimari fallen die beiden Buffotenöre Cornel Frey und Florian<br />

Simson als Novize und Squeak durch ihre hellen Stimmen besonders auf,<br />

zumal sie den Leidensdruck der gequälten Matrosen hervorragend zum<br />

Ausdruck bringen. <strong>Der</strong> 77-jährige Carlos Krause gestaltet den alten Seebären<br />

Dansker, der Billy in seiner Todesstunde beisteht, höchst ergreifend<br />

und singt seine wenigen Sätze mit immer noch markantem Bass. Das restliche<br />

Herrenensemble, das durch keinen Ausfall gekennzeichnet ist, sei<br />

mit einem Pauschallob bedacht.<br />

Das Publikum dankte der überaus bewegenden Aufführung mit langem<br />

und starkem Beifall. <br />

Johann Schwarz<br />

Frankfurt:<br />

„DIDO AND AENEAS/<br />

HERZOG BLAUBARTS BURG“ – 16.11.<br />

Eine glanzvolle Wiederaufnahme von zwei konträren Werken bescherte<br />

die Oper Frankfurt seinem begeisterten Publikum und zwar „Dido and<br />

Aeneas“ (Henry Purcell) sowie dem knapp 2 ½ Jahrhunderte später komponierten<br />

Werk „Herzog Blaubarts Burg“ des ungarischen Meisters Bela<br />

Bartók. Vortrefflich setzte Barrie Kosky die Kurzopern in Szene, verstand<br />

es auf wunderbare Weise, sinnliche Lebensfreude mit dem tragischen Ende,<br />

dem Erstickungstod der Dido, zu verschmelzen – er steckte, mit Anklängen<br />

an die Shakespeare-Ära, bärtige Männer mit langen Haaren in Frauenkleider.<br />

Unter der temperamentvollen Leitung von Constantinos Carydis musizierte<br />

die kleine Besetzung des Opern- und Museumsorchester herzerfri-<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 61


Deutschland<br />

schend, klar, duftig und schuf somit die feine, zarte Instrumental-Atmosphäre<br />

für dieses antike Epos. Paula Murrihy (Dido) verfügt zwar über eine<br />

angenehme, höhensichere Stimme, doch vermisste ich die warme Mittellage,<br />

welche der desparaten Königin die tragische Tiefe verleiht. Kernige, baritonale<br />

Substanz schenkt hingegen Sebastian Geyer dem bestens interpretierten<br />

Aeneas. Keck, angenehm im Timbre bezaubert Kateryna Kasper als<br />

Belinda. Elizabeth Reiter (Second Woman) steht ihr in nichts nach. Köstlich<br />

im Spiel, vokal überzeugend die drei Counter-Tenöre Martin Wölfel,<br />

Dmitry Egorov, Roland Schneider als Sorceress, first and second Witch.<br />

Ebenso trefflich fügen sich Michael Porter (Spirit/Sailor) sowie die prächtig<br />

agierenden Mitglieder des Opernchores ins turbulente Geschehen.<br />

„Herzog Blaubarts Burg“:<br />

Szenen einer ungewöhnlichen Eheverbindung á la Strindberg vermittelt<br />

Kosky auf der beweglichen Scheibe der dunklen Bühne mit den schwarzen<br />

Kostümen (Katrin Lea Tag), alles schwarz, abgrundtief wie die Seelenzustände<br />

der Protagonisten, welche sich mit großer darstellerischer Intensität<br />

schier bis zur Selbstaufgabe zerfleischen. Diese optischen Eindrücke<br />

gingen regelrecht unter die Haut. Mit schönen baritonalen Couleurs und<br />

markanter Diktion singt Johannes Martin Kränzle den Blaubart. Mir<br />

fehlte bei seinem bewundernswerten Schöngesang lediglich die dämonische<br />

Hintergründigkeit. Expressiv, flackernd in dynamischen Fortebereichen<br />

bewegte sich der Mezzo von Claudia Mahnke, doch seien ihr bei<br />

dieser intensiv gestalteten Judith jene weniger klangvollen Töne verziehen.<br />

Maestro Carydis entfesselt mit dem nun vollzähligen Orchesterapparat<br />

und ausgeklügelter Klangfarben-Dramaturgie eine spannende Analyse der<br />

gestörten Geschlechterbeziehungen. In blendender Verfassung vermittelt<br />

Blaubart und Judith - Johannes Martin Kränzle mit Claudia Mahnke<br />

(© Wolfgang Runkel)<br />

das bestens disponierte Orchester die ausdrucksstarke Tiefenschärfe, jede<br />

Phase, jede motivische Regung dieser gewaltigen Partitur. Bravo! Ein großer,<br />

packender Opernabend wurde lauthals bejubelt.<br />

Auf weitere Aufgaben dieses vortrefflichen Dirigenten hier am Hause und<br />

ganz besonders der Wiederaufnahme von „Tristan und Isolde“ darf man<br />

mit Spannung entgegen sehen. <br />

Gerhard Hoffmann<br />

„Ezio“ (Gluck) – Pr. 10.11.<br />

Mit „Ezio“ von Christoph Willibald Gluck hat an der Frankfurter Oper<br />

eine frühe Oper des späteren Reformers und Schöpfers einiger Repertoiregängiger<br />

Werke Premiere. Das Dramma in musica, auf ein Libretto des<br />

Balance an der Kante - Max Emanuel Cencic (Valentiniano)<br />

(© Barbara Aumüller)<br />

großen Barockdichters Pietro Metastasio. erlebte 1750 in Prag seine Uraufführung.<br />

Natürlich war der Ezio (Aethius)-Stoff eine große Barocknummer,<br />

und auch Händel schrieb eine Oper mit diesem Sujet. Später<br />

kommt der Held in Verdis „Attila“ vor.<br />

Ezio kehrt nach siegreicher Schlacht gegen die Attilas Hunnen nach Rom<br />

zurück, und Kaiser Valentinian eröffnet ihm, dass er sich mit seiner Geliebten<br />

Fulvia vermählen will und bietet ihm seine Schwester Onoria als<br />

Gattin an. Gleichzeitig plant der Vertraute des Kaisers, Massimo, einen<br />

Anschlag auf denselben, da er seine Frau vergewaltigt hatte. Das Attentat<br />

auf den Kaiser schlägt aber fehl. Ezio, der zu seiner Liebe steht und Onoria<br />

ausgeschlagen hat, gerät in Verdacht und wird verhaftet. Auf Bitten<br />

Fulvias und Onorias lässt Valentiniano den Feldherrn wieder frei, ordnet<br />

aber seine heimliche Ermordung durch Varo an. Da inzwischen der beauftragte<br />

Kaisermörder seinen Mordanschlag gestanden hat, lenkt Onoria<br />

den Verdacht auf Massimo, worauf dieser aufsteht, um den Kaiser selber<br />

zu erstechen. Da taucht der lebende, von Varo nicht getötete Ezio auf<br />

und verhindert die Ermordung des Kaisers, der daraufhin ihn und sogar<br />

Massimo begnadigt. Er verzichtet auf Fulvia und bleibt in diesem „lieto<br />

fine“, wie auch seine Schwester Onoria, die Ezio ebenfalls liebte, allein.<br />

Die Oper zeichnet sich durch viele spannende Secco-Rezitative aus, die<br />

die Handlung immer kurz vorantreiben. Dazwischen befinden sich meist<br />

längere Arien, alle mit Wiederholung des ersten Teils, die oft sehr empfindsam<br />

dahinplätschern. Einige Juwelen befinden sich aber auch darunter,<br />

besonders wenn sie so erfrischend gespielt werden wie vom stark reduzierten<br />

Frankfurter Museumsorchester, das mit kaum Vibrato, aber<br />

umso größerer Verve unter dem Dirigent Christian Curnyn agiert, der<br />

schon einige Preise mit diversen Barockensembles eigeheimst hat.<br />

Beim Regieteam mit Vincent Boussard (Inszenierung), Kaspar Glarner<br />

(Bühnenbild), Christian Lacroix (Kostüme), Joachim Klein/Licht<br />

und Bibi Abel/Video haben sich die Ideen anscheinend gegenseitig etwas<br />

neutralisiert, so dass die großen Akzente in der szenischen Umsetzung<br />

fehlten. In einem zur Bühne etwas versetzten rechteckigen Raum,<br />

der aber meist nach rechts offen war, spielten sich die vielen Szenen ohne<br />

Innen-Interieur (mit Ausnahme einer kleinen weißen Bank) ab. Zu Beginn<br />

soll eine Videoprojektion mit vielen Stuka-Fliegern wohl die Hunnenschlacht<br />

nach heute holen, danach sieht man nur reduzierte Projektionen<br />

und Schattenspiele, und zweimal fährt ein ominöses Eisenteil von<br />

oben herab, das seine Schatten wirft. Durch verschiedene, manchmal ab-<br />

62 | DER NEUE MERKER 12/2013


Deutschland<br />

rupte Beleuchtungswechsel soll der Raum Atmosphäre bekommen. Eine<br />

solche wird aber eher durch die hochpompösen Barockroben der Damen<br />

erreicht, die sich von dem minimalistischen Raum spektakulär abheben.<br />

Die Hofwache Valentinianos wird durch die Statisterie verkörpert, die in<br />

„unisex“ schwarzen heutigen Gewändern, versetzt schreitend, Ezio einmal<br />

nach rechts, einmal nach links hinausgeleitet. <strong>Der</strong> Varo wird fast etwas<br />

ironisch von Simon Bode mit schlankem Tenor gezeichnet. Den Massimo<br />

gibt Beau Gibson mit wunderbar biegsamem, feinem Tenor, dem<br />

man auch bei seinen längsten Arien noch gern zuhört. Seine Mordintention<br />

wird bei seinem eher sanften Charakter nicht evident, da seine Frau<br />

auch gar nicht namentlich erwähnt wird. Die Onoria wird vom Frankfurter<br />

Neuzugang Sofia Fomina mit süßem, gut prononciertem Sopran<br />

gesungen. Leider ist sie aber nur mit kurzen Phrasen vertreten. Den Ezio<br />

singt Sonia Prina mit männlich timbriertem, sonorem Alt und beeindruckt<br />

in einigen Koloratur- gespickten Arien mit ihrem sehr flexiblen<br />

Organ. Obwohl von kleiner Statur, erreicht sie ihre Ziele mit konstanter<br />

Robustheit, wobei ihr stilisierter Brustpanzer die Herkunft ihrer voluminösen<br />

Töne betont.<br />

Den Valentiniano gibt Max Emanuel Cencic mit zuerst etwas blassem,<br />

dann sich stark belebendem hohem Countertenor. <strong>Der</strong> kleine, verschlagen<br />

aber auch schwächlich wirkende Kaiser, fast verhüllt in einem prächtig<br />

wallenden roten Mantel, beglaubigt das mit manchmal fast ironisch<br />

wirkenden, die phänomenale Bandbreite seines Counters betonenden<br />

Gesangsphrasen. Paula Murrihy ist die Fulvia und überzeugt hier wieder<br />

einmal mit samt-brokatenem Mezzo, der sich in die Gehörgänge geradezu<br />

einwindet. Bei ihrer stückbedingten eher passiven Grundhaltung<br />

wirkt ihr Gesang umso einnehmender, was die Figur zusätzlich interessant<br />

macht. <br />

Friedeon Rosén<br />

Mainz: „Rinaldo“ – Pr. 31.10.<br />

Beginnen möchte ich mit dem überzeugenden Bühnenbild von Stefan<br />

Heine. Auf dem Bühnenboden rotiert eine Spielfläche, die über weite<br />

Strecken im Gegenuhrzeigersinn bewegt wird. Beim genaueren Hinsehen<br />

handelt es sich um ein liegendes Zahnrad. Im hinteren Bereich läuft<br />

eine zweite Drehbühne, wo u. a. das Dienerpersonal (mit verknoteten Taschentüchern<br />

als Kopfbedeckung) in eingefrorenen Posen gezeigt wird.<br />

Außerdem beobachten sie hinter einem Durchgang das Geschehen oder<br />

transportieren ein altmodisches Sofa der 50er Jahre, einen Stuhl und auch<br />

einen Koffer hin und zurück, Requisiten, die im Regietheater eigentlich<br />

schon längst ausgedient haben sollten. Als Gegenstände dürfen auch einige<br />

aus der Mode gekommene Stehlampen mit aufgesetzter Kugelhaube<br />

„Karussell fahren“. Na ja! Ein Stock höher, gewissermaßen in der „Belle<br />

Etage“, befindet sich das Orchester, das von der Akustik her bestens platziert<br />

ist. Für Blechbläser werden nach Bedarf „Fenster“ geöffnet. Leisere<br />

Instrumente, wie eine solistische Blockflötengruppe oder das Duo von<br />

Theorbe und Kontrabass, haben je nach Bedarf „reservierte“ Plätze im<br />

vorderen Bühnenbereich. Eine große Projektionsfläche findet sich über<br />

dem Orchester. Dort wechseln sich unterschiedliche Bilder ab, zum Beispiel<br />

ineinander greifende Zahnräder, Uhrzeiger und Wolken. Alles ist<br />

in Bewegung. Zu Beginn während der Ouvertüre werden zu den hereinkommenden<br />

Sängerinnen und Sängern die Rollennamen eingeblendet,<br />

wie im Film. Eine glänzende Idee! Es hilft auch ein wenig bei der<br />

Frage: „Who is who?“, was speziell die Zuordnung von Geschlecht<br />

und Stimmfächern betrifft. „Rinaldo“ ist die letzte Mainzer Inszenierung<br />

von Tatjana Gürbaca. In positiver Erinnerung bleiben mir ihre Regieleistungen<br />

in „Lucia di Lammermoor“, „Werther“ und „Manon“. Mit ihrer<br />

aktuellen szenischen Einstudierung habe ich allerdings einige Probleme.<br />

Ein extrem hektischer, kontrapunktierender Aktionismus, der sich<br />

nicht immer auf das Libretto bezieht, prägt die Regie und verweist über<br />

weite Strecken die Musik, sowohl die instrumentale als auch die gesungene,<br />

in den Hintergrund.<br />

Einige Ideen haben mir allerdings auch besonders gut gefallen: Es gibt<br />

einen Ohrwurm in dieser ersten Oper, die Georg Friedrich Händel für<br />

London schrieb, da bleiben die Zeit und damit auch die Zahnräder stehen.<br />

„Nur“ Sängerin und Orchester verzaubern das Publikum. Dies erinnert<br />

mich an den großen Monolog der „Marschallin“, die über die Zeit<br />

sinniert. Äußerst gelungen ist auch der „Rollentausch“ von Armida zur<br />

Almirena. Hinter großen Schwanenfedern wird der Wechsel ermöglicht.<br />

Die blauen Kleider, welche beide Damen tragen, verstärken die romantische<br />

Stimmung. Auch das augenzwinkernde Happy End mit Discokugel<br />

und Seifenblasen überzeugt. Gänzlich daneben, überzogen und der Lächerlichkeit<br />

preisgegeben sind eine Gebetsstunde im Islam-Ritus und aus<br />

dem christlichen Bereich, innerhalb der Eucharistie, eine dreifache Segnung<br />

mit einem Schraubenschlüssel. Was soll das?<br />

Nun zum vokalen Bereich: Bis auf eine Ausnahme sind alle Sänger Mitglieder<br />

des Jungen Ensembles des Staatstheaters Mainz in Zusammenarbeit<br />

mit der Hochschule für Musik. Es stehen also an diesem Abend vorwiegend<br />

Studierende auf der Bühne! Die künstlerische Koordination des<br />

Jungen Ensembles liegt in den Händen von Prof. Claudia Eder. Gerade<br />

im Bereich der christlichen Kreuzritter gibt es die „Verwirrung“ in den<br />

Stimmfächern der Hauptdarsteller. In der Rolle des Heerführers Goffredo<br />

tritt als Gast der kanadische Countertenor Michael Taylor auf. Er meistert<br />

diese schwierige Partie souverän, ist auch schauspielerisch überzeugend.<br />

Um seine dienstlichen Aufgaben kümmert er sich wenig. Hobbies<br />

sind für ihn die Hauptsache. Seine Pflichten delegiert er an seinen Bruder<br />

Eustazio/Alin Deleanu, einem ausgezeichneten Altus aus Rumänien. Dieser<br />

stellt einen nervösen, recherchierenden Bücherwurm als „Arbeitstier“<br />

für seinen „Chef“ dar, begleitet dann auch noch seinen Bruder wie ein<br />

doppeltes Ich. Kein Wunder, dass Silke Willrett (Kostüme) beide häufig<br />

gleich anzieht, z.B. mit Golf- bzw. Tenniskleidung sowie Tropenhelmen,<br />

karierten Jacken und Schottenröcken für den beschwerlichen Aufstieg zu<br />

Almiras Burg. Die in Südkorea geborene Sopranistin Saem You/Almirena<br />

spielt mit Brille und weißem Kleid die „brave“, ruhige Tochter von Goffredo.<br />

Sie hat auch ohne hektische Regieanforderungen eine enorme Ausstrahlung,<br />

gepaart mit einer makellos angenehmen Stimme. Ihr Ohrwurm<br />

„Lascia ch’io pianga mia cruda sorte“ lässt alle Anwesenden den Atem anhalten.<br />

<strong>Der</strong> nachfolgende euphorische Applaus ist verdient. Jetzt wird es<br />

noch einmal kompliziert! Die dramatische Koloratursopranistin und Studentin<br />

Jina Oh aus Südkorea verkörpert den pubertierenden Rinaldo, der<br />

in schwarzer Kriegstracht und Schwert Jerusalem einnehmen soll. Warum<br />

er bzw. sie wie ein kleiner Bub über längere Zeit „Hoppe, hoppe Reiter“<br />

spielen soll, überzeugt mich nicht und es nervt auch! Gleichwohl: ihre /<br />

seine Stimme ist in dem äußerst niveauvollen Ensemble herausragend.<br />

Kommen wir zur gegnerischen Seite, den Besetzern von Jerusalem. Hier<br />

werden die Stimmfächer traditionell zugeordnet. <strong>Der</strong> sarazenische Herrscher<br />

der Feinde (Argante) wird von dem in Moskau aufgewachsenen,<br />

wohlklingenden Bariton Dmitriy Ryabchikov verkörpert. Seine einnehmende<br />

Stimme ist für alle geforderten Affekte ideal geeignet. Eine Spitzenleistung!<br />

Als Darsteller nimmt man ihm alles ab, auch in der Orgie gegen<br />

Ende des letzten Akts, wo er sich durchaus glaubhaft und züngelnd<br />

bisexuell auslebt. Mit seiner Geliebten, der Zauberin Armida, hat er sich<br />

ein Luxusweibchen auserkoren, das mit allen Wassern gewaschen ist. Sie<br />

wird mit teuren Kleidern, Paillettenhöschen, rotem Federschmuck usw.<br />

„trendy“ und verführerisch ausstaffiert. Den Hüftschwung einer „Carmen“<br />

hat sie neben anderem Verführungsritual auch noch drauf. Die schauspielerisch<br />

exzellente Rollenträgerin wird von der Koloratursopranistin Radoslova<br />

Vorgic aus Serbien verkörpert. Für die halsbrecherischen Koloraturen<br />

ist sie ideal besetzt. Beim Forcieren in den höchsten Tönen besteht<br />

jedoch (noch) die Gefahr eines stärkeren Vibratos. Als christlicher Magier<br />

agiert der deutsche Bass Florian Küppers. Er trägt eine dunkle Tracht<br />

mit Beffchen und Perücke und erinnert dadurch ein wenig im Habitus<br />

an van Bett aus Lortzings „Zar und Zimmermann“. Auch die weiteren<br />

kleinen Rollen sind bestens besetzt: Su-Jin Yang (Sopran) als Donna/Sirene<br />

und Uiji Kim/Sirene (Sopran), beide wieder aus Süd-Korea, sowie<br />

Frederik Bak/Araldo (Tenor).<br />

Die spielfreudige Statisterie des Staatstheaters Mainz unter der bewährten<br />

Leitung von Dieter Rößler ist bestens in das Bühnengeschehen inte-<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 63


Deutschland<br />

griert. Da man sich, wenn man will und kann, auch auf die instrumentale<br />

Musik konzentriert, sind viele Besonderheiten zu entdecken: die formalen<br />

Abweichungen in der Französischen Ouvertüre, vielfältige Charaktere,<br />

die der Suiten-Gattung entnommen sind, wie z.B. die schwungvolle<br />

Gigue, die verhaltene Sarabande oder als Sonderfall ein „Fandango“ in der<br />

5. Szene des 1. Akts „Furie terribile“, Satztechniken (Echoeffekte, mehrere<br />

Unisono-Passagen bei den Streichern), „Vogelgezwitscher“ (hohe Flöten)<br />

und Fanfaren, virtuoses Cembalo, Marsch, „Battaglia“ und Brüche<br />

in Arien durch plötzliche Taktwechsel. Das Philharmonische Staatsorchester<br />

Mainz hat mit seinem Leiter diese vielfältige Klangwelt Händels<br />

mit Präzision und Einfühlungsvermögen interpretiert. GMD Hermann<br />

Bäumer, der auch sehr sängerfreundlich dirigiert, bekommt mit seinen<br />

Musikern beim ersten Vorhang den stärksten Beifall. Das spricht auch aus<br />

vielerlei Gründen für das Publikum! <br />

Volker Funk<br />

Wussten Sie schon, dass Giuseppe Verdi auch den Schlager „Azzurro“ komponiert<br />

hatte? Eine gute Minute lang schallt Adriano Celentanos Stimme<br />

zu Beginn der 3. Szene aus dem Radio der Spelunke, in der Falstaff wenig<br />

später Spaghetti serviert werden. <strong>Der</strong> Wirt, eine dauerkiffende, ungepflegte<br />

grauhaarige Type in Flipflops, beginnt animiert von den Klängen<br />

zu tänzeln, eine Dame durchaus älteren Semesters vor mir signalisiert mit<br />

hin und her schwingendem Körper ähnliche Absichten. Habe ich mich<br />

vielleicht ins falsche Stück verirrt? Und war das hörbar erheiterte Publikum<br />

erleichtert, mit leichten Ohrwürmern anstatt mit der ach so schweren<br />

Oper konfrontiert zu werden?<br />

All das könnte jetzt sarkastisch klingen, wenn es nicht in Wirklichkeit traurig<br />

und fassungslos stimmte, wie wenig Respekt Hausregisseurin Andrea<br />

Moses gegenüber Kunstwerken zeigt, indem sie meint, Verdis genialem<br />

Alterswerk eine solche musikalische Entgleisung aufpfropfen zu müssen.<br />

Noch bedenklicher wird dies bei GMD Sylvain Cambreling, der einerseits<br />

nicht müde wird zu betonen, wie perfekt anspielungsreich und in<br />

sich geschlossen diese Partitur ist, sowohl in einem Artikel im Programmheft<br />

als auch bekräftigt in der musikalischen Wiedergabe mit dem feinst<br />

auf alle kleinen und schnellen Details reagierenden Staatsorchester Stuttgart,<br />

dann aber einen solch frechen Unsinn im Rahmen dieses Gesamtkunstwerks<br />

zulässt und verantwortet. Um nicht falsch verstanden zu werden:<br />

sein analytischer Zugriff bekommt den häufigen Stimmungswechseln<br />

und vielen Farbtupfern äußerst gut. Rhythmische Prägnanz herrscht in<br />

den sich oftmals überschlagenden Abläufen, in den virtuos gehandhabten<br />

Ensembles, zwischen all den vielen zitierenden und karikierenden Espressivo-Phasen<br />

stellt sich in kurzen Zusammenkünften des jungen Liebespaares<br />

sowie in der finalen Waldszene impressionistisch zartestes Schimmern<br />

und Flimmern sowie richtig wohltuendes melodisches Streicher-Blühen<br />

ein. Kurz: da wird alles im rechten Maß und in Balance zwischen Ernst<br />

und Komik, zwischen Lachen und Ironie gehalten.<br />

Bei der Regie sieht es bei aller handwerklichen Brillanz der Regisseurin etwas<br />

anders aus: mit Ruhe oder Stillstand, Momenten des Sinnierens und<br />

Reflektierens vermag sie wenig umzugehen, es herrscht der fast beständige<br />

Drang nach Tempo und Aktion. Dazu gehören auch die offenen Umbauten<br />

auf der wieder einmal schwarz verhangenen Bühne (und das bei einer<br />

Komödie!), wo schwarze Kapuzenmänner in Fords Diensten mit vielfältigen<br />

z. T. durchlässigen Wandverschiebungen eines braunen Sperrholz-<br />

Quaders mehr oder weniger einfache Szenen skizzieren. Ausnahme ist das<br />

Innere von Fords Wohnhaus, wo sich die Vorgänge auf gleich drei nach<br />

hinten ansteigenden Etagen überschlagen – verdoppelt durch einen Riesen-Deckenspiegel,<br />

der auch in der nächtlichen Spukszene dazu dient,<br />

den großen Baum (Hernes Eiche) aus einem (neben weiteren) tatsächlich<br />

vorhandenen Stamm und dem sich genau darauf spiegelnden Ensemble<br />

in grüner Blätter-Verkleidung als Illusion herbei zu zaubern (Bühne: Jan<br />

Pappelbaum). Soviel Märchenzauber war nach den vorherigen Szenen.<br />

die Moses in für sie wohl unumgänglicher Weise im Hier und Heute angesiedelt<br />

sind, gar nicht zu vermuten. Anna Eiermanns Kostüme sind<br />

mit wenigen Ausnahmen (Falstaff, Alice und Meg) geschmacklich ziemlich<br />

entgleist, als gelte es das möglichst Hässliche auszustellen.<br />

Im Großen und Ganzen ist alles genau am Text, an den Vorgaben entlang<br />

inszeniert, und gerade deshalb stellt sich die Frage, warum der optische<br />

Rahmen so betont heutig sein muss. Das Stück ist in seiner Konzeption<br />

so modern, in seiner thematischen Verknüpfung von Moral und<br />

Ehrenhaftigkeit so zeitlos, dass es für sich selber spricht und keiner Aktualisierung<br />

bedarf.<br />

Dass der köstliche Spaß, den sich die „lustigen Weiber“ da leisten, kaum<br />

ein Lachen, höchstens ein gelegentliches Lächeln erweckt, entzieht dem<br />

Werk einen wesentlichen Teil seiner Wirkung. Warum Falstaff am Ende<br />

der von ihm selbst angestimmten Fuge das ihm von einem Kind gereichte<br />

Stuttgart: „FALSTAFF“ – 22.11. (Pr. 20.10.) – Adriano<br />

Celentano in der Oper<br />

Aus der Themse gerettet - Sir John (Albert Dohmen)<br />

(© A.T. Schaefer)<br />

Sektglas ablehnt und seitwärts abgeht, hängt der doch eindeutigen, auch<br />

musikalisch komprimierten Bekenntnis-Vereinigung, dass alles Spaß auf<br />

Erden ist, ein Fragezeichen an, so als dürfte es um Gottes Willen kein<br />

Happy-End geben.<br />

Die vokale Besetzung stimmte überwiegend. Zwiespälte tun sich ausgerechnet<br />

bei der Titelgestalt auf. Es ist gut nachvollziehbar, dass der international<br />

renommierte Bassbariton Albert Dohmen zwischen seinen vielen<br />

Wagner-Einsätzen mal einen Ausflug in komische Gefilde machen<br />

wollte. Und so viel sei gesagt: sein Debut ist rein gesanglich betrachtet<br />

vollkommen gelungen. Mühelos schöpft er das geforderte umfangreiche<br />

Register aus, vermag zwischen Feinem und Vollmundigem hinreichend<br />

zu nuancieren, spielt einen leicht herunter gekommenen Mann im noch<br />

besten Alter, der sich seiner Wirkung durchaus bewusst ist und dennoch<br />

die Weiberverführungen nur als Umweg benutzt, um zu Geld zu gelangen,<br />

seinem leiblichen Genuss frönen und seine ebenso trinkfreudigen<br />

Diener unterhalten zu können. Einer, bei dem sich zunehmend mehr<br />

das Mitleid als das Vergnügen um seine Durchtriebenheit einstellt. Und<br />

dennoch geht ihm etwas Entscheidendes ab: die Natürlichkeit des Charakters,<br />

die aus dem italienischen Text sprechende Süffisanz der Pointen.<br />

Meist herrscht mehr gelernte Perfektion als ein selbstverständlicher Humor,<br />

aus dem der Witz entspringt.<br />

Perfekt und gelöst zugleich präsentierte sich der albanische Sänger Gezim<br />

Myshketa als schauspielerisch wendiger, Spaß und Eifersucht schillernd<br />

zum Ausdruck bringender und mit einem schlackenlosen, schönen,<br />

rundum glanzvoll und unforciert ansprechenden Bariton aufhorchen lassender<br />

Ford. Seine Gattin Alice kann ihm in Gestalt der apart damenhaften<br />

Simone Schneider mit breiter gewordenem, aber in der Höhe leuchtend<br />

voll gebliebenem Sopran sowie köstlichem Mimenspiel auf gleichem<br />

Niveau begegnen. Ungewohnt jung und auch vokal anders geartet als<br />

64 | DER NEUE MERKER 12/2013


Deutschland<br />

meist die Mrs. Quickly: Hilke Andersen im schwarzen Hosenkostüm<br />

mit hochgesteckten Haaren und riesiger Brille bietet viel Sexappeal und<br />

schmeichelt Falstaff mit betörend weicher Mittellage. Während sie in der<br />

Höhe richtig aufdrehen kann, bleibt das Tiefenregister eher schwach, es<br />

sei denn der Verzicht auf in dieser Partie gern gehörte üppige brustige Tiefen<br />

(„Reverenza“) war hier beabsichtigt, um Hörgewohnheiten zu überwinden.<br />

In Aufmerksamkeit heischender Mode und saftigem Mezzo-Einsatz<br />

stand Sophie Marilley als beständig Kaugummi kauende Meg Page<br />

mit Model-Figur und entsprechenden Bewegungsmöglichkeiten keineswegs<br />

im Damen-Quartett zurück, zu dem auch die neu ins Ensemble gekommene<br />

Rumänin Mirella Bunoaica als Nanetta gehört. Die hier als<br />

etwas aufmüpfiger Teenager gezeigte Tochter der Fords lässt einen angenehmen<br />

lyrischen Sopran hören, der sich in den langen Höhen warm und<br />

klar entfaltet. Gergely Nemeti macht neben ihr als Fenton eine eher unglückliche<br />

linkische Figur, kommt aber mit der für ihn inzwischen schon<br />

sehr leichten Partie trotz einer angekündigten Erkältung mit kultiviertem<br />

Tonfall und sauber gestützter Höhe bestens zurecht.<br />

Heinz Göhrig gehört zu den Sängern, die jedem festen Ensemble in unterschiedlichsten<br />

Partien zur Ehre gereichen. Im Falle des brav bürgerlichen<br />

Dr. Cajus in kariertem Anzug und mit sauberst getolltem Haar trifft<br />

er mit immer noch substanzreichem Tenormaterial den passend penetranten<br />

Tonfall des unliebsamen Wunsch-Bräutigams.<br />

Torsten Hofmann und Roland Bracht füllen die beiden Diener mit<br />

schmierigem Charaktertenor bzw. bedrohlich dunklem Bass als prägnant<br />

charakterisierte Gauner aus.<br />

<strong>Der</strong> Staatsopernchor Stuttgart mischt vor allem das Schlussbild mit ganz<br />

feinen sowie auch deftig zulangenden Tönen auf und darf bei der Rache<br />

an Falstaff, der hier tatsächlich mit Hirschgeweih und Lederhose mit Hufen<br />

auftritt, entsprechend beteiligt sein.<br />

Als zweiter Beitrag (nach „Nabucco“ zu Jahresbeginn) im Verdi-Jahr<br />

stimmte auch dieses Gesamtpaket vor allem szenisch nicht rundum glücklich,<br />

auch wenn die Publikumsaufnahme an diesem Repertoireabend sehr<br />

lebhaft und für einige Sänger auch verdient begeistert war. Udo Klebes<br />

„I LOMBARDI“ – 24.11.<br />

Die traditionsreichen Konzertchöre Stuttgarter Liederkranz luden in die<br />

Liederhalle und leisteten zum Verdi-Jahr einen gehaltvollen Beitrag mit<br />

„I Lombardi“, aus der frühen Schaffensperiode des italienischen Meisterkomponisten.<br />

Dieses Werk zu inszenieren legt oft szenisch-dramaturgische<br />

Probleme dar, welche man geschickt umging und die konzertante<br />

Aufführungspraxis wählte.<br />

Es geht um die eigenwillige verstrickte Story um Liebe, Verrat, Bruderzwist,<br />

Mord, Rache und Vergebung vor dem historischen Hintergrund<br />

des ersten Kreuzzuges, jenem umstrittenen, religiösen Fanatismus der<br />

christlichen Kirche.<br />

Für die Rolle der Giselda dieser Sopran- Extrempartie und Vorstufe der<br />

Abigaille war Adréana Kraschewski vorgesehen, aber die Dame sagte ab<br />

und als Retterin in der Not sprang Agnieszka Hauzer ein, die die Partie<br />

bereits vorab in Kielgesungen hatte. Mit voller dramatischer Wucht<br />

warf sich die junge polnische Sängerin ins Geschehen, beeindruckte mit<br />

fulminanter Stimmtechnik, bewältigte die vertrackten Oktavsprünge des<br />

Rondo-Finales Se vano é il pregare souverän. War zwar das herbe Timbre<br />

dieser Stimme meinem Gehör nicht immer gewogen, so schenkte diese<br />

Powerfrau dem Duett Teco io fuggo sowie der Soloarie In fondo all´alma<br />

mehr Wärme und vokale Farben. Mit weichem Mezzo gstaltete Carmen<br />

Mammoser die Sofia. Schönstimmig erklang der Sopran Christine Reber<br />

(Viclinda).<br />

Die Herrenriege führte ohne Zweifel mit der kultiviertesten Stimme des<br />

Abends Zurab Zurabishvili an. <strong>Der</strong> georgische Spinto-Tenor eroberte<br />

sich mit der leider viel zu kurzen Partie des Oronte ein weiteres Glanzlicht<br />

seines Verdi-Repertoires. Jung und frisch erklang das legato-fähige<br />

Material in unübertrefflicher Schönheit, ließ mit Stilgefühl herrliche Piani<br />

erklingen und überzeugte mit strahlendem Höhenglanz.<br />

Farblos in eigenwilliger Intonation absolvierte mit reifem Bassorgan Marcel<br />

Rosca die gewichtige Partie des Pagano. Leichtgewichtig, mit sprödem<br />

Tenor gab Robert Wörle dem Arvino wenig Profil. Rollendeckend<br />

fügten sich die Stimmen der Herren Thomas Wittig (Pirro, Acciano) sowie<br />

Jörg Aldag (Priore) in die musikalischen Abläufe.<br />

Berücksichtigt man die Tatsache, dass es sich bei der Chorvereinigung Liederkranz<br />

um keinen professionellen Opernchor handelt, so fallen die Leistungen<br />

der immensen Chorfrequenzen umso mehr ins Gewicht. Was dieser<br />

Gemeinschaft noch an trefflicher Diktion und Transparenz fehlen mochte,<br />

glichen die sehr engagierten Sänger mit bewundernswerter Klangqualität<br />

und Rhythmik, besonders während der schnellen Passagen, bestens aus.<br />

<strong>Der</strong> trockenen Beton-Akustik des Beethovensaals wirkte der Dirigent Ulrich<br />

Walddörfer mit weniger knalligen Forte-Effekten entgegen. Schwelgerisch<br />

vermittelten die sauber und viril aufspielenden Mitglieder des<br />

Staatsorchesters Stuttgart den Melodienreichtum der Partitur und der<br />

umsichtige Kapellmeister verstand sich zudem als sensibler Sängerbegleiter.<br />

Kleine Diskrepanzen zum Chorapparat waren allerdings nicht zu<br />

überhören. Wunderschön intonierte die Solovioline (Joachim Schall) das<br />

Preludio des Finale-Terzo und imposant absolvierte Georg Oberauer die<br />

Orgelbegleitung.<br />

Die begeisterte Zustimmung des Publikums würde mit der Wiederholung<br />

der Chorszene Gerusalem…Jerusalem belohnt. Gerhard Hoffmann<br />

Ulm: „OTELLO“ – Pr. 26.9.<br />

„Künstlerpech – ausgerechnet zum Saisonbeginn –“, so empfindet man, nachdem<br />

Intendant Andreas von Studnitz vor dem Vorhang tritt, um zu verkünden,<br />

dass der Sänger des Otello plötzlich erkrankt sei, der kurzfristig<br />

eingesprungene Tenor die Rolle von der Seitenbühne aus singe und Regisseur<br />

Matthias Kaiser die Rolle auf der Bühne mimen werde. Dass sich<br />

ein kleines Haus wie Ulm keine Doppelbesetzung leisten kann, ist verständlich<br />

und so ist das Publikum erfreut, dass die Premiere nicht ganz abgesetzt<br />

wird. Und mit einem triumphierenden „Esultate“ („Freut Euch“)<br />

in der Sturmszene gewinnt der von Köln angereiste Ray Wade das Publikum<br />

„im Sturm“. <strong>Der</strong> junge Texaner, in Statur und Teint zwar der klassische<br />

Otello, singt die Rolle jedoch mit weichem, modulationsfähigem,<br />

italienisch geschultem Spinto-Tenor, höhensicher auch in den berührenden<br />

Pianostellen wie im großen Liebesduett.<br />

Bei Operndirektor Matthias Kaiser kann man drauf vertrauen, dass seine<br />

Inszenierungen werkgerecht sind (was nicht werkgetreu heißen muss). So<br />

auch an diesem Abend. Eine mächtige, dreh- und verschiebbare Wippe<br />

(Bühnenbild Britta Lammers) ist das einzige Requisit auf der ausgeräumten<br />

Bühne, vielfältig einsetzbar im Auf und Ab der Leidenschaften. In der<br />

Sturmszene stellt sie im Hintergrund mittels geschickter Beleuchtung und<br />

im Sturm wehenden Vorhängen ein Schiff in Seenot dar, im weiteren Verlauf<br />

wird sie zum Laufsteg, zum Versteck für den lauschenden Otello und<br />

schließlich zum Bett der Desdemona. Bei den Kostümen dominieren Seemannsuniformen<br />

im Stile der Erstehungszeit der Oper, auf prachtvolle<br />

Gewänder aus der Zeit der venezianischen Seeherrschaft wird verzichtet<br />

(Kostüme Angela Schuett).<br />

Bei der Personenführung ist schon ein Handicap, dass der schmächtige<br />

Matthias Kaiser seine von ihm kreierte Figur durch den Ausfall des Otello<br />

selber spielen muss (auf schwäbisch eher ein „Otellole“). Aber die anderen<br />

Rollen sind hervorragend eingestellt, vor allem Kwang Keun Lee als<br />

Jago, der die intrigante Figur, das Urbild der menschlichen Schlechtigkeit,<br />

fast etwas zu eindimensional ausspielt, dazu mit seinem virilen Verdi-Bariton<br />

großartig singt. Sein vom Feuer umspieltes „Credo“, nicht weniger<br />

die vom Orchester mit chromatischer, teuflisch kriechender Melodie unterlegte<br />

Traumerzählung, sind gesangliche Höhepunkte.<br />

Oxana Arkaeva ist die bedauernswerte Desdemona, die von Akt zu Akt<br />

an stimmlichem Format gewinnt und vor allem die Todesahnung mit dem<br />

Lied von der Weide berührend gestaltet. Alexander Schröder ist der hell-<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 65


Deutschland<br />

stimmige Cassio, der in der Höhe etwas schwindeln muss. Hans Günther<br />

Dotzauer als Roderigo, Don Lee als venezianischer Botschafter, Joachim<br />

Pieczyk als Montano, vor allem aber I Chiao Shih als Jagos Gattin Emilia<br />

mit warmem weichem Alt, sind verlässliche Stützen in den Nebenrollen.<br />

Noch nicht in der Sturmszene, doch im weiteren Verlauf, gewinnt der<br />

Opernchor an Format. GMD Timo Handschuh dirigiert mit dem Philharmonischen<br />

Orchester einen packenden Verdi voll schmissiger Szenen,<br />

aber auch mit vielen gefühlvollen, manchmal düsteren, oft trauervoll zarten<br />

Stimmungen. Es dürfte sich lohnen, die Oper ein weiteres Mal, dann<br />

in der Originalbesetzung des Otello mit dem jungen neuseeländischen<br />

Tenor Andrew Sritheran zu erleben. <br />

Fridhardt Pascher<br />

Und die Musik ist eben ein Meisterwerk. Humperdinck ist einfallsreich,<br />

ein starker Melodiker und Instrumentator, die Philharmoniker unter Leitung<br />

von Daniel Montané spielen diese Musik weich und romantisch, die<br />

Ouvertüre mit ihren vielen Ohrwürmern in fast symphonischer Breite.<br />

Hervorragend die Spielfreude der bestens einstudierten Sänger, allem voran<br />

Maria Rosendorfsky als humor- und liebevoller Müllmann in seiner<br />

aufgeplusterten orangefarbenen Arbeitskleidung mit wunderschön<br />

lyrischem und klangreichem Sopran, ebenso die beiden großartig spielenden<br />

Kinder, Chia Shih als etwas pummeliger Hänsel mit stets verschmitztem<br />

Ausdruck und herrlich pastosem Mezzo, dagegen Edith Lorans<br />

als die ernstere Gretel mit hellem, etwas sprödem Sopran. Tomasz<br />

Kaluzny ist der Vater mit breitem Bariton, Frauke Willimcziks Sopran<br />

„HÄNSEL UND GRETEL“ – Pr. 7.11.<br />

Es ist gerade 120 Jahre her, dass Engelbert Humperdincks Märchenoper<br />

„Hänsel und Gretel“ am 23. Dezember 1893 in Weimar, dirigiert von keinem<br />

Geringeren als Richard Strauss, unter großem Jubel uraufgeführt<br />

wurde. Wie kann diese herrliche romantische Märchenoper heutzutage,<br />

im Zeichen des modernen „Regietheaters“ (dessen das Opernpublikum<br />

zunehmend überdrüssig wird) überhaupt auf die Bühne gebracht werden?<br />

Zugegeben, das Grimmsche Märchen hat, wie viele seiner Art, arg<br />

grausame Züge. Wie wär‘s also wie folgt: Hänsel und Gretel, schmutzig,<br />

faul und asozial, Vater Alkoholiker und gescheiterter Kleinunternehmer,<br />

Mutter bösartig und verbittert, Hexe ein im Wald hausender Lustmolch,<br />

der Kinder einfängt und verschwinden lässt, bis er von den Brandstiftern<br />

Hänsel und Gretel samt seinem Laden angezündet wird. Das wäre doch<br />

so richtig sozialkritisch! Und dass das nicht mit der Musik konform geht<br />

– nebensächlich.<br />

Keine Sorge, solche Auswüchse sind in Ulm unter Operndirektor und<br />

Dramaturg Matthias Kaiser nicht zu befürchten, obwohl die Inszenierung<br />

von Benjamin Künzel mit Mona Hapke (Bühne und Kostüme)<br />

und Klaus Welz (Licht) durchaus einen modernen Touch hat und weit<br />

von einer naiven, überzuckerten Märchenstunde entfernt ist.<br />

Hänsel und Gretel tollen vor einer bunten, etwas abgeschossenen Blumentapete<br />

herum, natürlich geht der Reistopf zu Bruch und sie werden<br />

ins Freie zum Beerenpflücken gejagt. Sie verlaufen sich aber nicht im romantischen<br />

deutschen Wald, sondern in einem großen Park, rasten auf<br />

einer breiten Bank vor einer funzeligen Straßenlaterne. Jetzt sollte eigentlich<br />

das Sandmännchen kommen, doch es erscheint ein freundlicher Müllmann,<br />

der mit den Kindern nach getaner Arbeit sein Vesper teilt, sie nach<br />

dem Abendsegen liebevoll in den Schlaf singt und beschützt. Eigentlich<br />

braucht man die 14 besungenen Schutzengel nicht, aber sie stehen halt im<br />

Libretto und so sehen die Kinder im Traum ihre Eltern gleich vierzehnfach.<br />

Letztere Idee kann allerdings nicht überzeugen. Dagegen ist schlüssig,<br />

dass die Hexe den schlafenden Kindern ein Lebkuchenhaus im Mülleimer<br />

versteckt, das diese dann entdecken: „O Himmel, welch ein Wunder<br />

ist geschehen!“ Die Kinder sind nicht die ersten, die sich aus dem Abfalleimer<br />

bedienen, der Müllmann hat es ja schon vorgemacht, als er eine leere<br />

Pfandflasche einsteckt. Jetzt nimmt die Inszenierung Fahrt auf, der Zwischenvorhang<br />

fällt, er gibt aber kein Hexenhaus frei, sondern eine dampfende,<br />

mit bunten Kontrolllampen blinkende Schokoladenfabrik, riesengroße<br />

Schokokugeln ausspuckend, aus denen (huch, wie eklig) noch die<br />

eine oder andere Kinderhand ragt. Zusatzenergie wird gewonnen durch<br />

Fahrradantrieb. Nachdem es gelingt, die Hexe in den Verbrennungsofen<br />

zu schubsen, treten die Kinder in die Pedale, bis durch Überspannung die<br />

ganze Anlage in die Luft fliegt, nicht ohne noch vorher die Hexe als giftige<br />

Kugel auszustoßen. Jetzt sollten eigentlich die gefangenen Kinder erlöst<br />

werden, doch stattdessen kriechen müde, staubige Arbeiter aus der Ruine,<br />

die Musik wird noch einmal besinnlich: „Wenn die Not aufs höchste steigt,<br />

Gott der Herr die Hand uns reicht“. Na ja, dem Ende zu kam auch der Regisseur<br />

in höchste Not. Trotz allem hat man den Eindruck, die Regie läuft<br />

nicht gegen die Musik. Und das kann nicht hoch genug gelobt werden.<br />

Knusperhaus mit Backofen: Hans-Günther Dotzauer (Hexe), Edith Lorans (Gretel),<br />

Chia Shih (Hänsel) (© Martin Kaufhold)<br />

ist klangschön, wenn auch nicht so ausladend. Den Vogel schießt wieder<br />

einmal das Ulmer Urgestein Hans-Günther Dotzauer ab, diesmal tollt<br />

er als gruselig geschminkte Hexe über die Bühne und produziert dabei<br />

auch noch hörenswerte Töne.<br />

Alles in allem gelingt den Ulmern eine interessante, humorvolle, ganz selten<br />

ins Klamaukhafte abdriftende Märchenoper. Am Ende viel Applaus,<br />

vor allem für den „Sand- und Müllmann“ dem es vorbehalten bleibt, am<br />

Schluss den Vorhang zu ziehen. <br />

Fridhardt Pascher<br />

Baden-Baden: JUAN DIEGO FLÒREZ – 9.11.<br />

Ein Fest für Rossini versprach das Festspielhaus mit dem prominenten<br />

Zugpferd Juan Diego Flórez. Lediglich den smarten Argentinier zu erleben,<br />

war die Fangemeinde aus nah und fern angereist, las teils nicht den<br />

„Beipackzettel“ und verstand somit das Programm mit der Damenverstärkung<br />

als regelrechte Mogelpackung. Zudem sang Flórez lediglich nur zwei<br />

Arien und holte sich zur Schonung der kostbaren Stimmbänder zu diversen<br />

Arien und Duetten noch zwei begleitende Solistinnen ins vokale Beiboot.<br />

Luftig, locker, instrumental nicht einwandfrei eröffnete die Philharmonie<br />

Baden-Baden unter Führung von Christopher Franklin den kontroversen<br />

Konzertabend mit der Ouvertüre zu „Torvaldo e Dorliska“, gefolgt<br />

von der Arie Dove son? Chi m´aita der weiblichen Titelheldin, in<br />

sehr unflexibler Stimmführung von Yolanda Auyanet dargeboten. Anna<br />

Bonitatibus, dem bereits renommierten italienischen Mezzo liegt dagegen<br />

Rossini in der Kehle. Facettenreich, ganz im Gestus des Komponisten,<br />

erklang ihre weiche, schöne Stimme mit der Arie Bell´alme generose<br />

aus „Elisabetta, regina d´Inghilterra“. Nach diesen Einleitungen kam endlich<br />

ER, eroberte mit Charme, koloraturreich und höhensicher die Herzen<br />

der Zuhörer. Und dennoch erschien mir das kostbare Material bei der<br />

66 | DER NEUE MERKER 12/2013


Deutschland<br />

Arie S´ella mi é ognor fedele aus „Ricciardo e Zoraide“ mit leichtem Patinaschimmer<br />

behaftet. Kräftig ließ Franklin zur Ouvertüre „Semiramide“<br />

auf die Pauke hauen und die Damen fanden sich zum temperamentvollen<br />

Duett Semiramide-Arsace desselben Werkes.<br />

Nach der Pause kam wieder die brave, unbedarfte Sopranstimme von Auyanet<br />

mit der Romanze der Matilde aus „Guillaume Tell“ zum Einsatz<br />

und beschloss auch völlig unspektakulär das Konzert mit dem Duett Arnold-Matilde.<br />

Zu laut, nicht fehlerfrei leistete das Orchester noch einen<br />

instrumentalen Beitrag mit der Ouvertüre zu „La Cenerentola“. Herrlich<br />

phrasiert, vollmundig im Timbre sang Anna Bonitatibus das Rondo-Finale<br />

Nacqui all´affanno e al pianto der Angelina und Juan Diego Flórez gesellte<br />

sich sodann zum glanzvol-virtuos interpretierten Duett Un soave non<br />

so che hinzu. Belcanto pur, mit tenoralem Schmelz bot zudem Flórez in<br />

der Ramiro-Arie Principe piu non sei als zweiten, umjubelten Soloauftritt.<br />

Die herzlichen Sympathiekundgebungen des Publikums belohnten die<br />

Gäste mit dem Terzett aus „Le Comté Ory“ und nahmen dem Abend<br />

den leicht bitteren Nachgeschmack mit den heftigen Unmuts-Diskussionen<br />

während der Pause. <br />

Gerhard Hoffmann<br />

Heidelberg: „TOSCA“ – 19.10.<br />

In der 1.Saisonpremiere führte Andrea Schwalbach, die hier schon 2012<br />

„<strong>Der</strong> 1000-jährige Posten oder <strong>Der</strong> Germanist“ inszeniert hatte, Regie.<br />

Die musikalische Leitung hat Yordan Kamdzhalov inne, der die Heidelberger<br />

Philharmoniker zu sehr elastischem, “veristischem”, aber nie plakativem<br />

Puccini-Spiel im tiefgefahrenen Orchestergraben inspirierte, so<br />

dass die Sänger auf der Bühne auch nie übertönt wurden.<br />

Andrea Schwalbach zeigt in kleinen Kammer-ähnlichen Räumen (Bühnenbilder:<br />

Nanette Zimmermann) besonders die psychologisch-affektiven Motive<br />

der Personen auf, besonders natürlich das Beziehungsgeflecht Tosca -<br />

Cavaradossi - Scarpia. Dabei wird Scarpia als grausamer Mensch, sogar als<br />

Lustmörder, dargestellt, der im 1. Akt, im kirchlichen Raum, die Marchesa<br />

Attavanti (super gespielt von Katrin Schyns), die Schwester des entflohenen<br />

politischen Häftlings Cesare Angelotti, wie ein Renaissancefürst auf offener<br />

Szene ersticht. Ihren Leichnam stellt er im 2.Akt gleichsam als Trophäe<br />

für die eifersüchtige Tosca aus, um diese sich womöglich dadurch gefügiger<br />

zu machen. Hier lässt er sich immer von einem jungen Mädchen (sehr gut<br />

gespielt von Lara Williams) beim Essen bedienen. Später mimt und singt<br />

das Mädchen auch den Hirten und tröstet Cavaradossi. Tosca singt in der<br />

Eifersuchtsszene nicht nur, dass der Maler Cavaradossi seiner „Maddalena“<br />

ihre schwarzen Augen malen soll, sondern sie legt selbst Hand an und übertuscht<br />

das rechte Auge schwarz. In der Tötungsszene sticht sie mehrmals nahezu<br />

hysterisch auf Scarpia ein und behält dann das Messer, das sie schon<br />

zuvor hatte, bei sich. Nachdem Cavaradossi von Sciarrone mit Kopfschus<br />

hingerichtet wurde, bedroht Tosca den Priester/vormals Mesner mit dem<br />

Messer, überlässt es diesem dann, um sich hineinzustürzen.<br />

Die Kirche Sant’Andrea della Valle ist mit Heiligenbildchen und Collagen<br />

bis zu modernen Popgrößen ausgestattet (Nora Johanna Gromer,<br />

auch Kostüme). Im Palazzo Farnese ist der vordere Raum mit dem Attavanti-Sarg<br />

links und dem Esstisch rechts durch eine große Bordwand abgeteilt,<br />

dahinter werden zu Beginn die Madrigale gesungen, später Cavaradossi<br />

gefoltert. Auf der Engelsburg gibt es eine hügelähnliche Erhöhung<br />

mit den Heiligenbildchen darauf und ein großes mit Glühlämpchen beleuchtetes<br />

kitschiges Kreuz, vorne ein Tisch, an dem Cavaradossi vergeblich<br />

den letzten Brief an Tosca schreibt. Wenn bei ihm Flickenjeans und<br />

T-Shirt als Künstler durchgehen, während Tosca ihre Auftritte in einem<br />

gelb-orangen Pluderhosen-Rock-Ensemble absolviert, erscheint Scarpia<br />

in Alltagskleidung als “Banalität des Bösen”, nur im Kirchenraum trägt<br />

er einen etwas militärisch anmutenden Mantel darüber.<br />

Die koreanische Tosca Hye-Sung Na ist das gesangliche Highlight der<br />

Aufführung. Mit schönem weichem, nie forciertem Sopran gelingt ihr<br />

eine eindrückliche Darstellung und mildert damit teilweise ihre gewaltsamen<br />

Handlungen. Gesanglich gelingen ihr aber am besten die dramatischen<br />

Szenen, in denen sie auftrumpft. Angus Wood/Cavaradossi zieht<br />

zuerst, was die stimmlichen Mittel anbelangt, gegenüber Tosca den Kürzeren,<br />

kann aber später seine hübsche, etwas eng geführte Kopfstimme<br />

in größerem Ausmaß entfalten. Später gelingt ihm eine schön gestaltete<br />

Sternenarie. Dem Scarpia James Homannn fehlt zumindest stimmlich<br />

das Dämonische und Heldenbaritonale. Seine schauspielerische Gestaltung<br />

ist dagegen beachtlich. Den Sciarrone und hier auch wohl Vater des<br />

Mädchens singt mit kurzen Einwürfen David Otto. Den Spoletta, ebenfalls<br />

Chortenor, Sang-Hoon Lee mit gut artikulierten Antworten. Cesare<br />

Angelotti robbt auf dem Kirchenboden und wird von Wilfried Staber mit<br />

kräftig zupackendem Bass gesungen. Ipca Ramanovic gibt einen pietätvollen<br />

Mesner, ganz unterwürfig dem Kirchenstaat ergeben, mit schleimig<br />

süßlichem Bariton. <br />

Friedeon Rosén<br />

Saarbrücken: „TOSCA“ – Pr. 24.11. –<br />

Ambitionierte Wiedereröffnung des Staatstheaters<br />

„Sieb´n Monat´war die Tante krank – jetzt spielt sie wieder, Gott sei<br />

Dank!“ Es war eine harte Probe, besonders für Opernfreunde, diese Modernisierung<br />

der Bühnentechnik des Staatstheaters. Die Ausweich-Spielstätten<br />

waren, gelinde gesagt, von unterschiedlicher Qualität und hatten<br />

mit Offenbachs zerzaustem Verschnitt der „Contes d´Hoffmann“ im Theaterzelt<br />

und seiner Un-Akustik ihren circensischen Tiefpunkt erreicht. Entsprechend<br />

groß war die Neugier des Publikums auf die erste Produktion<br />

im technisch für 15 Millionen Euro aufpolierten Haus. Die wurde schon<br />

vor Beginn im Foyer gebührend gefeiert: mit kleinen Häppchen, Souvenirs<br />

und dem Verkauf von T-Shirts zur Begrüßung. <strong>Der</strong> äußere Rahmen<br />

stimmte also auf eine Gala-Vorstellung ein.<br />

Hausherrin Dagmar Schlingmann hatte selbst die Regie übernommen.<br />

Bevor deren Qualitäten zum Tragen kamen, konnte sie nicht umhin, die<br />

nagel<strong>neue</strong> Technik des Hauses in voller Virtuosität vorführen zu lassen. Mit<br />

einer brillanten Sequenz bewegter Bilder als Video-Einspielung (Video:<br />

Beginn in Schönheit - Mario mit Floria (Alex Vicens, Victoria Yastrebova)<br />

(© Thomas M. Jank)<br />

Heiko Kalmbach) sollte zu Beginn das Ende der Tosca veranschaulicht<br />

werden, um die Geschichte aus deren Sicht vom Schluss her zu erzählen.<br />

Erreicht wurde damit nur, dass die filmische Bilderflut den musikdramatisch<br />

starken Anfang (Scarpia-Motiv) verpuffen ließ und dem Zuschauer<br />

den Zugang zur 1. Szene erschwerte. Ähnliche Einspielungen wiederholten<br />

sich noch mehrmals, immer mit demselben Effekt: Sie machten es den<br />

Akteuren schwer, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.<br />

Die guten Nachrichten zur Regie: Schlingmann beließ das Stück im historischen<br />

Kontext und verzichtete auf aktualisierende Mätzchen, wofür<br />

man nicht dankbar genug sein kann. Unterstützt wurde sie dabei durch<br />

die stimmungsvollen Bühnenbilder von Sabine Mader, das fantasievolle<br />

Licht-Design von Nicol Hungsberg und die praktikablen Kostüme von<br />

Inge Medert. Da nimmt man einige Spielereien mit der Drehbühne im<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 67


Deutschland<br />

1. und den allzu transparenten Wänden im 2. Akt gern in Kauf. (Ausnahme:<br />

Die geschwenkten schwarzen Fahnen beim feierlichen Tedeum<br />

in der Kirche waren deplatziert und machten die gespenstische Situation<br />

dieses 1. Aktschlusses zur Farce.)<br />

Das allgegenwärtige Übergewicht der Technik-Show machte es denen,<br />

die das Stück mit ihrer Hände und ihrer Stimme Arbeit zu tragen hatten,<br />

nicht gerade leichter. Am stärksten waren davon Orchester und Dirigent<br />

betroffen. Will Humburg führte dennoch mit gediegener Werkkenntnis<br />

und dirigentischer Umsicht das Saarländische Staatsorchester<br />

sicher durch schwelgerische Kantilenen wie durch veristische Exzesse und<br />

sorgte, komplettiert vom gewohnt sicher singenden Opernchor unter<br />

Jaume Miranda, für einen unfallfreien Verlauf und ausgewogene musikalische<br />

Proportionen. An manchen Stellen wäre aber etwas mehr agogische<br />

Intuition bei der Begleitung der Sänger hilfreich gewesen.<br />

Die Sängerbesetzung hätte kaum unterschiedlicher sein können. Weder<br />

die Regie noch die musikalische Leitung konnten aus der Mischung von<br />

hauseigenen Kräften und speziell für diese Produktion engagierten Sängern<br />

ein homogenes Ensemble schweißen.<br />

Von den vielen Stichwortträgern, die leicht zu besetzen sind, seien nur<br />

zwei umfangreichere Partien genannt: der solide Angelotti Hiroshi Matsui<br />

und der betuliche Mesner Markus Jaursch. Und die melancholische Hirtenmelodie,<br />

die das Morgengrauen des 3. Akts atmosphärisch anreichert,<br />

sollte, wie von Puccini gewünscht, von fern zu hören sein, Hier singt sie<br />

der Hirtenknabe, fern von seiner Herde, auf der Plattform der Engelsburg,<br />

auf der gleich danach die Exekution stattfindet. Wie kommt er hierher?<br />

Von den drei Protagonisten stammte immerhin einer aus dem hauseigenen<br />

Ensemble: <strong>Der</strong> isländische Charakterbariton Olafur Sigurdarson, noch<br />

in bester Erinnerung als Jago und als Mephisto, bringt das nötige erzene<br />

Volumen mit, das Scarpia braucht, um gegen die gepanzerten Klangballungen<br />

des Tedeums zu bestehen. Nur fehlt dem untersetzten Sänger optisch<br />

die nötige Mischung von aalglatter Eleganz und Dämonie, um auch<br />

im 2. Akt die zynische Figur glaubhaft zu machen.<br />

In der Titelpartie war die Russin Victoria Yastrebova zu erleben. In der<br />

Gestaltung eher zu konventionellen Gesten neigend, überzeugte sie doch<br />

durch musikalische Sensibilität ebenso wie durch den dynamisch differenzierten<br />

Einsatz ihres klangvollen Spinto-Soprans. Die hymnischen Aufschwünge,<br />

die Puccini ihr anbietet, wusste sie wirkungsvoll auszusingen.<br />

Besonders beeindruckend gelang ihr das in ihrem überzeugenden Gebet.<br />

Ihr Cavaradossi, der Spanier Alex Vicens, versuchte es ihr gleichzutun, besitzt<br />

aber weder die dafür erforderliche Stimmtechnik noch das für diese<br />

Partie unerlässliche edle Timbre. Er gab ihr seine trompetenhaften hohen<br />

Töne – und blieb ihr den Rest schuldig. Die Kantilenen in der Mittellage<br />

(also das meiste) klang eng und farblos. Doch das Publikum schien beschlossen<br />

zu haben, dass dies ein festlicher Abend zu sein hat, und bejubelte<br />

seine beiden Arien, zumal der sympathische Sänger lebendig spielte<br />

und gute Figur machte.<br />

Jetzt beginnt das geduldige Warten auf eine Produktion, bei der die <strong>neue</strong><br />

Bühnentechnik nicht nur effektvoll, sondern auch künstlerisch überzeugend<br />

eingesetzt wird. Johannes Schenke<br />

Weimar:<br />

„Die Entführung aus dem Serail“<br />

– 7.11.<br />

Nach der Vorstellung wurde ein Jugendlicher von seiner Mutter vom<br />

DNT abgeholt. „Das Stück hat aber lange gedauert!?“ „Ja, Über drei Stunden.“<br />

„Worum ging es eigentlich?“ „Um Liebe und Sex.“ Mehr bekam ich<br />

von diesem Dialog nicht mit, aber er bringt treffend das zum Ausdruck,<br />

was ich auch empfand. Das Stück zieht sich. Das liegt daran, dass die<br />

Regisseurin Elisabeth Stöppler sehr eigenwillig und eigenmächtig in<br />

die Vorlage eingreift, indem sie mit der Dramaturgin Martina Stütz<br />

eine Dialogfassung erstellte, die in ihrer Länge beinahe schon musikalischen<br />

Anteilen ebenbürtig ist. Nur hat sie nicht deren Qualität! U. a.<br />

werden Auszüge aus Briefen von Wolfgang an Constanze zitiert. Aber<br />

nicht nur das: Die Dialogfassung bedient sich genüsslich der schlüpfrigen<br />

und banalen Alltagssprache der Gegenwart. Verfremdungen gibt es<br />

auch im musikalischen Bereich. <strong>Der</strong> Reihe nach.<br />

Lange bevor es losgeht, gewahrt man auf der Bühne (Karoly Risz), deren<br />

einziges Requisit hohe Palastmauern sind, die in spitzem Winkel im<br />

Hintergrund aufeinander treffen, einen barfüßigen Mann. Ab und an<br />

knallt er gegen die Palastmauern, dann wiederum kauert er sich in den<br />

besagten Winkel, schließlich schaut er sinnierend in den Orchestergraben.<br />

Ist das Belmonte? Sucht er nach einem Weg, um in den Palast zu<br />

kommen? <strong>Der</strong> Chor betritt, aus dem Zuschauerraum kommend, in modernem<br />

Outfit die Bühne. Nun meldet sich der Mann zu Wort. Bevor<br />

der Maestro den Taktstock heben darf, hat der Mann, der sich als Bassa<br />

Selim entpuppt, einige Fragen an die Damen und Herren des Chores.<br />

„Glauben Sie an die Kraft der Liebe?“, „Möchten Sie Ihre Frau sein?“ Noch<br />

ehe die Musik zu ihrem Recht kommt, wird dieses und jenes in Bezug<br />

auf Liebe und Partnerschaft erfragt. Spätestens hier wird klar, dass die<br />

Regisseurin Mozarts Singspiel nutzt, um auf diese Fragen eine Antwort<br />

zu finden. Sie möchte ein zeitloses Kammerspiel entwickeln, in dessen<br />

Mittelpunkt eben diese Probleme stehen.<br />

Diejenigen, die Mozarts Singspiel nicht kennen, fanden das alles ziemlich<br />

cool. Wer seinen Mozart liebt, fragt sich, warum ausgerechnet die<br />

„Entführung“ für diese Polemik herhalten musste. Es mussten Dinge<br />

verändert werden, die es so in diesem Singspiel nicht gibt. Beispielsweise<br />

stehen im „Saufduett“ nicht nur Pedrillo und Osmin auf der Bühne,<br />

sondern auch Blonde und Belmonte. <strong>Der</strong> Einzige, der sich nicht am<br />

Gelage beteiligt, ist Osmin. Folglich verfällt er auch in keinen Rausch.<br />

Kurzerhand greift Belmonte zu einem Damenschuh, haut damit dem<br />

Aufseher eins über den Schädel, so dass dieser erst einmal handlungsunfähig<br />

ist und in die Knie geht. Um ihre Lesart durchzuboxen, ignoriert<br />

die Regisseurin eigentlich alles, was an Auftritten vorgegeben ist.<br />

Sie erfindet die Figurenkonstellationen neu. Und jeder hat das Recht,<br />

die Darbietungen des anderen zu kommentieren, sei es durch eindeutige<br />

obszöne Gesten und Bemerkungen oder individuelle Geräuschkulissen<br />

in Comic-Manier. Besonders derb darf sich Blonde geben. Frank<br />

Lichtenberg, der für die Kostüme verantwortlich zeichnet, steckte sie<br />

nicht umsonst in einen Kampfanzug. Auch die Musik bleibt nicht vor<br />

Eingriffen verschont. So sind Ausschnitte aus Klaviersonaten und -konzerten<br />

von Mozart zu hören. Auch Brahms meldet sich unfreiwillig zu<br />

Wort. Und im Verdi-Jahr darf sich Belmonte ein kräftiges „All‘armi“ abdrücken.<br />

Manrico lässt grüßen! Mitunter sind die Aktionen temporeich,<br />

mitunter treten sie auf der Stelle. Interessant ist der Schluss. Was fängt<br />

man mit der gewonnenen Freiheit an? Man lyncht erst einmal Osmin<br />

und bekundet, dass nichts so hässlich wie die Rache sei.<br />

Musikalisch bot die Aufführung ein recht unausgewogenes Niveau. Begeistern<br />

konnte lediglich Heike Porstein. In der vorausgegangenen Inszenierung<br />

war sie noch die Blonde. Ihr Sopran ist hörbar gereift und hat<br />

mit der schwierigen Tessitura der Konstanze keinerlei Probleme. Selbstbewusst<br />

singt sie trotz der Fesselspiele, die sie auf der Bühne zu ertragen<br />

hat, ihre „Martern-Arie“. Auch sonst nimmt sie mit ihrer klangschönen<br />

und –intensiven Stimme für sich ein. Ihr Spiel ist glaubhaft. Dass einiges<br />

nicht ganz nachvollziehbar ist, liegt sicher nicht an ihr. Völlig unterbelichtet<br />

ist die Beziehung zwischen ihr und Belmonte. <strong>Der</strong> versteckt sich<br />

in Frauenkleidern, schminkt sich und lungert wie ein Häufchen Elend<br />

über weite Strecken an der Wand. Warum ihn Konstanze, die bis dato<br />

eigentlich nur mit dem Bassa Kontakt hatte, aus diesem jammervollen<br />

Dasein befreit, indem sie ihn abschminkt und Männerkleidung reicht,<br />

bleibt unklar. Jaesig Lee gefällt mit schöner Stimmgebung, bleibt als<br />

Belmonte darstellerisch allerdings viel zu passiv.<br />

Steffi Lehmann kommt mit ihrem burschikosen Auftreten als Blonde<br />

beim jugendlichen Publikum gut an. Sie singt gefällig, wobei es in der<br />

Obertonreihe noch Reserven gibt. Jörn Eichler war der Pedrillo. Er<br />

wurde als indisponiert angesagt, so dass sich seine vokale Leistung einer<br />

sachlichen Einschätzung entzieht. Auch er muss in Frauenkleidern<br />

68 | DER NEUE MERKER 12/2013


Deutschland<br />

agieren und hat ab und an paar Lacher auf seiner Seite. <strong>Der</strong> Osmin ist<br />

alles andere als ein Haremswächter. Er ist es, der die Treue der Frauen<br />

in Frage stellt und damit der Handlung Impulse gibt. Sebastian Campione<br />

agiert schlau und verschlagen. Sein Bass besitzt beachtliche Fülle,<br />

flackert jedoch hin und wieder und müsste in der Tiefe noch fundierter<br />

klingen. Paul Enke ist als Bassa Selim die eigentliche Schlüsselfigur in<br />

diesem Kammerspiel. Sein Aktionsradius geht in dieser Lesart weit über<br />

das Original hinaus. Seine Bühnenpräsenz gefällt. Nur dann, wenn er<br />

sich gedankenversunken, grüblerisch gibt, lässt seine Artikulation mitunter<br />

etwas zu wünschen übrig.<br />

Stefan Klingele und die Staatskapelle Weimar verwehren musikalisch<br />

dem Werk angesichts der Lesart alle naiv-heiteren Niedlichkeiten. Das<br />

vermisst man auch nicht. Für Beseeltheit und Melancholie ist dagegen<br />

auch wenig Platz. Stattdessen gehen die Musiker recht forsch zur Sache<br />

und schlagen hier und da recht robuste Töne an, ohne dabei rau oder<br />

gar oberflächlich zu musizieren. <strong>Der</strong> Opernchor Weimar war mehr<br />

darstellerisch als gesanglich gefordert. Immerhin agierte er souverän.<br />

Ein langer Opernabend, der mehr Fragen aufgab als er beantworten<br />

konnte! <br />

Christoph Suhre<br />

Leverkusen: „LA CLEMENZA DI TITO“ von<br />

Gluck – (konzertant) – Bayer Kulturhaus 3.11. – Verzeihen und<br />

Vergessen<br />

In der Bayer Kultur Reihe „Opern aus den Archiven der Welt“ hatte<br />

man sich dieses Jahr den aus der Oberpfalz stammenden Christoph<br />

Willibald Gluck vorgenommen.<br />

Seine noch ganz in der Tradition der Opera seria verhaftete Version des<br />

Titus, einem ausführlichen dreiaktigen Intrigendrama mit gütlichem<br />

Ausgang, steht in Kontrast zu dem berühmteren, vom großen Meister<br />

aus Salzburg 1791 veröffentlichten Spätwerk. Mozart komponierte seine<br />

Oper nur zweiaktig. Sie kommt auf eine Spieldauer von 2 ½ Stunden.<br />

Einen ähnlichen Vergleich ermöglichte Bayer Kultur vor zwei Jahren,<br />

als sie „La finta giardiniera“ von Pasquale Anfossi mit riesigem Erfolg<br />

aufführte (s. „<strong>Merker</strong>“ 12/11).<br />

Gluck, der zurzeit schon reichlich Konjunktur hat – europaweite Vorstellungen<br />

seiner Kompositionen künden davon – wird sicherlich im<br />

nächsten Jahr aus Anlass seines 300. Geburtstages noch häufiger in den<br />

Spielplänen aufscheinen.<br />

Am 4.11.1752 wurde die Oper mit der Schilderung des Verzeihens und<br />

Vergessens eines gnädigen Herrschers in Neapel aufgeführt. <strong>Der</strong> fleißigste<br />

Librettist aller Zeiten, Metastasio, lieferte die Vorlage. <strong>Der</strong> Venezianer<br />

Antonio Caldara war derjenige, der am 4.11.1736 im Wiener Hoftheater<br />

das Werk als erster vorstellte. Das Muster war so beliebt, dass die<br />

Musikwissenschaft über 45 Vertonungen nachgewiesen hat.<br />

Da man der Nachwelt eine CD-Aufnahme überlassen will – sie erscheint<br />

bei SONY –, hatte man sich entschlossen, aus Authentizitätsgründen<br />

den ganzen Gluck zu präsentieren. Da verlangte man schon ein wenig<br />

Ausdauer vom Musikliebhaber.<br />

Diszipliniert und ohne störende Nebengeräusche – letztere wären jahreszeitlich<br />

bedingt durchaus vorstellbar – folgten die Freunde der Barockmusik<br />

dem Fortgang der Veranstaltung.<br />

Und diese Klänge, denen eine gewisse Symmetrie nicht abzusprechen ist,<br />

beschwingen im allgemeinen und besonderen. Leider bringen wir heute<br />

nicht mehr gern die Geduld auf, uns über längere Zeit den umfangreichen<br />

Originalen hinzugeben. Ich war an diesem Abend jedenfalls froh,<br />

an einer Weltersteinspielung teilgenommen zu haben. Denn die Dauer<br />

bezieht sich ja nicht nur auf die Länge einer Vorstellung, sondern gilt<br />

ebenfalls als Synonym für das Weiterbestehen einer Aufführung, in diesem<br />

Fall durch die Konservierung.<br />

Nach dem Motto „Fünf Personen und ein Kaiser“ folgt auch diese Oper<br />

dem hinlänglich bekannten Schema der Opera seria. Zwei Paare, Vitellia/Sesto<br />

und Servilia/Annio sind wechselnden Beziehungsstörungen ausgesetzt.<br />

Publio sorgt für die Sicherheit des Kaisers. In der Verehrung des<br />

Oberhauptes kennt er keine Grenzen. Anhand der Bedeutung der Handelnden<br />

wird ihnen aus insgesamt 23 Arien eine entsprechende Anzahl<br />

zugeteilt. Genügend viele Secco- und Accompagnato-Rezitative und<br />

überreichliche Szenen von Duett bis Ensemble runden das Angebot ab.<br />

Es bedarf einer Spieldauer von fast 4 ½ Stunden und eines starken Glaubens,<br />

um am Ende festzustellen, dass der gnädige Friedensengel – allen<br />

Intrigen zum Trotz – gottähnlich Absolution erteilt.<br />

Raffaells Milanesi als Sesto, ist eine bühnenbeherrschende Akteurin.<br />

Sie dominiert mit einer lebendigen Körpersprache und einer erfrischenden<br />

Spielfreudigkeit, die fehlendes Bühnenbild und Kostüm vergessen<br />

lassen. Und diese Stimme – Arena-stark wenn nötig, und feinfühlig in<br />

der Arie des Schulgeständnisses und dem Abschied von der Welt. Ein<br />

schauspielerisches Energiebündel.<br />

Vitellia ist die launische Tochter eines entthronten Kaisers. Sie wird von<br />

Sesto heiß und hörig geliebt, leidet aber unter der Nichtberücksichtigung<br />

durch Titus und will sich an Titus rächen. Laura Aikin war für<br />

die vorgesehene, leider erkrankte Simone Kermes verpflichtet worden.<br />

Sie stellte sich voll und ganz in den Dienst des Kollektivs. In ihrer Interpretation<br />

fehlte mir aber das energische Element. Mit gleichförmigem<br />

Ausdruck und kontrollierten Gesten absolvierte sie die anspruchsvolle<br />

Partie. Sie wirkte zu angespannt. Nur gegen Ende ging sie aus sich heraus<br />

und zeigte ansatzweise leidenschaftliche und dramatische Momente.<br />

Da löste sie sich auch etwas von der Textvorgabe. <strong>Der</strong> heftige innere<br />

Kampf bis zur Offenbarung der Absichten Vitellias blieb aber verborgen.<br />

Annio, der Freund des Sesto und Geliebte der Servilia, übt als ruhiger<br />

und ausgleichender Teil der Gemeinschaft Wohlverhalten, als Titus Servilia<br />

zur Gemahlin erwählt. Valer Sabadus, der so vielversprechend gestartete<br />

junge rumänische Countertenor, überzeugt mit reinen feinen<br />

Tönen aus einer anderen Welt. Beispielhaft zeigt er die Facetten des Rollenbildes<br />

und erfüllt mühelos die eindringlichen sowie rührend innigen<br />

Teile der Partie. Eine Meisterleistung.<br />

Servilia, die Schwester des Sesto, beweist Mut und Standfestigkeit, indem<br />

sie sich zu Annio bekennt und gegen Titus entscheidet. Arantza<br />

Ezenarro tritt geradezu aristokratisch auf und überzeugt mit dunklem,<br />

apartem Timbre. Beherzt und furchtlos kämpft sie für ihre Liebe.<br />

Mit großem Erfolg war sie vor kurzem an der Semperoper in Dresden zu<br />

hören, als sie in „King Arthur“ von Henry Purcell Luftgeist, Sirene und<br />

She verkörperte. Publius, Präfekt und Chef der kaiserlichen Leibwache,<br />

garantiert die Sicherheit des Kaisers Titus. Flavio Ferri-Benedetti setzt<br />

sich mit ganzer Kraft für die Belange des Kaisers ein und bringt das mit<br />

seinem Countertenor eindrucksvoll zur Geltung. Erfreulich sind sein<br />

Schauspieltalent und vor allem der mimische Ausdruck.<br />

Titus als ein Freund der Humanitas und als solcher eher Friedensapostel<br />

denn Römischer Kaiser, will von seinen Mitbürgern geliebt werden.<br />

Rainer Trost punktet mit der ganzen Erfahrung einer langen Karriere<br />

als Mozart-Tenor und singt zurückgenommen mit milden Tönen als Vergebender<br />

und begrenzt rachsüchtig bei Aufdeckung der Verschwörung.<br />

Das Ensemble l’arte del mondo überzeugt zum wiederholten Male<br />

durch eine hohe Spielfreude und Genauigkeit. <strong>Der</strong> ohne Taktstock beweglich<br />

und biegsam agierende Werner Ehrhardt ist ein fröhlicher Impulsgeber.<br />

Er atmet und „singt“ mit – man traut ihm zu, jederzeit einspringen<br />

zu können.<br />

Lobend zu erwähnen sind die geschickt inszenierten Zu- und Abgänge<br />

der Solisten, die für eine gewisse Spannung sorgen. <strong>Der</strong> Schluss erinnerte<br />

mich für einen Moment an die gut 60 Jahre später entstandene<br />

Freiheitsoper „Fidelio“. Die Lobpreisung galt diesmal aber nicht dem<br />

holden Weib, sondern der Milde des Monarchen.<br />

Es war von allen Beteiligten eine außergewöhnliche Energieleistung.<br />

Glücklich und erschöpft verabschiedeten sich die Ausführenden. Das<br />

Publikum machte sich mit einem Aufschrei Luft und überschüttete alle<br />

mit großem Jubel und Bravi. <br />

Gunnar Alexander Müller<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 69


Deutschland<br />

Hagen: „DON PASQUALE“ – Pr. 16.11.<br />

Die Sängerbesetzung war hingegen recht ambivalent. Ein Glücksfall<br />

war die Titelrollenbesetzung mit Rainer Zaun. Er ist ein umwerfender<br />

Komödiant, darstellerisch flexibel in jeder Position, singt auch mit<br />

dem Kopf nach unten verkehrtherum im Rollstuhl liegend und besitzt<br />

einen gesunden Bassbuffo sowie die notwendige Parlandotechnik.<br />

Das ist umso erstaunlicher, als er in Bayreuth jedes Jahr im Wagnerfach<br />

aktiv ist. Demgegenüber fielen alle anderen Protagonisten ab.<br />

Malatesta war Raymond Ayers, der viel zu viel Druck auf die Stimme<br />

gab, um fließend schöne Belcantolinien zu zeichnen. Auch neigt er<br />

zum Verschleifen des Textes. Er verfügt aber ähnlich wie Zaun über<br />

eine exzellente Parlandotechnik, was leider etwas unterging, weil die<br />

Regisseurin vor (!) beiden Protagonisten wegen eines an dieser Stelle<br />

verfehlten Effekts den Chor herumwuseln ließ. Norina war die junge<br />

Maria Klier, eine ungemein attraktive und spielfreudige Blondine,<br />

insofern also eine Idealbesetzung. Allerdings ist die Stimme zu klein.<br />

Was für vokale Möglichkeiten in der Partie stecken, haben prominente<br />

Rollenvertreterinnen wie Netrebko oder Machaidze vor Augen geführt.<br />

Klier kann die Partie zwar singen, die großen Melodiebögen und Aufschwünge<br />

aber nicht mit der wünschenswerten Leichtigkeit vermitteln.<br />

Bleibt noch der Ernesto des Kejia Xiong. Es ist schwer zu sagen,<br />

was man von diesem Sänger halten soll. Einerseits entwickelt er in der<br />

oberen Mittellage durchaus vielversprechenden Schmelz. Andererseits<br />

produziert die Stimme Nebengeräusche, und auch die Acuti strahlen<br />

nicht. Natürlich kann man von einem in seinen Ressourcen stark beschränkten<br />

Haus wie dem Theater Hagen nicht verlangen, für diese<br />

Partie einen Tenor vom Rang eines Flórez aufzubieten. Man wird ihr<br />

indes nur gerecht mit einem Tenor, der wenigstens über ausgeglichenes<br />

Material verfügt. Dass auch Xiong ausgezeichnet mitspielte, sei<br />

allerdings betont. Klaus Ulrich Groth<br />

Perfekte Donizetti-Buffa: Maria Klier (Norina), Rainer Zaun (Don P.),<br />

Reymond Ayers (Malatesta (© Kihle/Theater Hagen)<br />

Donizettis Opera buffa ist pseudointellektuellen Regiekonzepten kaum<br />

zugänglich. Das Stück spricht vielmehr für sich selbst. Umso mehr ist<br />

eine professionelle Personenführung gefragt. Das hat Regisseurin Annette<br />

Wolf gut erkannt. Ausstatterin Lena Brexendorff hat ihr ein Bühnenbild<br />

mit Puppenstubenambiente entwickelt. In diesem Rahmen<br />

präsentiert Wolf eine große Zahl von bemerkenswerten Einfällen. Das<br />

beginnt bereits während der Ouvertüre, denn dort sieht man Pasquale<br />

im Rollstuhl vor sich hindämmern. Sodann tritt Malatesta auf und untersucht<br />

seinen Dauerpatienten mit allerlei Kunstgriffen. U. a. pumpt er<br />

das Blutdruckmessgerät so lange auf, bis es kaputt ist. Zugleich vermittelt<br />

er die Idee einer Heirat mit seiner Schwester. Das führt dazu, dass<br />

Pasquale langsam, aber sicher aus seiner Lethargie erwacht und schließlich<br />

mit der Aussicht auf eine jugendliche Gespielin übermütig aus dem<br />

Rollstuhl springt und wie ein Wiesel über die Bühne sprintet. Dann wirft<br />

er seinen Neffen mit dem gleichen Elan und einem Tritt in den Hintern<br />

aus dem Haus und sich ein Paar Pillen aus einer blauen Packung<br />

(Viagra?) in verfrühter Vorfreude auf kommende sexuelle Genüsse ein.<br />

Norina wird als selbstbewusste Frau von heute charakterisiert, die genau<br />

weiß, wie sie ihre Reize einsetzen muss. Nach der Heirat deckt sie<br />

sich erst einmal mit teuren Accessoires ein (Louis Vuitton und Gucci<br />

lassen grüßen). Als Pasquale darüber einen Schock erleidet, versetzt<br />

sie ihn im Ohrfeigenduett durch gezielte Berührungen und Einsatz<br />

ihrer körperlichen Reize in „Stimmung“. Als das den Alten überfordert,<br />

macht sie sich kurzerhand von dannen.<br />

Ernesto ist eine arme Wurst im doppelten Sinne und bleibt das in<br />

dieser Produktion auch, denn das Ende ist gänzlich anders, als es im<br />

Libretto steht. Norina hat offen bar doch noch ihr Herz für Pasquale<br />

(und/oder sein Vermögen) entdeckt. Beide verschwinden mit roten<br />

Rosen ins Schlafzimmer.<br />

Wenn Kritik an der Regie zu üben ist, so daran, dass die Kostüme keine<br />

zeitliche Zuordnung ermöglichen. Neben Hauspersonal mit Puderperücken<br />

und dem wie in der Zeit eines Molière gekleideten Pasquale tritt<br />

Malatesta in zeitgenössischer Kleidung auf und setzt ein Blutdruckmessgerät<br />

ein. Das gab es zur Kompositionszeit natürlich noch nicht.<br />

Die musikalische Leitung lag in Händen von David Marlow. Anfänglich<br />

klang das Philharmonische Orchester noch ein wenig dünn und<br />

zumindest in der Ouver türe nicht ganz sattelfest. Das besserte sich aber<br />

im Laufe der Aufführung nach haltig und erlaubte Marlow, mit der gebotenen<br />

Verve zu musizieren. <strong>Der</strong> Chor war von Wolfgang Müller-<br />

Salow bestens einstudiert worden und hatte nachhaltige schauspielerische<br />

Aufgaben zu erfüllen.<br />

Bremen: „LA TRAVIATA“ – Pr. 24.11.<br />

Benedikt von Peter ist der Regisseur der <strong>neue</strong>n „Traviata“. Er wurde<br />

1977 in Köln geboren. In Bonn und Berlin studierte er Musikwissenschaft,<br />

Germanistik, Jura und Gesang. Er ist Mitbegründer der Produzentengemeinschaft<br />

„eviva la diva“. Nach einer Assistenzzeit an der<br />

Hamburgischen Staatsoper folgten erste Regiearbeiten wie z. B. „Eugen<br />

Onegin“, „Fidelio“, „Idomeneo“ und „Parsifal“. Hausregisseur am<br />

Theater Bremen wurde er in der Spielzeit 2012/13. Von Peter hat hier<br />

mit seiner außergewöhnlichen Lesart der Oper „Aufstieg und Fall der<br />

Stadt Mahagonny“ ganz <strong>neue</strong> Wege erkannt und vollzogen. Vor zwei<br />

Jahren hat er in Hannover eine ebenfalls viel beachtete „Traviata“-Inszenierung<br />

erarbeitet. Freimütig gibt er zu, dass Neuinszenierungen<br />

auf vorhergehende aufgebaut sein dürfen.<br />

Aber wie ist denn die Angabe des Regisseurs zu verstehen, dass nur<br />

eine einzige Person auf der Bühne singen und agieren darf? Wo befinden<br />

sich die anderen Mitwirkenden, Solisten und Chor? Diesbezüglich<br />

muss die zunächst schlimmste Antwort gegeben werden: Solisten<br />

und Chor sind im 2. Rang untergebracht, also völlig unsichtbar für<br />

die Zuschauer. Beinahe bewegungslos, gekleidet in schwarze Roben<br />

(Kostüme: Geraldine Arnold), singen sie dort ihre Passagen. Alle bekannten<br />

Beweggründe für eine hervorragende Akustik in einem Theater<br />

wurden somit außer Acht gelassen. Die hinteren Parkettreihen<br />

waren am schlimmsten betroffen. Das Orchester befindet sich auf der<br />

Hinterbühne. Vorn, auf dem gehobenen Orchestergraben, findet die<br />

eigentliche Inszenierung statt. Hier ist das Terrain der einsamen Frau.<br />

Für ihre Dienste muss sie selbst ihre Requisiten heranschleppen: Stuhl,<br />

Tisch, Fenster, Schminktisch. Sie verwandelt sich mit einem pinkfarbenen<br />

Tüll-Unterkleid in das von der Pariser Männerwelt so heiß begehrte<br />

Frauenbild.<br />

Aber eine Annäherung gibt es in dieser Inszenierung niemals, nicht<br />

einmal den geringsten Körperkontakt. Die Violetta Valéry bleibt allein<br />

und isoliert, verzweifelnd an der Liebe. Sie widmet sich selbst unendlich<br />

viel Aufmerksamkeit, auf ihr Rollenspiel. Wie so oft, werden die<br />

70 | DER NEUE MERKER 12/2013


Deutschland<br />

ersten Sitzreihen ins Spiel einbezogen. Die gewagteste Einlage: als Violetta,<br />

auf Händen und Füßen bis Reihe fünf, hautnah am erstaunten<br />

(oder empörten) Publikum auf den Sitzlehnen balancierte, und wieder<br />

zurück. Ein Unfallrisiko war unschwer zu erkennen. Dass die Sängerin<br />

ihren Gesangspart während des Balanceaktes abliefern musste, war<br />

für Herrn von Peter selbstverständlich. Hier muss die Gesamtleistung<br />

der großartigen Patricia Andress, die schon viele tragende Rollen ihres<br />

Faches in Bremen verkörpert hat, gewürdigt werden. Sie gestaltet<br />

ihre Rolle unendlich intensiv und schraubt ihren Sopran in jeder Phase<br />

zur Höchstleistung. Mit Sicherheit steckt in dem hiermit Erreichten<br />

eine besonders intensive Probenarbeit. Ihre Sehnsucht nach Liebe, ihr<br />

Verzicht auf den geliebten Alfred, ihr Dahinsterben an der Schwindsucht:<br />

das alles so glaubhaft darzustellen, sind ihre Qualitäten. Somit<br />

war der auf sie niederprasselnde Applaus in jedem Punkt gerechtfertigt.<br />

Clemens Heil am Pult war ein äußerst klug agierender musikalischer<br />

Leiter. Ihm fiel die schwierige Aufgabe zu, die Adressaten seiner Impulse<br />

beinahe im Kreis bedienen zu müssen. Die Bremer Philharmoniker<br />

zeigten, dass dieser ihnen Verdi recht gut ins Programm passt.<br />

Den kräftig und ausdrucksstark singenden Chor des Theater Bremen<br />

hat Daniel Mayr hervorragend einstudiert.<br />

Hyojong Kim rutscht immer weiter in umfangreichere Rollen hinein<br />

und hat einen grandiosen Alfredo gesungen. Sehr voluminös und tragend<br />

war die Stimme von KS Loren Lang als Giorgio Germont. Seit<br />

seinem Scarpia führt der Künstler gern sein gewachsenes Stimmvolumen<br />

vor. Die Sänger der kleinen Rollen fügten sich gleichermaßen in<br />

diese etwas andere Darstellungsweise ein, waren doch für sie „Regie“<br />

und „Inszenierung“ weniger bedeutend.<br />

Die Frage, ob trotz der beinahe leeren Bühne für den Zuschauer überhaupt<br />

eine Erfüllung zu spüren ist, beantwortet sich eindeutig mit ja.<br />

So intensiv, so glaubhaft und einfach, so gekonnt ist die Regieleistung<br />

des Herrn von Peter, der wiederum gezeigt hat, wie hoch die Messlatten<br />

für eine hervorragende Operninszenierung gesteckt werden können.<br />

Selten hat der Applaus in diesem Theater glatte 10 Minuten gedauert.<br />

<br />

Hermann Habitz<br />

letzten Liebesmahle“ aus „Parsifal“ und „Wach auf!“ aus den „Meistersingern“.<br />

Gewaltig und mit zwei zusätzlichen „Aida“-Fanfaren das Thema<br />

angebend, wurde der berühmte und beliebte Triumphmarsch dargeboten.<br />

Mit Wagners „Ertöne, Siegesweise“ aus Lohengrin“, dem Finale des<br />

1. Aktes mit den Solisten Robert Lichtenberger als Lohengrin und Lusine<br />

Ghazaryan als Elsa endete für die inzwischen ergriffenen Zuschauer<br />

der offizielle Teil dieser „regielosen“ Darbietung.<br />

Doch eine Ankündigung des Intendanten Michael Börgerding, der nach<br />

jeweils zwei Musikstücken kurze, aber treffende Erklärungen abgegeben<br />

hatte, versetzte die Zuschauer noch einmal in Jubel. Verdis „Va, pensiero“,<br />

der berühmte Gefangenenchor aus „Nabucco“, erklang in großartiger<br />

Darbietung. Das Publikum wurde danach aufgefordert, das Haus zu verlassen<br />

und auf dem Theater-Vorplatz, ausgestattet mit Text und Teelichtern,<br />

den Chor selbst zu singen, was dann auch mit großer Begeisterung,<br />

mehrsprachig natürlich, befolgt wurde. Eine tolle Idee, und ein Erlebnis,<br />

das einer „echten“ Opernaufführung in jeder Weise das Wasser reichen<br />

kann. Ähnliche Darbietungen dürfen folgen! Hermann Habitz<br />

Bremerhaven:<br />

„<strong>Der</strong> BARBIER VON SEVILLA“ – Pr. 2.11.<br />

„CHORKONZERT WAGNER VERDI“ - 1.11.<br />

Zu Beginn der Spielzeit und noch rechtzeitig im Wagner/Verdi-Jahr dürfen<br />

Chor und Extrachor des Theater Bremen so richtig loslegen. Unter<br />

dem agilen Chordirektor Daniel Mayr, der gleichzeitig auch als 2. Kapellmeister<br />

seine Arbeit am Theater verrichtet, hat man auf Wagners Seite<br />

im Gegensatz zu Verdi eine nicht überreiche Auswahl zur Verfügung, zumal<br />

von den 10 Opern mit „Bayreuth-Weihe“ „nur“ sechs Werke mit<br />

großem Chor ausgestattet, neben dem kurzen Herrenchor im „Tristan“ .<br />

Da ist die Auswahl bei Verdi doch wesentlich größer. Ein Fachmann wie<br />

Daniel Mayr weiß natürlich, wie ein solcher Abend beginnen sollte. Also<br />

sorgt er mit der Anfangsszene aus „Otello“ für Spannung bereits zu Beginn<br />

des Abends. Natürlich ging dies nicht ohne die Begrüßung des Feldherrn:<br />

Sangmin Jeon schleuderte kraftvoll und sicher sein „Esultate“ in<br />

den Raum. Da konnte man ganz nebenbei feststellen, dass der Bremer<br />

Chor einen potentiellen Otello birgt - zumindest was die Stimme anbelangt.<br />

Nach dem „Patria opressa“ aus „Macbeth“ erklangen aus dem „Troubadour“<br />

der „Zigeunerchor“ und die Arie der Azucena, großartig vorgetragen<br />

von Irina Ostrovskaia.<br />

<strong>Der</strong> Wagner-Reigen begann mit „Gesegnet soll sie schreiten“ aus „Lohengrin“<br />

und „Steuermann! Lass die Wacht“ aus dem „Holländer“. Ein<br />

weiterer Chor-Solist war, sauber artikulierend, aber vielleicht ein wenig<br />

zu schwach, Sungkuk Chang als Steuermann. Übrigens: wer weiterhin<br />

Lust auf den „Holländer“ hat, kann diesen in der laufenden Spielzeit noch<br />

mehrfach genießen.<br />

Nach der Pause folgten weitere Perlen der Opernchor-Produktionen. Daniel<br />

Mayr als Dirigent seiner großen Chor-Elite war stets in Höchstform.<br />

Drei der großartigsten Passagen erklangen: das Vorspiel zu „Tristan“, „Zum<br />

Rossinis „Barbier“ macht die Runde und ist nun im Stadttheater Bremerhaven<br />

angekommen. Christian von Götz, der auch für die Kulissen<br />

zuständige Regisseur, hat die Oper nicht nach üblichem Klischee abspielen<br />

lassen. Zu Beginn lässt er eine Truppe junger Musikfans auffahren,<br />

die den 100. Todestag des ehemals berühmtesten Musikschöpfers, übermütig<br />

in Szene setzen wird. Dabei handelt es sich um keinen anderen als<br />

Gioacchino Rossini. Dieser galt als der schnellste Komponist zwischen<br />

Bologna und Paris und hat diese Oper in nur 13 Tagen komponiert. Wir<br />

befinden uns im Jahr 1968, im südlichen Europa, und träumen vom Ge-<br />

Ein moderner Thespis-Karren für den „Barbiere“<br />

(© Stadttheater Bremerhaven)<br />

nerationenkampf, vom Sieg über die Alten, von weiblicher Emanzipation<br />

und schließlich von der freien Liebe.<br />

Die Oper spielt zunächst auf einer Wiese und macht das Publikum mit<br />

den chaotischen Figuren vertraut. Lediglich bühnenbreite primitiv bemalte<br />

Vorhänge, die fleißig verschoben werden, bilden die eigentliche Abwechslung<br />

für das Geschehen. Dabei erweist sich von Götz als hervorragender<br />

Ideengeber, der mit seinen oftmals witzig agierenden Figuren köstlich umgehen<br />

kann. Schon der Auftritt des Titelhelden, der seine Prachtarie an<br />

einem pendelnden Seil hängend beginnt, lässt auf weitere Gags hoffen.<br />

Und diese stellen sich Punkt für Punkt ein. Dabei ist jederzeit festzustellen,<br />

dass die Mitwirkenden niemals zu komödiantischer Clownerie ge-<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 71


Deutschland<br />

trieben werden. Vielmehr bietet die Überzeugungskraft des Regisseurs die<br />

Gewähr dafür. Da jongliert Graf Almaviva, der zeitweise auch den Namen<br />

Lindoro trägt, kunstvoll zu seinem Ständchen auf einer Leiter, und Basilio<br />

zeigt mit permanentem Griff zum Joint seine Abhängigkeit in punkto<br />

Rauschmittel. Marcellina, die Haushälterin des Dr. Bartolo, hat ebenfalls<br />

diesen Hang zum weißen Pulver. Rosina, das heiß umworbene Mündel<br />

des Mediziners, wird vom Regisseur eindeutig zum Liebhaben gezeichnet.<br />

Gelungen sind auch die Annäherungsversuche des Grafen, indem dieser<br />

die Tipps von Freund Figaro als Soldat bzw. Betrunkener verwertet.<br />

Die Opernfreunde kamen in jeder Beziehung auf ihre Kosten. Es standen<br />

wieder einmal für alle Rollen Sänger/Innen zur Verfügung, die ihre<br />

Partien mit größter Spielfreude darstellten. Mit Filippo Bettoschi gab es<br />

einen Titelhelden, dessen Auftrittsarie bereits viel versprach und der die<br />

weiteren Momente mit starkem Bariton gekonnt ausstattete. Spielfreudig<br />

und „wie für die Rolle gemacht“, gestaltete James Elliot den Grafen<br />

Almaviva. Er konnte mit der bereits erwähnten Akrobatik jederzeit überzeugen,<br />

musste die Höhen seiner Partie jedoch mit Vorsicht angehen. Mit<br />

der Wahl seiner Auserwählten traf er bei Svetlana Smolentseva genau ins<br />

Schwarze, denn diese war genau das Persönchen, welches in die Rolle der<br />

Rosina passte. Höhenprobleme hatte Uwe Schenker-Primus als Dr. Bartolo<br />

dagegen überhaupt nicht. Vielmehr strahlte sein Prachtbariton unentwegt.<br />

Hier war ein echter Komödiant im Spiel. Gleiches ist von Leo<br />

Yeun-Ku Chu als Basilio zu berichten, der nicht nur großartig seine Verleumdungsarie<br />

gestaltete, sondern auch den Rest seiner Partie überzeugend<br />

zu Gehör brachte. Franziska Krötenheerdt schien ihre Rolle als Marzellina<br />

irgendwie aufgewertet zu haben, so intensiv kam ihre Gestaltung herüber<br />

– liebestoll – vorläufig – ohne Erfolg. Die weiteren kleineren Rollen<br />

teilten sich Daniel Dimitrov (Fiorello), Vladimir Marinov (Ambrogio),<br />

Giorgi Darbaidze (Ein Offizier) und Lukas Baranowski (Ein Notar).<br />

Katja Schröpfer hatte die Aufgabe, zu dieser „schrägen“ Inszenierung<br />

die passenden Kostüme vorzuweisen. Und wahrhaftig: es ist ihr gelungen.<br />

Ihre Auswahl traf genau das Empfinden, welches von der Bühne und<br />

dem Agieren der Künstler ausging.<br />

Von Jens Olaf Buhrow sehr gut eingestimmt, klang der Herrenchor des<br />

Stadttheaters Bremerhaven. Sowohl akustisch als auch optisch war er ein<br />

Vergnügen. Am Pult stand Stefan Veselka, der mit rasanten Tempi Rossinis<br />

Meisterwerk zu Gehör brachte. Regisseur Christian von Götz hat mit<br />

seiner Arbeit deutlich gemacht, wie man auch ohne Übersteuern ein hervorragendes<br />

Konzept darbieten kann. Ein toller Abend! Hermann Habitz<br />

„HÄNSEL UND GRETEL“ – Pr. 17.11.<br />

Engelbert Humperdinck (1854 -1921) hatte zunächst ein Architekturstudium<br />

begonnen, ehe er sich ernsthaft der Musik zuwandte. Nach Köln<br />

und München begann eine Zusammenarbeit mit Richard Wagner als Assistent<br />

in Bayreuth. Schon früh begann er mit dem Komponieren. Seine<br />

Richtung auf diesem Gebiet waren Märchenopern wie „Die Königskinder“<br />

oder „Dornröschen“. Nach der Komischen Oper „Heirat wider Willen“<br />

verlegte er sich auch auf Schauspielmusiken. Aber keines seiner Werke<br />

wurde zu einem solchen Treffer wie die Märchenoper „Hänsel und Gretel“,<br />

die er im Jahre 1891 vollendete. Als Auslöser dafür muss seine Schwester<br />

Adelheid genannt werden, die sich früh damit beschäftigte, zu Kindergeburtstagen<br />

Märchen der Gebrüder Grimm zu Schauspielen umzuarbeiten.<br />

Und Bruder Engelbert reizten diese „Spielchen“ zum Vertonen.<br />

Die Uraufführung in Weimar übernahm zwei Jahre später kein Geringerer<br />

als Richard Strauss. <strong>Der</strong> Erfolg der Oper war überwältigend. Das<br />

kinderfreundliche Werk wurde bald in viele Sprachen übersetzt. Die Zusammenarbeit<br />

mit Richard Wagner ist an vielen Stellen herauszuhören,<br />

wenn auch in nur geringem Ausmaß. Die Oper wurde zu einer beliebten<br />

Einstiegsoper für Theaterneulinge neben „Zauberflöte“ und „Freischütz“.<br />

In Bremerhaven hat man den Einstieg in die Welt der Oper den Neulingen<br />

noch mehr erleichtert. Man hat das Stück nicht nur auf eine Stunde<br />

gekürzt, sondern auch mehrere Rollen total gestrichen: die Eltern, Sandmännchen<br />

und Taumännchen. Es blieben also nur Hänsel, Gretel und<br />

die Hexe. Dadurch gingen bekannte und beliebte Gesangsstücke verloren,<br />

aber Paradestücke wie „Ein Männlein steht im Walde“, „Abendsegen“<br />

und der „Hexenritt“ blieben. Regisseur Sebastian Glathe hat die<br />

Musiker auf die Bühne platziert. Die knappe Ausstattung besorgte Stefanie<br />

Stuhldreier. <strong>Der</strong> erhöhte Orchesterboden ist die Fläche für die Akteure.<br />

Gleich zu Beginn lässt der Regisseur die beiden Titelhelden vom<br />

Zuschauerraum aus auf die Bühne springen. Als sie merken, dass sie sich<br />

unweigerlich verlaufen haben im Wald der Geigen, Bratschen, Celli und<br />

Kontrabässe, legen sie sich zum Schlafen nieder. Zeit für die Hexe, ihr<br />

grell geschmücktes und mit Honigkuchen bedecktes Riesenzelt, also ihr<br />

Hexenhaus, aufzubauen und die Kinder anzulocken und zu überlisten.<br />

Wie bekannt, gelingt ihr dies nicht. Mit vereinten Kräften schaffen sie es,<br />

die Hexe in den Ofen zu schieben. Die Bleibe der Hexe bricht mit Getöse<br />

und Qualm zusammen.<br />

Dies alles geschah in der genannten Zeit, ohne weitere Kulissen. Die Begeisterung<br />

der Zuschauer, wovon die jüngsten kaum zwei Jahre zählten,<br />

war besonders beim Schlussapplaus zu spüren. Und begeistert schienen<br />

auch die Sänger/Innen in ihren Rollen zu sein: Svetlana Smolentseva als<br />

tollpatschiger jungenhafter Hänsel, Franziska Krötenheerdt als ängstliche<br />

zarte Gretel und Thomas Burger als verführerische Hexe.<br />

Wenn es sich auch nur um eine gekürzte Darbietung handelt, ist doch das,<br />

was Humperdinck fordert, genug an gesanglicher Aufgabe. Während die<br />

Kinder total normal gekleidet herumtoben, hat man der Hexe eine grell<br />

lockende Garderobe geschneidert, die einerseits das Fürchten lehrt, andererseits<br />

aber den Kindern als starkes Lockmittel dienen sollte.<br />

Hartmut Brüsch dirigierte das Städtische Orchester Bremerhaven sehr<br />

flott, ließ aber trotz gekürzter Fassung die weichen Töne nicht aus. Es darf<br />

die Frage gestellt werden, wie viel Komposition bzw. wie viel Handlung<br />

das jüngste Publikum verarbeiten konnte. Angesichts oftmals mangelnder<br />

Verständigung bei Damenstimmen (vorsichtig ausgedrückt) wird es<br />

jeweils nicht sehr viel gewesen sein. Man darf hoffen, dass notwendige<br />

Erklärungen der Eltern in ausreichendem Maße folgten. Auf jeden Fall<br />

ist dieser Einstieg in das Medium Oper sehr gelungen. Ähnliches sollte<br />

auch in den nächsten Spielzeiten in Angriff genommen werden. <br />

<br />

Hermann Habitz<br />

CD / RICHARD WAGNER IN ZÜRICH - CD SONY<br />

mit ausführlichem Booklet<br />

In Erinnerung an Wagners erste Festspiele in Zürich 1853, der Keimzelle der<br />

Bayreuther Festspiele sozusagen, wurde in der akustisch fabelhaften und architektonisch<br />

wunderschönen Tonhalle Zürich ein Wagner-Konzert gegeben. David<br />

Zinman, der seit 1995/96 die Geschicke des Tonhalle-Orchesters als Chief<br />

Conductor leitet, hat sich nach seinen Erfolgen der Gesamteinspielungen der<br />

Sinfonien von Beethoven, Brahms, Schumann und der Sinfonischen Dichtungen<br />

von Richard Strauss nun als Wagner-Dirigent „ge-outet“. Als Chefdirigent<br />

des Tonhalle Orchesters hat er das Konzertpodium nur äußerst selten gegen den<br />

Orchestergraben im Opernhaus Zürich vertauscht. Schon gar nicht mit Wagner.<br />

Und doch eignet seiner Wagner-Interpretation, insofern man sie an dieser<br />

Live-Aufzeichnung festmachen kann, auf eine Richtung, die etwa durch Arturo<br />

Toscanini oder Otto Klemperer für Wagner eingeschlagen wurde. Da ist<br />

wohl die klangliche Ballung, aber in der Balance immer transparent und in allen<br />

Instrumentengruppen erkennbar, ohne ins Bombastische abzukippen. Die<br />

„Holländer“-Ouvertüre hat Rasanz, aber auch der Lyrik des Senta-Themas wird<br />

nachempfunden. Erstaunlicherweise dirigiert Zinman hier die Harfen-Fassung,<br />

die Wagner wohl in dieser Form in Zürich noch nicht dirigiert haben dürfte.<br />

Egil Silins singt sodann einen markigen Holländer-Monolog, gut in der stimmlichen<br />

Attacke, ohne grob zu werden, und in der wohl dosierten Diktion. <strong>Der</strong><br />

Walküren-Ritt – ohne Singstimmen – war ja auch schon bei Toscanini aus dem<br />

Zusammenhang gelöst und ohne Gesang aufgeführt worden – ist schon fast mit<br />

schneidigem amerikanischen Temperament (immer noch besser als deutsches<br />

Schlachtgetümmel) zu hören. „Rheingold“ und „Walküre“ waren ja in den Jahren<br />

1849-1858 in Zürich entstanden, so gab’s auch das Finale von „Rheingold“,<br />

mit Egil Silins als jugendlich-heldisch wirkendem Gott und zum Abschluss des<br />

live aufgezeichneten Konzerts auch Wotans Abschied und Feuerzauber mit einem<br />

in der ganzen Ausdrucks-Skala überzeugenden Egil Silins. Auch Morgendämmerung<br />

und Siegfrieds Rheinfahrt beeindrucken durch Ernsthaftigkeit des<br />

Ausdrucks. Wunderschön spielt das Tonhalle-Orchester mit Brillanz und Akkuratesse,<br />

ganz dem Maestro folgend, ohne Mätzchen und ohne zusätzliche Drücker.<br />

Ein Zeugnis aktuellen Wagner-Verständnisses. John H. Mueller<br />

72 | DER NEUE MERKER 12/2013


Europa<br />

Zürich: „FAUST“ – Premiere 3.11.<br />

Alles nur Gaukelei…<br />

Seit Götz Friedrichs auch nicht in allen Belangen geglückter Inszenierung,<br />

die schon einige Jahre zurückliegt und in letzter Zeit nicht mehr gespielt<br />

wurde, nun eine Neuinszenierung. Jan Philip Gloger, der in Bayreuth<br />

ja den „Holländer“ inszenierte, überrascht in Zürich mit einer fast traditionellen<br />

Lesart. Allerdings versetzt er Faust nicht in die sprichwörtliche<br />

Studierstube, sondern man seht ihn zu Beginn als Bürger des ausgehenden<br />

19. Jhs. mit seiner Frau bei Tische sitzen, während sie am andern Ende<br />

des Tisches in der Bibel liest, Bald kommen auch die 3 Kinderchen, um<br />

sich zu verabschieden und zur Schule zu gehen. (Haben Sie gewusst, dass<br />

Dr. Faust Familienvater war? Na, so was!) Seine Frau begleitet sie hinaus,<br />

Faust ist wieder allein – und jammert. Bald erscheint auch Mephisto, der<br />

sich an die Stelle von Faust zugeknöpfter Frau gesetzt hat und verspricht<br />

ihm das, was er nicht hat: Genuss, Jugend, ungezähmtes Leben. Wenn<br />

das Leading Team (Bühnenbild: Ben Baur, Kostüme: Karin Jud, Lichtgestaltung:<br />

Franck Evin) nun diese Repräsentationsoper der Franzosen in<br />

die Zeit des 2. Kaiserreiches mit seiner bigotten Bürgerlichkeit und ausuferndem<br />

Hedonismus versetzt, so trifft er den Nerv des Werkes eigentlich<br />

recht gut. Da Gloger aber alles auf eine „Bühne auf der Bühne“ versetzt,<br />

lässt er Mephisto zum Zauberer, Magier, Gaukler werden, wodurch<br />

die ganze Geschichte zur reinen Bühnenshow verkommt. Unverständlich<br />

auch die Szene im Dom, wo ein Christus in der Manier von Achternbusch<br />

die reuige Marguérite bedrängt; die Figur wird nicht erklärt,<br />

auch nicht als verkleideter Mephisto. Am Schluss, nachdem Marguérite<br />

tatsächlich aufs Schafott gezerrt worden ist, stehen Frau und Kinderchen<br />

wieder da, und Faust kann in den Schoß seiner Family zurückkehren. Ist<br />

doch schön, nicht wahr?<br />

Pavel Breslik versucht sich redlich an der Partie des Faust, singt auch in<br />

der Mittellage kultiviert und ein beeindruckend gutes Französisch, während<br />

ihm die Höhe arg zu schaffen macht. So schwindelt er sich mit nicht<br />

ganz gekonnter Voix mixte durch. Auch darstellerisch wirkt er steif und<br />

vermag die Wandlung zum Genussmenschen nicht rüberzubringen. Da<br />

mag vielleicht auch an dem zappeligen Mephisto liegen, der aber in Kyle<br />

Ketelsen einen voluminösen Bass findet, aber darstellerisch viel zu harmlos<br />

wirkt. Vor diesem Mephisto muss sich kein Mensch fürchten. Es ist<br />

ja eh Alles nur Show.<br />

Die Ballettszenen werden meist in lockerer Atmosphäre dargeboten, es<br />

wird eifrig so getan, als würde kopuliert, aber es bleibt alles hübsch und<br />

schön brav. Die Marguérite von Amanda Majewski ist ein verklemmtes<br />

Wesen mit einem von heftigem Vibrato durchzitterten und in der Höhe<br />

schrillen Sopran, der auch über kein besonders eindrucksvolles Timbre verfügt.<br />

Merkwürdig, dass sich gerade Faust in dieses Wesen verlieben sollte.<br />

Irène Friedli als Marthe Schwerdtlein übertreibt schamlos – vermutlich<br />

von der Regie gewollt –, sang aber gut. Leider nicht überzeugen konnte<br />

der Valentin von Elliot Madore, der zwar über einen angenehmen Bariton<br />

verfügt, aber weder die strahlende Höhe noch über die tiefen Töne<br />

hat, die diese Parte doch auch verlangen. Darstellerisch war der sympathische<br />

Bursche ansprechend. Ein Gewinn war aber Anna Stéphany als<br />

Siebel, die uns schon als Cherubino begeistert hat und nun hier gesanglich<br />

Höhepunkte setzen konnte. Die Stimme verfügt über Farben, hat<br />

Flexibilität, eine schöne Höhe, ihr Spiel ist angenehm und völlig natürlich,<br />

was für eine Hosenrolle nicht unbedingt selbstverständlich ist. Gut<br />

Erik Anstine als Wagner. <strong>Der</strong> Chor, einstudiert von Ernst Raffelsberger,<br />

übte sich vor allem in undifferenziertem Lautsingen, war aber stimmlich<br />

gut und ausgewogen.<br />

<strong>Der</strong> Dirigent Patrick Lange führte die klangschön aufspielende Philharmonia<br />

Zürich manchmal etwas gar gemächlich und zuweilen langweilig<br />

durch das Werk Gounods, das aber unbedingt einer energetischen Auffrischung<br />

bedürfte. Die oft banale Musik sollte doch etwas sophistischer<br />

interpretiert werden. Das würde der Inszenierung nur gut tun.<br />

Alles in allem – ein passabler Abend. Alles nett, aber so war es doch wohl<br />

nicht gemeint, oder? <br />

John H. Mueller<br />

„OTELLO“ – 16.10.<br />

Erstmals in der Intendanz Homoki wurde die desaströse Inszenierung von<br />

Graham Vick wiederaufgenommen, was nur mit dem Verdi-Gedenkjahr<br />

sowie einer erstklassigen Besetzung zu erklären ist. Wobei gar nicht so sehr<br />

die Verlegung der Handlung in einen Wüstenkrieg irritierte, als vielmehr<br />

der Umstand, dass der Regisseur einige Male brutal gegen die Musik verstieß.<br />

Als lediglich ein Beispiel dafür sei die Liebesmelodie im 1. Akt und<br />

deren Reprise im letzten erwähnt, zu welcher Otello und Desdemona<br />

voneinander entfernt und ohne gemeinsamen Bezug agieren mussten.<br />

Immerhin kam diesmal Zürich wenigstens in den Genuss des Otello von<br />

Peter Seiffert. 2011 war er ja v. a. wegen Meinungsverschiedenheiten mit<br />

dem Dirigenten Daniele Gatti aus der Produktion ausgestiegen, wodurch<br />

einige Monate später die Wiener Staatsoper das Erlebnis seines Rollendebüts<br />

hatte. Dass Seiffert sich weder in der Zürcher Szenerie noch in seiner<br />

Kostümierung wohl fühlte, war unschwer zu erkennen, doch befand er<br />

sich in vorzüglicher stimmlicher Disposition, sodass er eine seinem künstlerischen<br />

Rang entsprechende Leistung bot. Er dürfte heute ein führender<br />

Vertreter dieser Partie sein, was sich einerseits auf seinen schonungslosen,<br />

alle Höhen vom C über H bis zum B voll auskostenden Gesang<br />

und andererseits auf seine beispiellose Intensität zurückführen lässt. Dieser<br />

Effizienz haben die wenigen anderen prominenten Vertreter der Partie<br />

nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen, doch möchte ich bei dieser Feststellung<br />

ausdrücklich Gregory Kunde ausklammern, der phantastisch sein<br />

soll, dessen Otello ich aber bisher noch nicht kenne. Jedenfalls sind mir im<br />

Lauf dieser Vorstellung wieder einmal die bedauernden Gedanken gekommen,<br />

welch herrlicher Siegfried Peter Seiffert vermutlich wäre bzw. dass er ebenso<br />

etwa als Chénier, Calaf, Samson oder Don José im italienischen und französischen<br />

Fach ideale Rollenverkörperungen bieten könnte.<br />

Die junge Maria Agresta debütierte am Opernhaus und war selbst in dem<br />

wüsten Ambiente eine ganz ausgezeichnete Desdemona. Sie ist unter den<br />

italienischen Sopranistinnen eigentlich kein Versprechen mehr, sondern bereits<br />

Erfüllung, die von Verdi über Puccini bis Donizetti (Lucia!) eigentlich<br />

keine Fachgrenzen kennt. Auch Iago war in der Person von Željko Lučić<br />

großartig besetzt. <strong>Der</strong> Serbe agierte geschmeidiger, ja verführerischer als<br />

viele seiner Kollegen, und sang dementsprechend eher weich, aber in allen<br />

Lagen voll tönend.<br />

Ansonsten sind v. a. der in der Premierenserie noch als Roderigo eingesetzte<br />

Benjamin Bernheim als hervorragender Cassio sowie Judith Schmid als<br />

trotz angestrengter Töne am Schluss des 4. Aktes („Otello uccise Desdemona!“)<br />

sehr gute Emilia zu nennen, während Dmitry Ivanchey (Roderigo),<br />

Dimitri Pkhaladze (Lodovico) und Tomasz Slawinski (Montano)<br />

nicht störten, allerdings farblos blieben.<br />

Die Chöre sangen gut, und der für Paolo Carignani in die ganze Aufführungsserie<br />

eingesprungene Friedemann Layer war ein grundsolider, alles<br />

tadellos in Händen haltender musikalischer Leiter. Die Philharmonia<br />

Zürich leistete sehr gute Arbeit. <br />

Gerhard Ottinger<br />

CECILIA BARTOLI - Konzert Tonhalle 8.11. -<br />

Incomparabile Cecilia<br />

Man muss sie einfach gern haben, diese absolut erstaunliche Erscheinung<br />

im heutigen Opern- und Konzertleben, wo doch alles so geschniegelt und<br />

Main-Stream-artig vonstatten geht. Sie geht ihren eigenen Weg, macht<br />

ihre speziellen, ganz auf sie zugeschnittenen Programme und überrascht<br />

auf der Bühne mit einer Norma, die ihr niemand zugetraut hätte. Dass<br />

Cecilia Bartoli sich natürlich die Dinge zurechtlegen muss, das ist eine<br />

alte Primadonnen-Weisheit. Erfolg hatte man/frau dann, wenn dieses Abweichen<br />

überzeugend war, auch eine künstlerische Aussage hat. Um eine<br />

solche braucht man sich bei Cecilia Bartoli, die sich nun schon mehr als<br />

zwei Jahrzehnte auf der Szene zu behaupten weiss, nicht zu sorgen. Alles,<br />

was sich die Bartoli vornimmt, erfüllt sie mit Sinn und Engagement,<br />

auch wenn sie dabei manchmal den Hörgewohnheiten zuwider läuft. Wir<br />

wissen es, ihre Stimme ist nicht groß, hat aber ein spezifisches Timbre,<br />

eine „geläufige Gurgel“ und vor allem: Cecilia hat ein Charisma, dem sich<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 73


Europa<br />

Cecilia Bartoli - temperamentvoll wie immer<br />

(© Uli Weber/Decca)<br />

niemand entziehen kann. Schon bei ihrem Auftritt zieht sie das Publikum<br />

in ihren Bann. (Sie hatte diesmal einen eleganten Hosenanzug mit<br />

einem Rüschenhemd à la Mozart an und das sonst offen getragene Haar<br />

zu einem Rossschwanz gebändigt.)<br />

Vom Kammerorchester Basel unter dem rührigen Muhai Tang begleitet,<br />

sang sie gleich zu Beginn die durch Maria Stader seinerzeit populär<br />

gewordene Mozart-Kantate „Exsultate, jubilate“ – ein herrliches, zündendes<br />

Werk. Dass Cecilia Bartoli als indisponiert angekündigt wurde, hörte man<br />

kaum, allerdings ging sie die Motette vorsichtig, wohl aber engagiert an.<br />

In der Höhe – immerhin geht’s bis zum hohen C‘ – etwas zurückhaltend,<br />

- „rollte“ sie ihre Koloraturen und überzeugte mit einem in perfektestem<br />

Legato gesungenen Mittelteil „Fulget amica dies“. Beim „Alleluja“ trumpfte<br />

sie dann auf. Nach dem<br />

Allegro-Satz aus der<br />

Haydn-Sinfonie in c-<br />

Moll dann ganz herrlich<br />

„Parto, parto“ aus Mozarts<br />

„La clemenza di Tito“ mit<br />

Solo-Klarinette (aus dem<br />

Orchester besetzt – sehr<br />

gut!), war sie dann in ihrem<br />

Element, wohlgemerkt<br />

auch in ihrem angestammten<br />

Fach. Hier<br />

stimmte einfach alles.<br />

Hier kam alles zu allem,<br />

um mit Ariadne zu sprechen.<br />

Dem tschechischen<br />

Mozart namens Josef Mislivecek<br />

widmete Cecilia<br />

Bartoli die Arie „Se mai<br />

senti“ aus dessen Oper „La<br />

clemenza di Tito“, nachdem<br />

man mit der Ouvertüre<br />

zu „Medonte“ auf<br />

den tschechischen Meister<br />

eingestimmt war. Vor der Pause dann noch die Arie des Genio aus<br />

Haydns Orfeo-Version, die in der sich nun freigesungenen Sängerin eine<br />

fulminante Interpretatin fand.<br />

Nach der Pause zur Einstimmung wieder ein Satz aus einem Haydn-Werk,<br />

diesmal das Adagio aus der Sinfonie D-Dur, sang dann Cecilia Bartoli noch<br />

die lyrische Arie „Deh, per questo istante“, wiederum aus Mozarts „Titus“.<br />

Zwischen Werken der sogenannten Kleinmeister Vanhal und Kraus, die<br />

aber durchaus ernst zu nehmende Musik geschrieben haben, sang Cecilia<br />

Bartoli die Konzertarie „Ch’io mi scordi di te“ (die Mozart für die Wiener<br />

Aufführung des „Idomeneo“ nachkomponiert hatte) – ein wunderschönes<br />

Stück Musik – und dann zum Abschluss die große „Berenice“-Kantate<br />

von Haydn, wo die Künstlerin nochmal alle Vorzüge ausspielen konnte.<br />

Zur dieser grßsen Szene (Text Metastasio) trug dann la Bartoli ein historisch<br />

angelehntes, schulterfreies Kleid. Als Zugabe gab’s ein unvergleichliches<br />

„Voi, che sapete“ des Cherubino, jener Rolle, mit der sich die ganz<br />

junge Sängerin seinerzeit beim Zürcher Publikum vorgestellt und dieses<br />

sogleich im Sturm erobert hatte. Mit der Wiederholung von Mozarts<br />

„Alleluja“ bewies die Sängerin einmal mehr, dass sie ihresgleichen sucht.<br />

<br />

John H. Mueller<br />

Basel: „VOTRE FAUST“<br />

(Variable Oper von Henri Pousseur – Pr. 8.11.)<br />

Die einzige Oper des erst 2009 verstorbenen belgischen Komponisten<br />

Henri Pousseur ist in der Musikwelt noch so gut wie unbekannt. Die<br />

Schweizer Erstaufführung (in Koproduktion mit der Berliner Gruppe<br />

„Work in Progress“) der 1969 in Mailand uraufgeführten Oper wurde<br />

deshalb mit Spannung erwartet.<br />

Das bekannte Faust-Motiv wurde dabei vom französischen Librettisten<br />

Michel Butor neu interpretiert: <strong>Der</strong> junge Komponist Henri – die Namensgleichheit<br />

mit Pousseur kommt sicher nicht von ungefähr – erhält von<br />

einem Theaterdirektor den Auftrag, eine Oper zu komponieren. Einzige<br />

Bedingung: Ein Faust muss es sein. Dabei wird er von den beiden Damen<br />

Maggy und Greta (eine Dualform der Faust-Figur Margarete) naturgemäß<br />

eher behindert als unterstützt. <strong>Der</strong> mephistophelische Theaterdirektor<br />

fährt mit großem Geschütz auf, um Faust, resp. Henri zu verführen: Ein<br />

Jahrmarkt füllt die mit farbigen Glühbirnen behängte Bühne, 4 Musikkapellen<br />

aus Frankreich (Männer in Röcken mit Bérets), Deutschland,<br />

Italien und England (mit Pilzfrisuren à la Beatles) spielen munter drauflos.<br />

Dabei ist der Blick auf die Theaterkulisse freigegeben, inklusive aller<br />

Kabel, Rohre und Aufhängevorrichtungen, was durchaus reizvoll ist.<br />

Auf diesen Jahrmarkt wird in der Pause auch das Publikum gebeten. Hühnersuppe<br />

und Getränke werden ausgegeben, und die Holz-Eier, die jeder<br />

Zuschauer am Eingang bekommen hat, sollen im Sack Maggy oder im<br />

Sack Greta landen. Das Publikum kann nämlich mitbestimmen, durch die<br />

Eier-Abstimmung hat man der Geschichte bereits eine Richtung gegeben.<br />

Nach der Pause können die Zuschauer zusätzlich durch abfällige lautstarke<br />

Äußerungen eine Szene abklemmen, oder durch Zischlaute die abfälligen<br />

Laute übertönen und die Szene weiterspielen lassen. 5 verschiedene<br />

Endfassungen gibt es, und das Ensemble musste sie alle proben. Ein Riesenaufwand,<br />

wofür vor allem dem Dirigenten Gerhardt Müller-Goldboom<br />

Respekt zu zollen ist.<br />

Bei so viel Aktion und Interaktion (Regie: Aliénor Dauchez) sollte man<br />

einen spannenden Abend erwarten, doch dem ist nicht so. Da mögen<br />

auf der Bühne Professoren lautstark ihre Theorien erklären, Schausteller<br />

ihre Shows anpreisen, Moderatoren zungenfertig durch die Abstimmung<br />

führen, Installationstafeln aufleuchten, eine Luftkissenwippe die<br />

Geliebten durchschütteln und (lebende) Hühner herumflattern. Zwischen<br />

den Protagonisten passiert jedoch recht wenig. Die Szenen ähneln<br />

Baukastenelementen, die Bühne einem Setzkasten, bei dem bald das eine,<br />

bald das andere Kästchen erleuchtet wird. Dass die Szenenfolgen selbstgewählt<br />

sind, macht sie nicht weniger willkürlich und bald scheinbar unzusammenhängend.<br />

Mit den Protagonisten mag sich niemand identifizieren, zu abgehoben,<br />

zu unsympathisch, zu distanziert wirken sie. Henri (Franz Rogowski)<br />

wird als lispelnder Nerd dargestellt, der ellenlange monotone Monologe<br />

über Musiktheorie hält. <strong>Der</strong> Theaterdirektor (Peter von Strombeck) ist<br />

ein schmieriger Agent, und ob Maggy oder Greta (beide: Julia Reznik)<br />

gerade auf der Bühne steht, ist nicht nur häufig unklar, sondern dem<br />

Zuschauer bald einerlei. Emotionen kommen da nicht hoch. Man stimmt<br />

ab und stimmt ab und landet am Schluss irgendwo in der Mitte zwischen<br />

der künstlerischen Freiheit und der Abhängigkeit vom Sponsor, zwischen<br />

der ewigen Liebe und dem ewigen Werk. Wie war noch mal der gewählte<br />

Schluss? Eigentlich ist dem Zuschauer nach drei Stunden alles egal.<br />

Das mag auch an der Musik liegen. Zum einen tritt diese für eine Oper<br />

recht spärlich auf, zum andern ist die von Pousseur favorisierte 12-Ton-<br />

Musik nicht unbedingt leicht zu ertragen. Atonaler Funk-Jazz? Schräger<br />

elektronischer Serialismus? Die Musikrichtung kann man nicht wirklich<br />

benennen. Will man auch nicht.<br />

Die Oper soll schockieren und protestieren. Aber wogegen eigentlich? Das<br />

Bildungsbürgertum? Den Opernbetrieb? Die Abhängigkeit der Kunst von<br />

Kommerz? Oder gegen das Faustmotiv à la Gounod, Goethe, Mann, das<br />

hier ganz schön selbstironisch verwendet wird? Irgendwie wirkt das alles<br />

nicht mehr zeitgemäß. Publikumseinbezug ist auch nichts Neues, gelebte<br />

Demokratie für die Schweiz ein alter Hut. Einzig die lebendigen Hühner<br />

und Ziegen für die schwarze Messe schockieren. Aber auch nur die Tierschützer.<br />

<br />

Alice Matheson<br />

74 | DER NEUE MERKER 12/2013


Europa<br />

„ANSCHLAG“ von Wertmüller/Bärfuss (Musiktheater) –<br />

10.11.<br />

Die Koproduktion des Lucerne Festival mit dem Theater Basel im Rahmen<br />

der Journées Contemporaines war eine Auftragsarbeit für das Lucerne<br />

Festival. Es gilt deutlich die Devise „prima le parole“, und Lukas<br />

Bärfuss ließ sich für sein Libretto – ein Zyklus von 12 Liedern – von Jean-<br />

Jacques Rousseau inspirieren. Allerdings nicht von dessen philosophischen<br />

Höhenflügen, sondern den minutiösen Klagen über seine Harnleiterverengung.<br />

Thema ist die eigene Hinfälligkeit als Spiegel des Verfalls<br />

der Gesellschaft, der Vergleich von Krankheitssymptomen und Gesellschaftsproblemen<br />

– ob die faule Stelle nun aus dem Körper oder der Gesellschaft<br />

geschnitten werden muss, ist da irrelevant. Ziel ist immer der<br />

Kampf gegen den Verfall, den Tod, schlussendlich: die Zeit. Denn die<br />

Zeit ist ja schließlich ein „Anschlag auf das Leben“.<br />

Dabei ist eine klare Spiegelachse in der Mitte der 6 Lieder zu erkennen:<br />

Während Linda Lovelace sich in „It really took time“ über die beste Atemtechnik<br />

bei einer Fellatio auslässt, wird in „Für immer erlöst“ die richtige<br />

Atmung nach der hinduistischen Baghavad Gitā erklärt. Die grausame<br />

Ermordung und Enthauptung der Marie-Louise von Savoyen-Carignan<br />

alias Prinzessin von Lamballe am Septembermassaker im Verlauf der französischen<br />

Revolution findet ihre logische Entsprechung in der grausamen<br />

„Sektio“ an lebendigen Tieren. Die kleine Erzählung „L‘écoulement“ über<br />

die Heilung einer eiternden Wunde nach dem Revolutionär und Arzt Jean<br />

Paul Marat wird einer Äußerung vom Anhänger von Robespierre, Louis<br />

Antoine de Saint-Just, gegenübergestellt, der in „Sans doute“ beweist, dass<br />

es noch nicht an der Zeit ist, etwas bestimmtes Gutes zu tun, da es dafür<br />

erst eines großen allgemeinen Übels (bei Saint-Just eben der Wunde)<br />

bedürfe. Bärfuss schöpft seine Texte aus dem Umkreis der französischen<br />

Revolution, stellt den Körper der Gesellschaft gegenüber, vergleicht den<br />

sittlichen Verfall mit dem körperlichen. Die Texte berühren, manche sind<br />

schreiend komisch („It really took time“), manche schockieren („Sektio“).<br />

Dem Komponisten Michael Wertmüller bleibt da bei jedem Satz die<br />

Entscheidungsfreiheit, diesen zu untermauern oder den Text durch die<br />

Musik zu torpedieren, kaputtzumachen, abzuklemmen. Ein Anschlag ist<br />

für den Komponisten naturgemäß nicht in erster Linie ein Angriff auf<br />

die Zeit, sondern der Berührungsmoment zwischen Musiker und Instrument.<br />

Doch mit diesem Anschlag produziert ein Musiker Musik und damit<br />

Neues, Innovation oder Neuinterpretation, und reiht sich damit wieder<br />

in den Kampf gegen die Zeit und den Verfall ein. Im Gegensatz zum<br />

Libretto ist bei Wertmüller eine klare Steigerung gegen Schluss festzustellen.<br />

Singen die 3 Soprane (Anne-May Krüger, Clara Meloni und Ruth<br />

Rosenfeld) die „Ballade vom Tod der Fürstin von Lamballe“ noch opernhaft<br />

(wenn auch etwas kreischend), wird der staccato-artige Sprechgesang<br />

in der „Sektio“ (Sprecher: Karl-Heinz Brandt) mehr zum Instrument als<br />

zur Lesung, in der „Vollendung“ und im „Big Chill“ ist der Text dann<br />

ganz nebensächlich. Funk-Jazz ist die Devise, ein klassisches Streichquartett<br />

liegt im Wettstreit mit dem „Hammond-Avantcore-Trio“ von Steamboat<br />

Switzerland. Dass Wertmüller auch Schlagzeuger ist, wird schon zu<br />

Beginn durch die militärischen Trommelwirbel klar und bleibt auch der<br />

musikalische rote Faden.<br />

Das Projekt kann man als einigermaßen geglückt klassifizieren, die Texte<br />

sind spannend, die Verschmelzung zwischen Musik und Text interessant,<br />

die Gegenüberstellung zwischen alter und <strong>neue</strong>r Musik innovativ. Ärgerlich<br />

ist da lediglich, dass man die Hälfte der Texte akustisch schlicht<br />

nicht versteht (vor allem wenn die drei Soprane gleichzeitig singen). Einige<br />

Texte sollte man außerdem deutlich kürzen (der Text der „Lamballe-<br />

Ballade“ ist doch stark redundant).<br />

Es ist aber bezeichnend, dass das Publikum erleichtert aufatmet, wenn das<br />

altmodische Streichquartett ein ruhiges, einigermaßen melodisches Intermezzo<br />

hinlegt. Mit schrillen Sopranstimmen unterlegte funkige Rhythmen<br />

sind eben nicht jedermanns Sache. Bongotrommeln, Splitterkanonen,<br />

Opernarien, Jazz, Funk: Dirigent Titus Engel behält bei dieser<br />

fulminanten Mischung aller Stilrichtungen und Instrumenten-Äras souverän<br />

die Übersicht. Die Inszenierung (Marie-Thérèse Jossen, Georges<br />

Delnon) ist zurückhaltend, aber leider auch nicht viel spannender als<br />

eine Orchesterfassung.<br />

Fazit: Wer es schafft, sich vorher die Texte zu verschaffen, erlebt einen interessanten<br />

Abend. <br />

Alice Matheson<br />

Biel: „Das Rheingold“ (halbszenisch) –<br />

Kongresshaus 23.11.<br />

Ein modernes Opernprojekt (© Priska Kelterer)<br />

Seit Dieter Kägi Intendant und Musikdirektor das „Theater Orchester<br />

Biel Solothurn“ (auch TOBS genannt) leitet, fanden immer wieder ereignisreiche<br />

Aufführungen statt, die weit über die Kantonsgrenzen hinaus<br />

für Aufsehen sorgten. Für dieses aufwändige Projekt gelang es der Spielleitung,<br />

international gefragte Sänger nach Biel zu holen, einige von Ihnen,<br />

deren Karriere einst hier am Opernstudio begonnen hatte; Jordanka<br />

Milkowa, Vitalij Kowaljow und Marion Ammann. Und noch etwas ist<br />

für die doch eher provinzielle Industriestadt ebenso erstaunlich wie bewundernswert;<br />

das TOBS wird sich dem Weltendrama um Macht, Verrat<br />

und Gier nun jährlich mit einer Produktion widmen.<br />

Es lohnte sich, das Musikdrama ohne Bühnenbild und Orchestergraben<br />

aufzuführen. Denn, was sonst im Graben sich versteckt, konnte frei und<br />

offen voll zur Geltung kommen. Das Orchester und die Darsteller standen<br />

im Mittelpunk. Es wurde ein Hörgenuss der besonderen Art auf allerhöchstem<br />

Niveau geboten. umrahmt mit einer Videoproduktion<br />

Die musikalische Leitung übernahm der Wiener Hans Urbanek. Dem<br />

Bieler Publikum war er bestens bekannt, da er von 2002 bis 2005 als<br />

künstlerischer Leiter und Chefdirigent für die Konzerte der Orchestergesellschaft<br />

Biel verantwortlich war. Und jetzt arbeitete er intensiv und erfolgreich<br />

mit dem Sinfonie Orchester Biel zusammen. <strong>Der</strong> volltönende<br />

Orchesterklang und die satte Farbigkeit sprachen für sich. Das Klangbild<br />

war pointiert, transparent und flüssig. Umso bewundernswerter für ein<br />

Orchester, das nicht oft mit den monumentalen epischen Werken von<br />

Wagner betraut wurde.<br />

Sehr überzeugend war die gesamte Besetzung. Groß und mächtig die<br />

Stimme von Jo Pohlheim, der als Alberich mit seinem Fluch viel in Bewegung<br />

setzte. Er imponiert vor allem mit der fabelhaften Diktion, dem<br />

intensiven, ausgelassenen Spiel und einer sonoren Stimme. In den Mittel-<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 75


Europa<br />

punkt selbst setzte sich Wotan Vitalij Kowaljow als Hüter der Macht mit<br />

kräftigem Bariton, aber schwer verständlichem Deutsch. Die unglaublich<br />

schön timbrierte Stimme ist gut fokussiert, nur schade, dass er die Partie<br />

noch nicht ganz auswendig konnte. Die launische und berechnende<br />

Fricka war hervorragend besetzt mit Tanja Ariane Baumgartner. Sie bestach<br />

durch prägnanten Ausdruck und starken Gesang. Marion Ammann<br />

als Freia wartete mit jugendfrischem Sopran auf und überzeugte in ihrer<br />

Erscheinung, blond und groß gewachsen.<br />

Ausgezeichnet präsentierten sich Fasolt Martin Snell und Fafner Martin<br />

Blasius mit ebenmäßigem Schöngesang. Grandios in Stimme, Ausdruck<br />

und Erscheinung die Erda von Jordanka Milkova. Mehrere Kritiker renommierter<br />

Fachzeitschriften schätzen sie als eine der besten Nachwuchskünstlerinnen<br />

ein und prophezeien ihr eine große Karriere.<br />

<strong>Der</strong> Bayreuth-geprüfte Loge des Niederländers Arnold Bezuyen kam<br />

als imposanter Charaktertenor daher, mit viel ironischem Witz, gekonntem<br />

Spiel, schönem Timbre, empfindsamen lyrischen Tönen und perfekter<br />

Diktion.<br />

Das Götterquartett komplettierten John Uhlenhopp als Froh mit einem<br />

etwas zu großen Vibrato und der Bariton Robin Adams als cholerischer<br />

Donner, der mit stimmlicher Rauheit immer wieder dazwischenfuhr. Andreas<br />

Jäggi bot als Mime mit strahlkräftigem Tenor eine verspielte, aber<br />

genaue Charakterisierung, darstellerisch wie stimmlich. Die Rheintöchter<br />

waren ebenfalls gut besetzt, die neckische Woglinde Ljupka Rac, die<br />

verführerische Wellgunde Christine Buffle und die schöne Flosshilde Susannah<br />

Haberfeld boten solide Leistungen.<br />

Stolz darf man verkünden: Dieses „Rheingold“ war orchestral und stimmlich<br />

fulminant. Freuen wir uns auf die komplette Tetralogie und treffen<br />

uns wieder in einem Jahr bei der „Walküre“ in Biel… Marcello Paolino<br />

Genf: „Die Walküre“ –<br />

Grand Théâtre de Genève, 7.11.<br />

Wotan straft seine liebste Tochter Brünnhilde, indem er sie verbannt und<br />

ihr ein Schicksal als Hausfrau, als Mensch, beschert. Wehr- und willenlos<br />

soll sie auf dem Berggipfel schlafen, bis ein Mann sie nimmt. Brünnhilde<br />

ist das Bauernopfer in einem System voller Abhängigkeiten und Intrigen.<br />

Getrieben vom Kampf ums eigene Überleben, ist eine freie Entscheidung<br />

nicht mehr möglich. Durch die Ausgrenzung Brünnhildes kann Wotan<br />

den Schaden von sich abwenden, um die Götter zu schützen. Ohne<br />

Zweifel ist der 3. Akt wohl der sensibelste und innigste Teil des gesamten<br />

„Ring“-Zyklus. Die Trennung ist rational nicht zu verstehen. Aber man<br />

kann begreifen, dass er ihr doch noch Schutz gewährt und sie doch nicht<br />

ganz schutzlos preisgeben will. Auf ihren Wunsch umgibt sie ein Feuerwall,<br />

nur ein tapferer Mann wird ihn durchschreiten, nur einer, der Wotans<br />

Speer nicht fürchtet.<br />

Hundings Haus bestand aus einer riesigen Baumwurzel, in die der Schutz<br />

suchende Siegmund wie ein unbeholfener Bär hineintappste, von seiner<br />

Zwillingsschwester Sieglinde liebevoll aufgenommen, verpflegt und von<br />

dem wenig erfreuten Hausherrn als Gast geduldet. Günther Groissböck<br />

spielte Hunding brutal und unzugänglich. Mit wunderbarem Klang beherrschte<br />

er seine verängstigte Frau total. So kann man sich häusliche<br />

Gewalt vorstellen, wenn er sie an den Haaren packte, demütigte, erniedrigte<br />

und sie das Messer zückte, um ihn am liebsten zu töten. Die stattliche<br />

Michaela Kaune wirkte ihrem schmächtigen Bruder gegenüber wie<br />

eine Hünin und gab der domestizierten Sieglinde mit ihrem kraftvollen,<br />

sicher geführten Sopran und wundervollen Pianis feinen Ausdruck. <strong>Der</strong><br />

Tenor Will Hartmann vermochte als verliebter Siegmund nicht ganz zu<br />

gefallen, geriet stimmlich an seine Grenzen und überzeugte in seiner Sorge<br />

um die bräutliche Schwester nicht wirklich.<br />

Jürgen Rose reduzierte die Handlung auf kleinstem Raum in einer unendlich<br />

grenzenlos wirkenden Weite. Das vermochte zu beeindrucken.<br />

Walküre-Finale 1.Akt: Michaela Kaune (Sieglinde) und<br />

Will Hartmann (Siegmund) (© GTG/Carole Parodi)<br />

Fricka Elena Zhidkova stellte nicht die Idealbesetzung einer beherrschten<br />

Fricka dar, man nahm ihr die überlegene Hüterin der Familie nicht<br />

ab und gesanglich war sie eher spröde und eindimensional. <strong>Der</strong> 3. Akt, in<br />

dem Dieter Dorn den „Walkürenritt“ auf einer kleinen Plattform spielen<br />

ließ, auf der die Töchter die toten Helden bargen, die verstoßene Brünnhilde<br />

vergebens Wotan um Mitleid für die schwangere Sieglinde anflehte<br />

und in echter Verzweiflung kniefällig ersuchte, die unerhörte Strafe wenigstens<br />

etwas zu mildern, wurde berührend und wirkungsvoll umgesetzt.<br />

Im Finale wirkte Wotan Tom Fox nicht nur etwas zu steif, sondern nuschelte<br />

ausdrucksschwach und mit seinen Stimmresten textunverständlich<br />

in sich hinein. Petra Lang war zweifelslos die Sensation des Abends,<br />

die mit viel Expressivität und Wohllaut, mit hervorragend sicher geführter<br />

Stimme der Brünnhilde überzeugende Gestalt gab.<br />

Zu großer Form lief auch das Orchestre de la Suisse Romande auf. Unter<br />

der profunden Leitung von Ingo Metzmacher glänzte das Orchester.<br />

Mit Dynamik, Flexibilität und innigen Farben sorgte er für anhaltende<br />

Spannung und gab der poetischen Gesamtwirkung viel Raum. Nicht die<br />

lauten Töne und anhaltenden Bögen waren gefragt, sondern das Reduzieren<br />

der Musik auf das Wesentliche, sich anpassend an das kammerhafte<br />

des Bühnenbildes, um somit eine Symbiose zu bilden, die sehr einleuchtend<br />

und gefällig war.<br />

Das Publikum war begeistert und bejubelte frenetisch die Protagonisten<br />

und die gesamte Regie. <br />

Marcello Paolino<br />

76 | DER NEUE MERKER 12/2013


Europa<br />

„<strong>Der</strong> fliegende Holländer“ im Bâtiment<br />

des Forces Motrices (BFM), altes Wasserkraftwerk – 2.11.<br />

<strong>Der</strong> „Cercle Romand de Richard Wagner“ besteht dieses Jahr schon<br />

seit 37 Jahren und wäre das nicht schon eine große Feier wert, gelingt<br />

es dem Verein, für den 200. Geburtstag des Komponisten auch<br />

noch ein Festival hervor zu zaubern, welches national und international<br />

große Beachtung findet. Das Wagner Geneva Festival widmet<br />

sich vom 26.9. bis 5.11. der Musik, Literatur, Theater, Skulptur, Tanz<br />

und Film rund um Richard Wagner. Das Kernstück dieses Konzeptes<br />

ist die Aufführung des „Holländers“ in der Urfassung, die Wagner in<br />

Paris 1840 geschrieben hat, am Stück ohne Pause.<br />

In Genf konzentriert sich das Team Alexander Schulin (Inszenierung),<br />

Bettina Meyer (Bühne), Bettina Walter (Kostüme), Bert Zander (Video)<br />

und Rainer Küng (Licht) in einfacher, aber stimmungsstarker<br />

Ausstattung ohne Phantomschiff auf die Figuren.<br />

Senta spielt eine verträumte, fast naive Frau, die eine Marionette des<br />

Holländers in Händen trägt und von einem Helden träumt, den sie<br />

sehnlichst erwartet. Bis zum bitteren Ende tief enttäuscht, entledigt<br />

sie sich ihres Traumes, in dem sie die Holländer-Marionette wegwirft<br />

und aus dem Rahmen der vergangenen Welt entflieht. Die Bühne ist<br />

einfach gestaltet, das Einheitsbild ist karg, vier Wände, vier Zugänge<br />

für Solisten, ein großer Rahmen, der die spießbürgerliche Welt darstellt,<br />

und den bildfüllenden Chor. Videoprojektionen mit Stürmen,<br />

Meereswellen und aufblitzenden Gesichtern beleben das Bild.<br />

Das ist ein gutes Konzept, vor allem, wenn ein Sängerteam am Werk<br />

ist, das den Figuren szenisch wie musikalisch großartige Bühnenpräsenz<br />

verschafft. Alfred Walker als Bariton von dunkler Dämonie für den<br />

Holländer, Ingela Brimberg als Traumbesetzung am Wagner-Himmel<br />

mit imponierender Intensität für eine energiegeladene Senta. Eric Cutler<br />

mit packender Tenorleidenschaft. Die radikalste Ablehnung erfährt<br />

der Holländer bei Erik, Sentas Verlobtem. Nicht einmal sein strahlender<br />

Tenor hilft, Senta von ihrer Besessenheit abzubringen. Dimitry<br />

Ivashchenko überzeugt mit kernigem Bass als patzig jovialer Daland.<br />

Eigens für dieses Festival wurde das Orchestre du Wagner Geneva gegründet,<br />

bestehend aus den Studenten der Hochschule für Musik Genf<br />

(HEM-Genève), der Hochschule für Musik Lausanne (HEMU) und<br />

dem Nationalen Konservatorium für Musik und Tanz Paris (CNSMD-<br />

Paris) Die umfangreichen Chorpartien wurden vom Choeur du Grand<br />

Théâtre de Genève Einstudierung Ching-Lien Wu, musikalisch kraftvoll<br />

und zugleich höchst differenziert gestaltet. Szenisch bringen sie<br />

sich mit bemerkenswerter Beweglichkeit und ausdrucksvoller Präsenz<br />

in die Inszenierung ein.<br />

<strong>Der</strong> Ukrainer und hoffnungsvolle Nachwuchskünstler Kirill Karabits<br />

bot ein aufregendes Dirigat. Schon die allerersten Klänge schlagen mit<br />

voller Wucht ein und nehmen das Publikum mit auf
eine Reise, der<br />

man sich während der nächsten gut zweieinhalb Stunden nur schwer<br />

entziehen
kann. <br />

Marcello Paolino<br />

Milano: „AIDA” – Teatro alla Scala 5.11.<br />

Über den unsäglichen Kitsch dieser von Franco Zeffirelli als Regisseur<br />

und Bühnenbildner (Kostüme: Maurizio Millenotti) erarbeiten<br />

Produktion, deren Wiederaufnahme von Marco Gandini betreut<br />

wurde, wurde schon bei der Premiere von 2006 und der Wiederaufnahme<br />

von 2009 berichtet (s. „<strong>Merker</strong>“ 201 bzw. 232/233). Nichts<br />

hat sich geändert an den die Bühne bevölkernden Massen, wobei der<br />

fehlende Platz vor allem beim Auftritt der äthiopischen Gefangenen<br />

zu lächerlichen Ergebnissen führte (und dass ein paar „echte“ Farbige<br />

neben einem auf dunkel geschminkten Amonasro zu sehen waren, trug<br />

wenig zu größerer Ernsthaftigkeit bei).<br />

Das große Plus dieser Aufführung war die musikalische Leitung durch<br />

Gianandrea Noseda, der Verdis Musik die rechte Hitzigkeit verlieh und<br />

den Triumphakt mit souveränen Pinselstrichen zeichnete. Gleichzeitig<br />

erwies er sich auch als exzellenter Sachwalter der lyrischen Momente –<br />

das Orchester folgte ihm mit hörbarer Überzeugung. Auch der Chor<br />

unter seinem Leiter Bruno Casoni zeigte sich mit differenzierter Subtilität<br />

in Höchstform. (Da wäre allerdings die Maske gefordert, denn<br />

die wenig geschminkten Alltagsgesichter störten in all dem Prunk und<br />

Protz noch mehr als sonst).<br />

Bei den Solisten zeigte (die auch erschlankte) Hui He in der Titelrolle,<br />

dass sie sich nicht nur mit ihrer schönen Stimme und einer<br />

guten Technik begnügt, sondern weiter an sich gearbeitet hat und mit<br />

raffiniertem, berührendem Legato zu beeindrucken vermag. Endlich<br />

wieder eine in jeder Hinsicht überzeugende äthiopische Sklavin! Ihr<br />

Radamès Marco Berti erntete beim Schlussvorhang ein paar Buhs, die<br />

gerechtfertigt waren, denn nur zu brüllen, ist für diese Rolle ja keine<br />

Lösung. Auch den irregeführten ägyptischen Feldherrn kann man nuanciert<br />

singen! Enttäuschend Nadia Krasteva, der für die Amneris die<br />

profunde Tiefe fehlte; die Höhen waren zwar sicher, aber die ganze<br />

Leistung durch eine wenig überzeugende szenische Darbietung mit<br />

zu vielen stereotypen Gesten beeinträchtigt. Statt der angekündigten<br />

Ambrogio Maestri bzw. Želko Lučić sang Alberto Mastromarino mit<br />

den verschiedensten Stimmfarben einen hohlen Amonasro mit Dauerblick<br />

auf den Dirigenten. Imposant klang der König von Alexander<br />

Tsymbalyuk, zumindest solide der Ramphis von Marco Spotti.<br />

Sae Kyung Rim war eine klarstimmige Sacerdotessa, Jaeheui Kwon<br />

der sichere, aber nicht sehr idiomatische Bote.<br />

Mit Ausnahme des Jubels für Hui He und Noseda versandete der Beifall<br />

rasch.<br />

Am 18.11. gab Juan Diego Flórez einen hinreißenden Abend<br />

mit einem unusuell, aber raffiniert zusammengestellten Programm.<br />

Nach zwei Arien aus Händels „Semele“, die gar nicht so nach Aufwärmen<br />

klangen und schon die Koloraturen und Triller funkeln ließen,<br />

kamen drei Rossini-Stücke aus des Komponisten „Péchés de vieillesse“,<br />

wobei die Bolero-Version von „Mi lagnerò tacendo“ und das „Addio ai<br />

viennesi“ besonders doppelbödig klangen. Wunderbar elegisch mit feinstem<br />

Piano Bellinis „La Ricordanza“, gefolgt von „Popoli dell’Egitto“<br />

aus Meyerbeers „Il crociato in Egitto“. Diese dreiteilige Arie verlangt<br />

alles: heroische Attacke ebenso wie Verzierungen. Das glanzvoll dargebotene<br />

Stück beschloss den ersten Teil. Zweiten gab es zunächst drei<br />

Arien aus verschiedenen Zarzuelas, eine schöner als die andere, gefolgt<br />

von Raouls großer Arie aus Meyerbeers „Hugenotten“, eine wahre<br />

Lektion in Belcanto. Den Abschluss bildete „Come uno spirto angelico“<br />

aus Donizettis „Roberto Devereux“, wo der Tenor <strong>neue</strong>rlich nachwies,<br />

dass seine Stimme voller, lyrischer geworden ist, ohne die fulminanten<br />

Höhen verloren zu haben.<br />

Das vor Begeisterung rasende Publikum wurde mit sechs (!) Zugaben<br />

beschenkt: „Au mont d’Ida“ aus Offenbachs „Schöner Helena“, mit<br />

köstlichem Esprit vorgetragen; die italienische Version von „Ach so<br />

fromm“ aus Flotows „Martha“; Ennio Morricones berühmtes „Amapola“;<br />

„Je veux encore entendre“ aus Verdis „Jérusalem“; das Schlussrondo<br />

aus dem „Barbier“ und schließlich „La donna è mobile“. Ein Programm,<br />

das schon allein fast ein ganzes Konzert umfasst.<br />

<strong>Der</strong> bewährte Vincenzo Scalera am Klavier erwies sich auch diesmal<br />

als nicht nur verlässlicher, sondern auch stimulierender Begleiter.<br />

Ein absolut erinnerungswürdiger Abend voll künstlerischer Großzügigkeit.<br />

<br />

Eva Pleus<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 77


Europa<br />

Paris:<br />

„Written on Skin“ von George Benjamin<br />

– Opéra Comique – 16.11. –<br />

Triumphzug einer <strong>neue</strong>n Oper<br />

Solch einen Erfolg haben wir noch nie für eine gegenwärtige Oper erlebt.<br />

Bei der Uraufführung von Written on Skin am 7. Juli 2012 in Aix-en-Provence<br />

schrieb die sonst für ihre kritische Berichterstattung bekannte Zeitung<br />

Le Monde eine Rezension mit dem Titel: „Die beste Oper seit zwanzig<br />

Jahren?“. <strong>Der</strong> Titel war natürlich eine Untertreibung, denn der Rezensent<br />

stellte die Frage, ob es nicht die beste Oper seit 90 Jahren sei, genau, seit<br />

Alban Bergs Wozzeck 1922. Die Uraufführung in Aix war eine Sensation,<br />

die „durch die Welt ging“ und die Produktion wurde in kürzester Zeit in<br />

Europa und Amerika nachgespielt und mit Preisen überhäuft („Prix de la<br />

critique musicale“ in Frankreich, „Uraufführung des Jahres“ für Opernwelt<br />

etc). Über London und Amsterdam gelangte sie im Juni zu den Festwochen<br />

in Wien, wo die Doyenne der <strong>Merker</strong>-Rezensenten, Frau Inge M.<br />

Scherer (I.M.S.), eine ausführliche Kritik schrieb (siehe <strong>Merker</strong> 7/2013).<br />

So brauche ich das Werk und den Komponisten nicht mehr vorzustellen.<br />

Die Produktion reiste weiter über München nach Paris, wo alles angefangen<br />

hat. Denn für die Pariser Oper schrieb George Benjamin 2006 sein<br />

erstes Werk, Into the Little Hill, ein halbstündiges Monodram zu dem Rattenfänger<br />

von Hameln (das 2008 in Wien gastierte). Auch in Paris erlebte<br />

Written on Skin einen sensationellen Erfolg. Schon Wochen im Voraus waren<br />

alle Plätze in der Opéra Comique ausverkauft – dabei liest man doch<br />

überall, dass es für zeitgenössische Musik kaum Publikum gäbe. Und an<br />

der Première waren schon alle (nicht gerade billigen) Programmhefte für<br />

alle Vorstellungen ausverkauft, da jeder das besondere Libretto von Martin<br />

Crimp noch einmal in Ruhe lesen wollte.<br />

Die Produktion hat seit der Uraufführung nichts an Intensität eingebüßt.<br />

Im Gegensatz zu Wien dirigierte der Komponist wieder selber und verstand<br />

es, den 61 Musikern des Orchestre Philharmonique de Radio France ein<br />

Gespür für seinen ganz eigenen Ton zu geben. <strong>Der</strong> klingt manchmal ganz<br />

unwirklich – wenn zum Beispiel Glasharmonika und Mandoline zusammenspielen<br />

–, ist aber nie artifiziell (keine Elektronik, keine Verstärkung).<br />

So kommt auch die wunderbare Inszenierung von Katie Mitchell in der<br />

Ausstattung von Vicki Mortimer ohne elektronische Effekte aus (es geht<br />

also auch ohne Video), von ihrer Stilsicherheit ganz zu schweigen. Denn<br />

Katie Mitchell erzählt uns eine Geschichte, in der Gewalt und Sexualität<br />

eine große Rolle spielen, ohne dabei ihre Darsteller auf der Bühne auszuziehen<br />

oder mit Blutkonserven werfen zu lassen. Das wäre alles in dieser<br />

Feinheit nicht möglich gewesen ohne die wirklich herausragenden Qualitäten<br />

der kanadischen Sopranistin Barbara Hannigan, einer „Sängerin<br />

aus einem anderen Planeten“ (so Le Figaro), die wegen ihrer Leistung in<br />

dieser Rolle durch die 50 Kritiker von Opernwelt zur „Sängerin des Jahres“<br />

gewählt wurde. An der Opéra Comique sang auch wieder Christopher<br />

Purves die männliche Hauptrolle des gewalttätigen Gatten, der seine Frau<br />

in die Arme des jungen Künstlers treibt, der in Aix-en-Provence durch<br />

Bejun Mehta gesungen wurde. Metha war leider für die vielen folgenden<br />

Gastspiele nicht verfügbar und wurde in Wien und Paris durch Iestyn<br />

Davies ersetzt, der sicher schön gesungen hat, aber nicht über die<br />

gleiche Ausstrahlung verfügt. Denn Metha sieht Purves auch noch verblüffend<br />

ähnlich, was eine Vater-Sohn-Dimension in die Konstellation<br />

von Mann-Frau-Liebhaber brachte. Bei Davies konnte man nicht so gut<br />

nachvollziehen, warum dieser blasse Mann solche Gefühle bei den anderen<br />

auslöst. Aber das ist Klagen auf hohem Niveau und wäre auch wirklich<br />

der einzige Abstrich, den man eventuell machen könnte.<br />

Wir wünschen, dass dieser Erfolg anderen Intendanten den Mut geben<br />

wird, um <strong>neue</strong> Opern in Auftrag zu geben, und freuen uns schon auf das<br />

nächste Werk des Duos Benjamin/Crimp, das man in zwei/drei Jahren erwarten<br />

kann. George Benjamin ist jetzt 53 Jahre alt. Das ist jung für einen<br />

Opernkomponisten, denn Jean-Philippe Rameau war 50, als er seine<br />

erste Oper schrieb – und wurde danach einer der größten Opernkomponisten<br />

Frankreichs. <br />

Waldemar Kamer<br />

„Roméo et Juliette“ (Berlioz) – Salle Pleyel –<br />

17. 1I. --<br />

Wiederentdeckung einer sehr selten gespielten „Oper“<br />

Moderner Opern-Triumph<br />

(Barbara Hennigan als Ehefrau, Jestyn Davis als Künstler)<br />

Die ursprünglich durch den österreichischen Komponisten und Klavierbauer<br />

Ignaz Josef Pleyel erbaute Salle Pleyel kann sich seit 1827 rühmen,<br />

der größte Konzertsaal von Paris zu sein. Denn in dem heutigen Saal<br />

konnten 1927 3.000 Zuschauer sitzen – heute „nur“ noch genau 1983.<br />

Jede Woche gibt es dort spannende Konzerte, aber nicht unbedingt für<br />

die <strong>Merker</strong>, denn in der Salle Pleyel wird zurzeit wenig Oper gespielt. Das<br />

war anders, als noch Daniel Barenboim das Orchestre de Paris leitete, das<br />

hier seinen Stammsitz hat, und wird sicher auch in Zukunft wieder anders<br />

werden. Denn zurzeit gehört die Salle Pleyel zu der Cité de la Musique<br />

– in Erwartung der sich noch immer im Bau befindenden Philharmonie<br />

de Paris. So werden die „großen symphonischen Konzerte“, für die die<br />

beiden Säle der Cité zu klein sind, in der Salle Pleyel gegeben. Vieles ist<br />

„Mainstream“, wie die Tourneen der internationalen Orchester, die überall<br />

das gleiche Programm spielen. Manches ist sehr besonders. So arbeitet<br />

Valery Gergiev mit seinen zwei Orchestern, dem London Symphony<br />

Orchestra und dem Orchester des Mariinsky, an einem Berlioz- und einen<br />

Schostakowitsch-Zyklus und scheut dabei keine seltenen, schwierigen<br />

oder völlig unbekannten Werke. Drei Wochen, nachdem Gergiev Les<br />

Troyens in Wien mit dem Mariinsky gegeben hat (siehe <strong>Merker</strong> 1I/2013),<br />

dirigierte er andere Werke von Berlioz in Paris, aber jetzt mit dem London<br />

Symphony Orchestra. Gergiev gab sich diesmal große Mühe, denn<br />

sein letzter Berlioz-Abend in Paris, im Mai, ist in übler Erinnerung geblieben<br />

(siehe <strong>Merker</strong> 6/2013). Seine Symphonie fantastique war dagegen so<br />

gut, dass sogar die vornehmen Herren der Berlioz-Gesellschaft meinten,<br />

sie hätten die Marche au supplice (den berühmten vorletzten Satz) noch<br />

nie so gehört. Die Musik flimmerte und schimmerte, als ob Elfen tanzen<br />

würden. Nichts war schwer und plötzlich machte die sehr eigenwillige Gestik<br />

Gergievs, ein undefinierbares Zittern mit einem Zahnstocher, wirklich<br />

Sinn. Die einzige „Oper“ im Programm, Roméo et Juliette, ist eigentlich<br />

keine Oper. Berlioz schrieb dazu: „auch wenn die Stimmen eine große<br />

Rolle haben, ist es weder eine Konzert-Oper, noch eine Kantate, sondern eine<br />

‚Symphonie mit Chören’“. Er schrieb schließlich 1847 „symphonie dramatique“<br />

auf die Partitur und gab verschiedene Strichmöglichkeiten an, womit<br />

man das Werk auch ohne Sänger spielen kann. Die ursprüngliche Fassung<br />

der Uraufführung am 24. November 1839, das Opus 17, wird nur<br />

sehr selten gespielt, weil Berlioz in seinem jugendlichen Übermut ein Or-<br />

78 | DER NEUE MERKER 12/2013


Europa<br />

chester von 100 Musikern vorschrieb, mit schwer transportierbaren „echten<br />

Kirchenglocken“, 101 Choristen und drei „großen Sängern“. Doch<br />

die drei Sänger singen alle zusammen gerade mal eine ¼ Stunde, ganz am<br />

Anfang und ganz am Ende. Die eigentliche Liebesgeschichte, auch das<br />

berühmte Liebesduo auf dem Balkon, wird 1½ Stunden lang ausschließlich<br />

durch das Orchester erzählt, man könnte schon sagen „gesungen“.<br />

So kannten wir Roméo et Juliette nur als Orchester-Konzert ohne Sänger.<br />

Das Stück beginnt mit einem „Prolog“ eines Mezzosoprans, der uns die<br />

Vorgeschichte erzählt, und endet mit einem „Finale“, in dem ein Bass-Bariton<br />

berichtet, was danach noch alles passiert ist. Diese Rollen wurden<br />

schlicht atemberaubend gut gesungen durch Olga Borodina und Evgeny<br />

Nikitin. Jetzt verstand man erst, warum die Uraufführung im kleinen Saal<br />

des Pariser Conservatoire einen so großen Eindruck auf Richard Wagner<br />

gemacht hat: das sind zwei „unendliche Melodien“. Wagner schrieb<br />

in sein Tagebuch: „das ist die Melodie des neunzehnten Jahrhunderts“ und<br />

27 Jahre später schickte er Berlioz eine der ersten Exemplare der Tristan-<br />

Partitur mit der Widmung: „der dankbare Autor von Tristan und Isolde,<br />

dem großen Autor von Roméo et Juliette“. Waldemar Kamer<br />

„Elektra“ – Opéra National de Paris – 24.11. – Ein expressiver<br />

„Stummfilm mit Orchester“<br />

(wie in Carsens Jenůfa). Alle Kostüme von Vazul Matusz sind schwarz,<br />

eine Art Einheitstunika. Alle sind barfuss. Nur Orest – er kommt von<br />

außen – trägt Schuhe und nur Ägist und Klytämnestra sind in Weiß. Sie<br />

wird im schillernden Abendkleid auf einem weißen Bett getragen, im gleichen<br />

Kreis wie kurz davor die nackte Leiche des Agamemnon. Wie für<br />

den Sacre du Printemps von Pina Bausch, wird die archaische Geschichte<br />

mit Kreisen erzählt, in der sehr gut ausgearbeiteten Choreographie von<br />

Philippe Giraudeau – vielleicht das Hervorragendste dieser Inszenierung.<br />

Und wie alle großen Regisseure braucht Robert Carsen weder modernste<br />

Technik noch tausend kleine Firlefanzen: außer dem Beil gibt es<br />

keine einzige Requisite.<br />

Philippe Jordan steigt mit dem Orchestre de l’Opéra National de Paris<br />

voll in dieses raue Konzept ein und spielt eine packende „Elektra“, die einem<br />

wirklich unter die Haut geht. So hat Strauss die Oper auch orchestriert:<br />

das Kraftzentrum kommt aus dem Graben. Doch bei zu viel Kraft<br />

hört man die Sänger nicht mehr und mutiert die Oper zu einem „Stummfilm<br />

mit Orchesterbegleitung“ – wie vor drei Jahren bei den Salzburger Festspielen.<br />

Wie damals mit Daniele Gatti & den Wiener Philharmonikern,<br />

konnte ich diesmal die Sänger einfach nicht hören. Und wenn man sogar<br />

Waltraud Meier auf der ersten Reihe des ersten Balkons – eigentlich der<br />

sängerfreundlichste Platz in der Opéra Bastille – nicht hören kann, dann<br />

liegt es nicht an ihr, sondern an der Akustik, an der Balance mit dem riesigen<br />

Orchester. Es ist in diesem Kontext müßig, darüber zu spekulieren,<br />

warum Irène Theorin an diesem Abend nicht die Elektra sang – die Oper<br />

verweigerte jeglichen Kommentar zu den verschiedensten Gerüchten, die<br />

schon im Vorfeld kursierten. Auch zu ihrer Einspringerin Caroline Whisnant<br />

können wir nur sagen, dass sie ihre Rolle offensichtlich beherrschte.<br />

Aber auch wenn sie mit einer so erfahrenen Sängerin wie Ricarda Merbeth<br />

(Chrysothemis) vor dem Portal stand, kamen ihre Stimmen nicht<br />

über den Graben. <strong>Der</strong> Einzige, dem das gelang, war Evgeny Nikitin als<br />

Orest, der den Rächer auch fulminant gespielt hat und den größten Applaus<br />

bekam. So wurde auch dieser „Stummfilm mit Orchester“ ein wirklich<br />

packender Abend. <br />

Waldemar Kamer<br />

Nizza: „DER FREISCHÜTZ“ – Opéra de Nice – Pr.<br />

17.11. – Auf der Höllentreppe…<br />

Waltraud Meyer als Klytemnästra (beide © Charles Duprat)<br />

Manchmal sitzt man im Saal, sieht auf die Bühne, aber sieht in Gedanken<br />

einen anderen Ort – und hat den Eindruck, dass auch die Sänger in Gedanken<br />

dort sind. Elf Tage nach dem Begräbnis von Patrice Chéreau, an<br />

dem sie zwei Wesendonck-Lieder gesungen hat, war Waltraud Meier wieder<br />

Klytemnästra – nun aber ohne ihren „Lieblingsregisseur“. Die Elektra<br />

von Chéreau wurde diesen Sommer in Aix-en-Provence durch Kritik<br />

und Publikum einstimmig als ein „ganz großer Wurf“ bejubelt und ausführlich<br />

durch Klaus Billand besprochen („Grandiose Chéreau-Inszenierung“<br />

im <strong>Merker</strong> 8+9/2013). Es war also nicht leicht, sich auf eine <strong>neue</strong><br />

Interpretation des Stückes einzulassen.<br />

Doch die Inszenierung von Robert Carsen ist so radikal anders und so gelungen,<br />

dass sie einen wirklich zu fesseln wusste. Gegensätzlicher könnte<br />

man kaum an das Stück herangehen. Chéreau in feinster Psychologie:<br />

jede Figur kommt zu ihrem Recht, niemand ist nur „gut“ oder, vor allem<br />

„nur böse“. Bei Carsen dagegen radikales Schwarz/Weiß, kaum individuelle<br />

Psychologie, sondern ein archaisches Todes-Ritual, dem sich niemand<br />

entziehen kann.<br />

<strong>Der</strong> dunkle Burghof von Michael Levine ist umgeben von fensterlosen<br />

Steinmauern, ohne Tür und ohne Hoffnung, in dem alle Protagonisten<br />

eingesperrt sind. Nur braune, schwere Erde, unter der eine Leiche liegt<br />

Auf dem geschlossenen Vorhang ist eine Inschrift zu lesen – zwei Zeilen<br />

aus dem Text des Eremiten, auf Französisch. Im Deutschen heißt der Text<br />

„Ist’s recht, auf einer Kugel Lauf/zwei edler Herzen Glück zu setzen?“ den<br />

unteren Rand der Bühne ziert eine Art Stillleben von Kanonen, Kriegsgerät<br />

und Gerippen. Wenn sich der Vorhang hebt, sieht man eine riesige<br />

Treppe, die sich über die ganze Bühnenbreite erstreckt (Inszenierung<br />

und Beleuchtung: Guy Montavon, Bühnenbild: Peter Sykora). Liebe<br />

und Tod also als Hauptmotiv, auf der Treppe des Lebens bewegen sich<br />

die Menschen ihrem Schicksal gemäß auf und ab. Manche bewegen sich<br />

nur im oberen Drittel oder steigen zu lichten Höhen empor, andere steigen<br />

immer tiefer hinab bis zum „Höllenschlund“, der „Wolfsschlucht“,<br />

dem Reich des Bösen.<br />

Die Oper spielt nach dem Ende des 30-jährigen Krieges. Man glaubt an<br />

den Teufel, an Geister, Gespenster, an Hexerei, der Tod ist immer nahe<br />

– und die Angst. Die Romantik hat all dies zu ihrem Thema gemacht, in<br />

Deutschland, in England, in ganz Europa. Als Carl Maria von Weber zusammen<br />

mit seinem Textbuchautor Johann Friedrich Kind nach einem<br />

Sujet für eine <strong>neue</strong> Oper suchte, fanden sie 1810 die kürzlich erschiene<br />

Sammlung von Spukgeschichten unter dem Titel „Gespensterbuch“ von<br />

August Apel und Friedrich Schulze, deren erste Geschichte „<strong>Der</strong> Freischütz“<br />

ihnen als Opernstoff geeignet schien. In enger Zusammenarbeit<br />

mit Weber schrieb Kind das Libretto. Am 18.6.1821 wurde der „Freischütz“<br />

im Königlichen Schauspielhaus in Berlin mit großem Erfolg uraufgeführt<br />

und gilt seither als d i e deutsche romantische Oper schlechthin.<br />

Was wir aber sahen und hörten, war – französisch, obwohl in der heutigen<br />

Zeit jede Opernproduktion in Originalsprache dem Publikum dargeboten<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 79


Europa<br />

wird. Wir hörten die französische Fassung (oder „Bearbeitung“) durch<br />

den französischen Komponisten Hector Berlioz. Eine geplante französische<br />

Aufführung des „Freischütz“ in der Grand Opéra de Paris drohte<br />

1841 daran zu scheitern, dass die Oper mit ihren gesprochenen Dialogen<br />

zwischen den Gesangstexten im französischen Sinn eine „Opéra comique“<br />

ist, die Konventionen der „Grand Opéra“ dagegen fordern, dass jedes<br />

Wort der „tragédie lyrique“ gesungen wird, wie Hector Berlioz in seinen<br />

„Mémoires“ schreibt. Daher habe er den Auftrag angenommen, zusammen<br />

mit Emilien Pacini, der eine <strong>neue</strong> Übersetzung erstellte, eine Neufassung<br />

der Oper zu machen, wobei er alle gesprochenen Dialoge durch<br />

neu komponierte Rezitative ersetzte. Ein weiterer Grund für seine Mitarbeit<br />

war seine Wut über die Verstümmelung und Verfälschung der von<br />

Castil-Blaze erstellten und 1824 am Pariser Théatre de l’Odéon aufgeführten;<br />

französischen Bearbeitung des Freischütz unter dem irreführenden<br />

Titel „Robin de Bois“, die zuerst vom Publikum ausgebuht wurde,<br />

„<strong>Der</strong> Freischütz“ auf der Freitreppe (© Opéra de Nice/Jaussein)<br />

dann aber als „komische“ Oper einen riesigen Erfolg hatte. Außer den Rezitativen<br />

forderte die Tradition der „Grand Opéra“ auch ein Ballett – dafür<br />

diente Webers „Aufforderung zum Tanz“, die von Hector Berlioz arrangiert<br />

und orchestriert wurde.<br />

<strong>Der</strong> „Freischütz“ muss die Lieblingsoper meiner Eltern gewesen sein, denn<br />

ich erinnere mich heute an alle Texte und Melodien, ich bin sozusagen<br />

mit dem Wald, den mein Vater so liebte und in den er mich immer wieder<br />

führte, und mit der Oper, die den Wald verherrlicht, aufgewachsen.<br />

So saß ich etwas ratlos vor der großen, mit einer Art Moosteppich bedeckten<br />

Treppe, die mein geliebter „Wald“ sein sollte, und alle mir so vertrauten<br />

Arientexte hörten sich auf Französisch ganz anders an, es fehlte der<br />

„Schwung“, der Rhythmus der deutschen Verse, die „Natürlichkeit“. Das<br />

wie immer hervorragend spielende Orchestre philharmonique unter seinem<br />

Chef Philippe Auguin, der sich bemühte, die jeweils auf einem anderen<br />

entfernten Punkt der Treppe agierenden Sänger im Auge zu behalten,<br />

taten ihr Bestes. <strong>Der</strong> riesige Chor der Opéra de Nice, wieder hervorragend<br />

einstudiert von Giulio Magnanini), war malerisch über die Länge<br />

und Breite der Treppe verteilt, man sah jeden einzelnen Sänger, sie sangen<br />

sehr exakt und trugen blau-grüne Jägerkleidung, manche Lederhosen<br />

(Kostüme: Pierre Albert). In der Mitte wurde der „Meisterschütze“ Kilian<br />

(der Bassist Richard Rittelmann) gefeiert. Inzwischen erschien der etwas<br />

füllige Max, dargestellt von Bernhard Berchtold, in der linken obersten<br />

Ecke der Treppe, in einen langen blaugrünen Mantel gekleidet. (Da ist er<br />

noch einer von den „Guten“). Langsam steigt er die Treppe herab, in der<br />

Mitte angelangt, wird er von seinen Kumpanen ausgespottet. <strong>Der</strong> Förster<br />

Kuno (Stephen Bronk) erklärt ihm, dass er ihm seine ihm versprochene<br />

Tochter Agathe nicht zur Frau geben könne, wenn er am nächsten<br />

Tag beim „Probeschuss“ nicht trifft. So bewegt sich der verzweifelte<br />

Max immer weiter abwärts auf der Treppe, bis er auch von seinem Jägergefährten<br />

Kaspar (hier „Gaspard“ – dargestellt vom in Nizza geborenen<br />

und am Conservatoire de Nice ausgebildeten Franck Ferrari, dem Liebling<br />

des Publikums); verspottet wird, auf der Treppe fällt und von der Fußspitze<br />

des bösen Kaspar noch ein paar Stufen weiter nach unten befördert<br />

wird, sodass er sich schon im Bereich des „Bösen“ befindet und der Versuchung<br />

erliegt, eine ihm von Kaspar geliehene „Freikugel“ zu probieren,<br />

mit der er einen Adler erlegt. Diesen bringt er in der nächsten Szene seiner<br />

Braut Agathe (Claudia Sorokina), die ihn bereits sehnlich erwartet,<br />

zusammen mit ihrer Kusine Ännchen (Hélène Corre, ausgebildet in Paris<br />

und Wien, die zu Recht schon einen gewissen Bekanntheitsgrad hat<br />

und demnächst wieder in Nizza in „Semele“zu sehen sein wird). Für die<br />

Szenen im Forsthaus wurde eine Art von aus Latten gebautem Vogelhaus<br />

vor die Treppe gehängt, in dem die Mädchen an einem Tisch sitzen, aber<br />

jederzeit nach links oder rechts auf die Treppe treten können. Gesanglich<br />

stellen diese Partien den Höhepunkt der Oper dar. Die beiden Sängerinnen<br />

meistern mit Leichtigkeit alle Schwierigkeiten, auch die Szenen mit<br />

Max sind harmonisch ausgewogen.<br />

Eine große Enttäuschung war für mich die Wolfsschlucht. Über die ganze<br />

Treppe verteilte Fackelträger vor dunklem Hintergrund, sodass man nur<br />

die flackernden Lichter sah, hatte beim ersten Anblick schon etwas Unheimliches.<br />

Als dann die Lichter verlöschten, war der Zauber vorbei. Das<br />

Gewitter war mager, ein paar Blitze, ein bisschen Donner, auch die Musik<br />

schien uninspiriert, das „Gruseln“ wollte sich nicht einstellen. Das „Bleigießen“<br />

am Fuße der Treppe erinnerte mich an Silvester, nur gab es da<br />

mehr Krach. Am Ende hatte Max vier Freikugeln und Kaspar drei, die er<br />

schleunigst verschießen musste, damit Max, der zwei Kugeln bereits verschossen<br />

hatte, für den Preis-Schuss nur mehr die siebte, die Teufelskugel<br />

übrig hatte. – In der 3. Szene des 3. Aktes füllt sich die Treppe wieder.<br />

Die Jäger sitzen in mehreren Reihen nebeneinander auf der Treppe, halten<br />

ein Bierkrügel in der Hand und bewegen es im Takt des Liedes „Was<br />

gleicht wohl auf Erden dem Jägervergnügen“ hin und her und zum Mund<br />

– so stellen sich die Franzosen die Deutschen beim Biertrinken vor (das<br />

Stück wurde auch zum 60. Jubiläum der „Jumelage“ Nizza-Nürnberg<br />

auf den Spielplan gesetzt!) Da kann man nur wegschauen. Dann kommt<br />

mehr oder weniger stückgemäß der Fürst Ottokar (Lionel Lhote) und<br />

der Probeschuss, bei dem zuerst Agathe auf die Treppe sinkt, dann sieht<br />

man Kaspar auf der Treppe, der im Sterben noch eine Weile singt und den<br />

Himmel verflucht, worauf Agathe wieder aufsteht, Max seine Verfehlung<br />

beichtet und der Eremit (Thomas Dear) von ganz oben die Treppe herabsteigt<br />

und alles zum Guten wendet.<br />

<strong>Der</strong> Applaus ist nicht überwältigend. Edith Mrazek-Sommer<br />

Monte-Carlo: „DAS RHEINGOLD“ – Pr. 19.11.<br />

In einer an Feierlichkeit kaum zu überbietenden Gala im Forum Grimaldi<br />

am Strand von Monte-Carlo fand zu Ehren seiner Durchlaucht<br />

Fürst Albert II. von Monaco am Monegassischen Nationalfeiertag die<br />

Premiere des „Rheingold“ der Opéra de Monte-Carlo statt. Fürst Albert<br />

II. erlebte sie mit seiner Frau Charlene und seiner Schwester Caroline<br />

von Hannover in der Fürstenloge.<br />

<strong>Der</strong> Generaldirektor der Opéra de Monte-Carlo, Jean-Louis Grinda, inszenierte<br />

selbst und hielt sich eng an Wagners Regieanweisungen, womit<br />

er in den von Rudy Sabougni bisweilen sehr subtil und imaginativ wirkenden<br />

Bühnenbildern ebenso fantasievolle wie einnehmende Momente<br />

erreichte. Hier ging es einmal nicht um einen <strong>neue</strong>n Deutungsversuch,<br />

bzw. einen Neudeutungsversuch. Das Regieteam wollte ganz offensichtlich<br />

die Geschichte erzählen. Dabei sollte man auch bedenken, dass das<br />

monegassische Publikum nicht allzu oft mit „Ring“-Inszenierungen in Berührung<br />

kommt, wenn es zu diesem Zweck nicht weite Reisen auf sich<br />

80 | DER NEUE MERKER 12/2013


Europa<br />

nehmen will – abgesehen vom nahen Nizza, welches vor Jahren einmal<br />

eine „Walküre“ aus Toulouse zeigte.<br />

Die dramaturgisch in diesem „Rheingold“ besonders effektvoll eingesetzte<br />

Lichtregie von Laurant Castaingt trug erheblich zur allgemein<br />

ansprechenden Optik bei. Schon zu den ersten Takten des Es-Dur Vorspiels<br />

wurde man von einem magischen, sich langsam nach oben öffnenden<br />

Lichtbogen verzaubert, der die Rheinszene in lichtem Grün mit den<br />

auf- und abschwebenden Rheintöchtern freigab, als fände das alles wirklich<br />

unter Wasser statt. Das war zwar konventionell, aber mit den modernen<br />

Mitteln der heutigen Theatertechnik raffiniert und ungemein suggestiv<br />

gemacht. Ähnliches Flair strahlte auch die Szene auf Bergeshöhen<br />

aus, zu der man mit geschickter theatralischer Suggestion aus dem Wasser<br />

regelrecht in höchste Höhen hinaufgeführt wurde und die schließlich<br />

auf der Wasseroberfläche des Rheins spielt („Falsch und feig, was dort oben<br />

sich freut…“). Hinter einem rechteckigen Gerüst, wohl noch die Bauphase<br />

der Burg andeutend, gewahrte man schemenhaft eine riesige Burg, ohne<br />

dass dies auch nur ansatzweise kitschig wirkte. Im Finale wurde ein riesiger<br />

Stahlbogen herunter gelassen, auf dem die Götter gemächlich – und<br />

man glaubt es kaum – auch in den Regenbogenfarben gen Walhall schreiten.<br />

Dazu bemühte Grinda immer wieder den ebenso alten wie bewährten<br />

Bühnennebel… Reizvoll war auch, wie über der Szene – „Das Rheingold“<br />

spielt sich ja bekanntlich an einem einzigen Tag ab – langsam aber<br />

sicher die Sonne aufgeht.<br />

Das durchwegs gefällige Bühnenbild mit seinen zeitweise faszinierenden<br />

Verwandlungen bei ständig offenem Vorhang hätte dramaturgisch allerdings<br />

weitaus intensiver gewirkt, wenn Grinda mehr Wert auf eine intensivere<br />

Personenregie gelegt hätte. Hier haperte es. Bisweilen musste man<br />

gar Rampensingen ertragen. Sicher ließe sich hiermit das Geschehen auf<br />

der Bühne noch erheblich intensivieren. Zuviel Statik schadet sogar auch<br />

dem an sich äußerst lebhaften „Rheingold“. Das übertriebene Gegacker der<br />

Rheintöchter war jedenfalls keine Alternative. Auch die Goldgewinnung<br />

Alberichs lief zu unspektakulär ab – es fehlte einfach der letzte Biss! Und<br />

seine Verwandlungskünste hielten sich auch in engen Grenzen. Dafür waren<br />

die eleganten und akzentuiert auf Noblesse gestylten sowie absolut geschmacksicheren<br />

Kostüme von Jorge Jara ein Blickpunkt der Produktion.<br />

Egils Silins sang einen klangvollen Wotan, und es scheint, als habe sein<br />

edler Bassbariton bei weiterhin sehr guter Höhe etwas an Tiefe gewonnen.<br />

Sicher zählt er mittlerweile zu den besten Rollenvertretern des Wotan<br />

und Wanderer. Aber auch bei ihm hätte etwas mehr Engagement im<br />

Spiel gut getan. Andreas Conrad sang mit seinem kernigen, sicher geführten<br />

Tenor einen agilen Loge. Rodolphe Briand war ein ausgezeichneter<br />

Mime mit Charakterfach-Qualität und bester Diktion. Ganz hervorragend<br />

sang Elzbieta Ardam die Erda mit dramatischem Aplomb und bester<br />

Diktion – eine wirklich große Stimme! Sogar der Froh war mit William<br />

Joyner einmal bestens besetzt. Und die Weimarer Sieglinde sowie<br />

Salome von Monte-Carlo und Genf, Nicola Beller Carbone, war ganz<br />

sicher eine Luxusbesetzung für die Freia. Auch der Fafner von Stehen<br />

Humes konnte mit seinem hellen Bass gefallen. <strong>Der</strong> Donner von Trevor<br />

Scheunemann blieb unauffällig. Die drei Rheintöchter Eleonore Marguerre<br />

(Woglinde), Linda Sommerhage (Wellgunde) und Stine Maria<br />

Fischer (Flosshilde) sangen zwar etwas hell, aber dennoch ansprechend.<br />

Auf der Schattenseite des Sängerensembles standen die Fricka von Natascha<br />

Petrinsky, früher immer eine gute Flosshilde, hier aber mit einem<br />

unüberhörbaren Vibrato. Peter Sidhom war ein immer wieder zu stark<br />

deklamierender Alberich, konnte sich aber im 3. Bild vokal besser präsentieren.<br />

Zum Ende seines Fluches auf den Ring ließ Grinda ihn sich<br />

in ultimativer Verzweiflung das Gesicht aufschneiden – ein dramatischer<br />

Abgang, der jedoch nicht ganz in die allgemeine Ästhetik passte. <strong>Der</strong> Fasolt<br />

von Frode Olsen, seines Zeichens immerhin einmal Wotan, klang<br />

rau und farblos, bei zu wenig Resonanz.<br />

Gianluigi Gelmetti konnte mit dem Philharmonischen Orchester von<br />

Monte-Carlo, welches über keine große Wagner-Erfahrung verfügt, ein<br />

beachtliches musikalisches Ergebnis erzielen. Es entstand im weiten Graben<br />

des Grimaldi-Forums ein weitgehend homogenes und in den entsprechenden<br />

Szenen auch subtiles Klangbild. Es ist zu hoffen, dass der <strong>neue</strong><br />

monegassische „Ring“ weiter geführt wird. <br />

Klaus Billand<br />

Valencia: „DIE WALKÜRE”/„LA TRAVIATA”<br />

Palau de les Arts Reina Sofia 9. u. 10.11.<br />

Hinreißendes Bild in der Tiefe des Rheins mit den Töchtern<br />

(© Opéra de Monte-Carlo)<br />

Walküre-Finale 1.Akt (Siegmund: Nikolai Schukoff, Sieglinde: Jennifer Wilson)<br />

Das von der Finanzkrise stark gebeutelte Opernhaus der spanischen Metropole<br />

setzte zur Eröffnung der diesjährigen Saison, um dem Gedenkjahr<br />

für Verdi und Wagner gerecht zu werden, für den deutschen Komponisten<br />

das populärste Werk der von 2007 bis 2009 erarbeiteten Tetralogie<br />

und für den Italiener die die populäre „Trilogie“ beschließende Oper an,<br />

letztere als Übernahme aus Amsterdam, basierend auf der Originalproduktion<br />

der Salzburger Festspiele.<br />

Die Produktion der Wagner-Oper in der Auslegung der Fura dels Baus<br />

unter Leitung von Carlus Padrissa (s. Besprechung „<strong>Merker</strong>“ 6/2007)<br />

wurde von Allex Aguilera sorgfältig betreut und machte in ihren Bildern<br />

von Hundings roher Behausung über die auf Kränen auf- und niederschwebenden<br />

Götter und Walküren bis zu einem poetisch gelösten Feuerzauber,<br />

bei dem Fackeln von Hand zu Hand gehen, wieder großen Eindruck.<br />

Am allermeisten beeindruckte aber das Orquestra de la Comunitat Valenciana,<br />

das in seinem nicht einmal zehnjährigen Bestehen zu einem<br />

Klangkörper allerersten Ranges geworden ist, der es verdient hat, von Zubin<br />

Mehta nach der Vorstellung auf die Bühne geholt zu werden. Man<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 81


Europa<br />

merkt es dem 77-jährigen Maestro an, welche Liebe er für dieses Orchester<br />

hegt, und gemeinsam zauberten sie eine Musikwelt, wie man sie sich<br />

schöner kaum vorstellen kann. Es standen allerdings auch die geeigneten<br />

Sänger zur Verfügung, um dem Werk den großen Atem einzuhauchen:<br />

Nikolai Schukoff hat nicht die Stimmfülle eines Melchior, aber genügend<br />

Material für beeindruckende Wälserufe und vor allem auch hohe Intelligenz<br />

als Interpret. Sein Siegmund war ganz der sich von seinem Dasein als<br />

„Wehwalt“ befreiende, in der Liebe zu Sieglinde über sich hinauswachsende<br />

Jüngling. Mit Heidi Melton hatte er eine wiederum recht füllige junge<br />

Amerikanerin zur Seite, deren Jubelstimme ideal für die Rolle war und<br />

Großer Jubel für alle und ein Triumph für Mehta und das Orchester.<br />

<strong>Der</strong> unermüdliche Maestro stand auch tags darauf am Pult der bekannten<br />

Produktion von Willy Decker, die hier von der Assistentin des Regisseurs,<br />

Meisje Barbara Hummel, betreut wurde. Die Salzburger Produktion, salopp<br />

als „die mit der Uhr“ bezeichnet, darf als bekannt vorausgesetzt werden,<br />

war sie doch nicht nur im Fernsehen mit der Netrebko, sondern auch<br />

in einer Übertragung aus der Met mit Natalie Dessay im Kino zu sehen.<br />

Für mich ist sie eine der überzeugendsten der letzten Jahre.<br />

Die Titelrolle wurde von der Bulgarin Sonya Yoncheva verkörpert, die<br />

2010 Plácido Domingos Operalia-Bewerb gewonnen und sehr bald eine<br />

internationale Karriere gestartet hatte (vor diesen Vorstellungen war sie<br />

„Lucia“ an der Opéra Bastille). Die Stimme wird technisch sicher und sauber<br />

geführt und hat für Violetta sowohl die Koloratur, als auch das nötige<br />

Gewicht für die lyrischen Stellen; das Timbre könnte eine Spur persönlicher<br />

sein. In der Darstellung ließ sie Netrebko nicht vermissen, denn sie<br />

brachte sowohl die lebenshungrige Halbweltdame als auch die kindlich<br />

Verliebte wie die Todgeweihte schauspielerisch überzeugend zum Ausdruck.<br />

Ihr Alfredo Ivan Magrì überzeugte mit sicherem Höhenstrahl,<br />

aber man hätte sich eine raffiniertere Phrasierung mit mehr Pianosingen<br />

und eine spontanere Darstellung gewünscht. Als Besitzer einer wahrhaft<br />

bedeutenden Baritonstimme erwies sich der junge Simone Piazzola, der<br />

sich auch als technisch versiert und mit großer Präzision singend zeigte.<br />

Allerdings muss er noch lernen, dass man heute bei Applaus nach einer<br />

Arie sich nicht flugs beim Publikum bedankt, und auch beim Schlussvorhang<br />

sollte er sich mehr Kontrolle auferlegen. Cristina Alunno ergänzte als<br />

mitleidige Annina; Maria Kosenkova (Flora), Javier Franco (Douphol)<br />

und Maurizio Lo Piccolo (D’Obigny) hatten bei dieser auf die Personen<br />

als anonyme Masse setzenden Regie keine große Chance, sich zu profilieren.<br />

Die hatte und nützte Luigi Roni als Dr. Grenvil/Tod; unangenehm<br />

fiel hingegen der Tenor von Mario Cerdá (Gaston) auf.<br />

Auch hier leistete das Orquestra de la Comunitat Valenciana unter Zubin<br />

Mehta wieder Großes, unterstützt vom wie immer ausgezeichneten<br />

Cor de la Generalitat Valenciana unter Francesc Perales. Gelobt sei auch<br />

das Ballet de la Generalitat, das die intelligente, fast furchterregende Choreographie<br />

von Athol John Farmer bestens umsetzte.<br />

Viel Jubel und Applaus auch an diesem Abend. <br />

Eva Pleus<br />

Kommt einem bekannt vor, die Dekoration ist von der Salzburger Willy-<br />

Decker-Inszenierung der gefeierten Traviata (© Tato Bareza)<br />

für die Zukunft noch einiges verspricht. Einen furchterregenden Hunding<br />

sang mit schwarzem Bass Stephen Milling. In Thomas Johannes Mayer<br />

fand sich ein interessanter, leicht aufbrausender Wotan, der weniger göttlich<br />

war als viele seiner Vorgänger, aber gerade deshalb berührte. Als authentischer<br />

Bariton tat er sich ein wenig schwer mit den Tiefen der Rolle,<br />

doch war seine Leistung insgesamt exzellent. Seine Fricka wurde von Elisabeth<br />

Kulman mit nicht ausladendem, aber gut tragendem Mezzo und<br />

einer schönen Dosis Ironie gesungen. Jennifer Wilson wiederholte ihre<br />

gesanglich untadelige Brünnhilde, der man etwas mehr Beweglichkeit gewünscht<br />

hätte (darin fand sie durch die scheußlichen Kostüme von Chu<br />

Uroz allerdings keine Unterstützung). Die Walküren Eugenia Bethencourt,<br />

Bernadette Flaitz, Julia Borchert, Pilar Vázquez, Julia Rutigliano,<br />

Patrizia Scivoletto, Nadine Weissmann und Gemma Coma-Alabert<br />

seien für ihr vokales und szenisches Engagement bedankt.<br />

Bilbao: „RIGOLETTO“ –<br />

Palacio Euskalduna Jauregia, 28.10.<br />

Es ist eigentlich erstaunlich, dass das, was das große Barcelona nicht zuwege<br />

brachte, das kleinere Bilbao schaffte: nämlich im Rahmen der 62. Spielzeit<br />

der Asociación Bilbaina de Amigos de la Ópera (ABAO) einen szenischen<br />

„Rigoletto“ auf die Bühne zu stellen. Wobei allerdings in diesem<br />

Zusammenhang fairerweise zu erwähnen ist, dass im Baskenland in einer<br />

Saison wesentlich weniger Vorstellungen geboten werden als in Katalonien.<br />

Leider war die Inszenierung Emilio Sagi, dem Direktor des Teatro Arriaga<br />

in Bilbao total misslungen, und erinnerte (auch) in ihrer Szenerie<br />

(Ricardo Sánchez Cuerda) fatal an die 1989 in Wien herausgekommene,<br />

verunglückte „Forza“-Inszenierung von Giancarlo del Monaco. Somit hässlich,<br />

unromantisch sowie unbequem für die Sänger und fast keine logisch<br />

aufgebaute, emotional glaubhafte Personenführung (Leiterin der Wiederaufnahme<br />

dieser Coproduktion mit dem Teatro Nacional São Carlos de<br />

Lisboa und Choreografie: Nuria Castejón). Die Kostüme von Miguel<br />

Crespí waren von unterschiedlicher optischer Qualität.<br />

Da der ursprünglich engagierte Daniel Oren auf vertragsbrüchige Weise<br />

einem Engagement in Japan den Vorzug gab, kam Miguel Ángel Gómez<br />

Martínez zum Zug, dessen Interpretation sicherlich mehr Zugkraft und<br />

Schlüssigkeit besaß, als jene von Oren gehabt hätte. Außerdem dirigierte<br />

er sehr sängerfreundlich und ließ alle Effekte bereitwillig zu. Das Bilbao<br />

Orkestra Sinfonikoa bot eine gediegene Leistung.<br />

Ismael Jordi verkörperte einen eleganten Duca. Man kann über das Timbre<br />

seines Tenors geteilter Meinung sein, aber wie er die Partie sang und<br />

auch in dem szenischen Torso verkörperte, das war schon erstklassig. Elena<br />

82 | DER NEUE MERKER 12/2013


Europa<br />

Mosuc debütierte in Bilbao und errang mit ihrer schönen und warmstimmigen<br />

Gilda einen großen Erfolg. Und dann agierte da noch Leo Nucci,<br />

welcher den Rigoletto in dieser Stadt (doch auf einer anderen Bühne) bereits<br />

1984 gesungen hatte, und der im April 2014 in Wien den 500.(!)<br />

Rigoletto seiner Karriere singen wird. Er war in großer Form angetreten<br />

und ließ mit langem Atem und wunderbar modulierten Phrasen Verdi<br />

ganz zu seinem Recht kommen. Dass seine acuti sensationell kamen und<br />

er als Charakter berührte, machte das Glück vollkommen.<br />

Felipe Bou, dessen Wien-Debüt 2008 als Don Basilio keinerlei Folgen<br />

nach sich zog, sang einen großartigen, markigen Sparafucile, wie man ihn<br />

heute kaum mehr zu hören bekommt. Statt der bei einem Sturz verletzten<br />

María José Montiel wurde die Maddalena von Iryna Zhytynska verkörpert.<br />

Die junge Ukrainerin verpatzte stimmlich nichts, blieb aber eher<br />

farblos. Mehr vermochte sie mit ihrem sexy Gehabe und ihren schönen<br />

Beinen als mit ihrem Gesang zu gefallen.<br />

<strong>Der</strong> Rest (Eduardo Ituarte als Borsa, José Antonio García als Monterone,<br />

Javier Galán als Marullo etc.) war einerseits nicht besonders, störte<br />

andererseits allerdings nicht, und der von Boris Dujin geleitete Coro de<br />

Ópera de Bilbao sang solide.<br />

Obwohl das Publikum von Bilbao bekanntermaßen applausfaul ist, war<br />

der Jubel nach den Aktenden doch sehr stark und zog nach dem 2. Akt<br />

sogar ein bis der „vendetta“ nach sich! <br />

Gerhard Ottinger<br />

Amsterdam: „GÖTTERDÄMMERUNG“ –<br />

WA 17.11.<br />

Mit der WA der „Götterdämmerung“ in Amsterdam aus dem Jahre 1998<br />

bewies Regisseur Pierre Audi einmal mehr, welch fantasievolles und spannungsgeladenes<br />

Wagner-Musiktheater man mit technisch neuartigen Mitteln<br />

machen kann, wenn sie sich in den Dienst der Werkaussage stellen<br />

und kein Eigenleben entwickeln, wie beispielsweise bei Peter Hall in<br />

London oder der mittlerweile schon leidig gewordenen<br />

machine von Robert Lepage an der<br />

Met. Mit der Einbettung des Orchesters in das<br />

Geschehen auf einer riesigen Ring-Bühne aus<br />

Holz und einer monumentalen Ausgestaltung<br />

des Bühnenraumes bis in höchste Höhen und<br />

Weiten, sowie den stilvoll asiatisch angehauchten<br />

Kostümen erreicht diese Produktion eine optische<br />

Dimension und Wirkung, die auch heute<br />

noch ihresgleichen suchen. Das Regiekonzept<br />

von Audi und seinem Dramaturgen Klaus Bertisch,<br />

dem Bühnenbildner George Tsypin (der<br />

2003 auch den gelungenen „ossetischen“ „Ring“<br />

in St. Petersburg ausstattete), mit den Kostümen<br />

der (bereits verstorbenen) Kostümbildnerin Eiko<br />

Ishioka und ihres Kollegen Robby Duiveman,<br />

dem Lichtdesign von Wolfgang Goebbel und<br />

Cor van den Brink sowie den Videos von Maarten<br />

van der Put konnte das Amsterdamer Publikum<br />

auch nach so langer Zeit an diesem Abend<br />

wieder begeistern.<br />

erzielen, wenn das Regieteam nicht eine ausgezeichnete Personenregie entwickelt<br />

hätte. Wie schon in der „Walküre“ im vergangenen April wirkt sie<br />

auch in der „Götterdämmerung“ nach 15 Jahren noch völlig frisch. Audi<br />

zitiert bei allem zeitlosen und klar konturierten Design mit einem relativ<br />

hohen Abstraktionsgrad immer wieder den Wagnerschen Mythos, ohne<br />

den jeder „Ring“ eigentlich blass bleiben muss.<br />

Schon der Prolog mit den Nornen hat mythische Dimensionen, die eben<br />

auch am besten zur hier erklingenden Musik passen. Sie tragen ein großes<br />

Auge auf dem Rücken, sehen also, wie Wagner es schreibt, in die Vergangenheit.<br />

Ein riesiger Balken schwebt über der Szene wie ein drohendes Damoklesschwert.<br />

Später wird er mit einigen anderen als Teil der Gibichungenhalle<br />

spektakulär Feuer fangen. Die Gibichungenszene findet durch<br />

die Bewegung der Figuren auf dem Bühnen-Ring bisweilen nahe am Parkettpublikum<br />

statt. Auch die Rheintöchter werden später hier – ebenso<br />

wie immer wieder Hagen mit seinem beängstigend wirkenden Speer aus<br />

Aluminium – direkt vor das Publikum treten. Das schafft dramaturgisch,<br />

aber auch vokal, große Direktheit im Erleben des Geschehens und damit<br />

– trotz einer gewissen Bombastik der Produktion – intime Nähe. Dieser<br />

„Ring“ ist gewissermaßen mitten unter uns und geht uns folgerichtig alle<br />

an. Mythisch verbrämt läuft auch die Nachtszene zwischen Hagen und<br />

Alberich im 2. Aufzug ab, der schließlich im Boden versinkt. Die Mannen<br />

wirken mit ihren Masken und irdenen Farben wie die große Terracotta-Armee<br />

des ersten chinesischen Kaisers Qín Shihuángdì bei der alten<br />

Kaiserstadt Xi´an. Sogar ihre versteinerte Choreografie legte diese Assoziation<br />

nahe. Hinsichtlich ihrer Funktion in der „Götterdämmerung“<br />

machte das durchaus Sinn und harmonierte bestens mit der asiatischen<br />

Ästhetik der Kostüme. Berührend gestalten Audi und sein Team Siegfrieds<br />

Sterbeszene, in der Brünnhilde in tiefem Schwarz zu ihm tritt und<br />

nach seinem Tod zum Trauermarsch selbst verzweifelt zusammenbricht.<br />

Nachdem sie in einem wallenden roten Tuch den symbolischen Feuertod<br />

erlitten hat, nehmen die Rheintöchter den Ring zurück und versenken<br />

Dieser „Ring“ spielt auf einer riesigen Holzscheibe,<br />

die stark zum Parkett hin geneigt ist und<br />

nicht nur eine interessante Choreografie (Amir<br />

Hosseinpour) sondern auch effektvolle Auf- und Abgänge ermöglicht.<br />

Das Orchester und der Dirigent sind allzeit sichtbar und werden so zum<br />

integralen Bestandteil der Produktion. Sie stören in keiner Weise den dramaturgischen<br />

Ablauf um sie herum. Es wirkt optisch wie musikalisch in<br />

der Tat wie das vom Komponisten gewünschte Gesamtkunstwerk. Regiekonzept,<br />

Bühnenbild, Kostüme und Choreografie, sowie die immer wieder<br />

faszinierend Stimmungen und Situationen intensivierende Lichtregie<br />

würden aber nicht die schon allein theatralisch beeindruckende Wirkung<br />

Die Götterdämmerung-Inszene (© Marco Borggreve)<br />

Hagen im Bühnenboden. Oben zertrümmert eine riesige Lanze die Bühnendecke<br />

und lässt Walhall explodieren. Ein eindrucksvolles Untergangsspektakel<br />

läuft ab, an dessen Ende das Rheingold in seinen aus Maschinenelementen<br />

bestehenden Einzelteilen wieder am Bühnenhintergrund<br />

erscheint. Das Spiel kann von Neuem beginnen.<br />

Auch vokal war diese Amsterdamer „Götterdämmerung“ ein wahres Erlebnis.<br />

Die <strong>neue</strong> Bayreuther Brünnhilde, Catherine Foster, präsentierte<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 83


Europa<br />

sich in Topform und war stimmlich wie darstellerisch ungemein präsent.<br />

Fast meinte man, sie sei vokal nach Bayreuth noch dramatischer geworden.<br />

Immer wieder berührte sie auch darstellerisch mit ihrer natürlichen,<br />

niemals übertriebenen Mimik. Stephen Gould als Siegfried befindet sich<br />

momentan ganz offenbar auf der Höhe seiner Wagnerschen Gesangskunst.<br />

<strong>Der</strong> Rezensent hat ihn noch nie in dieser Qualität gehört, und zwar in jeder<br />

Hinsicht: Heldentenoraler Glanz, Höhensicherheit, stimmlicher Ausdruck,<br />

Diktion und Phrasierung, aber auch feines Legato, wo erforderlich –<br />

und dazu noch ein enormes Maß an Emotionalität in der Darstellung, die<br />

stets das Menschliche in den Vordergrund stellt. Das war schlicht derzeitige<br />

Weltklasse. Offenbar arbeitet Gould seit einiger Zeit mit einem <strong>neue</strong>n Vocal<br />

Coach zusammen. Man kann sich nur freuen, diesen Siegfried momentan<br />

erleben zu können und auf seinen Tristan 2015 in Bayreuth gespannt sein.<br />

Daneben war Alejandro Marco-Buhrmester wie gewohnt ein stimmlich<br />

exzellenter Gunther mit lyrischem und stets gesangsbetontem Timbre. Er<br />

spielte auch die ganze Tragik dieser undankbaren Rolle aus. Astrid Weber<br />

als Gutrune konnte hingegen nur mit ihrer klangvollen Mittellage überzeugen,<br />

in der Höhe neigte ihr Sopran zu einigen Schärfen. Kurt Rydl<br />

war ein immer noch imposanter Hagen, wenngleich man aus rein gesanglicher<br />

Perspektive mittlerweile doch erhebliche Abstriche machen muss.<br />

Aber Rydl liegt der Hagen, er ist ihm im wahrsten Sinne des Wortes auf<br />

den Bauch geschrieben, denn dessen Blöße war hier den ganzen Abend zu<br />

sehen. Und er spielte gekonnt seine ganze Routine bei dieser so lange Jahre<br />

gesungenen Partie aus. Auch wenn Rydls profunder Bass oft zur Deklamation<br />

tendiert, ist er mit seiner schieren vokalen Kraft nahezu omnipotent<br />

und Angst einflößend – der notwendige und passende Gegenpol zu einem<br />

an diesem Abend zu erlebenden starken Siegfried. Werner Van Mechelen<br />

sang einen eindrucksvollen Alberich mit bester Höhe, perfekter Wortdeutlichkeit<br />

und intensiver Darstellung. Michaela Schuster gab wieder einmal<br />

die Waltraute mit viel Engagement, aber nicht immer ganz sitzenden Spitzentönen.<br />

Das Nornen-Terzett aus Nicole Piccolomini (Erste Norn), Barbara<br />

Senator (Zweite Norn) und Astrid Weber (Dritte Norn) sang überzeugend.<br />

Die nicht nur durch ihre nixenhaft erotisch anziehenden Kostüme<br />

attraktiv wirkenden Rheintöchter wurden von Machteld Baumans (Woglinde),<br />

Barbara Senator (Wellgunde) und Bettina Ranch (Flosshilde) mit<br />

klangvollen und kräftigen Stimmen gesungen. <strong>Der</strong> von Eberhard Friedrich<br />

(ja, dem Bayreuther Chordirektor!) einstudierte Chor der Niederländischen<br />

Oper agierte mit großer Intensität auf höchstem vokalen Nivau.<br />

Hartmut Haenchen stellte mit dem Niederländischen Philharmonischen Orchester<br />

einmal mehr unter Beweis, dass er zu den profiliertesten Wagner-Dirigenten<br />

unserer Tage gehört. Er dokumentierte seine große Affinität für Wagners<br />

Musik und leitete das Orchester mit viel Verve und Impetus. Dies war eine<br />

musikalische Darbietung von Festspielniveau. Alles stimmte, die Dynamik, die<br />

Rücksicht auf die SängerInnen und die Harmonie zwischen Musik und dem<br />

Bühnengeschehen, was umso nachvollziehbar gelang, als beide gewissermaßen<br />

auf Augenhöhe nebeneinander agierten. Und die Blechbläser waren, nicht zuletzt<br />

mit perfekten Hornrufen im 3. Aufzug, in Topform – sicher auch Ausdruck<br />

des allgemein feststellbaren hohen Begeisterungsgrades aller Musiker dieses<br />

hervorragenden Klangkörpers. Es war ein Fest – ein Fest der Sinne…! Die<br />

Niederländische Oper hat mit diesem sehenswerten „Ring“ dem Bayreuther<br />

Meister in seinem Jubiläumsjahr standesgemäß die Ehre erwiesen. Klaus Billand<br />

London:<br />

English National Opera: “THE MAGIC FLUTE” – 7.11.<br />

Simon McBurney, director of Complicite, an innovative theatre company<br />

of a distinguished 30 years activity, launched this production last<br />

year in the Netherlands with success. Something must have been lost in<br />

its London appearance, providing an un-magical and colourless evening.<br />

The acting area, designer Michael Levine, is mostly a suspended platform,<br />

the scenery either drawn or modelled in a booth to the left of the<br />

stage and projected onto the acting area, the Speaker (Sprecher) nearly<br />

invisible behind the gauzes, although the water trial was nicely achieved<br />

by flying the two singers behind a water projection, video by Finn Ross.<br />

Costumes by Nicky Gillibrand did little to enliven the scene, a drab grey<br />

for the chorus, and little colour elsewhere. Lots of dialogue, in translation<br />

by Stephen Jeffreys neither poetic nor colloquial, amplified from a booth<br />

to the right against a sound-track of birdsong for Papageno and imposing<br />

crashes of the temple doors, proved a complete mis-match for the live<br />

natural and modest sound from most of the singers, sound design Gareth<br />

Fry. The whole was rendered difficult for conductor Gergely Madaras<br />

by having the orchestra raised to near stage level, with the ensuing<br />

problems of orchestral balance and caring for the voices. The flute and<br />

bells were handed down to be played when appropriate in the orchestra.<br />

Ben Johnson gave a solidly sung Tamino, his Pamina Devon Guthrie light<br />

of voice but rising well enough to her key moments. The usually admirable<br />

Roland Wood found little fun in Papageno, until joined by Mary Bevan’s<br />

sparky Papagena. Cornelia Gotz had the spitzentone for the Queen,<br />

but little lower down the stave (she suffered most with the comparison of<br />

her amplified dialogue). James Creswell was wary of his lower tones, Steven<br />

Page’s Speaker hampered by the production and Brian Galliford an<br />

unpleasing Monostatos in all respects. The Ladies in army fatigues were<br />

squally, the Boys, here emaciated little old men, excellent. Stephen Mead<br />

Istanbul:<br />

Das Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra<br />

spielt Wagner – 7.11.<br />

Das war ein ganz besonderer Tag bzw. Abend in der Geschichte der Wagner-Rezeption<br />

in der Türkei: Zum ersten Mal überhaupt wurden Auszüge<br />

aus seinem „Ring des Nibelungen“ konzertant mit Singstimmen in einem<br />

öffentlichen Konzert gegeben, und zwar vom renommierten Borusan<br />

Istanbul Philharmonic Orchestra in Istanbul. Das von dem in der<br />

Erdöl- und Autoindustrie tätigen privaten türkischen Konzern Borusan<br />

im Rahmen seines Borusan Culture and Arts Programms finanzierte Orchester<br />

feiert in diesem Jahr sein 15jähriges Bestehen. Es steht unter der<br />

Leitung des Künstlerischen Direktors und Chefdirigenten Sascha Goetzel<br />

und gab vor 15 Jahren sein erstes Konzert im Yildice Palace Arsenal<br />

unter der Leitung von Gürer Aykal, der heute sein Ehrendirigent ist.<br />

Aykal, überwiegend in den USA musikalisch tätig, leitete auch dieses erste<br />

ausschließlich Wagners „Ring“ gewidmete Konzert mit zwei Solisten der<br />

Staatsoper Istanbul im modernen, fast 2.000 Plätze und sehr gut besetzten<br />

Anadolu Auditorium von Istanbul. Natürlich stand dieses Konzert<br />

im Zusammenhang mit Wagners 200. Geburtstag. Gürer Aykal ließ in einem<br />

Interview im Rahmen der Proben jedoch erkennen, dass er ein großer<br />

Verehrer der Wagnerschen Musik ist und es ihm ein ganz besonderes Anliegen<br />

war, diese in der Türkei noch nie öffentlich aufgeführten Auszüge<br />

aus dem „Ring“ einmal einem größeren Publikum vorzustellen, und zwar<br />

in chronologischer Reihenfolge von „Rheingold“ bis „Götterdämmerung“.<br />

So kam es zu einer ganz und gar ungewöhnlichen Rollenverteilung insbesondere<br />

für Ünüsan Kuloglu, einem in der Türkei und auch in Westeuropa<br />

tätigen Heldentenor, den der Rezensent bereits 2012 im anatolischen<br />

Aspendos als Tannhäuser in einer Peter Lehmann Produktion und diesen<br />

Sommer beim Meisterkurs von Petra Lang in Bayreuth erleben konnte,<br />

sowie dem Bassisten Tunkay Kurtoglu. Beide bestritten den vokalen Teil.<br />

So sang Kuloglu zunächst den Loge mit „Immer ist Undank Loges<br />

Lohn…“, dann Siegmund mit den Wälse-Rufen, um darauf mit „Winterstürme<br />

wichen dem Wonnemond“ und der Schwertgewinnung „Siegmund<br />

heiß ich und Siegmund bin ich…“ zu begeistern. Nach der Pause<br />

ging es für ihn mit dem „Siegfried“-Mime (!) in der Wissenswette weiter,<br />

gefolgt von „Nothung, Nothung! Neidliches Schwert!“ und den Schmiedeliedern<br />

„Hoho! Hoho! Hohei! Schmiede, mein Hammer, ein hartes<br />

Schwert!“. Kuloglu kam schließlich mit „Brünnhilde, heilige Braut“ ans<br />

Ende dieses „Ring“-Tenor Parforce-Ritts, der wohl seinesgleichen sucht…<br />

84 | DER NEUE MERKER 12/2013


Europa<br />

Tunkay Kurtoglu begann mit dem Wotan-Monolog. Abendlich strahlt der<br />

Sonne Auge“ und sang daraufhin Wotans Abschied. Nach der Pause gab<br />

er den Wanderer in der komplett gesungenen Wissenswette und schlüpfte<br />

schließlich in die Rolle des Hagen mit dessen Wacht.<br />

Den Loge singt Kuloglu mit viel tenoralem Schmelz und Farbe – gut gelingen<br />

die langen Bögen der Erzählung. Kräftig und dramatisch ertönen seine<br />

Wälse-Rufe, während er bei den „Winterstürmen“ die ganze Emotionalität<br />

und Lyrik dieses Liebeslieds entfaltet. Stets merkt man bei Kuloglu, der auch<br />

sehr gut deutsch spricht, dass er weiß, was er singt. Obwohl der Mime kaum<br />

seine Lage ist, beeindruckt, wie sehr er in der Wissenswette seine Wandlungsfähigkeit<br />

vom strahlenden Helden zum hadernden kleinlichen Zwerg unter<br />

Beweis stellt. Lediglich zu Beginn verfällt er hier in etwas zu starkes Deklamieren,<br />

sicher dem speziellen Ausdruck des Mime geschuldet. Kuloglu bringt aber<br />

starke schauspielerische Elemente in den Vortrag ein. „Nothung! Nothung!<br />

Neidliches Schwert!“ gelingt dann wieder sehr expressiv mit blendender heldentenoraler<br />

Höhe, und bei den Schmiedeliedern zeigt er viel Lebhaftigkeit<br />

im stimmlichen und spielerischen Ausdruck. Das Finale mit Siegfrieds Tod<br />

gerät Kuloglu berührend und wird mit seiner gefühlvollen, lyrisch timbrierten<br />

Phrasierung zu einem der Höhepunkte des Abends.<br />

Tunkay Kurtoglu, den der Rezensent noch im vergangenen Juli beim Istanbul<br />

Opernfestival am Tokapi als Osmin in der „Entführung“ erleben konnte,<br />

singt den Wotan mit einer vornehmlich gesanglichen Note mit seinem farbigen<br />

Bassbariton, mit dem der Sänger bestens intoniert und phrasiert. Was<br />

eventuell hier und da an Dramatik im stimmlichen Ausdruck fehlt, wird<br />

überzeugend durch die gesangliche Linienführung mit großer Wärme im<br />

Stimmklang wettgemacht. Dazu kommt auch viel Würde im Vortrag, die<br />

Kurtoglu besonders als Wanderer zugutekommt, wo er die geforderten langen<br />

Bögen klangvoll und souverän intoniert. Es ergibt sich damit ein auch<br />

dramaturgisch überzeugender Kontrast zwischen seinem Wanderer und dem<br />

Mime von Kuloglu in der Wissenswette. Als Hagen kann Kurtoglu schließlich<br />

seine profunde und dennoch klanglich stets überzeugende Tiefe ausloten<br />

und der düsteren Wacht emotionale Facetten abgewinnen. Beide Sänger<br />

haben ganz offenbar ein riesiges Potenzial für Wagner-Gesang.<br />

Gürer Aykal führte die Qualitäten des Borusan Istanbul Philharmonic<br />

Orchestra auch noch in zwei rein konzertanten Stücken vor, und zwar mit<br />

„Siegfrieds Rheinfahrt“ und dem Trauermarsch aus der „Götterdämmerung“.<br />

Wie gut das Ensemble diese Orchesterzwischenstücke spielte, wenn<br />

man von einigen kleineren Unebenheiten einmal absehen will, ist umso verwunderlicher,<br />

als man für das ganze Konzert lediglich drei Probentage hatte!<br />

Leider konnte man keine Wagnertuben bekommen, was der Begeisterung<br />

der ganz überwiegend sehr jungen Musiker aber keinen Abbruch tat. Was<br />

Aykal dieses Konzert bedeutete, offenbarte er in einem kurzen Moment des<br />

Innehaltens, in dem er sich zum überraschten Publikum wandte und sagte:<br />

„Ich danke Ihnen, dass Sie heute Abend hier sind und diese Musik hören. Das<br />

ist sehr wichtig für uns!“ Wer die Lage der Oper in der Türkei kennt, wusste<br />

wie das gemeint war… Ein denkwürdiges Konzert! Klaus Billand<br />

Interview mit Maestro Gürer Aykal,<br />

Ehrendirigent des Borusan Istanbul Philharmonic<br />

Orchestra – 6.11.<br />

Anlässlich meiner Einladung zu diesem Konzert führte ich ein Interview<br />

mit seinem Ehrendirigent Gürer Aykal. Das renommierte Orchester feiert<br />

in diesem Jahr sein 15jähriges Bestehen. Es gab vor 15 Jahren sein erstes<br />

Konzert im Yildice Palace Arsenal unter der Leitung von Aykal, der dem<br />

Ensemble seither auf engste Weise verbunden ist und in dieser Zeit viele<br />

junge Musiker gefördert hat. (Siehe auch die Rezension in diesem Heft).<br />

Die Idee des Interviews war es, mit Maestro Aykal über die derzeitige Situation<br />

der Oper in der Türkei zu sprechen. Man muss das auch vor dem<br />

Hintergrund sehen, dass die vor Leben nur so sprudelnde, fast 15 Millionen-Metropole<br />

Istanbul lediglich ein kleines altes Musiktheater aus dem<br />

Jahre 1927, im Jahre 2007 als Opernhaus wiedereröffnet, auf der asiatischen<br />

Seite Üsküdar im Stadtteil Kadikoy besitzt, das Kadikoy Süreyya<br />

Opernhaus. Es hat gerade einmal 570 Plätze, führt aber von Oktober bis<br />

Mai ein recht interessantes Programm auf. Das große Istanbuler Opernhaus<br />

der Istanbul Staatsoper und Staatsballett mit über 1.300 Plätzen<br />

liegt seit Jahren als Bauruine in der Nähe des Taksim-Platzes. Es gibt offenbar<br />

keine konkrete staatliche Initiative oder Unterstützung, das Haus<br />

wieder herzustellen und damit ein der Größe der Stadt entsprechendes<br />

Opernhaus zu realisieren.<br />

So wird das Interview mit Gürer Aykal schnell zu einem Plädoyer für die<br />

Förderung der Oper in der Türkei. Er holt hierfür zu einem hochinteressanten<br />

historischen Diskurs aus. Als Mustafa Kemal, Staatsgründer der<br />

heutigen Türkei, der 1934 vom türkischen Parlament den Nachnamen<br />

Atatürk (Vater der Türken) erhielt, im Jahre 1913 an der osmanischen<br />

Botschaft in Bulgarien als Militärattaché akkreditiert war, erlebte er an<br />

der Nationaloper von Sofia zum ersten Mal eine Oper. Er soll so beeindruckt<br />

von der Qualität der Aufführung gewesen sein, dass er verstanden<br />

haben will, warum die Türkei die Schlacht am Balkan verloren habe. Er<br />

plante für den Fall der Gründung der Türkischen Republik, die bekanntlich<br />

im Oktober 1923 erfolgte, eine unmittelbar sich anschließende Revolution<br />

der Kunst in der Türkei. Bereits im Jahre 1924 verlegte Mustafa<br />

Kemal das bestehende Orchester vom Serail/Topkapi in Istanbul nach Ankara<br />

mit der Verpflichtung, ab nun für die Öffentlichkeit Konzerte zu veranstalten.<br />

Er nannte das Orchester in „Präsidiales Symphonieorchester“<br />

um, um ihm so größere Aufmerksamkeit und Bedeutung zu verleihen.<br />

Dann gründete Mustafa Kemal eine Schule für die Ausbildung von Musiklehrern.<br />

Dazu kamen auch bekannte deutsche Musiker ins Land, im<br />

Wesentlichen vor 1936, unter anderen auch Wilhelm Furtwängler. Sie<br />

zogen andere Musiker nach, wie Paul Hindemith oder Carl Ebert, der<br />

1939 kam und in leitender Position an der Gründung des Konservatoriums<br />

und der Oper in Ankara beteiligt war. All das spielte sich nun in Ankara,<br />

der Hauptstadt und dem politischen Zentrum des Landes, ab. Mit<br />

dem Brustton der Überzeugung meint Gürer Aykal: „If a nation does not<br />

have any relation to art the main vessel is corrupted!“<br />

In derselben Zeit bat Mustafa Kemal alle Musiker, die daran Interesse hatten,<br />

nach Anatolien zu gehen und die Volksmusik aufzunehmen und sie<br />

mit den modernsten Mitteln der Kompositionstechnik niederzuschreiben.<br />

Komponisten wie A. A. Saygun, U. C. Erkin und sogar Bela Bartók<br />

gingen auf diese Wiese nach Anatolien. Ziel war es, der Welt das Potenzial<br />

der türkischen Folklore bekannt zu machen. Im Zuge dieser von<br />

Kemal eingeleiteten Revolution der Kunst beauftragte er A. A. Saygun,<br />

die erste türkische Oper zu komponieren. Er lud den Schah von Persien<br />

zur Uraufführung ein, auch um die guten Beziehungen zwischen Persien<br />

und der Türkei zu dokumentieren. Da war am 18. Juni 1934. <strong>Der</strong> Schah<br />

war äußerst beeindruckt, zumal sie in Persien keine Oper hatten. Kemal<br />

Mustafa soll ihm daraufhin sinngemäß gesagt haben: „<strong>Der</strong> Unterschied<br />

von einem Land zum anderen liegt in seiner Sensibilität für Musik, welche<br />

es zu einem entwickelten Land macht – (im emotionalen Sinne).“ Atatürk<br />

ließ in der Folge türkische Musik komponieren und forderte die Leute auf,<br />

auch die traditionelle Musik weiter zu entwickeln, sich dabei aber nicht<br />

zu wiederholen. Das brachte ihm offenbar auch Sympathieverluste ein.<br />

„Nach Atatürks Tod im Jahre 1938 versuchten einige seiner Gegner, die<br />

Kunstrevolution sofort zurück zu drehen“, kommentiert Gürer Aykal mit<br />

einem Gesichtsausdruck größter Besorgnis und fügt hinzu, dass heute eine<br />

Auffassung bestehe, dass Oper, Ballett und andere Theaterformen nicht<br />

zur Lebensweise der Türkei passen. „All the art people try to fight back and<br />

many people help them in this. Let us recall that Atatürk gave voting rights<br />

to women before Finland and Switzerland. We have to work towards this<br />

direction to join the European Union – via music.” Gürer Aykal sieht sich<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 85


Europa<br />

ganz offen als Vorkämpfer für die kulturelle und völkerverbindende Rolle<br />

der klassischen Musik in der Türkei. Dies wurde auch mit seinem Kommentar<br />

zum Publikum während des Wagner-Konzerts des Borusan Istanbul<br />

Philharmonic Orchestra im Anadolu Auditorium tags darauf deutlich…<br />

Dieses Orchester hat laut Aykal aber ein treues und zahlreiches Publikum,<br />

nicht zuletzt wegen seiner hohen musikalischen Qualität und der<br />

interessanten Programme. In der Saison 2013-2014 wird man von Oktober<br />

2013 bis Mai 2014 insgesamt 13 Konzerte geben und im Dezember<br />

2013 ein Beethoven-Festival – unter anderen mit Rudolf Buchbinder,<br />

der alle Klavier-Sonaten spielen wird. In der Konzertreihe kamen bzw.<br />

kommen Größen wie Roberto Alagna, Murray Perahia, Alexander Gavrylyuk,<br />

Markus Schirmer et al. sowie der Salzburg Bach Chor nach Istanbul.<br />

Allgemein gibt es in der Türkei sechs Opern-Ensembles, die derzeit<br />

im Schnitt jede Woche etwa drei Opern und ein Ballett aufführen, i. e.<br />

Ankara, Antalya, Istanbul, Izmir, Mersin und Samsun.<br />

(Das Interview wurde auf Englisch und teilweise Türkisch mit Dolmetschung<br />

geführt). <br />

Klaus Billand<br />

Kiew: „MADAMA BUTTERFLY“ – Taras Shevchenko<br />

Ukraine National Opera Kiew 1.11.<br />

Die Geburtsstunde der Kiewer Oper war das Jahr 1867. Das alte hölzerne<br />

Opernhaus brannte jedoch schon 1896 ab und so wurde in den Jahren 1898<br />

bis 1901 ein <strong>neue</strong>s steinernes Stadttheater nach den Plänen des deutsch-baltischen<br />

Baumeisters Viktor Schröter (1839-1901) in einer Mischung aus<br />

Barock und Neuromantik und einer prächtig verzierten Fassade im Stil der<br />

Neorenaissance errichtet. 1897 erhielt Schröters Arbeit in einem internationalen<br />

Wettbewerb den 1. Preis. Seit 1939 trägt das Opernhaus den Namen<br />

des bedeutendsten ukrainischen Lyrikers, Taras Shevchenko (1814-1861),<br />

dessen Büste über dem Eingang angebracht ist. 1988 wurde das Theater renoviert<br />

und nun finden bis zu 1650 Besucher auf fünf Rängen Platz.<br />

Von den Eintrittspreisen kann man hier zu Lande nur träumen. Die teuerste<br />

Karte kostet 200 Griwna (etwa 21 Euro), die billigste 10 Griwna<br />

(etwa 1,10 Euro). Das reich bebilderte Programmheft 10 Griwna. Allerdings<br />

sind die Namen der Mitwirkenden nur in ukrainischer Sprache<br />

angeführt, weshalb ich gleich vorweg Abbitte für etwaige Fehler in der<br />

Transkription leisten möchte. Dafür findet sich aber eine englische Inhaltangabe<br />

für ausländische, des Werkes unkundige Besucher. Und oberhalb<br />

der Bühne rechts werden ukrainische Übertitel eingeblendet. Gespielt<br />

wurde die dreiaktige Fassung in italienischer Sprache. Beginn ist um 19<br />

Uhr. Und die letzten Besucher betreten noch etwa 25 Minuten nach Beginn<br />

der Vorstellung ungeniert den Zuschauerraum.<br />

Mir wurde erklärt, dass viele Besucher aus den Vororten kommen würden und<br />

im Stau steckten. Außerdem würde ein Arbeitgeber sie wegen eines Theaterbesuches<br />

nicht früher entlassen. Ich wollte dieses Problem nicht weiter vertiefen.<br />

Andere Länder, andere Sitten. Überraschend aber die Begeisterungsfähigkeit<br />

des Publikums. Da wurde bereits nach dem Liebesduett „Vogliatemi bene,<br />

un bene piccolino“ im 1.Akt heftig applaudiert und Bravo gerufen. Und auch<br />

die Arie „Un bel di vedremo“, die den Höhepunkt des 2. Aktes bildet, und in<br />

der sich Butterfly die lang ersehnte Rückkehr ihres Ehemannes ausmalt, rief<br />

einen Begeisterungssturm hervor und ließ so manches Auge feucht werden.<br />

Puccini ist nicht umsonst ein Meister tränenreicher Melodien.<br />

Im Programmheft findet sich leider keinerlei Hinweis, aus welchem Jahr<br />

die vorliegende Inszenierung stammt. Das Bühnenbild ist japanisch historisierend<br />

mit einem Pavillon zur rechten und einer kleinen stegartigen<br />

Brücke zur Linken. Als Regisseurin scheint Irina Molostowa auf.<br />

Aus dem Orchestergraben drang ein schwelgerischer Puccini-Sound, der,<br />

mit reichlichem Schmelz versehen, die Zuschauer und den Rezensenten<br />

begeisterte. Verantwortlich für diesen in musikalischer Hinsicht gelungenen<br />

Abend war entweder Oleg Rjabow oder Olexander Barwinsky -<br />

das Programmheft nennt zwei Dirigenten, die offenbar alternierend die<br />

musikalische Leitung haben,<br />

Mag man auch bekritteln, dass die Chorsänger japanisch gekleidet, aber keineswegs<br />

solcherart geschminkt waren, so gebührt dem Chorleiter Lew Wenediktow<br />

doch großes Lob für die gute Einstudierung. Natürlich werden Puristen<br />

an der italienischen Aussprache hie und da mäkeln, wenn aber an der Wiener<br />

Volksoper deutsch gesungen wird, ergeht es uns Muttersprachlern ähnlich.<br />

Das Programmheft nennt alle Künstler, die in den jeweiligen Rollen besetzt<br />

werden, und – dankenswerter Weise werden die Protagonisten des<br />

jeweiligen Abends mit einem Haken angekreuzt. Da ich die Künstler<br />

nicht kenne, muss ich mich in meinem Bericht auf die Richtigkeit der<br />

Angaben verlassen.<br />

In Tetjana Charausowa stand eine äußerst dramatische Cho-Cho-San,<br />

Geishamädchen im Haus von Marineoffizier Pinkerton in Nagasaki, auf<br />

der Bühne. Berührend einfühlsam gestaltete sie den Wandel von der naiven<br />

Geisha, die an einen Aufstieg durch die Ehe mit dem Amerikaner<br />

glaubt, bis zur bitteren Erkenntnis, dass er bereits mit einer anderen verheiratet<br />

ist und nur deshalb zurückgekehrte, um ihr beider Kind in eine<br />

gesicherte Heimat nach Amerika zu bringen. Mit ihrem wohl timbrierten<br />

Sopran gelangen ihr sowohl die zärtlich-lyrischen Phrasen als auch<br />

die dramatischen Ausbrüche. Brava! Auch die Suzuki von Natalja Kisla<br />

gefiel mit warmem Mezzosopran als aufopfernde und mitfühlende Dienerin,<br />

ebenso Ljudmila Zigan als zickige Kate Pinkerton.<br />

Weniger gefielen die Männer: Bei Andrij Romanenko als Pinkerton hatte<br />

man den Eindruck eher einen Kapitän als einen einfachen Marineleutnant<br />

der „Abraham Lincoln“ vor sich zu haben. Sein Gesang ließ zu Beginn auch<br />

keinerlei Italianità bemerken. Zu hart und schlampig wurden manche Worte<br />

ausgesprochen. Im 3. Akt steigerte er sich aber überraschender Weise, sang<br />

wie ausgewechselt und erhielt dafür auch verdienten Szenenapplaus. Konsul<br />

Sharpless wurde rollengerecht von Dmitro Grischin dargeboten. An seiner<br />

flapsigen italienischen Aussprache sollte aber auch Ruslan Tanskij als<br />

Heiratsvermittler Goro arbeiten. Darstellerisch machte er aber mit seiner<br />

Komik einiges wett. Prinz Yamadori war mit Wjatscheslaw Bassir sowohl<br />

im Auftreten als auch im Aussehen und Gesang äußerst würdevoll besetzt.<br />

Wahrlich furchterregend verfluchte Sergij Skubak als Onkel Bonze seine<br />

Nichte wegen ihres Übertritts zum christlichen Glauben. Die kleine Rolle<br />

des kaiserlichen Kommissärs erfüllte Igor Mokrenko zufriedenstellend.<br />

Auffallend an dieser Inszenierung war für mich vor allem das Finale: Als<br />

sich Butterfly mit ihrer Todesarie „Con onor muore“ hinter einem Paravent<br />

tötet und diesen umreißend schließlich tot nach vorne fällt, eilt ihr<br />

Sohn, nach dem dreimaligen „Butterfly-Ruf“ von Pinkerton, schutzsuchend<br />

in die Arme seines Vaters, den er ja eigentlich persönlich noch<br />

gar nicht kennt. Von wem die Kostüme und das Bühnenbild stammen,<br />

konnte dem ukrainischen Programmheft leider nicht entnommen werden.<br />

Ausgiebiger Applaus beendete einen gelungenen Opernabend in einem<br />

architektonisch wunderschönen Theatergebäude. Harald Lacina<br />

„CARMEN“ – 2.11. (Pr. 28.12.2001)<br />

Es ist Samstag 19 Uhr und diesmal ist das Haus fast bis auf den letzten<br />

Sitzplatz ausverkauft. Niemand kam zu spät. Das Orchester wurde diesmal<br />

von einer blonden attraktiven Dirigentin mit so viel Elan geleitet, dass ich<br />

sie zunächst für eine Französin hielt. Doch ein Blick ins Programmheft belehrte<br />

mich eines Besseren. Alla Kulbaba riss das Publikum zu solchen Begeisterungsstürmen<br />

hin, dass bereits nach dem schnellen 1. Teil der Ouvertüre<br />

applaudiert wurde. Ich saß in der ersten Reihe und konnte beobachten,<br />

dass die Dirigentin auch den Text mit den Lippen formte. <strong>Der</strong> französische<br />

Text war Letztendes aber auch die Crux des Abends. Offenbar gibt es<br />

keinen Sprachcoach an der Kiewer Oper und so wurde das französische<br />

„u“ nicht wie ein deutsches „ü“, sondern stets wie ein „ou“ ausgesprochen.<br />

Den besten Eindruck hinterließ für mich der glockenhelle Sopran der Micaëla<br />

von Tetjana Ganina. Sie könnte mit ihrer ausdrucksstarken, gut geführten<br />

Stimme jederzeit auf den großen Bühnen der Welt Furore machen.<br />

Es war eine Überraschung, ein solches Talent in Kiew zu erleben. Brava!<br />

Tetjana Piminowa erinnerte mit ihrer dunklen Stimme und im Aussehen<br />

ein wenig an Agnes Baltsa in ihrer Paraderolle als Carmen. Sie bewies auch<br />

ein großes tänzerisches Talent und bewegte sich mit wiegenden Schritten<br />

über die Bühne, wenn sie Don José umgarnte oder für ihn bei Lillas Pastia<br />

tanzte. Die Kastagnetten zu diesem Tanz wurden allerdings von einem<br />

86 | DER NEUE MERKER 12/2013


Europa<br />

Orchestermusiker gespielt. Prächtig anzuhören und anzusehen waren auch<br />

Switlana Godlewska als Frasquita und Lesja Aleksejewa als Mercédes.<br />

<strong>Der</strong> Don José von Oleg Filipenko hatte leider mehrmals Textprobleme<br />

und ließ im Lillas Pastia Bild sogar eine ganze Zeile aus. Die Stimme<br />

wurde in der Höhe auch immer verquollener und heiser, sodass er im<br />

3. Akt als indisponiert entschuldigt wurde und stattdessen Sergiu Skotscheljas<br />

als rasend eifersüchtiger abgehalfteter Sergeant einsprang und<br />

die Vorstellung rettete.<br />

Das Quintett von Carmen, Mercédes, Frasquita, Dancaïre und Remendado<br />

wurde auch besonders heftig mit Beifall akklamiert. Zu diesem Erfolg trugen<br />

neben den erwähnten Zigeunerinnen noch die beiden Schmuggler Oleksandr<br />

Bojko als Dancaïre mit behäbigem Bariton und Juri Awramtschuk<br />

als Remendado mit tenoralem Glanz nicht unwesentlich bei. Igor Jewdokimenko<br />

war ein schneidiger Torero mit schmetterndem Bariton. Kein Wunder,<br />

dass sich die rassige Carmen durch sein schneidiges Auftreten angezogen<br />

fühlte. Wasily Kolibabjuk stattete seinen Leutnant Zuniga mit einem<br />

profunden, durchdringenden Bass aus und Michailo Kirischew ergänzte<br />

das Ensemble als Sergeant Moralès mit solidem Bariton.<br />

Alle Sänger boten ihre jeweiligen Rollen mit Emphase dar. Von einem derart<br />

schwungvoll aus dem Orchestergraben erklingenden Bizet ließen sich<br />

die Künstler hörbar mitreißen.<br />

Als Regisseur nennt das Programmheft Dmitro Gnatjuk, der mit seiner<br />

stringenten Personenführung spanisches Flair lebendig werden ließ,<br />

wozu die prächtigen Kostüme von Ganna Schatjewa einen nicht unwesentlichen<br />

Anteil hatten.<br />

Zum großen Erfolg dieses Abends trug aber auch der von Anatolij Sementschuk<br />

bestens einstudierte Chor der Zigarettenarbeiterinnen bei.<br />

Ansprechend waren auch die Bühnenbilder. So sieht man im 1. Akt im<br />

Hintergrund den Hafen des Guadalquivir von Sevilla. Die Schenke von Lillas<br />

Pastia ist eine typische andalusische Taverne. Das Lager der Schmuggler<br />

in einer gebirgigen Felsschlucht wirkte dann äußerst düster und bedrohlich<br />

und der Platz vor der Arena ließ Letztere im Hintergrund nur vermuten.<br />

Nach dem Austausch des Don José-Sängers war der Abend gerettet und<br />

der Applaus verteilte sich ziemlich gleichmäßig auf alle Beteiligten. Bravorufe<br />

erhielten vor allem die Titelheldin und die Sängerin der Micaëla<br />

sowie die Dirigentin für ihre großartige Leistung. Harald Lacina<br />

MET IM KINO: Glanzlose „TOSCA“ – 9.11.<br />

Wenn das Publikum vor dem 3. Akt „Tosca“ zu flüchten beginnt, dann wird<br />

klar: Auch an der Met wird fallweise mit Wasser gekocht. Es beginnt bei der<br />

Inszenierung durch Luc Bondy (Bühne: Richard Peduzzi/Kostüme: Milena<br />

Canonero) – das Premierenpublikum buhte vehement. Geblieben ist<br />

die Kargheit einer norddeutschen Ziegelbau-Kirche, die sich im 2. Akt in<br />

ein Hinterhof-Bordell verwandelt. Nur die Engelsburg erzeugt so etwas wie<br />

Puccini-Stimmung. Aber auch der Dirigent des Abends, Riccardo Frizza,<br />

trägt samt dem Orchester der Metropolitan Opera Mitschuld am glanzlosen<br />

Output dieser Übertragung aus dem Lincoln-Center. Da auch die<br />

Sängerin der Titelpartie überfordert wirkte, verstärkte sich dieser Gesamteindruck.<br />

Patricia Racette hat eine typische US-Lokal-Karriere hinter sich.<br />

Seit Mitte der 90er-Jahre ist sie als Mimi und Alice, als Musetta oder als<br />

Butterfly an allen wichtigen amerikanischen Häusern erfolgreich engagiert.<br />

Bei der Tosca stößt sie an ihre vokalen wie schauspielerischen Grenzen. Bei<br />

den Ausbrüchen beginnt die Stimme zu „schlagen“, das Gebet wird zum<br />

„Hindernislauf“ und die Fernsehkameras entlarven eine seltsame Gleichgültigkeit<br />

gegenüber den Folter-Schreien. Auch das Verhältnis zu Scarpia<br />

ist eindimensional. Dabei sollte es auch zwischen diesen beiden „knistern“<br />

– blanke Ablehnung ist zu wenig. Allerdings ist der großgewachsene Georgier<br />

Georg Gagnidze in dieser Inszenierung ein echtes Scheusal. Brutal,<br />

sadistisch, aber auch eindimensional ist sein Scarpia.<br />

Die Lichtgestalt der Vorstellung war Roberto Alagna als Cavaradossi, der<br />

sich in Höchstform befand. Schon die erste Arie zündete, die „Vittoria!“-<br />

Rufe waren hochdramatisch und im 3. Akt konnte er seine Lyrik voll entfalten.<br />

Da in diesem 3. Akt Patricia Racette auch akustisch freier und gelöster<br />

wirkte, könnte man fast meinen: „Ende gut, alles gut“. Erwähnt<br />

werden sollen übrigens noch Richard Berstein als stimmschöner Cesare<br />

Angelotti. John Del Carlo ist ein zu wenig komischer Mesner, Edoardo<br />

Valdes ein prägnanter Spoletta.<br />

Bei der nächsten Übertragung mit „Falstaff“ wird James Levine (mit Rollstuhl)<br />

ans Pult des Met-Orchesters zurückkehren. Er fehlt wirklich – nicht<br />

nur bei dieser glanzlosen „Tosca“. Peter Dusek<br />

BUCH / Oliver Hilmes: LUDWIG II. –<br />

<strong>Der</strong> unzeitgemäße König. Verlag Siedler 2013<br />

Wer dieser Neupublikation eine brisante Neuigkeit über den mysteriösen Tod des<br />

Bayernkönigs zu entnehmen hofft, der muss enttäuscht werden. Denn da gibt’s<br />

nichts Neues zu berichten. Das Ende des Königs fällt bei den rund 400 Seiten<br />

auch etwas sparsam aus. Dagegen nicht der Weg zum tragischen Ende des Bayern-Königs.<br />

Oliver Hilmes, der uns schon viele gutare Biographien (etwa Alma<br />

Mahler, Cosima Wagner) beschert hat, konnte in bisher unzugänglichen Archiven<br />

stöbern und bisher ungesichtetes Material sichten. Egal, was nun wirklich<br />

entdeckt und was bekannt war und was auch bereits in verschiedenen Büchern<br />

von andern Autoren über den Bayernkönig publiziert wurde - Hilmes hat ein<br />

spannendes, gut lesbares Buch geschrieben.<br />

Neben vielen gut recherchierten und verwerteten Fakten schreckt Hilmes auch<br />

nicht davor zurück, Informationsmanki mit seiner eloquenten Fabulierkunst<br />

aufzufüllen. Wenn er etwa schreibt, der Minister hätte beim Lesen eines Briefes<br />

die Stirne gerunzelt, dann ist das einfach herbeifabuliert. Auch lässt sich Hilmes<br />

zu in dieser Form wohl kaum stattgefundenen Dialogszenen hinreißen. Das<br />

hat aber die Wirkung, dass Legenden manchmal wahrer sind als Tatsachen, wie<br />

wir zu wissen glauben. Mit Fingerspitzengefühl schlüsselt Hilmes das Phänomen<br />

Ludwig psychologisch in faszinierender Weise auf. Manchmal verfällt er in<br />

den Plauderton, spinnt manche Hofintrige genüsslich weiter und erreicht so den<br />

steten Fluss eines Lebensromans. Als Roman mit Fakten, wird man wohl dieses<br />

Buch bezeichnen müssen. So kann es gewesen sein und doch auch wieder nicht.<br />

Die Gewichtung der Faktenlage geht mitunter ins Anekdotische, in Hoftratsch,<br />

den Hilmes verschiedenen Hofberichten entnehmen konnte.<br />

Faszinierend zu konstatieren ist, wie sehr der preußische Reichskanzler Otto von<br />

Bismarck in die ganze Geschichte Ludwigs involviert war. Bismarck, ein schlauer<br />

Fuchs, genoss das Vertrauen des Bayernkönigs, konnte ihm so manche Wahrheit<br />

nahebringen, verstand es aber auch, ihm zu schmeicheln. Als es darum ging, dass<br />

Preußen die Kaiserkrone angetragen werden sollte, war es nur einer geschickten<br />

Manipulation Bismarcks zu verdanken, dass er Ludwig dazu bringen konnte,<br />

dies zu tun. Bismarck kannte die Verschwendungssucht des Königs, die in hohe<br />

Ausgaben und letztlich in einen Schuldenberg riesigen Ausmaßes mündete,<br />

und konnte den König dahin lenken, auf die Kaiserkrone für sich zu verzichten<br />

und sie dem preußischen Herrscher anzutragen. Das Mittel dazu hieß „Welfenfonds“,<br />

ein geheimer Fonds von nicht ganz koscherer Herkunft, den Preußen für<br />

Sonderfälle bereithielt. So erhielt der König über 6 Millionen Gulden über die<br />

Zeit seit der Reichsgründung ausbezahlt. Dabei legt Hilmes Wert auf die Feststellung,<br />

dass Ludwig nicht den Staat Bayern, sondern sich selbst im Rahmen<br />

seiner Privatschatulle, der sogenannten Zivilliste, verschuldete. Schließlich war<br />

König Ludwig nicht mehr als der Repräsentant einer konstitutionellen, parlamentarischen<br />

Monarchie, als der offizielle Etat schon längst von der Privatschatulle<br />

des König getrennt war. Als Ludwig immer mehr in die Schuldenspirale<br />

geriet und sein mehr als sonderbares Verhalten die Runde machte – entlassene<br />

Diener und andere Hofschranzen berichteten gerne in der Stadt von den Extravaganzen<br />

des unsichtbaren Königs - , sahen sich die Politiker veranlasst, diesen<br />

„Verleumdungen“ letztlich durch die Absetzung des Königs ein Ende zu setzen,<br />

da er als nicht mehr tragbar erschien. <strong>Der</strong> Arzt Dr. von Gudden, der ironischerweise<br />

von Ludwig selbst für die Pflege seines verwirrten Bruders Otto engagiert<br />

worden war, war nun das Instrument der Politiker, über Ludwig ein Gefälligkeits-Gutachten<br />

auszustellen, damit der König entmündigt und nach Schloss<br />

Berg gebracht werden konnte. Dr. van Gudden war einer der Mitbegründer der<br />

Psychiatrischen Klinik Burghölzli in Zürich, eine der modernsten Kliniken zu<br />

dieser Zeit. Dass er ein Gutachten von Ludwig verfasste, ohne den König je untersucht<br />

zu haben, wirft ein mehr als sonderbares Licht auf das ganze Verfahren<br />

um die Entmündigung und Absetzung des Königs.<br />

Hilmes zieht das doch letzlich erfreuliche Fazit, dass Richard Wagner ohne des Königs<br />

immerwährende Hilfe wohl kaum zu dieser Vollendung in seinem Werk und<br />

den Bayreuther Festspielen gelangt wäre. Und dies auch trotz der Entzweiung der<br />

beiden Freunde wegen der leidigen Affäre um die noch mit Bülow verehelichte Cosima.<br />

Auch sind die Königsschlösser zu den ertragreichsten Touristenattraktionen<br />

Bayerns geworden - übrigens gleich nach dem Tod des Königs 1886 wurden sie für<br />

die Öffentlichkeit zugänglich gemacht – und haben dem Freistaat einen wahren Goldesel<br />

beschert. Kein Wunder, dass König Ludwig II. schon wegen seiner stattlichen<br />

Erscheinung, er war 1,91 m groß und sah in seinen jüngeren Jahren blendend aus,<br />

immer noch einen Sonderstatus genießt. John H. Mueller<br />

DER NEUE MERKER 12/2013| 87


Buch/CD<br />

CD / WAGNER AT THE MET<br />

(Box mit 25 dics und 9 Opern) SONY 2013<br />

Die Metropolitan Opera New York erlebte nach dem berühmten „Golden Age“, als<br />

noch Caruso und Rose Ponselle dort auftraten, eine zweite große Epoche in den 30er,<br />

40er Jahren des 20. Jhs. Da wurde die Met ab 1933 zu einem Refugium für vertriebene<br />

und emigrierte Künstler. Doch die Met kam so zu einer Phalanx großer Sänger, die sich<br />

vor allem als Wagner-Interpreten in Europa einen Namen gemacht hatten oder sich<br />

anließen, einen solchen als Wagner-Sänger an der Met zu erwerben. Kirsten Flagstad<br />

hatte in Europa (inkl. Bayreuth) kein besonderes Aufsehen erregt und wollte eigentlich<br />

ihre Karriere beenden. Doch Alexander Kipnis (auf dieser Box leider nicht vertreten!),<br />

ebenfalls ein emigrierter Gurnemanz, Hagen und Hunding von Rang, hatte mir<br />

ihr in Norwegen im „Tristan“ gesungen und sie an die Met empfohlen. Das Vorsingen<br />

fand in der Schweiz in einem von schweren Samtvorhängen dekorierten Hotelzimmer<br />

statt. Dass ihr Debüt zu einer Sensation geriet, wobei die kommentierende Geraldine<br />

Farrar die Flagstad als „A Star is born“ bezeichnete, war eine Überraschung für alle.<br />

Schnell wurde die Flagstad mit Lauritz Melchior zum „Wagner Duo of the Century“.<br />

Davon zeugt die – meines Wissens - bisher unveröffentlichte Aufnahme der „Tristan“-<br />

Aufführung vom 16. April 1938. Diese Met-Matineen, d.h. Aufführungen an Sonntag-Nachmittagen,<br />

wurden von der Petrolfirma Texaco über die Radiostationen in<br />

ganz Amerika verbreitet und trugen so wesentlich zur Popularisierung der Kunstform<br />

Oper bei. Dieser „Tristan“ – es existiert eine ganze Reihe von „Tristan“-Aufnahmen<br />

aus der Met mit Flagstad und Melchior – ist nun ein Zeugnis der beiden Sänger im<br />

absoluten Zenit ihrer stimmlichen Möglichkeiten. Höhenprobleme, die in den späten<br />

Aufnahmen der Flagstad auf LP mitunter festzustellen sind, gibt es hier nicht.<br />

Mit einer Leichtigkeit in der Klanggebung, die in einem silbernen Strahl auf Samt<br />

gebettet ertönt, präsentiert sich die Sängerin hier als ganz große Isolde. Melchior ist<br />

auch ein „tower of strength“, wie die Amerikaner sagen würden, und die Fiebervisionen<br />

des 3. Aktes (allerdings gekürzt) bergen für ihn keinerlei Hindernisse. Artur<br />

Bodanzky war damals der musikalische Leiter des „German Wing“, also für die<br />

deutsche Oper zuständig, und dirigiert einen erstaunlich schlanken, schnellen, aber<br />

nicht überhasteten Wagner. Karin Branzell als volltönende Brangäne und der Bariton<br />

Julius Huehn, der uns auch als hervorragender Wotan noch begegnen wird,<br />

und Emanuel List runden ein fabelhaftes Wagner-Ensemble ab.<br />

Eine herrliche „Walküre“ hören wir mit Marjorie Lawrence als Sieglinde und Melchior<br />

als Siegmund mit ewig langen „Wälse-Rufen“, wiederum Flagstad als tadellose<br />

Brünnhilde und Julius Huehn als jugendlicher, fast modern anmutender Wotan.<br />

Erich Leinsdorf, damals um die dreißig, wirft sich mit Elan in die „Walküre“<br />

und sollte einer der ersten Dirigenten sein, der Wagner an der Met ohne wesentliche<br />

Kürzungen aufführte. Marjorie Lawrence begegnen wir wieder in einer „Götterdämmerung“,<br />

dirigiert von Bodanzky, in der die sportliche Reiterin auf Grane<br />

in die Flammen ritt. Eine Sensation! Tragisch, dass gerade diese Künstlerin am Polio<br />

erkrankte und nur unter Aufbieten all ihrer Kräfte und Energie wieder auftreten<br />

konnte. So wurden Opern für sie eingerichtet, in denen sie sitzend oder liegend singen<br />

konnte: Kundry, Isolde, Venus. Ihrer schlanken, jubelnden Stimme zu lauschen,<br />

ist ein Ereignis. Die Höhen kommen ganz leicht und die Mittellage ist farbig und<br />

warm timbriert. Hören wir auch mal das hohe C‘ von Siegfried im 3. Akt (Jagdszene),<br />

das wohl keiner außer Melchiorso treffsicher und glanzvoll abliefern konnte. Ludwig<br />

Hofmann ist ein gar nicht so finsterer Hagen und Friedrich Schorr, sonst der<br />

Wotan, eine Luxusbesetzung für den Gunther. Das waren noch Zeiten!<br />

Eine weitere Hochdramatische hören wir in Margareth Harshaw, die hier aber „lediglich“<br />

als Elisabeth und „Rheingold“-Fricka zugegen ist, uns aber durch ihre klare Stimme<br />

und technische Überlegenheit in ihren Bann zieht. Erstaunlich bei all den englisch-sprachigen<br />

Sängern (u.a. auch Julius Huehn, Marjorie Lawrence, die ganz junge Astrid Varnay)<br />

ist deren perfekte deutsche Aussprache. Leider fehlt in dieser Box eine Aufnahme<br />

mit der fabelhaften Helen Traubel, die unbedingt in diese repräsentative Sammlung<br />

hinein gehört hatte. Schade, vielleicht gibt’s mal eine spezielle Traubel-Edition.<br />

Die Verbindung zur nächsten Generation, also zu den frühen 50er Jahren, ist hier<br />

auch hergestellt. Das beginnt schon mit einem „Lohengrin“ von 1943, als die 25-jährige<br />

Astrid Varnay die Elsa neben Melchiors Lohengrin war. Sie sang auch, noch<br />

kurz vor ihrem Debüt in Bayreuth, im Dezember 1950 die Senta neben Hans Hotters<br />

Holländer, den Fritz Reiner dirigierte. Nicht zu vergessen: der Heldentenor<br />

Set Svanholm als Erik! In den „Meistersingern von 1953, wiederum unter Reiner,<br />

treffen wir dann auf die junge Victoria de los Angeles, wunderbar lyrisch und aufstrahlend<br />

bei „O Sachs, mein Freund“, mit dem sehr menschlich anrührenden Paul<br />

Schöffler als Sachs und dem seinerzeit am meisten engagierten Stolzing von Hans<br />

Hopf, den wir heute wohl als zu schwer in der Stimme für dieses Fach empfinden,<br />

nachdem wir Windgassen, Kollo und Vogt im Ohr haben. –<br />

So gibt es in jeder dieser 9 Live-Mitschnitte, die hier aus Platzgründen nicht alle besprochen<br />

werden können, immer wieder tolle Entdeckungen zu machen, aber auch festzustellen, dass<br />

auch in den „Golden Age of Wagnerian Singing“ ab und an mit Wasser gekocht wurde.<br />

Die historisch klingenden Aufnahmen wurden von SONY weitgehend entzerrt<br />

und technisch auf den bestmöglichen Stand gebracht. Das Ohr gewöhnt sich nach<br />

ein paar Minuten an den eingeschränkten Klang, Die Box hält als Belohnung<br />

immer wieder kleine Wunder des Wagner-Gesanges bereit! - Nicht nur für Fans<br />

historischen Opernaufnahmen zu empfehlen!<br />

John H. Mueller<br />

Buch / Berlakovich T. (ed.): Welcome, Fanny!<br />

Fanny Elßler in America – Fanny Elßler auf der Spitze<br />

um die Welt. A Viennese dances around the world.<br />

(Hg 2013 im Eigenverlag; ISBN 978-<br />

3-200-03255-2; 140 Seiten, reich bebildert).<br />

Gemeinsam mit Co-Autorin Ursula<br />

Szynkariuk veröffentlicht Toni Berlakovich<br />

anlässlich des 200. Geburtstags<br />

von Fanny Elßler ein er<strong>neue</strong>rtes<br />

und erweitertes Büchlein über die<br />

weltberühmte österreichische Tänzerin<br />

der Romantik. Da derzeit auch<br />

die 175 Jahre der diplomatischen Beziehungen<br />

Österreich – USA zelebriert<br />

werden, behandelt dieses Buch<br />

schwerpunktmäßig (mit englischer<br />

Übersetzung der Beiträge) vor allem<br />

das tänzerische Wirken von Fanny<br />

Elßler und ihre Bedeutung für die damalige<br />

Gesellschaft in Amerika. Informativ<br />

für an Ballettgeschichte Interessierten.<br />

<br />

Ira Werbowsky<br />

Kontakt:<br />

Bestellungen, Berichte, Anfragen an:<br />

Chefredakteurin Dr. Sieglinde Pfabigan, A-1210 Wien, Peitlgasse 7/3/4,<br />

Tel=Fax : +43/1-27-86-836, Online-Fax : +43/1-25330334705<br />

E-Mail: sieglinde.pfabigan@chello.at, Foto-Adresse: merkerfotos@gmail.com<br />

Im Bedarfsfall: ewald@fichtinger.com, Texte im Bedarfsfalle auch an: Regina<br />

Koller: <strong>Merker</strong>.koller@airwave.at, Tel: 0680/1404468.<br />

Telephonkontakt in Abwesenheit der Chefredakteurin:<br />

Dr. Hans Peter Nowak: Tel.+43/1/332-0838<br />

Mitteilungen für das Beiblatt:<br />

Anton Cupak, 1120 Wien, Zeleborgasse 20, Tel. +43/1/813-62-85, Fax. 813-62-854,<br />

E-mail: info@der-<strong>neue</strong>-merker.at, Neue Internet-Adresse: www.der-<strong>neue</strong>-merker.eu<br />

Kontakt für Deutschland:<br />

Udo Klebes, D-72760 Reutlingen, Freiligrathstr. 19,Tel. 07121/38-12-50,<br />

Fax.38-12-51 (privat), Dienstlich: Mo-Fr. 14-18 Uhr: 0711/602-601,<br />

Fax. 640-82-05, E-mail: u.klebes@web.de<br />

Kontakt für die Schweiz:<br />

Christian J.Huber, CH-8049 Zürich, Limmattalstr.257., Tel.=Fax: +41/44/341-45-67,<br />

E-Mail: christian.huber@swissonline.ch<br />

Mitgliedsbeitrag:<br />

Österreich: € 51,--, Schweiz: CHF 115,--, sonst. Europa: € 64,--,<br />

außereurop. Länder € 67,-- (10 Einzelhefte u. Festspieldoppelheft)<br />

Einzelheft: Österreich € 5,80, Schweiz CHF, 11,50, sonst. Europa: € 6,40<br />

Festspieldoppelheft: Österreich € 7,40, Schweiz CHF 16,--, sonst. Europa € 8,80<br />

Bankverbindungen:<br />

Österreich: <strong>Merker</strong>-Verein, Verein zur Publikation einer Opernzeitschrift,<br />

UniCredit-Bank Austria AG, BLZ 12000, Kto.Nr.: 094238029/00.<br />

Deutschland: <strong>Merker</strong>-Verein. Landesbank Baden-Württemberg,<br />

BLZ 600 501 01, Kto-Nr.292 1558.<br />

Schweiz: Christian J. Huber, PSK-No.87-601 394-2.<br />

Geldüberweisungen aus anderen Ländern über die internationale<br />

Bankverbindung: IBAN-AT06 1100 0094 2380 2900 / BIC=BKAUATWW<br />

Impressum:<br />

Herausgeber, Medieninhaber, Versand: <strong>Merker</strong>-Verein, Verein zur Publikation<br />

einer Opernzeitschrift, A-1210 Wien, Peitlgasse 7/3/4<br />

Offenlegung lt. Mediengesetz:<br />

Unabhängiges Mitteilungsblatt des <strong>Merker</strong>-Vereins. Berichte aus dem<br />

internationalen Operngeschehen (Kritik; Essays, Interviews, Spielpläne).<br />

Die Zeitschrift erscheint monatlich. Für namentlich gezeichnete Beiträge ist der<br />

Verfasser verantwortlich. Bestellung jederzeit möglich.<br />

Kündigungsfrist: 3 Monate. ISSN 1017-5202.<br />

Druck: Druckerei Piacek, 1100 Wien, Favoritner Gewerbering 19<br />

88 | DER NEUE MERKER 12/2013


Elīna Garanča:<br />

„WIRKLICH WICHTIG SIND DIE SCHUHE“ -<br />

Aufgezeichnet von Ida Metzger und Peter Dusek<br />

212 Seiten, Ecowin Verlag, 2013<br />

Früher schrieb man Memoiren, wenn man alt war. Heute tun es – vor<br />

allem in der Welt der Schauspieler, Sänger, Medienleute – bereits junge<br />

Leute, die wie Elīna Garanča das Beste noch vor sich haben (zumindest ist<br />

sie selbst davon überzeugt). Aber zugegeben, von der Karriere der 37-Jährigen<br />

gibt es bereits genug zu berichten, um ein Buch zu füllen. Ida Metzger<br />

und Peter Dusek haben aufgezeichnet, was es zu erzählen gibt.<br />

Die titelgebenden Schuhe sind für die Karriere vielleicht nicht ganz so<br />

wichtig, obwohl es eine einsichtige Anekdote darüber gibt. Wichtiger war<br />

wohl, dass die kleine Elīna Garanča aus Riga schon von Geburt an in<br />

Richtung Kultur geprägt wurde: Das erste Kapitel nennt sich „Zwischen<br />

Kuhstall und Musiksalon“, und da war der Musiksalon der Eltern schon<br />

um einiges prägender. Dass die Großeltern am Land lebten und Elina am<br />

Bauernhof den Kühen („Sie waren mein erstes Publikum“) vorspielte und<br />

vorsang, ist ihr deshalb so wichtig, weil sie stolz auf ihre lettische Herkunft<br />

ist – Tochter eines Volkes, das immer singt und tanzt, wie es heißt. Und sie<br />

möchte, dass ihre Kinder (Tochter Nr. 2 wird derzeit noch erwartet) etwas<br />

über die Welt wissen, aus der ihre Mutter herkommt. Papa Karel Mark<br />

Chichon, der in Gibraltar geboren wurde, ist eine spanisch-englische Mischung,<br />

wie es scheint. Nun, Elīna Garanča tut sich – das Leben eines<br />

Opernstars ist international – in vielen Welten und Sprachen um: Lettisch,<br />

Russisch, Deutsch, Spanisch, Englisch. Nur mit dem Französischen<br />

steht sie auf Kriegsfuss, obwohl sie doch eine berühmte Carmen ist…<br />

Die Jugend der am 16. September 1976 in Riga Geborenen war nicht<br />

leicht, denn noch war das Baltikum Teil der Sowjetunion, man lebte unter<br />

teils elenden Bedingungen, die prägten: „Diese Überlebensnot von damals<br />

gibt mir heute eine gewisse Gelassenheit, über kleine Probleme zerbreche ich<br />

mir nicht den Kopf. Unsere Generation hat gelernt: Arbeite und du wirst<br />

belohnt.“<br />

<strong>Der</strong> Weg in die Karriere war holprig, weil Elīna Garanča zwar als kleines<br />

Mädchen erklärt hatte, sie wolle Sängerin werden wie die Mama – aber als<br />

sie älter wurde, keineswegs mehr von dieser Idee besessen war. Tatsächlich<br />

wusste sie in ihrer Jugend eine zeitlang gar nicht, was sie wirklich wollte.<br />

Schauspielerin wurde nichts, Kulturmanagement auch nicht, Musikpädagogin<br />

ebenso wenig. Und die Stimme? Viele Discos und viele Zigaretten<br />

schienen da ihr Zerstörungswerk getan zu haben. Nun, um eine lange Geschichte<br />

kurz zu machen: Sie nahm doch Gesangsunterricht. Und merkte,<br />

dass ohne harte Arbeit nichts geht. Das machte ihr Mama-Gesangslehrerin<br />

auch klar.<br />

Ihre erste große Reise führte Elīna Garanča 1998 nach Wien, um dort<br />

mit ihrer rumänischen Gesangslehrerin zu arbeiten. Vielleicht stand sie<br />

am Galerie-Stehplatz neben Leuten, die ihr heute begeistert zujubeln. Sie<br />

nahm am Hans-Gabor-Gesangwettbewerb teil und wurde von Christine<br />

Mielitz nach Meiningen engagiert.<br />

Von da an kann man jeden einzelnen Auftritt der Elīna Garanča, von ersten<br />

Konzerten und ihrem Debut 1999 als Dritte Dame in Meiningen im<br />

Anhang nachlesen – Vorstellung für Vorstellung bis zum 18. August 2013,<br />

das Verdi-Requiem unter Muti in Salzburg. (Es hätte eigentlich genügt,<br />

die jeweiligen Blöcke einer Rolle zusammen zu fassen, aber immerhin haben<br />

die Herausgeber in Bienenfleiß ja auch, soweit möglich, die einzelnen<br />

Partner der Garanča angeführt.)<br />

Elīna Garanča brachte sich selbst Deutsch bei und sang sozusagen – viel zu<br />

jung, wie sie selbst wusste – auf Anhieb den Octavian. Von da an erzählt<br />

sie von Rolle zu Rolle, wie sie sich der jeweiligen Figur und den stimmlichen<br />

Anforderungen nähert. (Dass es auch noch Inhaltsangaben zu den<br />

Opern gibt, ist eigentlich nicht wirklich nötig.)<br />

Von Meiningen ging es über Frankfurt nach Wien. Das Kapitel Ioan Holender<br />

packt das Buch vorsichtig an (sie nennt ihn immerhin den „ebenso<br />

launischen wie mächtigen Operndirektor“) – man weiß, dass die beiden<br />

sich nicht auf die Dauer gut verstanden haben. Aber er gab ihr die Chance<br />

an der Wiener Staatsoper, und sie arbeitete sich hoch, von Nebenrollen<br />

(Debut als Lola in der „Cavalleria“, derzeit strebt sie für die zweite Karrierehälfte<br />

die Santuzza an) zur „Werther“-Premiere.<br />

Und auch parallel lief es dann Schlag auf Schlag: Salzburger Festspiele, Paris,<br />

Aix, Berlin, Baden-Baden…Vieles sei im Opernleben das, was sie „die<br />

Kunst des richtigen Zeitpunkts“ nennt. Etwa die zeitweise „Paarung“ mit<br />

Anna Netrebko, die dunkle Russin und die blonde Lettin, die sich so gut<br />

vermarkten ließen, nicht nur in der „Anna Bolena“ und den „Capuleti“,<br />

auch in vielen spektakulären Groß-Konzerten. Von einer privaten Freundschaft<br />

zwischen den beiden kann hingegen nicht die Rede sein.<br />

Elīna Garanča sang an der Met (debutierte als Cenerentola, obwohl Rossini<br />

ein Komponist ist, den sie nicht besonders mag), sie sang in München,<br />

in Covent Garden, nur an der Scala hat es bisher nur für Konzerte gereicht.<br />

Seit einem knappen Jahrzehnt gibt es den Dirigenten Karel Mark<br />

Chichon in ihrem Leben, den sie 2006 geheiratet hat. Offensichtlich stolz<br />

ist die Garanča auf die jährlichen Konzerte in Stift Göttweig, die sie mit<br />

ihrem Mann initiiert hat. Man versucht, zusammen zu arbeiten, erzwingt<br />

es aber nicht. Seit man eine Familie ist, hat sich der Alltag zweier reisender<br />

Künstler mit Kleinkind zu einer logistischen Herausforderung erster Ordnung<br />

verkompliziert.<br />

Sie ist eine Karriereplanerin, man sah es an ihrer Carmen, die sie 2007<br />

in Riga „ausprobierte“ und dann faktisch in jedem großen Opernhaus der<br />

Welt sang, wobei es ihr Spaß machte, in jeder Inszenierung anders auszusehen<br />

und auch zu spielen. Die erste vorgesehene Wiener „Carmen“ 2010<br />

hat Elīna Garanča „streichen müssen“ (ohne genauere Gründe anzugeben),<br />

Holender war erbost, nicht zum ersten Mal (schließlich ließ sie Ende<br />

Dezember 2008 einen Wiener „Barbier“ sausen, um am nächsten Tag ein<br />

Fernseh-Silvesterkonzert in Baden-Baden zu singen, was sie mit Krankheit<br />

entschuldigt…nicht alle Erklärungen wirken gänzlich glaubhaft). Sie sang<br />

die Carmen in Wien dann erst in der Direktion Meyer und überraschte das<br />

Publikum als kühle Blonde, der man die leidenschaftliche Zigeunerin nicht<br />

so recht abnahm…<br />

Elīna Garanča hat, als ihre Karriere gar zu stürmisch zu werden drohte,<br />

die Bremse gezogen. Brachte im September 2011 ihre Tochter Katie zur<br />

Welt, die sie von jeder Publicity fernhält. Das zweite Kind wird Ende 2013<br />

erwartet – und dann hat die Garanča einen Karriere-Schwenk ins Hochdramatische<br />

vor. Santuzza, Eboli (die sie mit Eleganz spielen möchte) und<br />

Amneris sind die Rollen, die sie sich vornimmt, obwohl sie meint, dann<br />

wahrscheinlich nur noch bis Mitte 50 singen zu können. Nun, das sind<br />

dann auch noch fast zwei Jahrzehnte – das füllt dann sicher einen nächsten<br />

Memoirenband.<br />

Dieser liest sich gut, gibt den Lebenslauf chronologisch wieder, hält aber<br />

immer wieder auch inne, um grundsätzlichen Überlegungen Platz einzuräumen.<br />

Sie erzählt beispielsweise (nicht als Erste), wie einsam das Leben<br />

eines Opernstars wochenlang in fremden Städten sein kann (im Gegensatz<br />

zu vielen Kollegen hegt sie keine Vorliebe für New York). Sie berichtet auch<br />

von künstlerischen Selbstzweifeln.<br />

Und sie legt großen Wert darauf, nicht als „Star“, sondern als ganz normale<br />

Frau zu erscheinen, die ein ganz normales Leben führt, wenn sie nicht auf<br />

der Bühne steht, die dann ins Fitness-Center geht und sich beispielsweise<br />

über ihren „grünen Daumen“ freut. Die erdverbundene „lettische Seele“ des<br />

„intellektuellen Bauernmädchens“ (Selbstdefinition) steht am Anfang und<br />

am Ende des Buchs, an dessen Nachspann man dann nur ein Personenregister<br />

schmerzlich vermisst. <br />

Renate Wagner<br />

So wird auch die Pause in der Wiener<br />

Staatsoper zu einem Genuss.<br />

Einfach online gustieren und vorbestellen.<br />

Pünktlich zu Beginn der Pause erwartet Sie<br />

Ihr kulinarischer Genuss.<br />

T +43 1 512 20 86, staatsoper@gerstner.at,<br />

A MEMBER OF<br />

www.gerstner.at<br />

www.gerstner.at


DER NEUE MERKER, Verwaltung u. Redaktion: Peitlgasse 7/3/4, A-1210 Wien

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!