Der neue Merker
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Mder<br />
<strong>Merker</strong><br />
<strong>neue</strong><br />
12/2013<br />
Österreich € 5,10 5,80<br />
Deutschland € € 5,60 6,40<br />
Schweiz CHF 10,– 11,50<br />
Nr. Nr. 234 284<br />
OPER UND BALLETT<br />
IN WIEN UND ALLER WELT<br />
Verdis Galeerenjahre<br />
Benjamin Britten -<br />
englischer Nationalkomponist<br />
weltweit beachtet<br />
Sorgenkind Mozart<br />
Aus dem Opernleben der Ukraine<br />
Neue Oper für Carreras<br />
Im Gespräch:<br />
Regisseurin Jasmin Solfagharu<br />
Die Wiener<br />
Staatsoper<br />
im November<br />
Mirella Freni (mit Gianni Raimondi) als Mimi
Wien am 1. Dezember 2013<br />
Liebe Opernfreunde!<br />
Britten holt auf!<br />
Wenn Sie den Bericht unseres England-Korrespondenten Stephen<br />
Mead über die unzähligen Veranstaltungen anlässlich des<br />
100 Jahr-Jubiläums lesen, dürfen Sie staunen. Neben zahlreichen<br />
Opern- und Konzertdarbietungen in vielen Ländern, haben<br />
in der englischsprachigen Welt - zwischen Sydney und San<br />
Francisco - rund 100.000 (!) Kinder und Jugendliche an seinem<br />
Geburtstag Werke von ihm aufgeführt und sich überdies kreativ<br />
und sogar komponierend mit dem großen Meister auseinandergesetzt.<br />
Es dürfte ja noch immer nicht bekannt sein, wie<br />
wichtig ihm, der selbst seit seinem fünften Lebensjahr komponiert<br />
hat, die musikalische Arbeit mit Kindern war.<br />
Bei dieser Gelegenheit möchte ich darauf hinweisen, dass Benjamin<br />
Britten vor allem ein genuin englischer Komponist ist<br />
und deshalb nicht pauschal als ,,britisch“ bezeichnet werden<br />
sollte. Erst durch seine Musik hat sich mir die Seele der englischen<br />
Landschaft erschlossen; an der englischen Ostküste höre<br />
ich Brittens Musik aus den Meereswellen.<br />
Dass er sich in seiner Heimat so großer Popularität erfreut,<br />
hängt wohl auch damit zusammen, dass die Schicksale der<br />
meisten seiner Opernfiguren aus dem Leben seiner Landsleute<br />
gegriffen sind. Ich habe in London einen Opernfreund kennengelernt,<br />
der das gängige Repertoire kannte, aber nur Brittens<br />
Opern waren ihm wirklich ans Herz gewachsen, mehr als alle<br />
Anderen.<br />
Im Gegensatz zu dem antiken Pomp der Barockopern und den<br />
romantischen Helden des 19. Jahrhunderts, überrascht Britten<br />
mit einer Vielfalt von psychologisch tiefgründig erfassten Charakteren<br />
in seiner ganz persönlichen Musiksprache.<br />
Es ist sehr erfreulich, dass anlässlich dieses Jubiläums seine<br />
Meisterschaft wieder in hohem Maße erkannt wird.<br />
<br />
Sieglinde Pfabigan<br />
Ein frohes musikalisches Weihnachtsfest und viele schöne<br />
Opernerlebnisse und <strong>neue</strong> Einblicke im nächsten Jahr wünscht<br />
Ihnen<br />
Die <strong>Merker</strong>ei<br />
BUCH / Gesa Finke:<br />
DIE KOMPONISTENWITWE CONSTANZE MOZART<br />
Musik bewahren und Erinnerung gestalten<br />
Band 2 der Reihe „BIOGRAFIK. Geschichte – Kritik - Praxis<br />
356 Seiten, Böhlau Verlag 2013<br />
Constanze Mozart hat einen besonders schlechten Ruf. Gesa Finke blättert<br />
ihn ausführlich auf, von Mozart-Biographie zu Mozart-Biographie (wobei klar<br />
wird, dass die meisten voneinander abgeschrieben haben): Ihre Funktion für<br />
Mozart wird auf die eines sinnlichen Betthäschens reduziert, ihre Moral gering<br />
bewertet. Je mehr man Mozart verklären möchte, umso schlechter kommt<br />
Constanze weg, und auch jüngere Arbeiten, die das differenzierter sehen möchten,<br />
können wohl kaum mehr etwas daran ändern.<br />
Gesa Finke, die ihre voluminöse Dissertation für die Carl von Ossietzky<br />
Universität Oldenburg nun zwischen Buchdeckeln vorlegt, möchte – auch<br />
angesichts von Constanzes 250. Geburtstag im Jahre 2012 – nun dieses Bild<br />
zurechtrücken. Teilweise zumindest. Nicht jenes als Mozarts Gattin, dieser Teil<br />
der Biographie wird nicht berücksichtigt. Wohl aber jener nach Mozarts Tod.<br />
Denn da hat sich Constanze, wie mit größter Ausführlichkeit dargelegt wird,<br />
dann tatsächlich bewährt – nicht nur darin, wie ihre Feinde sagen, aus Mozarts<br />
Nachlass jeglichen finanziellen Nutzen zu ziehen, sondern auch, diesen Nachlass<br />
zu bewahren, zu sichern und die Erinnerung an ihren Gatten zu „gestalten“<br />
und möglichst dafür zu sorgen, dass seine Größe nicht vergessen wurde.<br />
Mit einer Ausführlichkeit, die sich nur Dissertationen leisten können, beschäftigt<br />
sich die Autorin zu Beginn mit der Stellung von Witwen zu Constanzes<br />
Zeit – Mozart starb 1791, und Ende des 18. Jhs. war es gar nicht<br />
so einfach für die Frauen, denn es gab keine automatischen Witwenrenten.<br />
Constanze fand sich also angesichts von Mozarts Schulden in einem finanziellen<br />
Notstand. Das hat sie bewältigt. Aber sie war als Witwe – eine junge<br />
Witwe, knapp 30 Jahre alt – zum ersten Mal in ihrem Leben auch in der<br />
Situation, selbst über ihr Leben und ihre Taten bestimmen zu können. Und<br />
man kann sagen, dass sie ihr weiteres Dasein der Anstrengung widmete,<br />
die beiden Mozart-Söhne (die sie zuerst nach Prag schickte) zu Musikern<br />
zu erziehen, Mozarts Nachlass zu ordnen und zu sichern und schließlich<br />
Material für eine Biographie zusammen zu tragen.<br />
Benefizkonzerte erleichterten ihre finanzielle Lage, und immerhin unternahm<br />
sie mit ihrer Schwester Aloysia Lange, die ja in der Musikwelt nicht<br />
unbekannt war, eine Konzertreise in wichtige Musikstädte (in der sie auch<br />
als Sängerin auftrat), die vermutlich nicht nur in Hinblick auf das Geld,<br />
sondern auch auf Mozarts Erinnerung hin unternommen wurde.<br />
Constanze fand wichtige und auch kompetente Unterstützung durch den<br />
schwedischen Diplomaten Silverstolpe, mehr noch durch den dänischen,<br />
in Wien tätigen Diplomaten Georg Nikolaus Nissen, den sie später heiratete<br />
– nicht, ohne ihrem <strong>neue</strong>n Namen stets die Bezeichnung „gewesene<br />
Witwe Mozart“ hinzufügen.<br />
Natürlich ist das Nachleben der Mozart-Witwe (sie überlebte den ersten Gatten<br />
um mehr als 50 Jahre) nicht ohne Stolpersteine, ihre Leistungen, etwa in<br />
den zähen Verhandlungen mit Breitkopf & Härtel über eine Gesamtausgabe,<br />
die nur zur unvollständigen Werkausgabe gedieh, werden teilweise auch gering<br />
geschätzt. Und selbst Autorin Gesa Finke geht mit der dicken Biographie, die<br />
von Constanze und Nissen geschaffen und unter seinem Namen herausgebracht<br />
wurde, nicht glimpflich um. Offenbar haben die beiden vor allem zwei<br />
schon vorhandene Biographien abgeschrieben und mit zusätzlichem Material<br />
aufgefettet, wobei allerdings das Zusammentragen dieser Materialsammlung –<br />
besonders der Briefe – als eigene Leistung zu erachten ist. Constanze hat auch<br />
in Fragen des Mozart-Denkmals mitgewirkt (sie lebte in ihren späteren Lebensjahren,<br />
nachdem sie mit Nissen kurz von Wien nach Kopenhagen gegangen<br />
war, in Salzburg) und dem neu gegründeten Mozarteum viele Geschenke<br />
gemacht, Autographen aus ihrem Besitz ebenso wie Geld.<br />
Die Autorin beweist eindeutig, dass die Erinnerung an Mozart und deren<br />
„Medialisierung“ die Lebensaufgabe dieser Constanze war, wobei eine sachliche<br />
Dissertation sich nicht in Spekulationen ergeht, was sie warum getan hat.<br />
Dazu gibt es genügend Romane, denn Constanze ist in der Musikgeschichte<br />
wohl nach Cosima Wagner die interessanteste Komponistenfrau. Die Ehrenrettung<br />
ist in diesem Buch, das ganz breit auch die Zeit malt, in der sich<br />
Constanzes Bemühungen um die „Mozart Erinnerungskultur“ abspielten,<br />
wohl gelungen. Mit seinem Umfang und seiner Genauigkeit kein Buch für<br />
Ungeduldige, aber Geduldige werden reich bedient. Renate Wagner<br />
Heft Nr. 284 erscheint am 13. Jänner 2014
Inhalt<br />
2<br />
5<br />
5<br />
5<br />
6<br />
Aktuelles aus Österreich<br />
6<br />
8<br />
9<br />
10<br />
12<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
27<br />
28<br />
30<br />
31<br />
31<br />
32<br />
32<br />
Wiener Staatsoper: Die Zauberflöte<br />
Theater a.d.Wien: Idomeneo, Les Danaides (Salieri),<br />
Kammeroper: La Cenerentola<br />
Im Gespräch: Die Regisseurin Jasmin Solfagharu<br />
Volksoper: Il Trovatore<br />
Neue Oper Wien: Paradise reloaded (Eötvös)<br />
Mirella Freni – 50 Jahre Weltstar<br />
Neues von José Carreras<br />
Die Wiener Staatsoper im November<br />
Aus dem Volksopernrepertooire<br />
Wiener Konzert und Szene<br />
Baden: Die Hochzeit des Figaro<br />
Neunkirchen: „Amici“- Wagner-Verdi-Konzert<br />
Graz: Die Zauberflöte<br />
Salzburg: Wagner-Matinee<br />
Innsbruck: Don Pasquale<br />
Aus der Tanzwelt<br />
33<br />
33<br />
34<br />
34<br />
36<br />
37<br />
38<br />
39<br />
39<br />
40<br />
Zu Gast auf Giuseppe Verdis Galeere<br />
Im Lande Benjamin Brittens :<br />
Opera North: Death in Venice<br />
Jubilee Opera Aldeburgh, Britten für Kinder,<br />
Chorkonzerte, Noye’s Fludde<br />
Stadthalle Wien: Dornröschen<br />
St. Pölten: milonga<br />
Linz: Romeo und Julia<br />
Stuttgart: Fort//schritt//macher, Cantata<br />
Baden-Baden: Die kleine Meerjungfrau<br />
München: Romeo und Julia, Exits and Entrances<br />
Düsseldorf: „b.16“<br />
Kaiserslautern: <strong>Der</strong> Pagodenprinz<br />
Ludwigsburg: Woyzeck<br />
Györ: Ein Sommernachtstraum<br />
Das englische Brittenzentrum - das Red House in Aldeburgh<br />
Oper International<br />
41<br />
42<br />
45<br />
45<br />
46<br />
49<br />
50<br />
51<br />
52<br />
53<br />
55<br />
56<br />
57<br />
58<br />
58<br />
59<br />
61<br />
61<br />
63<br />
64<br />
65<br />
66<br />
67<br />
67<br />
68<br />
69<br />
70<br />
70<br />
71<br />
73<br />
74<br />
75<br />
76<br />
77<br />
78<br />
78<br />
79<br />
80<br />
81<br />
82<br />
83<br />
84<br />
84<br />
86<br />
87<br />
Berlin: Don Carlo, Falstaff, Macbeth, Il Trovatore,<br />
Cosi fan tutte, West Side Story, A Quiet Place<br />
Jubiläumskonzert für Benjamin Britten<br />
München: Il Trovatore, Die Zauberflöte,<br />
Interview Josef E. Köpplinger, Im Porträt - Tareq Nazmi,<br />
Arienabend Angela Gheorghiu und Charles Castronouvo<br />
Liedestoll, Michaelskonzert<br />
Dresden: Tannhäuser, Carmen<br />
Detmold: Tristan und Isolde<br />
Essen: Tristan und Isolde<br />
Lübeck: Tristan und Isolde<br />
Füssen: Tristan und Isolde<br />
Nürnberg: Das Rheingold<br />
Schweinfurt: <strong>Der</strong> fliegende Holländer<br />
Hannover: Die Meistersinger von Nürnberg<br />
Kaiserslautern: Regina (Lortzing)<br />
Düsseldorf: Billy Budd<br />
Frankfurt: Dido und Aeneas, Herzog Blaubarts Burg, Ezio (Gluck)<br />
Mainz: Rinaldo<br />
Stuttgart: Falstaff, I Lombardi<br />
Ulm: Otello, Hänsel und Gretel<br />
Baden-Baden: Juan Diego Florez<br />
Heidelberg: Tosca<br />
Saarbrücken: Tosca<br />
Weimar: Die Entführung aus dem Serail<br />
Leverkusen: La Clemenza di Tito( Gluck)<br />
Hagen: Don Pasquale<br />
Bremen: La Traviata, Chorkonzert Wagner-Verdi<br />
Bremerhafen: Barbier von Sevilla, Hänsel und Gretel<br />
Zürich: Faust, Otello, Konzert Cecilia Bartoli<br />
Basel: Votre Faust (Pousseur), Anschlag (Wertmüller/Bärfuss)<br />
Biel: Das Rheingold<br />
Genf: Die Walküre, <strong>Der</strong> fliegende Holländer<br />
Milano: Aida<br />
Paris: Written on Skin (George Benjamin)<br />
Roméo et Juliette(Berlioz), Elektra<br />
Nizza: <strong>Der</strong> Freischütz<br />
Monte-Carlo: Das Rheingold<br />
Valencia: Die Walküre, La Traviata<br />
Bilbao: Rigoletto<br />
Amsterdam: Götterdämmerung<br />
London: Die Zauberflöte<br />
Istanbul: Wagnerkonzert, Interview Gürer Aykal<br />
Kiew: Madama Butterfly, Carmen<br />
Met im Kino: Tosca<br />
Eine <strong>neue</strong> Isolde: Edith Haller mit Wioletta Hebrowska<br />
Amsterdam: Götterdämmerung<br />
Mirella Freni und Placido<br />
Domingo - ein beglückendes<br />
Wiedersehen<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 1
Guiseppe Verdi<br />
Zu Gast auf Giuseppe Verdis Galeere – Ein Jahrzehnt wird beleuchtet<br />
Zum Geleit<br />
Um Giuseppe Verdis gesamtes Opernschaffen angemessen zu würdigen,<br />
braucht es ein ganzes Buch oder es gelingt dem Autor ein bündiger Aphorismus.<br />
Will und soll man einen Essay schreiben, so gilt es auszuwählen,<br />
also in heutiger Terminologie ein Sängerensemble, dessen Größe und vokale<br />
Kapazität bisweilen auf pragmatische Weise in künstlerische Belange<br />
eingriff, dem <strong>neue</strong>n Werk also Grenzen setzte oder Möglichkeiten bot.<br />
Verdi als schöpferischer Dramaturg<br />
Die Begeisterung des Komponisten für das Sprechtheater, sein Lesehunger<br />
und das Interesse für Weltliteratur reichen bereits in die frühe Jugend zurück<br />
und sollten sein Schaffen bis hin zu den späten Meisterwerken prägen<br />
und bestimmen. Besonders William Shakespeare hatte es ihm angetan,<br />
wie die Sujetwahl von „Macbeth“, „Otello“ und „Falstaff“ ganz deutlich<br />
zeigt. Sogar einen „König Lear“ wollte er vertonen, resignierte aber schließlich<br />
doch vor der Vielschichtigkeit des Stoffes und misstraute vielleicht<br />
auch den Fähigkeiten seiner Librettisten, denen er in einem dialektischen<br />
Schaffensprozess bei anderen Stücken durchaus Ansporn und anfeuernde<br />
Kritik zuteilwerden ließ. So schreibt er 1847 an Salvatore Cammarano<br />
zur geplanten Oper Alzira: „Lassen Sie die Sache nur leidenschaftlich sein,<br />
und Sie werden sehen, dass ich ganz ordentliche Musik schreiben kann.“ Die<br />
Hauptfiguren seines „Attila“ nennt Verdi Francesco Maria Piave gegenüber<br />
„tre carattere stupendi“. Für Macbeth aber hat der Komponist selbst ein<br />
Szenar gezimmert, dessen verbale Umsetzung er Piave mit dem Anspruch<br />
von „Erhabenheit und Kürze“ übertrug. Und als dieser seine Erwartungen<br />
nicht erfüllte, stellte er ihm für die beiden Schlussakte den bedeutenden<br />
José Carreras als Ritter Gaston in „Jérusalem“<br />
Schwerpunkte zu setzen, Leitlinien zu folgen. Als Kriterien dieser Zielsetzung<br />
können etwa der Bekanntheitsgrad der Werke, ihre musikalische<br />
oder dramaturgische Qualität, aber auch der innovative Grad oder<br />
die Herausforderung an Sänger, Dirigenten und Orchester dienen. Oder<br />
man hält sich wie dieser Beitrag einfach an eine zeitliche Vorgabe. Giuseppe<br />
Verdi hat im Dezennium zwischen 1840 und 1850 nicht weniger<br />
als 15 Opern komponiert, zählt man mit gutem Recht die französische<br />
Umarbeitung von „I Lombardi alla prima crociata“ (1843) zu „Jérusalem“<br />
als eigenes Stück.<br />
Die Bezeichnung Anni di galera stammt vom Komponisten selbst, als er<br />
im Jahr 1858 einen resümierenden Blick auf die zurückliegenden 16 Jahre<br />
seines Schaffens wirft, zu einem Zeitpunkt also, da der harte Frondienst<br />
nach eigener Einschätzung eben erst erfüllt war, der Komponist sich also<br />
endlich etwas zurücklehnen und stärker nach eigenem Impuls denn auf<br />
fremdes Geheiß hin kreativ sein durfte. Davor hatte er als Compositore<br />
scritturato, wie es in Italien damals hieß, in rascher Folge den wechselnden<br />
Opernaufträgen (also Scritture) verschiedener Häuser zu genügen. <strong>Der</strong> ästhetische<br />
Wunsch und der kommerzielle Bedarf nach <strong>neue</strong>n Opern (Opere<br />
dʼobbligo) waren in diesen Jahren schier unersättlich. <strong>Der</strong> jeweilige Impresario,<br />
ein meist im Pachtauftrag auf eigenes Risiko agierender Theaterdirektor,<br />
der nicht selten mehreren Opernhäusern vorstand, engagierte<br />
damals in Erfüllung seiner Impresa eine sogenannte Compagnia di canto,<br />
„...il di de la vittoria...!“ Birgit Nilsson als Lady Macbeth (beide © Fayer)<br />
2 | DER NEUE MERKER 12/2013
Guiseppe Verdi<br />
„Il Trovatore“, „La Traviata“) wirkt es, wenn immer wieder kurze Vorspiele<br />
mit charakterisierenden Klangfarben auf die folgenden Ereignisse einstimmen.<br />
Eine weitgesponnene traditionelle Ouvertüre im Potpourri-Stil wie<br />
z. B. in „Nabucco“ wird allmählich zur Ausnahme. Am Ende seines Schaffens,<br />
in den ‚Literaturopern‘ „Otello“ und „Falstaff“, wird der Altmeister<br />
ja sogar völlig unvermittelt in das musikalische Geschehen einsteigen.<br />
Stoffe der Weltliteratur<br />
Von Andrea Graf Maffei, dem Dichter und Vermittler deutscher Literatur,<br />
war schon einmal die Rede. Als enger Freund Verdis hat er als Übersetzer<br />
von Werken Goethes, Schillers und Grillparzers dem Musiker eine<br />
Brücke zum Drama der Weimarer Klassik errichtet. Für „I Masnadieri“<br />
(1847) war er selbst Librettist, zu Textbüchern von „Giovanna dʼArco“<br />
(1845, Temistocle Solera) und „Luisa Miller“ (1849, Salvatore Cammarano)<br />
hat er wenigstens geistig Pate gestanden.<br />
Ein wichtiger ideeller und kultureller Umschlagplatz war für Verdi auch<br />
der Salon von Clara Maffei, der Frau des Freundes, in dem ein reges intellektuelles<br />
Klima zwischen Künstlern, Denkern und Vertretern der ‚guten<br />
Gesellschaft‘ Kontakte stiftete und Anregungen schuf. Galionsfigur<br />
in diesem Kreis war jene legendäre Madame de Staël, deren essayistisches<br />
Hauptwerk „De lʼAllemagne“ (1813) eine unschätzbare Rolle bei der Vermittlung<br />
des deutschen Schrifttums in Italien gespielt hat. Sicher hat Verdi<br />
in diesem Kreis das Historiendrama „Attila, König der Hunnen“ von Zacharias<br />
Werner kennengelernt, aus dem ihm Temistocle Solera das Libretto<br />
des Dramma lirico von 1846 destillierte.<br />
Aber die dichte musische Atmosphäre dieses besonderen Ortes dürfte<br />
dem Komponisten auch weitere Sujets näher gebracht haben: so vor al-<br />
Leo Nucci als mordender Schottenkönig (© Decca Klassik-Magazin)<br />
Dichter, Übersetzer und Germanisten Andrea Maffei als Berater an die<br />
Seite. Gerade bei „Macbeth“ bewähren sich jene Tugenden, die mit dem<br />
Namen des Opernkomponisten Verdi untrennbar verbunden sind: effetto<br />
als verdichtete Bühnenwirkung, dazu parola scenica im Sinne der zupackenden,<br />
stimmigen Wortkraft und varietà als unerhörte Begebenheit im<br />
Schnittbereich von Abwechslung, Dringlichkeit und entladener Emotion.<br />
Auch bei der Aufführungspraxis achtete der Musiker peinlich auf die Einhaltung<br />
seiner unabdingbaren Normen und mehrfach begründeten Absichten.<br />
Berühmt geworden sind die Anforderungen an Maria Barbieri-<br />
Nini, seine erste Lady Macbeth, der er im Zeitalter des Schöngesangs das<br />
ästhetische Postulat der Wahrheit des Ausdrucks als Leitprinzip predigte:<br />
„Ungestalt und hässlich“ sollte sie singen, „mit einer rauen, erstickten, hohlen<br />
Stimme“ – eine Forderung, an der in den kommenden Generationen<br />
und bis heute manche ehrgeizige Primadonna zu nagen hatte.<br />
Als Salvatore Cammarano die Erstaufführung dieses Werks am Teatro San<br />
Carlo in Neapel zu beaufsichtigen hatte, erreichte ihn 1848 folgende Botschaft<br />
Verdis: „Wecken Sie die Aufmerksamkeit dafür, dass es zwei zentrale<br />
Stücke in dieser Oper gibt: Das Duett zwischen der Lady und ihrem Gatten<br />
und den Sonnambulismo. Wenn diese Szenen misslingen, ist es um die ganze<br />
Oper geschehen. Und diese Stücke dürfen absolut nicht gesungen werden. Sie<br />
müssen agiert und deklamiert werden, mit einer recht hohlen und verschleierten<br />
Stimme; andernfalls werden sie nicht den geringsten Effekt machen.“<br />
Auch in zwei anderen Merkmalen zeigt sich der dramaturgische Anspruch<br />
Verdis an seine Libretti schon in dieser frühen Periode: Wie später etwa<br />
im „Trovatore“ lässt er die Thematik der einzelnen Opernakte durch besondere<br />
Titel ankündigen und erläutern. In den „Lombardi“ finden wir<br />
die Übertitel „Die Rache“, „<strong>Der</strong> Mann in der Grotte“, „Die Bekehrung“ und<br />
„Das heilige Grab“. „Ernani“ wiederum gliedert sich in die Abschnitte „<strong>Der</strong><br />
Rebell“, „<strong>Der</strong> Gast“, „Die Milde“, „Die Maske“. In „Luisa Miller“ endlich<br />
werden dem Publikum gleichsam die Gliederungsbegriffe des Sujets an<br />
die Hand gegeben: „Die Liebe“ – „Die Intrige“ – „Das Gift“.<br />
Gleichfalls wie ein Vorgriff auf Verdis reifes Opernschaffen („Rigoletto“,<br />
Nicolai Ghiaurov, Hunnenkönig Attila (© Fayer)<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 3
Aktuelles aus Österreich<br />
lem zwei Werke des Lord Byron. Aus seinem Schauspiel „The Two Foscari“<br />
(1821) hat Francesco Maria Piave das Libretto zur entsprechenden<br />
Tragedia lirica von 1844 gewonnen. Den Stoff für das Melodramma tragico<br />
„Il Corsaro“ (1848) hat derselbe Textdichter von Byrons Verserzählung<br />
„The Corsair“ (1814) in einer italienischen Übersetzung hergeleitet.<br />
im Auftrag des Direktors der Mailänder Scala zwischen drei fertigen Libretti<br />
des angesehenen Felice Romani zu wählen und entschied sich für<br />
„das am wenigsten schlechte“ „Il finto Stanislao“, das vor ihm bereits Adalbert<br />
Gyrowetz komponiert hatte. Immerhin liegt selbst diesem ‚Durchläufer‘<br />
ein geschätztes Schauspiel – die Komödie „Le faux Stanislas“ von<br />
Alexandre-Vincent Pineux-Duval (1809) – zugrunde.<br />
Wesenszüge<br />
An einigen dramaturgischen Versatzstücken seien nun noch ein paar charakteristische<br />
Merkmale der frühen Opern Verdis hervorgehoben. Die Verbindungslinien<br />
zu den Werken seiner reifen und späten Meisterjahre ergeben<br />
und verstehen sich dabei wohl durchwegs von selbst.<br />
<strong>Der</strong> Sinnbezirk „Liebe und Politik“ durchzieht leitmotivisch eine ganze<br />
Reihe von Stücken aus dem betrachteten Jahrzehnt. Ob in „Nabucco“ die<br />
babylonische Königstochter Fenena dem feindlichen Hebräer Ismaele zugeneigt<br />
ist, in „Giovanna dʼArco“ die Titelheldin zwischen dem Kampf<br />
für das Vaterland und der Leidenschaft für ihren König schwankt, oder<br />
in „La battaglia di Legnano“ das emotionale Geschehen von den Wirren<br />
des Krieges überlagert wird: Immer ist es die Spannung zwischen subjektivem<br />
Gefühl und objektiven, realen Zwängen, die Friktionen und Konflikte<br />
erzeugt.<br />
<strong>Der</strong> Themenbereich „Vaterfiguren“, bei dem wir an spätere Werke wie „Rigoletto“,<br />
„La Traviata“ oder „Aida“ weiterdenken, ist gleichfalls eindrucksvoll<br />
repräsentiert: Ich erwähne in Auswahl den alten Dogen Francesco<br />
Foscari, die beiden konträren Gestalten Miller und Walter in „Luisa Miller“,<br />
den alten Massimiliano Moor in „I Masnadieri“, den Schäfer Giacomo,<br />
der seine Tochter Giovanna, die er von bösen Geistern besessen<br />
glaubt, verflucht.<br />
Auch an „Außenseitern“, modern gesprochen „Outlaws“, wie wir sie von<br />
Manrico, Alvaro oder Violetta Valéry kennen, mangelt es im Frühwerk keineswegs:<br />
Corrado, der Korsar, hatte sich einst aus enttäuschter Liebe den Piraten<br />
angeschlossen. Ernani, eigentlich Herzog Juan von Aragon, lebt nach<br />
der Hinrichtung seines Vaters als Rebell in der Verbannung. Und Carlo,<br />
also der Karl Moor der Vorlage, ist nach einem gefälschten Brief seines<br />
Anna Netrebko in Giovanna d‘Arco Salzburg 2013 (© Salzburger Festspiele)<br />
Und noch weitere Frühwerke aus dem so produktiven Dezennium verdanken<br />
sich der – zumindest nach damaligen Wertmaßstäben – großen<br />
Literatur. Die wohl merkwürdigste und nur schwach rezipierte Oper „Alzira“<br />
(1845, Salvatore Cammarano) mit ihrem exotischen Ambiente im<br />
Kriegsgeschehen zwischen Spaniern und Inkas geht auf Voltaires Tragödie<br />
„Alzire ou Les Américains“ (1736) zurück. Das Künstlertandem modernisierte<br />
den alten, ethisch-religiös befrachteten Stoff zu einem Liebesdrama<br />
mit politischem Hintergrund und verlieh der Handlung mit<br />
griffigen Etiketten weitere Brisanz: „<strong>Der</strong> Gefangene“ – „Leben um Leben“<br />
– „Die Rache eines Wilden“.<br />
Auch das beim Publikum ebenso erfolgreiche wie finanziell ertragreiche<br />
Dramma lirico „Ernani“ (1844, Francesco Maria Piave) verdankt sich einer<br />
bedeutenden literarischen Vorlage: Kein Geringerer als Victor Hugo,<br />
auf den die beiden Schöpfer später bei „Rigoletto“ erneut zurückgreifen<br />
werden, war der Autor des Schauspiels „Hernani ou Lʼhonneur castilien“<br />
(1830). Und selbst den stofflichen Hintergrund und die ästhetische Inspirationsquelle<br />
für „I Lombardi alla prima crociata“ (1843, Temistocle<br />
Solera) bildete das damals berühmte und vielgelesene gleichnamige Epos<br />
des renommierten Schriftstellers Tomaso Grossi.<br />
Etwas abseits steht nur das literarische Angebot zu Verdis – auch aus bekannten<br />
biographischen Gründen – nicht recht geglückter komischer<br />
Oper „Un giorno di regno“ (1840). <strong>Der</strong> blutige Anfänger hatte damals<br />
1995 in Wien: José Carreras als Stiffelio mit Mara Zampieri<br />
als ungetreue Ehefrau (© Axel Zeininger)<br />
intriganten Bruders Francesco zum Haupt einer Räuberbande geworden.<br />
„Die notorischen Gegner“, zumeist um die Gunst einer geliebten Frau,<br />
bisweilen auch („I Masnadieri“, „I Lombardi“) feindliche Brüder, sind regelmäßig<br />
auf verschiedene Stimmcharaktere verteilt. Meist ist der Tenor<br />
der erfolgreiche Kandidat (Carlo Moor, Ernani, Rodolfo in „Luisa Miller“).<br />
In „Alzira“ verkörpert der Inkahäuptling Zamoro zugleich den Zeittypus<br />
des edlen Wilden, der gleichwohl aus Eifersucht zum Mörder am<br />
Nebenbuhler wird. Dieser, der spanische Gouverneur Gusman verzeiht<br />
freilich wie später Riccardo im „Ballo in maschera“ noch im Sterben dem<br />
Attentäter und sorgt so für ein versöhnliches Ende.<br />
4 | DER NEUE MERKER 12/2013
Aktuelles aus Österreich<br />
„Entfesselte Frauen“, bald aus Machtgier, dann wieder aus Rachsucht oder<br />
enttäuschter Hoffnung bevölkern gleichsam als Sondertypus der „Pazze“<br />
die Bühne der frühen Werke: Ein Hinweis auf Abigaille („Nabucco“),<br />
Odabella („Attila“) und Lady Macbeth darf hier genügen.<br />
Ein in jeder Hinsicht unvergleichliches Werk steht mit „Stiffelio“ (1850)<br />
am Ende der hier skizzierten, hektischen Periode. Es ist zunächst ein Zeitstück,<br />
sein Handlungsmilieu lebt von der Spannung zwischen Religion,<br />
privaten Affekten sowie der Hierarchie familiärer Ordnung und weist<br />
gleichwohl einige vertraute Muster und Konstellationen auf: den strengen<br />
Vater (Stankar), zwei rivalisierende Männer (Stiffelio, Raffaele), eine<br />
am seelischen Konflikt verzweifelnde junge Frau (Lina). Am Ende steht<br />
eine Versöhnung der besonderen Art: Als der Titelheld in Ausübung seines<br />
geistlichen Amtes die biblische Geschichte von der Ehebrecherin vorträgt,<br />
verzeiht er zugleich als Ehemann seiner reumütigen Gattin, die davor<br />
ihre Beichte abgelegt hatte.<br />
Ein Werk an der Schwelle zu den Meisterjahren ist dieses Stück, über das<br />
Leo Karl Gerhartz überzeugend schreibt: „Diese Oper ist der vielleicht radikalste<br />
Versuch des jungen Theatermanns, zu erproben, welche Gegenstände,<br />
welche Formen auch von Konfliktdiskussionen, sein Operntyp zu tragen und<br />
zu ertragen in der Lage war.“ <br />
Oswald Panagl<br />
England:<br />
BRITTEN CENTENARY CELEBRATIONS<br />
There have been many performances all over the world to celebrate Benjamin<br />
Britten. In the U.K. Opera North has been touring Grimes’, ‘Midsummer<br />
Night’ and ‘Death in Venice’, Orchestras and singers have been<br />
performing his works all round the country, and here in London’s Barbican<br />
a weekend was devoted to his life<br />
and music, culminating in a BBC<br />
concert performance of ‘Albert Herring’<br />
under Steuart Bedford. Pleasures<br />
still to come include a newly<br />
choreographed ‘Prince of the Pagodas’<br />
from David Bintley and Birmingham<br />
Royal Ballet.<br />
I chose to visit the various offerings<br />
in Suffolk, his home county, since<br />
one could not do everything, and<br />
a rewarding time it was.<br />
Opera North at Snape Maltings:<br />
“DEATH IN VENICE” – 1.1.<br />
Yoshi Oida’s production, first seen<br />
at Snape in 2007, has travelled<br />
widely, and was enthusiastically<br />
reviewed by me at its first performance,<br />
when I hoped it would have<br />
an afterlife. Opera North have staged a worthy revival (by Rob Kearley).<br />
Tom Schenk’s set of walkways across shallow water, Richard Hudson’s<br />
perfect period costumes and Katharine Kurz’ choreography for the important<br />
dance scenes (revived by Katharina Bader), and if Paule Constable’s<br />
atmospheric lighting seemed a little subdued from its previous<br />
outing, there are obvious constraints when touring the production to several<br />
venues.<br />
I noted the spare setting and the intellectual rigour Oida brought to the<br />
piece, and thanks to Alan Oke returning to the role of Aschenbach, was<br />
as intense and engrossing as before. His step into the water as he surrenders<br />
to his feelings is just as shocking as before, and the whole experience<br />
is lit by his fastidious acting at first and later his physical decline, his crystal<br />
diction and vocal colour. There is nothing purely decorative in anything<br />
that happens on stage.<br />
Peter Savidge as the Traveller and other parts contrived to characterise<br />
them all, beautifully sung (managing the few important falsetto moments<br />
perfectly), and throughout providing a sinister presence without exaggeration,<br />
the play scene being particularly successful.<br />
Christopher Ainslie, an onstage presence as Apollo, was impressive and<br />
smoothly sung, blending tonally in the whole ensemble without exaggeration,<br />
particularly fine in the Dionysus scene, thrillingly alive with leaping<br />
figures and blazing torches.<br />
A word for Damian Thantrey’s English Clerk who created a real air of<br />
menace in his scene, and to the members of Opera North Chorus who<br />
gave a splendid account of themselves in the many solo parts and the choral<br />
scenes. Tadzio was danced by Emily Mezieres, suitably androgynous,<br />
and fleet of foot in the games on the beach.<br />
Richard Farnes seems to conduct all he touches with unerring style,<br />
and achieves wonderful textures from his orchestra, perfectly and attentively<br />
paced.<br />
All in all a revival which did not disappoint in any respect. Stephen Mead<br />
Jubilee Opera at the Jubilee Hall, Aldeburgh – 10.11.<br />
‘A TIME THERE WAS….’<br />
Jubilee Opera, a company of local children who provided singers for<br />
the Church Parables at this year’s Festival, presented an altogether enchanting<br />
programme of excerpts from Britten’s output, devised (perhaps<br />
for these 3 performances only) by Frederic Wake-Walker (director)<br />
and Steuart Bedford (conductor). The music was put together<br />
seamlessly, with excerpts from the song cycles, the children’s operas,<br />
and scenes from ‘Albert Herring’, “Turn of the Screw”, ‘Midsummer<br />
Night’s Dream’ and others.<br />
The Jubilee Hall was the first venue for Festival Operas, the small pit<br />
Das berühmte „red house“ in Aldeburgh (© Philip Vile)<br />
holding nearly 30 players on this occasion, and the stage decked out with<br />
cottonwool clouds. Through music we were led from childhood to maturity,<br />
about 30 performers being ingeniously cast for the age required.<br />
We began with the rehearsal for Albert Herring’s coronation (with adjusted<br />
words for BB, the birthday boy), and took us on a journey: the bath scene<br />
from ‘The Little Sweep’, the pirates from ‘The Golden Vanity’, a piece of<br />
‘Noye’s Fludde’, and not neglecting the mature and dark side of the composer.<br />
The indispensable Alan Oke gave us amongst other things “A time<br />
there was” from “Winter Words”, the lute song from ‘Gloriana’, and the<br />
battle for Miles with Alexandra Hutton’s Governess from ’Screw’. She<br />
played the mother figure when required and was a delightful Tytania in<br />
the sections from the ‘Dream’, where Alex Ashworth as the father was<br />
an amusing Bottom.<br />
The children of all ages were highly accomplished throughout, and the<br />
whole entertainment was supported by the care Bedford and his players<br />
took to match the abilities of his cast. <br />
Stephen Mead<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 5
Aktuelles aus Österreich<br />
BRITTEN CENTENARY AT ALDEBURGH MUSIC<br />
Aldeburgh and the BBC joined forces for the whole weekend, Radio 3<br />
in residence and broadcasting concerts and features, the BBC Symphony<br />
Orchestra with local Choruses, conducted by Oliver Knussen, giving rare<br />
performances of Britten’s Cantata Academica and Spring Symphony on<br />
the centenary evening (22.11.), and following up with a Sunday morning<br />
family concert including the Welcome Ode, written for School Choirs<br />
in honour of the Queen’s visit to Suffolk and Britten’s last completed<br />
work, and an enthralling setting of Dylan Thomas’s poem ‘Death shall<br />
have no dominion’ by 16 year old Jay Richardson. There was also a premiere<br />
of a setting of four poems for tenor, horn and strings by 18 year<br />
old Alexei Watkins which held real promise. Several other pieces were<br />
premiered by young composers.<br />
There were choral concerts, including a splendid St. Nicholas with Alan<br />
Oke in Aldeburgh Church where it premiered at the first Festival’s opening<br />
concert in 1948. All three of his string quartets were played, and the<br />
gifted musicians of the recently formed Aldeburgh Strings rounded off the<br />
celebrations on the Sunday evening with the Serenade which led without<br />
a break into Part’s Cantus In Memoriam Benjamin Britten, the glow of<br />
the Maltings acoustic making its own unique tribute.<br />
There were art installations, The Red House, his Aldeburgh home and his<br />
birthplace in Lowestoft (now a Guest House) had open days, the amateur<br />
Aldeburgh Music Club (founded by Britten) gave its own choral<br />
tribute… so much else to enjoy.<br />
The emphasis on young talent was absolutely in the spirit of how Britten<br />
saw his place in society. The set of songs for children, Friday Afternoons,<br />
was sung by 800 children at noon on the birthday at Snape, part<br />
of performances by an estimated 100,000 (!) children worldwide starting<br />
in New Zealand and finishing in California during the day. Because<br />
there was no room for an audience, the enterprising Jubilee Opera independently<br />
arranged a tea party in the Jubilee Hall with sandwiches and<br />
cake and invited guests – Britten’s nephews and others associated with his<br />
life and work – who answered questions, and the youngest and newest recruits<br />
gave their own performance.<br />
St. Margaret’s Church, Lowestoft: “NOYE’S FLUDDE” – 21.11.<br />
Britten’s home town got together for this community project with an enormous<br />
North Suffolk Youth Orchestra, led by the Navarra Quartet, an<br />
equally large array of children as the animals, and soloists as Noye’s children,<br />
their wives and gossips.<br />
Paul Kildea, Britten’s latest biographer, led the whole ensemble seemingly<br />
without any difficulty, and the buglers and hand bell ringers were immaculate.<br />
He also managed the audience rehearsal for the integral hymns with<br />
efficiency and good humour. Martin Duncan directed all his performers<br />
with confidence and clarity, everything could be seen on the acting area,<br />
ramped through the choir to the altar at the east end of the church. At<br />
the finish the lights dimmed and the outside floodlights glowed through<br />
the huge window.<br />
Francis O’Connor provided a wonderful set, Noye’s house pulled on its<br />
side formed the Ark, and the washing line became the sail. Suspended<br />
clouds revealed rain drops and lightning bolts and then opened again as<br />
flowers in front of the beautifully projected rainbow on a curtain of stage<br />
smoke. The animal masks were colourful and had many amusing details,<br />
above all they were fun for performers and audience alike! Chris Ellis<br />
devised the lighting. Gently simple choreography for the child raven<br />
and dove by Adam Scown fitted the little musical interludes like a glove.<br />
Andrew Shore was a forthright Noye, exactly what was required and<br />
most moving at the end when blessed. His Wife, the formidable Felicity<br />
Palmer, was also perfectly cast. Zeb Soanes, a well known radio voice<br />
and Lowestoft born, was the Voice of God; as the audience assembled he<br />
was reading the shipping forecast (an institution of our maritime nation)<br />
Noye‘s fludde, der Stoff über die Arche Noahs (© Robert Workman)<br />
over Noye’s radio, and it was when Noye tried to change the programme<br />
he found he was being instructed by God. A perfect little joke!<br />
Britten said: “I am first and foremost an artist, and as an artist I want<br />
to serve the community”. This extraordinary week end showed how his<br />
works have become his legacy, as he wished.<br />
I recommend a visit to www.britten100.org <br />
„Die Zauberflöte“ – entzaubert<br />
17.11. – Premiere in der Staatsoper<br />
Stephen Mead<br />
Als Wolfgang Amadé Mozart nach dem Höhenflug der Da Ponte-Opern<br />
zum Text eines etwas dubiosen Emanuel Schikaneder griff – wobei man<br />
nicht einmal genau weiß, ob nicht ein Herr Giesecke, Chorist am nämlichen<br />
Theater, daran beteiligt war – hatte das Stück zwar einen Riesenerfolg,<br />
aber die Nachwelt urteilte strenger. Gar zu sehr habe er sich auf die<br />
Maschinenkomödie der Vorstadt eingelassen, meinten selbst wohlmeinende<br />
Mozartfreunde, zu jäh kippten die Leitfiguren Sarastro und Königin<br />
der Nacht vom Guten ins Sinistre und im übrigen sei das Werk eine<br />
allzu simple Kinderoper.<br />
Dabei ist gerade durch die Mischung heterogener Elemente, die das Werk<br />
kennzeichnet, seine Einmaligkeit entstanden, denn wo können Volkstheater<br />
und Ägyptensehnsucht, priesterliche Erhabenheit und gestrenge Initiationsriten,<br />
Freimaurerei und sogar Frauenmissachtung und Rassismus<br />
miteinander auskommen? Ganz einfach: Durch die hohe musikalische<br />
Kunst des Meisters, durch volksliedhafte Schlichtheit, erhabene Polyphonie,<br />
ariose Innigkeit und Herzlichkeit, durch Witz und Charme. So<br />
entsteht das Werk, das fast Jahr für Jahr die Aufführungsstatistik anführt.<br />
Und das trotz aller Schwierigkeiten, die es bietet. Und diese Summe an<br />
Kraft, Wahrheit und Lebendigkeit ist ausgegangen von einem hölzernen<br />
Theater in der Wiedner Vorstadt.<br />
Nun ja. Die Tendenzen des Theaters heute machen eine „Zauberflöten“-<br />
Aufführung nicht einfacher. Ausgeklügelte Gags verdrängen den echten<br />
Humor, die Ausstattungen dürfen nicht mehr märchenhaft sein, sondern<br />
dienen der Erklärung gesellschaftlicher Gegensätze, die auch spürbar waren,<br />
als man das Stück noch vom Blatt spielte. Aber dafür wurde damals<br />
besser gesungen.<br />
So sieht die jüngste Neuinszenierung von Moshe Leiser/Patrice Caurier<br />
eben aus. Eine Produktion, mit der man leben kann (wahrscheinlich praktikabler<br />
als Marellis bereits in Schieflage geratene priesterliche Macht),<br />
6 | DER NEUE MERKER 12/2013
Aktuelles aus Österreich<br />
Die Königin der Nacht bleibt am Boden! - Olga Pudova<br />
das machte, war sehens- und hörenswert. Auch als 2. Priester setzte er im<br />
Umgang mit Papageno etliche Glanzlichter.<br />
<strong>Der</strong> prinzliche Nachfolger, Benjamin Bruns, phrasiert gut, spielt mit Anstand<br />
und ist so mit einigen Facetten für die Rolle versehen. Aber ich habe<br />
das Wiener Mozart-Ensemble der 40er- bis 60er-Jahre miterlebt und mir<br />
fehlt bei den meisten Mitgliedern des Ensembles einfach die klingende,<br />
„gesammelte“ (wie Jürgen Kesting sagen würde) Mittellage. Und ohne die<br />
klingt eben Mozart nicht wirklich. Irgendetwas läuft schief in der zeitgenössischen<br />
Sängerausbildung, denn auch Chen Reiss spielt mit Anmut,<br />
kann in der höheren Lage schöne Bögen bilden, aber die Pamina braucht<br />
eine warme, gut geformte Mittellage, ohne die klingt sie eben kühl. Olga<br />
Pudova hat eine funkelnde Höhe, die Dramatik der Königin kommt nicht<br />
ganz zu ihrem Recht, aber sie hielt sich tapfer, obzwar sie recht unköniglich<br />
entweder zu Fuß hereinspaziert oder – in einem untypischen knallroten<br />
Kostüm – mit ihren Mondsicheln aus der Unterwelt hochfährt. Aber<br />
dafür kann sie ja nichts. Ihr Personal war mit dem munteren Trio Olga<br />
Bezsmertna, Christina Carvin und Alisa Kolosova stimmkräftig und<br />
wortundeutlich besetzt.<br />
D e r Papageno von heute -<br />
Markus Werba mit dem historischen Vogelhändlerkorb<br />
die ein paar knallige Gags bietet, aber absolut charmefrei abläuft, was bei<br />
Franzosen verwunderlich ist – und in der ganz gut, aber nicht ohne eine<br />
gewisse Anstrengung gesungen wird.<br />
Ein Kastenraum ist der Schauplatz, Natur, Weite und Luft sind ausgespart.<br />
Christian Fenouillat ist für die Verdopplung des Bühnenrahmens<br />
mit abschließender Gebäudefront in trostlosen Brauntönen verantwortlich<br />
zu machen, Agostino Cavalca für Kostüme, die von überkandidelt<br />
aufgemotzten Damen bis zur grauen Masse des Chores reichten, der an<br />
vergangene DDR-Zeiten gemahnt. Die Tiere sorgen für die üblichen Kicherer<br />
(Choreographie: Beate Vollack), vom Schnürboden kam allerhand<br />
herunter, auch das Seil für Papagenos Selbstmordversuch, denn es gab keinen<br />
Baum, den er zieren hätte können. Am allerabsurdesten wirkten die<br />
Choristen, wenn sie, als Stasi-Typen mit Hut und Mantel angetan, hereinstürzten,<br />
plötzlich abbremsten und in die feierlichen Priestergesänge<br />
ausbrachen („O Isis und Osiris, welche Wonne!“) und dann wieder hinausstürzten,<br />
um offenbar ihrer Spitzeltätigkeit nachzugehen. Genug davon!<br />
Das ehemals unter dem Schutz des mächtigen Sonnenkreises blühende<br />
Reich des Sarastro ist ein von grauen Bürokraten bevölkertes Armenhaus<br />
geworden. In Bürokleidung von der Stange treten auch Tamino und Pamina<br />
nach ihrer unterirdischen Feuer- und Wasserprobe auf. Ob sich die<br />
auch ausgezahlt hat? Welche Botschaft wollten uns die Regisseure, von denen<br />
man sehr wohl Besseres gewöhnt ist, eigentlich verkünden?<br />
Brindley Sherratt ließ sich zwar ansagen, sang aber einen seriösen Sarastro.<br />
Dass die durch Kothurne geschaffene 2-Meter-Größe nicht ausreichte,<br />
ihm auch Bühnenpräsenz zu verleihen, blieb nicht verborgen, aber<br />
so kann man einen Sarastro wirklich nicht herrichten. Auch sein Sprecher<br />
gab einen gemütlichen Bürovorstand, aber w i e Alfred Šramek<br />
Das hohe Paar im Prüfungs-Streß (alle © Armin Bardel)<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 7
Aktuelles aus Österreich<br />
Das gefiederte Paar bot einen Lichtblick, denn es gab nichts auszusetzen,<br />
außer dem hässlichen und sicher sehr strapaziösen Rabenkostüm der Papagena<br />
Valentina Nafornita, die ihre Model-Figur erst im Höhenflug<br />
mit Papageno zeigen konnte. Gesanglich ist sie natürlich über die Rolle<br />
längst hinaus. Markus Werba ist ein sehr natürlicher, munterer und herzlicher<br />
Papageno, der alles absolut richtig macht, was für die Rolle erforderlich<br />
ist. Dafür hat er für seine Witze pünktlich die Lacher. Thomas<br />
Ebenstein (Monostatos), der von der Berliner Komischen Oper kommt,<br />
ist, wie dort üblich, äußerst spielfreudig. Auch seine Arie hat er im Griff.<br />
Marian Talaba und Dan Paul Dumitresco waren stimmkräftige Geharnischte,<br />
natürlich ohne Harnisch. Benedikt Kobel ergänzte die (sogenannte)<br />
Priesterschaft. Die drei Sängerknaben, die nicht zu ihrer Auftrittsmusik<br />
anfliegen durften, sondern erst mit Pamina, nachdem sie deren<br />
Selbstmord verhindert hatten, wegfliegen, waren außer Form. Auch da<br />
kriselt es offenbar, seit drei Chöre Geld verdienen müssen.<br />
Keine guten Impulse kamen vom Pult. Christoph Eschenbach hat zwar in<br />
mehreren Chefposten ein Repertoire angesammelt, das er jederzeit überall<br />
einsetzen kann, aber er tut es überhastet, so schnell, dass die Sänger kaum<br />
artikulieren können, oder so langsam, dass man einen Stillstand befürchtet.<br />
Mehr Ruhe, mehr Übersicht, mehr Begleitqualitäten würde er brauchen,<br />
um in der Oper reüssieren zu können, wie einstmals als Pianist. Das<br />
Staatsopernorchester spürte das auch, realisierte diszipliniert all die verlangten<br />
Tempi, aber gelegentlich hatte man den Eindruck, es würde den stärksten<br />
Fluch verhängen, den es auf Lager hat: „Wir spielen, was er dirigiert“!<br />
<strong>Der</strong> Staatsopernchor (unter Martin Schebesta) sang tadellos und trotz<br />
der schäbigen Verkleidung sehr animiert.<br />
Nehmt alles nur in allem: Mit Mozart geht es derzeit an der Staatsoper<br />
(und auch anderswo) nicht so gut.<br />
Trotzdem freundlicher Applaus. <br />
I.M.S.<br />
Ein verwüstetes und unheimlich-dunkles Kreta erwartet uns in der Inszenierung<br />
von Damiano Michieletto. Sind die vielen Gummistiefel, die auf<br />
dem vergammelten Sand des Strandes herumliegen, die kärglichen Überreste<br />
der Seeleute, die mit Idomeneo zurückkehrten und beim Scheitern<br />
seines Schiffes ertranken, obzwar er den verhängnisvollen Eid geleistet<br />
hatte, Neptun das erste Lebewesen zu opfern, das ihm nach seiner Rettung<br />
begegnen würde? Doch nein, er wird in einem Spitalsbett wach –<br />
offenbar nach einem Alptraum, denn der (lt. Homer) „lanzenberühmte“<br />
Held, der so stolz „mit achtzig dunkelen Schiffen“ gen Troja zog, ist nur<br />
mehr ein Schatten seiner selbst. Sein Sohn Idamante, den er, wie in einem<br />
Video während der Ouvertüre erklärt wird, mit der Einkleidung in den<br />
herkömmlichen Politikeranzug zum Statthalter und Nachfolger geweiht<br />
hat, ist offenbar seiner Aufgabe nicht gewachsen gewesen und hat stattdessen<br />
Ilia, die gefangene trojanische Prinzessin, geschwängert (Schwangere<br />
sind momentan in vielen Stücken zu sehen, wo sie gar nicht hingehören,<br />
das ist derzeit „in“). Und der politische Flüchtling Elettra geht<br />
hochmodische Teile shoppen und stöckelt damit über den verwüsteten<br />
Strand. Das ist die Situation.<br />
Michieletto hat aber eine bemerkenswerte Eigenschaft: Er kann faszinierende<br />
Bilder entwerfen! Wenn sie auch noch so triste sind, sie wirken packend<br />
und schaffen den Hintergrund einer Situation, auch wenn sie gar<br />
nicht der gerade zu spielenden entspricht. Als ihn Alexander Pereira in<br />
Salzburg aus dem Hut zog, hat er mit „Mimis Würstelstand an der Autobahn“<br />
(La Bohème) seine Blitzkarriere weltweit gestartet. Und so treibt er<br />
es auch im „Idomeneo“. Was hier aufgeführt wird, ist ein anderes Stück,<br />
wirkt aber gut gemacht. Er überzeugt das Personal, das sich die Seele aus<br />
dem Leib singt und spielt – und damit überzeugt er (zumindest teilweise)<br />
auch das Publikum.<br />
Und so taumelt die Bevölkerung des hundertburgigen Kreta wie vom Taifun<br />
verblasen umher, wälzt sich wie die aus Eifersucht und Neid wahnsinnig<br />
werdende Elettra im Dreck, der alte König stirbt und wird auch<br />
gleich im Sand verscharrt, Ilia bringt ihr Kind zur Welt und so hat das<br />
junge Paar auch sofort einen Thronfolger – fast wie in England. Wenn<br />
man Mozarts Idomeneo schon kennt und ohnedies der Decker-Inszenierung<br />
der Ära Holender nachweint, die nach zwei kurzen Serien spurlos<br />
verschwand, ist man zumindest interessiert daran, was die Regisseure mit<br />
den wehrlosen alten Stücken noch aufführen werden.<br />
Musikalisch ging allerdings alles seinen geregelten Gang. René Jacobs<br />
hat nie die magersüchtige Darstellungsweise der „echten“ Originalklangler<br />
goutiert, auch nicht ihr atemloses Hineinhacken. Er war immer bestrebt,<br />
eine schöne Linie zu finden, er ist oft gescholten worden wegen<br />
„üppiger“ Besetzungen oder (bei Monteverdi) auch ebensolcher Instrumentationen,<br />
die man als zu dick empfand. Offenbar hat er seine Sängererfahrungen<br />
für eine abgerundete Gesamtwirkung genützt. Und so ist<br />
er heute ebenso beliebt wie angesehen und wird bejubelt, wo immer er<br />
auftritt, und mit ihm sein hervorragendes Ensemble, das Freiburger Barockorchester.<br />
<strong>Der</strong> phänomenale Arnold Schoenbergchor macht höchst<br />
professionell alle Extreme mit, die der Regisseur fordert und singt dabei<br />
großartig, mit perfekter Phrasierung und Intonation. Und gute Sänger<br />
hat Jacobs auch immer wieder.<br />
Richard Croft, sehr zurückgenommen (sein böser Mitridate in Salzburg<br />
05/06 ist unvergessen!), gibt den alten, müden König mit Stil und Ausdruck.<br />
Idamante war für uns neu, ein aparter Mezzo in stimmlicher und darstellerischer<br />
Hinsicht: Gaëlle Arquez. Weitere Begegnungen sind erwünscht! Sehr<br />
fein und intensiv gestaltete Sophie Karthäuser die Ilia. Marlis Petersen<br />
sang nicht nur die gefürchtete Partie der Elettra fabelhaft, sie spielte auch<br />
ein weites Ausdrucksregister auf faszinierende Weise. Julien Behr machte als<br />
Theater an der Wien<br />
15.11. „IDOMENEO“<br />
<strong>Der</strong> Titelheld in Aktion - Richard Croft (© Werner Kmetitsch)<br />
Arbace mit einer sehr gut gesungenen Arie aufhorchen, Mirko Guadagnini<br />
war ein kraftvoller Sacerdote. Das Orakel kam vom Band. (Luca Tittoto.)<br />
Voller Erfolg. <br />
I.M.S.<br />
8 | DER NEUE MERKER 12/2013
Aktuelles aus Österreich<br />
16.11.: „LES DANAΪDES“ (konzertant)<br />
Wieder einmal konnte man im Theater an der Wien ein seltenes und äußerst<br />
interessantes Werk erleben, das in Kooperation mit dem Pariser Palazzetto<br />
Bru Zane aufgeführt wurde. Antonio Salieri bekam durch Gluck,<br />
der den jungen Kollegen sehr förderte, die Gelegenheit, dieses Sujet, das<br />
schon bei Metastasio ein Thema war, zu vertonen, und damit in Paris ein<br />
erfolgreiches Debut als Opernkomponist zu machen.<br />
Die Handlung – bei Aischilos überliefert – ist äußerst blutrünstig: es geht<br />
um die zutiefst verfeindeten Zwillingsbrüder Danaos und Aigyptos, die,<br />
um den Familienstreit zu beenden, beschließen, ihre je 50 Töchter und 50<br />
Söhne (wie außerordentlich fruchtbar!!) miteinander zu verheiraten. Danaos<br />
ist jedoch unversöhnlich und verpflichtet seine Töchter, ihre jungen<br />
Ehemänner in der Hochzeitsnacht zu ermorden. Nur die älteste Tochter<br />
Hypermnestra, die sich schon in ihren Bräutigam verliebt hat, folgt diesem<br />
Befehl nicht und warnt ihren Gatten Lynkeus. <strong>Der</strong> Vater bezichtigt sie<br />
des Verrats und wird von Lynkeus, der seine Brüder rächt, getötet. Danaos<br />
und seine Töchter müssen in der Unterwelt von Furien gequält für ihre Taten<br />
bis in alle Ewigkeit büßen.<br />
Salieri hat das Werk ganz im Stile von Glucks Reformopern komponiert,<br />
schon weit entfernt von barocken Traditionen. Das Orchester steigert<br />
sich in die Düsternis und Dramatik der Handlung wechselnd mit lieblichen<br />
Melodien, sodass man meint, schon die zukünftige Entwicklung zur<br />
französischen Grand Opéra ahnen zu können. <strong>Der</strong> Chor spielt sowohl in<br />
kommentierender als auch in handelnder Funktion eine tragende Rolle.<br />
Man könnte die „Danaiden“ als eine Choroper bezeichnen.<br />
Die Aufführung lag in den fähigen Händen von Christophe Rousset, der<br />
sein Ensemble Les Talens Lyriques zu wahrem musikalischen Ausdruck und<br />
Furor anfeuerte, der auch Bühne und Publikum mitriss. <strong>Der</strong> ausgezeichnete<br />
Chor Les Chantres du Centre de Musique baroque de Versailles, der hörbar<br />
nur aus mehrjährig ausgebildeten Sängern besteht, begeisterte das Publikum<br />
und war wesentlich am Erfolg des Abends beteiligt.<br />
Ferner gab es ein ausgezeichnetes Sängerensemble, das der Musik Salieris<br />
voll Rechnung tragen konnte:<br />
Zuerst möchte ich die niederländische Sopranistin Judith van Wanroij<br />
nennen, die mit schöner, klarer Stimme sowohl die lyrischen Aspekte der<br />
Hypermnestre ausfüllte als auch zu dramatischen Ausbrüchen in ihrer<br />
großen Bravourarie fähig war.<br />
Ihr Vater Danaos wurde vom Bass Thassis Christoyannis mit der hier<br />
notwendigen Strenge und Düsternis gesungen, sodass der rachsüchtige<br />
König auch ohne Kostüm auf der Bühne erstand.<br />
Im Gegensatz dazu stand der Bräutigam Lyncée von Philippe Talbot mit<br />
lyrischen und lieblicheren Tönen. Ergänzend in kleineren Rollen: Katia<br />
Velletaz und Thomas Dolié.<br />
Ein sehr schöner und interessanter Abend, der die Möglichkeit bot, den<br />
Komponisten Salieri, der im Bewusstsein der heutigen Musikfreunde meist<br />
nur durch die Mordgerüchte um Mozart verankert ist, einmal wirklich zu<br />
hören und an einem Jugendwerk zu messen. Silvia Herdlicka<br />
Kammeroper: „LA CENERENTOLA“ – Pr. 25.11. -<br />
Junges Ensemble zu bewundern<br />
<strong>Der</strong> jugendliche Antonio Salieri im zeitgenössischem Porträt<br />
Als Ableger des Theaters an der Wien, das sich damit wohl bis zu einem<br />
gewissen Grad den eigenen Nachwuchs aufbaut, hat die Kammeroper natürlich<br />
eine andere Basis als früher unter eigener Leitung. Die Sänger der<br />
Hauptrollen dieser Rossini-Buffa könnten wohl auch im größeren Haus<br />
schon sehr wohl bestehen.<br />
Als fabelhafte Titelrollensängerin gab es die Italienerin Gaia Petrone zu hören.<br />
Sie ist Besitzerin eines prachtvollen Mezzosoprans, apart timbriert, beachtlichen<br />
Volumens und vor allem butterweich sich jeder Kantilene anschmiegend<br />
und genussvoll dort verweilend, egal ob im lyrisch-elegischen „Una volta c’era<br />
un re“, als ruhig-feste vokale Basis in den Szenen mit ihren keifenden Schwestern<br />
oder im finalen Koloratur-reichen, virtuosen Höhenaufschwung. In dieser<br />
Stimme steckt wohl noch sehr viel mehr drinnen. Schlicht und sympathisch<br />
gestaltete sie die Angelina, ohne sich demonstrativ in den Mittelpunkt<br />
zu spielen. Die Gewinnerin mehrerer internationaler Gesangswettbewerbe<br />
wird u.a. noch in dieser Spielzeit den Sesto im „Titus“ singen.<br />
Einen ebensolchen Publikumserfolg konnte der Tenor Andrew Owens<br />
als Don Ramiro einheimsen. Kraft und Saft einer gut geführten Stimme<br />
vereinigte sich mit schönem Höhenglanz und sein temperamentvoll geäußertes<br />
Vorhaben, die geliebte Braut wiederzufinden: „Noi voleremo, domanderemo…“<br />
erntete hellen Jubel. Die kernige, flexible und schon recht<br />
große Baritonstimme seines „Dieners“ Dandini, Ben Connor gehörend,<br />
war seinem prinzlichen Herrn durchaus ebenbürtig.<br />
Obwohl sich der Bassist Igor Bakan, der in dieser Produktion gleich in beiden<br />
Rollen, als Don Magnifico und Alidoro, auftrat, wegen gesundheitlicher<br />
Probleme entschuldigen ließ, schlüpfte er mit viel Stimmkraft und großem<br />
spielerischem Einsatz von einer Rolle in die andere, sodass er trotz allem einen<br />
sehr positivnr Eindruck hinterließ. Gar so greisenhaft hätte er freilich nicht<br />
umhertapsen müssen. Und auch die beiden bösen Schwestern, Gan-ya Bengur<br />
Akselrod (Clorinda) und Natalia Kawalek-Plewniak (Tisbe) agierten<br />
derart überdreht und waren ebenso dümmlich aufgemacht, dass eine seriöse<br />
Beurteilung auch der durchaus respektablen vokalen Leistungen schwer fällt.<br />
Doch dafür ist wohl in der erster Linie die Regie verantwortlich. Jasmin<br />
Solfaghari ist zweifellos eine sehr musikalische Regisseurin, war (siehe das<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 9
Aktuelles aus Österreich<br />
Das Cenerentola-Ensemble in voller Spielfreude (© Armin Bardel)<br />
folgende Interview) Berufsmusikerin und bemüht sich, wirklich aus der<br />
Musik heraus zu inszenieren. Beginnend schon während der Ouvertüre mit<br />
dem Wäsche-Aufhängen der Cenerentola auf einer Leine, die nach jeden<br />
daran geklammerten Wäschestück einen Ruck höher im Rhythmus der<br />
Musik quer über den Orchestergraben hochgezogen wird, bewegen sich<br />
dann auch alle Personen auf der Bühne sehr genau zum jeweiligen musikalischen<br />
Ablauf. Dass da mitunter etwas zu viel des Guten getan wird,<br />
liegt auf der Hand. Auf jeden Fall hat Frau Solfaghari eine Menge Ideen<br />
und weiß diese auch umzusetzen. Im einfach gehaltenen Bühnenrahmen<br />
(Mark Gläser) und mit z.T. geschmackvollen (Angelina in schlichtem<br />
Weiß, der Tenor im Privatgewand, mit bloß einer Seidenschleife nach seiner<br />
Rückverwandlung in den Prinzen), aber zum größeren Teil überkandidelten<br />
Kostümen (Petra Reinhardt) war die Optik zwiespältig, aber die<br />
Bühne zumeist hell und somit alles gut zu sehen.<br />
Unnötig war der Einsatz eines Erzählers namens Luna, ein älterer Herr (Alexander<br />
Waechter), der sich als Mann vom Mond vorstellt, der immer wieder<br />
gern unseren Planeten besucht, weil es hier etwas gibt, was er zuhause<br />
nicht vorfindet: die Oper. Da schleicht er sich dann auch gerne von hinten<br />
in ein Opernhaus ein, ungeniert, ob er dabei erwischt wird oder nicht, und<br />
fühlt sich bemüßigt, die aufgeführten Stücke zu kommentieren. Das war<br />
nur mäßig witzig und bestand im Wesentlichen aus kurzen Inhaltsangaben<br />
dessen, was vorher passiert ist und demnächst passieren wird. Gegen<br />
Schluss der Oper bleibt er dann mit dem übrigen Ensemble auf der Bühne.<br />
Das mag für Kindervorstellungen ganz hilfreich sein. Am Premierenabend<br />
sah ich aber keine so jungen Gäste und fand die nicht von Rossini vorgesehenen<br />
Sprechtext eher störend.<br />
Viel Rossini-Vergnügen breitete sich hingegegen vom Orchestergraben aus.<br />
<strong>Der</strong> russische Dirigent Konstantin Chudovsky, der bereits auf ein erstaunlich<br />
vielfältiges Repertoire von Moskau bis Chile (wo er seit Jänner 2013<br />
Chefdirigent des Philharmonischen Orchesters in Santiago ist) vorweisen<br />
kann, hat u.a. Carmen, Kátja Kabanova, Die Sache Makropoulos, Rossinis<br />
Barbiere und an der Kammeroper La cambiale di matrimonio, ferner Siberia<br />
(Giordano), Lady Macbeth von Mzensk und Khovanshchina dirigiert. Mit<br />
Rossini kann er bestens umgehen. Da ist kein Leerlauf. <strong>Der</strong> oft (auch zuletzt<br />
an der Staatsoper unter Lopez-Cobos) so belanglos wirkende Beginn<br />
der Ouvertüre ist zugleich spritzig, von heller Harmonie geprägt und erhöht<br />
die Erwartungshaltung des Zuhörers, ehe das Stück dann auf Rossini-<br />
Tempo kommt. Das ist nie überdreht, sondern mitreißend in seiner ständigen<br />
Bewegtheit, meist mit wunderbaren Crescendi aufgebaut, und dann<br />
oft übersprudelnd vor lauter komponierter Lebensfreude. Die großen Ensembles<br />
samt dem sehr engagierten Chor gelangen durchwegs brillant. Das<br />
Wiener Kammerorchester hatte hörbar seine helle Freude am inspirierten<br />
musikalischen Geschehen. Sieglinde Pfabigan<br />
Die Regisseurin Jasmin Solfaghari<br />
Von Kindheit an Wagner<br />
Eine Woche vor der Premiere ihrer „Cenerentola“-Inszenierung in der<br />
Wiener Kammeroper stand die Regisseurin Jasmin Solfaghari dem<br />
„<strong>Merker</strong>“ Rede und Antwort.<br />
„Cenerentola“ in der Kammeroper<br />
Es ist nicht die erste Regiearbeit von Jasmin Solfaghari in Wien, aber die<br />
andere – „Eine Nacht in Venedig“ 1999 in der Kammeroper, damals von<br />
Josef Hussek engagiert – liegt lange zurück. (In den eigenen Kritiken kramend,<br />
habe ich damals geschrieben: „Regisseurin Jasmin Solfaghari, Assistentin<br />
von Harry Kupfer und anderen Großen, ließ sich auf keinerlei Experimente,<br />
sondern nur auf gute Laune ein.“)<br />
Sie hat auch in Linz und Klagenfurt gearbeitet, aber eines Tages kam der<br />
Anruf aus Wien, vom Theater an der Wien. Nicht von Direktor Geyer<br />
persönlich, aber von Sebastian Schwarz, der als künstlerischer Leiter am<br />
Haus fungiert. Ihn kennt Jasmin Solfaghari aus ihren und seinen Anfängen<br />
1992 in Rostock.<br />
Er dachte vermutlich an Jasmin, weil sie sich einen gewissen Ruf als Gestalterin<br />
auch von kindergerechten Opernaufführungen erworben hat,<br />
und die „Cenerentola“, die das Theater an der Wien in der Kammeroper<br />
zeigen will, soll sowohl für Kinder wie auch vollinhaltlich für Erwachsene<br />
geeignet sein.<br />
„Herr Luna erzählt“<br />
Für ihre „alt und jung“-Fassung der „Cenerentola“ greift die Regisseurin<br />
auf eine Figur zurück, die sie 2009 in Leipzig kreiert hat, als sie dort eine<br />
kindergerechte Fassung von „Figaros Hochzeit“ schuf. „Herr Mond“ ist<br />
bei ihr Opernfan und begibt sich gerne auf die Erde, um diese oder jene<br />
Vorstellung zu sehen. Er wird auch in Wien als deutschsprachiger Erzähler<br />
(bei italienischem Gesang) dabei sein und die Züge von Josefstadt-Schauspieler<br />
und Rosenburg-Intendant Alexander Waechter tragen. Er berichtet<br />
von der wahren Liebe eines Paares, des Prinzen und des Aschenputtels,<br />
und darauf legt die Regisseurin besonderen Wert: „Wir legen uns nicht fest,<br />
an welchem Ort, zu welcher Zeit das spielt – es ist einfach eine ewige Liebesgeschichte.“<br />
Mit nicht so liebenswürdigen Nebenfiguren, die alles tun, um<br />
gesellschaftlich aufzusteigen, wie das im Leben auch schon mal vorkommt.<br />
Für die Ausstattung hat Jasmin Solfaghari ihr eigenes Team mitgebracht.<br />
Das Bühnenbild stammt von Mark Gläser und vor allem die Kostüme von<br />
Petra Reinhardt sollten besonders schön werden, „Bei mir wird niemand<br />
wirklich hässlich gemacht“. Vielleicht erinnert die Angelina manchen Zuschauer<br />
spontan an Audrey Hepburn, und das wäre dann ganz richtig so…<br />
„Um das Ego geht’s erst ganz spät“<br />
Dass sie ihre Darsteller nicht hässlich machen will und dass es von ihr die<br />
Aussage gibt: „Es geht um die Stücke, um das Ego geht’s erst ganz spät“, hebt<br />
Jasmin Solfaghari aus dem Kreis der heute erfolgreichen Regisseure heraus.<br />
Sie hat kein Problem damit, dass es sie manchmal wie ein Vorwurf trifft,<br />
„werkkonservativ“ zu sein, aber ihr Sinn steht keinesfalls auf Zerstörung.<br />
Sie hat auch keinerlei „Inszenierungs-Masche“ entwickelt, so dass man sie<br />
auf Anhieb erkennen könnte. Sie fragt zuerst, was das Werk selbst und natürlich<br />
die Musik ihr erzählen, dann denkt sie sich ihr Konzept dazu aus.<br />
Dabei verweist sie auf ihre Homepage (http://www.solfaghari.com/), die<br />
sie selbst betreut, und wo sie sich den Spaß gemacht hat, lange Bilderserien<br />
von allen ihren Inszenierungen hineinzustellen…<br />
Übrigens gibt Jasmin Solfaghari gerne zu, dass nicht alles gelingen kann.<br />
„Tannhäuser“ beispielsweise, den sie 2008 an der Kölner Oper inszeniert<br />
hat, würde sie gerne noch einmal machen, obwohl sie einiges daran (etwa<br />
die Verstörtheit/Zerstörtheit der Elisabeth, wie Camilla Nylund sie damals<br />
zeichnete) ganz gelungen findet. Wie Jasmin Solfaghari zu ihrer besonderen<br />
Verbundenheit zu Wagner fand, dazu muss man weit zurückgehen –<br />
aber vielleicht fangen wir am besten gleich am Anfang an…<br />
10 | DER NEUE MERKER 12/2013
Aktuelles aus Österreich<br />
als Kollege ein gewisser Klaus Florian Vogt das Horn. Aber weder Jasmin<br />
noch Klaus Florian konnten sich vorstellen, lebenslang im Orchestergraben<br />
zu versinken. Man weiß, was daraus geworden ist – Klaus Florian<br />
Vogt ist heute einer der führenden Wagner-Tenöre nicht nur Deutschlands,<br />
sondern der Welt, und Jasmin Solfaghari baute sich eine bemerkenswerte<br />
Karriere als freie Regisseurin auf…<br />
Die Regisseuse Jasmin Solfaghari<br />
Erinnerungen an Persien<br />
Jasmin Solfaghari, die ihr Geburtsdatum (1963) keinesfalls verschweigt,<br />
kam in Freiburg im Breisgau zur Welt, übersiedelte aber schon im Babyalter<br />
nach Teheran. Ihr Vater hatte bei seinem Wirtschaftsstudium in<br />
Deutschland ihre Mutter kennen gelernt („Persisch-deutsche Ehen waren<br />
damals sehr häufig, da viele Perser aus bürgerlicher Familie in Deutschland<br />
studierten,– ich treffe immer wieder Leute wie mich, die aus solchen Beziehungen<br />
stammen!“). Jasmin Solfaghari hat nur positive Erinnerungen daran,<br />
als kleines Mädchen in Persien aufzuwachsen, inmitten einer riesigen Familie,<br />
in der sich ihre Mutter auch sehr wohl und keinesfalls unterdrückt<br />
fühlte. Dennoch waren die kulturellen Unterschiede im Lauf der Zeit zu<br />
groß – nach der Trennung ihrer Eltern kehrte sie mit ihrer Mutter nach<br />
Deutschland zurück. Problemlos. Die große Dramatik, die etwa in dem<br />
Buch der Amerikanerin Betty Mahmoody „Nicht ohne meine Tochter“<br />
geschildert wird, fand bei den Solfagharis nicht statt.<br />
„Ich habe aus meinen wunderschönen Jahren in Teheran den passiven Sprachschatz<br />
einer Sechsjährigen mitgebracht, verstehe viel mehr, als ich leider spreche“,<br />
meint Jasmin Solfaghari, die seit ihrer Kindheit nie mehr im Iran<br />
war, denn ihre Familie hat das Persien von einst mit dem Schah nach der<br />
Revolution verlassen. Heute wohnen die meisten in Los Angeles, wo sie<br />
ihren alten, vitalen Vater und ihren Bruder mit Familie gerne besucht.<br />
Freiburg und Wagner<br />
Aufgewachsen ist Jasmin dann in Freiburg im Breisgau, einem von Kultur<br />
durchdrungenen Universitäts-Städtchen, Frankreich und die Schweiz<br />
gleich „nebenan“ (Sprachen sind übrigens eine Leidenschaft von Jasmin<br />
Solfaghari, die an der ordentlichen französischen (ihre Großmutter stammt<br />
aus der französischen Schweiz) oder italienischen Aussprache ihrer Sänger<br />
unermüdlich arbeiten kann), und Wagner mittendrin. Josef Lienhart<br />
führte hier nicht nur eine traditionsreiche Bäckerei, die zum Zentrum aller<br />
Musik-Liebhaber wurde, er war auch Präsident des Internationalen<br />
Richard-Wagner-Verbands, und die kleine Jasmin, die dort Stammgast<br />
war, wuchs mit Musik auf – aber, was sie heute noch besonders schätzt,<br />
keinesfalls eindimensional. „Leute, die im Sommer nach Bayreuth fuhren,<br />
waren ebenso bei moderner Musik in Donaueschingen zu finden, gingen in<br />
Kammer- und Kirchenkonzerte.“<br />
Von familiärer Seite hatte sie zunächst positive Einflüsse durch ihren<br />
mehr als opernbegeisterten Onkel, der in seiner Freizeit Bühnenbildmodelle<br />
und Figurinen von u.a. Jean-Pierre Ponnelle nacharbeitete, und ihrer<br />
Tante, die Ballerina am Freiburger Stadttheater war. Dort gab Jasmin Solfaghari<br />
mit 18 Jahren innerhalb ihrer einjährigen Hospitanz im „Rheingold“<br />
auch als Statistin hinter der Bühne „die Welle rechts“ (Regie: Siegfried<br />
Schoenbohm).<br />
Für Jasmin begann die „praktische“ Auseinandersetzung mit Musik mit<br />
der Querflöte – später im Orchester der Hamburgischen Staatsoper blies<br />
Das Handwerk lernen und weitergeben<br />
Das Handwerk hat sie bei bedeutenden Regisseuren gelernt, und Namen<br />
wie Harry Kupfer, Götz Friedrich oder Marco Arturo Marelli heben sie<br />
auf ein ganz hohes Niveau. Aber Jasmin Solfaghari erinnert sich auch sehr<br />
gerne an Christine Mielitz, der sie ein besonderes Erlebnis verband: Wie<br />
deren „Fidelio“ nämlich kurz vor dem Fall der Mauer an der Dresdner<br />
Semperoper zu einem Beispiel politischen Theaters wurde („Wir sind belauscht<br />
mit Ohr und Blick“), wie man es selten so deutlich erleben konnte…<br />
Solange man es noch nicht wagen kann, in der Unsicherheit des „freien<br />
Schaffens“ zu leben, ist eine Anstellung natürlich wünschenswert, und<br />
Jasmin Solfaghari, die heute mit ihren beiden Söhnen in Berlin lebt, hat<br />
sich immer wieder gebunden: Von 1993 bis 1998 war sie Spielleiterin an<br />
der Hamburgischen Staatsoper, zuständige Betreuerin für den „Ring“ von<br />
Günther Krämer, dann von „Rheingold und „Siegfried“ an der Deutschen<br />
Oper, und „wenn man über Jahre immer wieder Sänger in ihre Rollen einweist<br />
und dabei auch ihre vielleicht nicht anwesenden Partner spielen muss,<br />
lernt man ein Werk auch so intensiv wie nur möglich. Gerne erinnere ich mich<br />
an meine „Einspringer“ bei Hamburger Bühnenorchesterproben als Riese, Wotan<br />
oder Mime im 1. Akt Siegfried, aber auch als Ida in der ‚Fledermaus’“.<br />
Diese Kenntnis hat sie immer wieder versucht, an Studierende weiterzugeben<br />
– nach (und neben) einigen Jahren (2001 bis 2004) als „inszenierende<br />
Oberspielleiterin“ in Bremerhaven („vier eigene Produktionen im Jahr<br />
klingt viel, ist aber machbar“) und 2004 bis 2006 Oberspielleiterin an der<br />
Deutschen Oper Berlin, hat sie an verschiedenen Hochschulen unterrichtet,<br />
Schwerpunkt Leipzig (5 Jahre als Professorin) und Dresden, sowie innerhalb<br />
ihrer internationalen Meisterkurse.<br />
Auf die Frage, ob es nicht eine Schwemme junger Sänger gibt, die keine<br />
Chance im großen Opernbetrieb haben, verweist Jasmin Solfaghari erstaunlicherweise<br />
auf die entgegen gesetzte Erfahrung: „Es gibt sogar manchmal<br />
immer wieder junge Leute mit Stimmen und Talent, die man geradezu<br />
ermutigen muss, sich in die Karriere hineinzuwagen.“<br />
Die Regisseurin, die so viel von Musik versteht (welche berühmten Regiekollegen<br />
nicht imstande sind, eine Partitur zu lesen, sagt sie natürlich<br />
nicht), rühmt sich auch ihrer guten Ohren: „Ich habe mich in Leipzig als<br />
Professorin sehr dafür eingesetzt, Anette Fritsch als meine ‚Figaro‘-Gräfin zu<br />
besetzen, weil ich wusste, dass sie es kann – und wenig später war sie schon<br />
Hanekes Fiordiligi in Madrid und Brüssel. Zu schade, dass ihr Staatsoperndebut<br />
als Marie in der ‚Regimentstochter’ krankheitshalber nicht zustande kam.“<br />
Vielseitigkeit ist ihre Stärke<br />
Ob „Tannhäuser“, ob „Eine Nacht in Venedig“, ob Händel oder Henze,<br />
ob die ganz Modernen (sehr gern erinnert sich an „L’absence“ der deutschjüdischen<br />
israelischen Komponistin Sarah Nemtsov, die sie 2012 bei der<br />
Münchner Biennale mit größtem Erfolg herausgebracht hat) – Jasmin Solfaghari<br />
setzt sich mit allem auseinander, was sie interessiert. Wagner steht<br />
dabei immer in vorderster Reihe – und ihn Kindern nahe zu bringen, ist<br />
ihr besonders wichtig. „<strong>Der</strong> Ring für Kinder“, den sie in Leipzig herausgebracht<br />
hat, war ein solcher Erfolg, dass er 2014 wieder aufgenommen<br />
wird, und ein „Ring in 100 Minuten“ wird im April 2014 im Atze Musiktheater<br />
in Berlin Premiere haben, ebenfalls mit dem Erzähler Luna. Ernst<br />
genommen, keine Parodie.<br />
Würde Jasmin Solfaghari gerne den „Ring“ in Bayreuth inszenieren? Welch<br />
eine Frage! Jedenfalls wäre es nach der Castorf’schen Willkür doch ganz<br />
schön, wieder einmal jemand Kompetenten zu holen, der das Werk nicht<br />
nur bis in jedes Detail kennt, sondern es auch liebt und ehrt und keinerlei<br />
Zerstörungsgelüste kennt? <strong>Der</strong> Name Jasmin Solfaghari böte sich da<br />
geradezu zwingend an… <br />
Renate Wagner<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 11
Aktuelles aus Österreich<br />
NEUE OPER WIEN<br />
1.11. Muqua-Halle E: „Paradise reloaded“<br />
(Lilith) – <strong>Der</strong>nière<br />
Die im Rahmen von WIEN MODERN uraufgeführte Oper von Peter Eötvös<br />
stieß auf so großes Interesse, dass sogar die letzte Aufführung dicht gefüllt<br />
war und mit starkem Beifall bedacht wurde. Dabei ist der Plot wirklich<br />
nicht einfach zu erzählen und der Abstieg in die Frühgeschichte über<br />
Adams erste Frau, die gleichberechtigt mit ihm vom Schöpfer aus Lehm<br />
geformt wurde, führt etymologisch bis ins alte Sumer. Die anschmiegsame<br />
Eva, aus Adams Rippe gestaltet, schaffte es bis in die Schöpfungsgeschichte<br />
und damit in die Bibel, die Lilith, selbstbestimmend und die Unabhängigkeit<br />
suchend, wurde in Apokryphen verbannt, wo sie der Vergessenheit anheimfiel.<br />
(Vor starken Frauen fürchten sich die Männer – und das in allen<br />
Religionen und Kulturkreisen. Eine Erinnerung an das Matriarchat?)<br />
Worüber soll man heutzutage noch eine Oper schreiben? An die verteufelte<br />
Lilith traut sich außer Albert Ostermeier kaum jemand heran. So schrieb<br />
er das Libretto für Eötvös, schon als zweite Auseinandersetzung mit dem<br />
Stoff, nach „Die Tragödie des Teufels“. Leider verstand man den Text nicht,<br />
eine Übertitelung gab es nicht, und so war man auf die nachträgliche Textlesung<br />
im Programm angewiesen, die einem dann auch nicht mehr viel hilft,<br />
weil man Text und Musik nicht mehr in Verbindung bringen kann. Scharfe<br />
Schlagzeugfetzen und eine farbige Instrumentation markieren die Dominanz<br />
der dämonischen Lilith; mit der Eötvös eigenen Sensibilität werden<br />
auch zarte, irisierende Farben gemischt, die, von Elektronik unterwandert,<br />
seinen Personalstil kennzeichnen. (Nicht umsonst hat er an IRCAM gearbeitet<br />
und das Ensemble InterContemporain geleitet.)<br />
Hervorragend gelang Walter Kobéra mit dem amadeus-ensemble wien<br />
die musikalische Realisierung des schwierigen Orchesterparts, die Regie von<br />
Johannes Erath musste zwangsläufig eher im Statischen verharren (Ausstattung:<br />
Katrin Connan), was den positiven Effekt hatte, dass man sich<br />
umso mehr auf die Musik konzentrieren konnte.<br />
Annette Schönmüller gab der Lilith die Wildheit und Dämonie, die man<br />
mit dieser Gestalt verbindet, und dazu einen kraftvollen Mezzo, Rebecca<br />
Nelsen formte den sanften Gegenpol Eva mit höhensicherem Sopran; Eric<br />
Stoklossa gab den Adam als Schwächling zwischen den beiden Frauen<br />
und sang mit sicherem Tenor. David Adam Moore tobte als Lucifer vergebens,<br />
Eva hat gewonnen.<br />
Peter Eötvös wurde auch bei der <strong>Der</strong>nière noch besonders gefeiert. I.M.S.<br />
den Parterrelogen, die Besucher der Ränge oder im hinteren Parkett können<br />
das sicher nur mit einem Feldstecher ausnehmen.<br />
Sehr gut hingegen in der Klosterszene die Tarnung von Luna. Da wird<br />
einfach der Christus vom Kreuz gestohlen und Luna legt sich darauf, um<br />
sich rechzeitig auf Leonora zu stürzen. Die Schlussszene hatte ihre Wirkung<br />
nur dank der enormen Bühnenpersönlichkeit von Frau Mavropoulou.<br />
Warum man die arme Azucena auch noch blenden muss? Eine keineswegs<br />
zwingende Art der Demütigung.<br />
Das nicht immer schöne Bühnenbild von Dieter Richter ist allerdings<br />
sehr praktisch zur Gänze auf der Drehbühne aufgebaut, was rasche Wechsel<br />
möglich macht. Sehr gut wirkt das Klosterbild, das auch dann Lunas<br />
Soldatenlager wird. Weniger glücklich, dass das Zigeunerlager auch die Zufluchtstelle<br />
von Manrico und Leonora ist. Na ja. Warum aber Luna die beiden<br />
dann in Leonoras Schlafzimmer zu Gericht führt, ergibt sich nicht unbedingt<br />
logisch. Somit ist dann das erste Bild, die Soldaten-Türmerstube,<br />
zum Kerker mutiert. Aber immerhin ist die Produktion repertoiretauglich.<br />
Die Kostüme von Renate Schmitzer sind einfallslos bis hässlich. Die<br />
Volksopernpremiere:<br />
„IL TROVATORE“ – 16.11.<br />
Ein ungeplantes sensationelles Comeback nach 11 Jahren<br />
Janina Baechle musste aus Gesundheitsgründen die Premiere am Vormittag<br />
absagen, und so hatte man das Glück, Chariklia Mavropoulou als Azucena<br />
zu erleben. Die Künstlerin sang die Bonner Premiere dieser Inszenierung<br />
und so lief für sie eigentlich alles wie gehabt. Die Stimme der Mavropoulou<br />
wurde in diesen elf Jahren noch größer, verlor aber nicht an Flexibilität<br />
und ist ideal für die „finsteren Verdi-Damen“. Ob „Stride la vampa“<br />
oder „Condotta“, man konnte alles so hören, wie man es von Zeiten einer<br />
Simionato oder Cossotto gewohnt war. Die Stimme hält diesen Vergleichen<br />
stand. Eine sehr gute Schauspielerin war sie ja immer, aber bei<br />
dieser Rollengestaltung lief es einem kalt über den Rücken. Sie lebt diese<br />
gequälte, auf Rache und Vergeltung sinnende Frau mit enormer stimmlicher<br />
und physischer Kraft.<br />
Das Regieteam, in Koproduktion mit der Bonner Oper, machte „gründliches“<br />
Theater. Da wird nichts ausgelassen. Die Personenführung von<br />
Dietrich W. Hilsdorf ist zum größten Teil perfekt, manchmal aber auch<br />
etwas zu dick aufgetragen, wie zum Beispiel: die abgehackten Finger von<br />
Manrico oder dass während des Soldatenchores Folterknechte armen Gefangenen<br />
die Fingernägel ziehen, wirkt bis zur ca. 5. Reihe Parkett und in<br />
Manrico, il trovatore und seine angebetete Leonora<br />
(Stuart Neill, Melba Ramos)<br />
Knochenarbeit der Einstudierung machte wohl Ralf Budde, der als Co-<br />
Regisseur angegeben ist. Das ganze wird zu einer Schauergeschichte. <strong>Der</strong><br />
romantische Ritterroman wurde nicht berücksichtigt.<br />
Die zweite große Dame war Melba Ramos, die erstmals die Leonora sang.<br />
Man bedauerte, dass es kein Duett Leonora-Azucena gibt. Sie singt diese<br />
Rolle schon mit etwas dramatischem Ausdruck, hat aber nach wie vor<br />
leichte, schöne Pianohöhen, die für die große Arie vor dem Miserere so<br />
wichtig sind. Schade, dass man sie die Cabaletta nicht singen ließ. Schönere<br />
Kleider hätte sie auf jeden Fall verdient, aber bei dem heutigen Regiestil<br />
sind die „Primadonnen“ ja nicht sehr verwöhnt. Die beiden Sängerinnen<br />
und der Bass Yasushi Hirano waren die Sänger, die wirklich<br />
12 | DER NEUE MERKER 12/2013
Aktuelles aus Österreich<br />
hatte man es noch auf dem Spielplan. Dann kam die Salzburger Inszenierung<br />
1963 von und unter Herbert von Karajan an die Staatsoper. Diese<br />
wurde leider in der letzten Direktionsära abgelegt und durch ein schlechtes<br />
Nichts ersetzt und auch bald wieder versenkt. Also sind wir froh, dass<br />
dieses herrliche Werk an der Volksoper gespielt wird und auf gute Gäste<br />
(die Wunschliste wäre lang) hoffen lässt. Eine Azucena vom Format der<br />
Mavropoulou sollte an der Tagesordnung sein.<br />
Für die Originalsprache bin ich ganz besonders dankbar, schon wegen der<br />
Vielfalt an an Gastiermöglichkeiten! <br />
Elena Habermann<br />
DIE WIENER STAATSOPER UND IHR<br />
PUBLIKUM FEIERN MIRELLA FRENI<br />
Ha! Welch ein Vormittag!<br />
Standing Ovations gleich zu Beginn, als Mirella Freni an diesem Sonntagvormittag<br />
die Bühne der Wiener Staatsoper betritt – am 10. November<br />
2013, fünfzig Jahre und einen Tag, nachdem sie als Mimi in der<br />
„Bohème“ an diesem Haus debütiert hat. Eine Sängerin, die man geliebt<br />
hat (und, da sie glücklicherweise noch lebt, liebt) wie wenige – und der<br />
an diesem Vormittag alle Herzen zuflogen wie eh und je. Eine Frau, die<br />
mit 78 nichts von ihrem Zauber verloren hat.<br />
Hundert Minuten Freni wurden zum Fest für Opernfreunde. So blond<br />
wie einst und unverkennbar noch die Frau, deren junges Gesicht mit<br />
den großen Kulleraugen von der Riesenleinwand strahlte, stand sie nicht<br />
nur Barbara Rett Frage und Antwort, sondern riss auch – unterstützt von<br />
Übersetzerin Christa Springer, wobei man den Eindruck hatte, dass oh-<br />
Azucena und Conte di Luna (Chariklia Mavropoulou und Tito You)<br />
(beide © B. Palffy)<br />
Premierenqualität hatten.<br />
Yasushi Hiranos Ferrando ist hier sehr passend, nämlich tatsächlich ein alter<br />
Mann (Kompliment an die Maske, er war nicht zu erkennen!), eben der<br />
alte Waffenträger des alten Conte di Luna. Er berichtet die Vorgeschichte<br />
mit schön strömender Stimme. Warum er immer dabei brutal mit der Peitsche<br />
herumschlagen muss, hat sich mir nicht erschlossen.<br />
War kein besserer Tenor für diese Premierenserie als Manrico verfügbar?<br />
Stuart Neill hat zwar schon Scala-Erfahrung aufzuweisen, war aber auch<br />
dort eher eine Notlösung. Wohl besitzt er eine starke Stimme, produziert<br />
aber gepresste und enge Höhen. Nur im Forte hat die Stimme etwas Klang.<br />
Auch die Vokalgestaltung war dementsprechend: Er pendelte sich auf eine<br />
Lautstärke ein und blieb dabei. Sein brüderlicher Gegenspieler war – sehr<br />
enttäuschend – Tito You. Sein Germont war weit besser. <strong>Der</strong> Luna liegt<br />
ihm anscheinend überhaupt nicht. Alles klang wie mit einem unsichtbaren<br />
Schleier überzogen und undifferenziert, nur im großen Duett mit Leonora<br />
ging es etwas besser. Darstellerisch ist er aber weit beweglicher als sein im<br />
Stück fünf Jahre jüngerer Bruder (der eigentlich Garcia heißt). Ruiz war<br />
Christian Drescher, der, in Frauenkleidung gesteckt, als Spitzel agiert und<br />
erwischt wird. Das Schauspiel nach Ende der Stretta Luna und seine Soldaten:<br />
fallen im Zigeunerlager ein und werfen die schon inhaftierte Azucena<br />
in eine Ecke, verhaften Leonora und Manrico, sowie auch Ruiz. Leonoras<br />
Begleiterin Ines war Eva Maria Riedl.<br />
<strong>Der</strong> Chor unter Thomas Böttcher sang sehr gut, aber viel Spaß scheinen<br />
die Damen und Herren an der Regie nicht zu haben. Enrico Dovico<br />
am Pult wirkte manchmal zu sorgsam. Ein wenig mehr „Pulver“ wäre bei<br />
manchen Szenen angesagt.<br />
Es war im Haus die 250. Aufführung dieses Meisterwerkes, das an der<br />
Volksoper absolut Tradition hatte. In den frühen 60er Jahre des 20. Jhs.<br />
Mirella und Plácido - ein Herz und eine Seele<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 13
Aktuelles aus Österreich<br />
Die Freni - im Kreise von lieben Kollegen und Freunden (beide © Michael Pöhn)<br />
nedies ein Großteil des Publikums ihr schönes Italienisch verstand – den<br />
Vormittag an sich. Am rechten Bühnenrand hatte man drei Freni-Kleider<br />
auf Puppen hingestellt – „Ecco i miei costumi!“ erkannte sie.<br />
Es begann, wie auch anders, mit Karajan, und vermutlich ist kein anderer<br />
Name an diesem Vormittag so oft gefallen wie seiner. Die „Bohème“, für<br />
die er die junge Freni in Mailand entdeckt hatte, war die gemeinsame Arbeit<br />
1963 in Wien – und der Stolperstein für Karajan als Operndirektor: Wiener<br />
Intrigen schaffen es immer, die Großen zu vertreiben. Immerhin hatte<br />
Karajan noch Salzburg, und die Freni und er arbeiteten noch 26 glückliche<br />
Jahre miteinander. „Ich habe zweimal in meinem Leben geweint“, sagte er<br />
zu ihr. „Beim Tod meiner Mutter und bei Deiner Mimi.“<br />
Karajan-Filme waren auch die Beispiele, die es von der jungen, hinreißenden<br />
Mirella Freni gab, als Mimi, als Desdemona, als Butterfly, als Micaela. Die<br />
Freni hat diese Filme nie gesehen, wollte sich selbst nie sehen und hören. Trug<br />
es jedoch mit Fassung – und befand es als „gar nicht so schlecht“. Fürwahr.<br />
Und noch ein Videobeispiel: Barbara Rett wollte dem Ehrengast zweifellos<br />
Freude bereiten, als sie die Philipp-Szene aus „Don Carlos“ mit Nicolai<br />
Ghiaurov spielte, dem 2004 verstorbenen zweiten Gatten der Freni. Bloß –<br />
diese konnte ihre Tränen nicht zurückhalten. Barbara Rett lief um Taschentücher,<br />
aber schon hatte eine mitleidige Seele aus dem Zuschauerraum eines<br />
heraufgereicht. Mirella war übrigens nicht die einzige, die beim Anblick<br />
dieses unvergesslichen, unersetzlichen Sängers, mit dem sie so glücklich war,<br />
weinte. „Sorry, Scusi“, sagte sie zum Publikum. (Lockerer wurde es später,<br />
als man erfuhr, dass Karajan ausgesprochen eifersüchtig war, als die Freni<br />
Ghiaurov heiratete… Ghiaurov seinerseits soll wieder eifersüchtig gewesen<br />
sein, wenn Mirella mit Domingo Liebesszenen spielte.)<br />
<strong>Der</strong> „Butterfly“-Film, den Karajan der Freni abgerungen hatte (sie wollte die<br />
anstrengende Rolle nicht auf der Bühne singen), ist bis heute ein Meisterwerk<br />
auch von Regisseur Jean-Pierre Ponnelle – und da konnte die Staatsoper den<br />
Vormittag einfach wunderbar bereichern. Zuerst Auftritt Placido Domingo,<br />
der damals den Pinkterton gesungen hat und nun als „Butterfly“-Dirigent<br />
an der Staatsoper ist. Und dann wieder Standing Ovations eines Publikums,<br />
das kaum begreifen konnte, dermaßen beschenkt zu werden: Auftritt Christa<br />
Ludwig, die damalige Suzuki, mit ihrer herrlich forschen Art. („Karajan hat<br />
Carmen viel zu langsam dirigiert“, meinte sie, „das ist eine französische Oper,<br />
keine italienische. Aber er konnte sich halt an Mirellas Stimme nicht satthören.<br />
Er hat sie einfach geliebt, platonisch natürlich – diese Kulleraugen!“)<br />
Das Gespräch Freni – Ludwig – Domingo,<br />
auf Deutsch (auch Domingo versuchte<br />
sich lobenswert in dieser Sprache),<br />
Englisch, Italienisch, war dann ein Fest<br />
für sich, drei Kollegen untereinander, deren<br />
Zuneigung und Achtung für die jeweils<br />
anderen zu spüren war und die auch<br />
herrlich miteinander lachen können.<br />
Mirella Freni hat am 21. Juni 1995 als Fedora<br />
(eine Rolle, zu der Domingo sie überredet<br />
hat) ihre letzte Vorstellung in Wien<br />
gesungen, knapp 32 Jahre nach ihrem Debut.<br />
Eine Zeitspanne, in der es ihr gelungen<br />
ist, das Wunder ihrer Stimme unverändert<br />
zu bewahren, weil sie stets sorgfältig damit<br />
umgegangen ist. Und der absolute Einsatz,<br />
mit dem sie jede Rolle gestaltete, sicherte<br />
ihr nicht nur die Bewunderung, sondern<br />
auch die Liebe des Publikums.<br />
Am Ende zeigte Direktor Dominique<br />
Meyer bessere Manieren als Burgtheaterdirektor<br />
Matthias Hartmann, der es<br />
nicht für nötig gehalten hatte, persönlich<br />
zur Festvorstellung von Michael Heltaus<br />
80er zu erscheinen. Meyer kam nicht nur<br />
mit Blumen und bewundernden Worten,<br />
sondern brachte auch ein zauberhaftes<br />
Geschenk: Jenen Muff, den die Freni als Mimi getragen hat (unglaublich,<br />
was da über ein halbes Jahrhundert in der Requisite überlebt…)<br />
Sie sei „überglücklich“ und „unendlich dankbar“ für das Wiener Publikum,<br />
sagte die Freni: „Ich wünschte, ich hätte so lange Arme, damit ich<br />
Sie alle umarmen könnte!“ <br />
Renate Wagner<br />
NEUES VON JOSÉ CARRERAS<br />
Im Rahmen einer Pressekonferenz stellte José Carreras am 4.11. seine <strong>neue</strong><br />
CD vor, die demnächst erscheinen wird. Eingedenk seines <strong>neue</strong>n Lebens,<br />
das jetzt 25 Jahre währt, sagt der Künstler: „Diese CD ist eine Ode an das<br />
Leben, und an das, was uns das Leben offeriert.“<br />
Meraviglisio 25 ist eine Sammlung von Virtuosen wie Lang Lang, David<br />
Garrett, Alison Balsom (Trompete) und Richard Galliano (Akkordeon)<br />
sowie Allzeitgrößen einer anderen Sparte der Musik wie José Feliciano,<br />
die den Tenor begleiten. Sämtliche Künstler arbeiteten ohne Gage, sie verzichten<br />
außerdem auf Tantiemen, die der Carreras-Stiftung zugutekommen.<br />
Von dieser gibt es weiterhin sehr Positives zu vermerken: eine Forschungsstation<br />
mit dem Ziel, die Ursachen der Leukämie zu erforschen,<br />
wird demnächst an 2 Standorten in und in der Nähe von Barcelona eröffnet,<br />
finanziert von der Carreras-Stiftung, wobei der laufende Betrieb von<br />
Katalonien finanziert wird. Auch die Gala für seine Stiftung, 18 Jahre ein<br />
Fernseh-Fixpunkt aus Leipzig im Advent, wird es wieder geben: jetzt auf<br />
Sky, das an diesem Abend frei zugänglich sein wird.<br />
In diesem Zusammenhang bedankte sich der Künstler in warmen Worten<br />
für die Hilfe, die ihm 18 Jahre durch die ARD zuteilwurde.<br />
Zusammen mit Christian Kolonovits kündigte der Künstler außerdem<br />
seine letzte Opernrolle an: „EL Juez“ aus der Feder des österreichischen<br />
Komponisten wird am 26. April 2014 in Bilbao aus der Taufe gehoben<br />
und dann am 9., 12. und 15. August in Erl vorgestellt werden. Die Oper,<br />
basierend auf einem Libretto von Angelika Messner, erzählt in einer fiktiven<br />
Geschichte das Schicksal von Kindern, die in der Franco-Ära ihren<br />
Eltern entzogen und in Klöster abgeschoben wurden. Christian Kolonovits<br />
bezeichnete seine Musik als tonal, spätromantisch und auch von Popmusik<br />
beeinflusst. Man darf gespannt sein!! Traude Steinhauser<br />
14 | DER NEUE MERKER 12/2013
Aktuelles aus Österreich<br />
Die Wiener Staatsoper im November<br />
1.11.: „LA FILLE DU RÉGIMENT“ – Blumen für die Kontrabässe<br />
Kein Wunder, dass das Haus bis auf den letzten Platz gefüllt war, sang<br />
doch Juan Diego Florez den dritten seiner nur vier Abende in dieser Saison.<br />
Passend zu Allerheiligen stand die vergnügliche Inszenierung der „Regimentstochter“<br />
auf dem Programm, die ursprünglich nur als Zwischenstation<br />
einer Reise durch verschiedene Opernhäuser geplant war und erst<br />
nachdem sie zu einem der größten Premierenerfolge der letzten Ära geworden<br />
war, ans Haus am Ring zurückgeholt wurde.<br />
Als dritte Marie in dieser Produktion war diesmal Iride Martinez zu sehen<br />
und sie machte ihre Sache sehr gut. Man sieht, dass es nun üblich ist, vor<br />
Vorstellungsserien auch wirklich zu proben und damit die ursprünglichen<br />
Inszenierungen doch weitestgehend zu erhalten. Sowohl das „Il faut partir“,<br />
als auch das „Par le rang“ gelangen ihr sehr berührend und ich finde es erfreulich,<br />
dass diese Partie auch aus dem Ensemble besetzt werden kann. Natürlich<br />
ist aber die „Fille“ eine Oper, bei der das Publikum auf die C’s der Bravourarie<br />
„Ah mes amis“ wartet. Und es wurde von Juan Diego Flórez nicht<br />
enttäuscht. Er schoss seine Acuti ins Haus und wiederholte, wie auch die<br />
letzten beiden Male, nach frenetischem Jubel das „Pour mon âme“, (was der<br />
Tonio (Juan Diego Flórez) mit Marie,<br />
seiner alpenländischen Braut (Iride Martinez)<br />
einsame Buhrufer auf der Galerie meinte, kann ich nicht nachvollziehen.)<br />
Carlos Álvarez scheint ganz gesundet und lieferte in seiner skurrilen Verkleidung<br />
wieder ein liebenswürdiges Portrait des bärbeißigen Sulpice, wobei<br />
ihm anzusehen war, welchen Spaß er an dieser Rolle hat. Aura Twarowska<br />
als Marquise, die das Resultat ihres Fehltrittes letztlich wieder in<br />
ihre Arme schließt, hatte da einen schweren Stand, auch wenn sie von dem<br />
köstlich spielenden Marcus Pelz blendend unterstützt wurde. In ihrem<br />
Kurzauftritt als Duchesse bewies Kiri te Kanawa mit ihrer 40-jährigen<br />
Bühnenerfahrung, wie man mit wenigen Gesten ein Publikum gewinnen<br />
kann und sich einen doppelten Auftrittsapplaus sichert.<br />
Was ist aber mit dem Orchester unter Bruno Campanella? Nicht dass<br />
er zu laut oder zu langsam oder schnell wäre, aber es klingt nach „Dienst<br />
nach Vorschrift“ und wirkt wie ein Gugelhupf ohne Staubzucker. <strong>Der</strong><br />
Chor (Einstudierung: Thomas Lang) kann in dieser Inszenierung wieder<br />
viel Spielfreude zeigen.<br />
<strong>Der</strong> Blumenwerfer bei den Schlussvorhängen sollte entweder noch etwas<br />
Krafttraining machen oder Zielwasser trinken, denn nahezu alle Blumen<br />
landeten bei den Kontrabässen. Erst Flórez zeigte ihm, wie man das richtig<br />
macht, und warf seine Blume weit in das Parkett. Wolfgang Habermann<br />
2.11.: „TANZPERSPEKTIVEN“ – Lehtinen; Esina, Konowalova, Poláková,<br />
Tsymbal, Yakovleva, Cherevychko, Babdullin, Konvlaev, Lazik, Shishov.<br />
3.11.: „ANNA BOLENA“<br />
Nach langer Wartezeit seit der Premierenserie stand diese schöne Opernproduktion<br />
endlich wieder auf dem Spielplan der Wiener Staatsoper. Es<br />
gab eine komplett <strong>neue</strong> Sängerbesetzung, die einige Überraschungen bot<br />
und das Werk in anderem Licht sehen ließ.<br />
Ein Fixpunkt hingegen war Evelino Pidò, der auch diesmal wieder<br />
Gaetano Donizettis Oper mit Einfühlungsvermögen für die Sänger und<br />
richtigem Gespür für die bei Belcanto nötigen Tempi und mit Drive leitete.<br />
Die Titelrolle übernahm die enorm vielseitige Krassimira Stoyanova,<br />
die obwohl sie jetzt ja schon bei Verd-Heroinen und Strauss-Rollen angelangt<br />
ist, durchaus überzeugen konnte. Stimmlich alles überhaupt kein<br />
Problem, Höhen, Tiefen, Piani, Legato, da passte alles. Dennoch ist sie<br />
keine wirkliche Belcanto-Diva, denn ihre Ausbrüche waren zu wenig dramatisch<br />
und mitreißend. Sie vermittelte nicht feuriges leidenschaftliches<br />
Donizetti-Temperament, sondern war eher die leidende, ungerecht behandelte<br />
Ehefrau, nicht die Königin, nicht die Frau, die aus Berechnung<br />
und Ehrgeiz den König erobert hatte. Auch in ihrer großen Schlussszene<br />
überzeugte sie mehr im Lyrischen als mit dramatischem Furioso.<br />
Ihre Rivalin Giovanna Seymour, gesungen von der in diesem Fach beheimateten<br />
Sonia Ganassi, konnte nicht vermitteln, warum sie des wankelmütigen<br />
Königs Zuneigung gewonnen hat. Sie warf sich zwar mit vollem Einsatz<br />
in ihre Rolle, aber ihre kernige Stimme wies doch ein recht deutliches<br />
Vibrato auf, das in diesem Genre kaum tolerierbar ist. Dadurch entstand<br />
nicht der Eindruck einer<br />
jungen, sondern einer<br />
etwas reiferen Hofdame.<br />
Eine Überraschung war<br />
für mich Luca Pisaroni<br />
als Enrico, den ich nie<br />
mit dieser Rolle in Zusammenhang<br />
gebracht<br />
hätte. Sein Bass-Bariton<br />
passte sich gut an<br />
den bösen Charakter<br />
der Figur und den Erfordernissen<br />
von Donizettis<br />
Musik an, und so<br />
gefiel er mir sowohl optisch<br />
als auch stimmlich<br />
sehr gut.<br />
Stephen Costello, der<br />
verlassene Riccardo<br />
Percy, ließ sich nach<br />
einer Absage zuvor,<br />
als indisponiert ansagen,<br />
man merkte aber<br />
kaum Probleme. Sein<br />
Die gramgebeugte Königin (Krassimira Stoyanova)<br />
lyrischer Tenor mit me-<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 15
Aktuelles aus Österreich<br />
tallischem Kern wird zwar in der hohen Lage etwas enger, klingt aber insgesamt<br />
ansprechend. Er ist in diesem Fach derzeit sicher gut eingesetzt.<br />
Als burschikoser Smeton gelang Zoryana Kushpler bis auf ein paar Unschärfen<br />
ein gutes Rollendebüt. Dan Paul Dumitrescu lieh seine warme<br />
Stimme dem unglücklichen Bruder der Anna, Carlos Osuma war der tenorale<br />
Überbringer aller schlechten Nachrichten.<br />
Fazit: ein schöner Opernabend mit guter Besetzung auf hohem Niveau,<br />
der aber zeigt, dass man für ein solches Werk wirkliche Stars aufbieten<br />
muss. Im ständigen Repertoire der Opernhäuser wird es sich wohl trotz<br />
wunderbarer Musik nicht platzieren können. Silvia Herdlicka<br />
4.11.: „LA FILLE DU RÉGIMENT“<br />
Ein tenorales Fest! Das soll aber nicht heißen, dass nur die Leistung von<br />
Juan Diego Flórez den unbedingten Erfolg sicherte.<br />
Da gab es zum Beispiel einen Marcus Pelz, der aus der Rolle des Faktotums<br />
Hortensius ein Kabinettstück an subtiler Komik zauberte, und sich<br />
auch von Vorstellung zu Vorstellung steigerte. Kiri Te Kanawa als „dritte<br />
Akt Komikerin“ – eine Version, die später auch in die Wiener Operette<br />
Sehr ordentlich auch die kleinen Rollen: Wolfram Igor <strong>Der</strong>ntl, Jaroslav<br />
Pehal und Francois Roesti als Bauer, Korporal und Notar.<br />
<strong>Der</strong> Chor unter Thomas Lang präsentierte sich musikalisch hervorragend und<br />
voller Spielfreude, was bei einer so wunderbaren Inszenierung nicht schwer<br />
sein kann. Ein Sonderlob an die „Putzschwadronen“ im 2. Akt!<br />
Bruno Campanella ist ein Spezialist für die Belcantooper, lässt sehr schön<br />
musizieren, doch das gewisse Etwas für Außergewöhnliches vermisst man hier.<br />
Das Publikum war sehr angetan und jubelte außergewöhnlich lang, auch<br />
die „Parkettbewohner“ blieben ungewöhnlich lange.<br />
Das Donizetti-Fest geht also weiter und lässt doch hoffen auf eine Wiederbegegnung<br />
mit Lucia di Lammermoor, La Favorita, Roberto Devereux<br />
und einiges mehr! <br />
Elena Habermann<br />
5.11.: Keine Vorstellung.<br />
6.11.: Solistenkonzert – LEO NUCCI –<br />
Noch ein Verdi-Fest!<br />
Auch so kann man dem Publikum Verdi-Genuss pur offerieren: begleitet<br />
von drei Streichern (Pierantonio Cazzulani – Violine, Christian Serazzi<br />
– Viola, Massimo Repellini – Violoncello), einem Klavier (Paolo<br />
Marcarini) und einer Harfe (Marta Pettoni), unter dem Motto „La parola<br />
scenica“. Nicht überraschend von einem Sänger, der seit vielen Jahren<br />
überhaupt nur mehr Werke dieses Komponisten singt und auf das<br />
expressive Wort immer genau so viel Gewicht gelegt hat wie auf den Gesang.<br />
Sein diesmaliges Motto besagte also nichts anderes, als dass beides<br />
untrennbar ist, wenn man großes Musiktheater machen will. Darin ist<br />
Leo Nucci Meister.<br />
Obwohl seine Stimme immer noch wunderbar trägt oder gerade weil dies<br />
in jeder Lage und Lautstärke der Fall ist, kann er es sich leisten, ein Kam-<br />
Großer Auftritt in kleiner Rolle - Kiri Te Kanawa<br />
übernommen wurde: Diese Duchesse de Crakentorp ist einfach eine Klasse<br />
für sich. Aber auch Aura Twarowska macht sich die Rolle der Marquise<br />
de Berkenfield immer mehr zu Eigen, und wirkt von Mal zu Mal gelöster.<br />
Ein Glückfall ist Iride Martinez. Eine junge Künstlerin aus dem Ensemble<br />
ersetzte eine schon international bekannte Kollegin allerbestens.<br />
Ihre Marie ist ein junger, frecher selbstbewusster Wildfang, ein Mädchen,<br />
das sich in „dieser“ Männerwelt supergut durchsetzen kann. Die Stimme<br />
der Künstlerin wird makellos sauber geführt, hat ein feines schönes Timbre,<br />
die Stimme trägt in jeder Lage. Mit einem Wort: alles wunderbar,<br />
auch von der stimmlichen Gestaltung durchwegs glaubhaft und schön.<br />
Carlos Álvarez als Sulpice ist natürlich auch ein Garant für den Riesenerfolgs<br />
dieser Produktion. Sein herrlicher Bariton klingt wieder frisch und<br />
schön, alle seine Duette und Szenen waren eine reine Belcantofreude und<br />
sein Spiel zum Niederknien lustig. Man würde sich doch sehr wünschen,<br />
ihn wieder oft hier zu hören, und zwar in seinen ganz großen Rollen.<br />
Ja, alle Neune, und das gleich zweimal, ließ Juan Diego Flórez los, der<br />
Star unter den so vielen sehr guten „Tenori di grazia“. Die große Arie im<br />
2. Akt, die eigentlich viel anspruchsvoller ist, vom Aufbau her, und laut<br />
Aussage des Künstlers auch schwieriger zu singen, wurde zwar ebenfalls<br />
bejubelt, aber sie hat halt „nur“ große Kantilenen und nicht diese „Acuti“.<br />
In dieser Vorstellung wurde sie auch ganz besonders schön und mit so viel<br />
Gefühl gesungen, dass man dieser Liebe nur nachgeben kann. Schauspielerisch<br />
ist dieses Dreierteam fast nicht zu überbieten.<br />
Harfe und Streicher reichen zur noblen Begleitung von Leo Nucci<br />
16 | DER NEUE MERKER 12/2013
Aktuelles aus Österreich<br />
merkonzert zu veranstalten, das mit Eigenbearbeitungen verschiedener<br />
Opernausschnitte die Vokalnummern umrahmt, aber auch vor großen<br />
Ausbrüchen – im belcantesken Rahmen – nicht zurückscheut.<br />
Ein schöner Beginn: die drei Gebete „La preghiera del poeta“, „Sgombra,<br />
o gentil“ und „Invocazione a Maria Addolorata“, wobei nur im 1. Lied die<br />
Stimme noch ein bisschen um Festigkeit kämpfte, aber danach schien<br />
alles von selber zu fließen. Erster Höhepunkt: „Dio di Giuda“ aus „Nabucco“,<br />
das jenen Babylonierkönig zeigte, dem Verdi eine Seele eingehaucht<br />
hat und dem man seinen vorherigen Hochmut nur zu gerne verzeiht.<br />
Aus seiner Leib- und Seelenrolle, dem alten Foscari, sang Nucci ein<br />
bewegendes „O vecchio cor, che batti“ mit jung gebliebenem Herzen. Nach<br />
von den Musikern (wie alles andere) sehr liebevoll und klangschön gespielten<br />
Fragmenten aus „Aida“ entließ uns der Sänger mit dem berühmten<br />
Lied „L’esule“, das uns die verzweifelten Gedanken und Gefühle eines<br />
Verbannten nahe brachte, in die Pause.<br />
Ein so inniges, zartes, poetisches „Di Provenza il mare, il suol“ habe ich gewiss<br />
noch nie gehört – das waren ja wirklich Schmeicheleinheiten, die Vater<br />
Germont da seinem Sohn verpasste. Mit „In braccio alle dovizie“ aus den „Vespri“<br />
ging’s gleich nochmals um eine unglückliche Vater-Sohn-Beziehung,<br />
wobei Nucci deutlich machen konnte, dass hier, im Gegensatz zur Situation<br />
in „Traviata“ härtere, nämlich politische Motive mitspielen, die dennoch<br />
seine väterlichen Gefühle nicht aus der Welt schaffen können. Renatos „Eri<br />
tu“, ganz Getroffensein von der vermeintlichen Untreue der Ehefrau, ließ<br />
die positive Seite seines Charakters hervortreten. Mit der offiziellen Schluss-<br />
Nummer, der hinreißend schön und in nobelstem Ebenmaß gesungenen<br />
Arie und dem Tod des Marquis Posa, war das Publikum endgültig ein Verein<br />
von Nucci-Fans, die mit „Bravo Leo!“-Rufen für Draufgaben sorgten.<br />
Die am öftesten in Wien gesungene Rolle des Künstlers, der Rigoletto,<br />
durfte natürlich nicht fehlen – sein Appell an die „Cortigiani“ war ebenso<br />
unwiderstehlich wie anschließend Graf Lunas Liebeserklärung „Il balen<br />
de suo sorriso“ – wie schon die Germont-Arie, Poesie pur. Zuletzt ein<br />
Sprung von Spanien nach Schottland mit Macbeths „Che macchia“, das<br />
den Mörder in seiner inneren Zerrissenheit fühlbar machte. Die Aufforderung<br />
Leo Nuccis an sein jubelndes Publikum in seiner letzten Zugabe:<br />
„Non ti scordar di me“ (wenn auch nicht von Verdi) hat es niemandem<br />
schwer gemacht, dieses Versprechen zu halten.<br />
Aber noch ist ja kein Grund, ans Vergessen oder Nicht-Vergessen zu denken<br />
– noch können wir Leo Nucci in weiteren Verdi-Rollen hören. Und<br />
möchten es noch lange tun! Tanti auguri! Sieglinde Pfabigan<br />
7. 11.: „UN BALLO IN MASCHERA“<br />
Die Besetzung dieses Abends wirkte in der Papierform homogen und versprach<br />
eine gute Aufführung, allerdings ließ sich Ramón Vargas vor Beginn<br />
der Vorstellung entschuldigen. Trotzdem war nach einer eher vorsichtigen<br />
Auftrittsarie des Tenors von einer Beeinträchtigung kaum etwas<br />
zu spüren, von einigen nicht allzu strahlenden Höhen im Lauf des Abends<br />
abgesehen. Die Vorzüge des Künstlers, schönes Timbre, perfekte Phrasierung,<br />
ein sich mit Verve In-die-Rolle-Werfen, gab es auch an diesem<br />
Abend. Ganz besonders zeigt sich das bei „Di` tu se fedele“, das ein Lehrstück<br />
an subtiler Gestaltung war. Die Spielfreude, die der Tenor dabei<br />
an den Tag legte, zeigte auch, dass, wie er in einem Interview verriet, die<br />
Rolle des Schwedenkönigs eine seiner liebsten ist.<br />
Sondra Radvanovsky, Besitzerin einer großen, interessant timbrierten,<br />
nicht unbedingt schönen Stimme, die sie ziemlich gut im Griff hat, zeichnete<br />
ein eindrucksvolles, wenn auch nicht allzu subtiles Porträt der Amelia.<br />
Mit ihrer Röhre ist sie durchaus auch leiser Töne fähig, allerdings gelingen<br />
sie, im Piano angesetzte, selten. Wirklich ergreifend fiel „Morrò,<br />
ma prima in grazia“ aus, und alles in allem schlug sie den langjährigen<br />
Durchschnitt an meist tremolierenden Rollenvertreterinnen beträchtlich.<br />
George Petean als ihr Ehemann war ihr in seinem gesunden, handfesten<br />
Zugang zur Rolle ein passender Partner. Seine große Stunde schlug beim<br />
„Eri tu“, das er zu Herzen gehend interpretierte.<br />
Monica Bohinec mühte sich mit den tiefen Tönen der Ulrica ein wenig,<br />
bestand aber erfolgreich. Mehr als das muss über Valentina Nafornita als<br />
Oscar gesagt werden: Obwohl ihre Stimme schon ein wenig in ein anderes<br />
Fach weist, erfreute sie mit schönem Timbre und blitzsauberen Koloraturen.<br />
Die Düsterlinge waren mit Alexandru Mosiuc und Sorin Coliban<br />
wie immer passend besetzt.<br />
Jesús López-Cobos dirigierte spannend, wenn auch nicht allzu subtil –<br />
manchmal hätte man sich einige leisere Passagen gewünscht.<br />
Lauter, wenn auch kurzer Jubel war der Lohn für eine Vorstellung, die<br />
über das Repertoireniveau hinausging und deren es gar nicht wenige in<br />
dieser Saison bis jetzt gegeben hat. Ein herzliches Dankeschön an den<br />
Herrn Direktor! <br />
Traude Steinhauser<br />
8.11.: „L’ELISIR D’AMORE“<br />
Ramón Vargas in seiner Lieblingsrolle<br />
Repertoire-Alltag an der Wiener Staatsoper in der Ära von Dominique<br />
Meyer: junge Stimmen, ein volles Haus und oft Inszenierungen, die man<br />
schon bei der Premiere vor 33 Jahren als „altmodisch“ einstufte; die man<br />
jedoch ohne großen technischen Aufwand spielen kann. Pragmatik ist<br />
die Devise – besonders in Sparezeiten! Die Otto Schenk/Jürgen Rose-<br />
Produktion des „Liebestranks“ wurde seit 1980 bereits 204 Mal gegeben.<br />
Am Pult ein 35-jähriger Spanier – Guillermo Garcia Calvo. Er ist noch<br />
mehr Lehrling als Meister. Aber irgendwann muss ja die Routine her. Von<br />
den Sängern muss an erster Stelle der Tenor Stephen Costello genannt<br />
werden. <strong>Der</strong> junge Amerikaner wurde in Philadelphia geboren, fiel in Salzburg<br />
als Cassio positiv auf, gehört seit Jahren zu den MET-„rising stars“<br />
und tritt seit 3 Jahren auch regelmäßig an der Wiener Staatsoper auf. Für<br />
den Nemorino bringt er alle Voraussetzungen mit – ein sympathisches<br />
Spiel, eine kräftige, angenehme Stimme und eine „sitzende“ Höhe. Hier<br />
dürfte ein Spinto-Tenor heranreifen, der zur Klasse eines Marcelo Alvarez<br />
gehört. Nicht ihren besten Abend hatte Sylvia Schwartz als Adina.<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 17
Aktuelles aus Österreich<br />
Die Sopranistin hatte Probleme mit den Spitzentönen und verzichtete<br />
zuletzt auf ihren Solovorhang. Immerhin – eine Adina voller Liebreiz!<br />
Bestens disponiert war hingegen Adam Plachetka als Dulcamara, den<br />
man sich allerdings diesmal nachdrücklich als Belcore gewünscht hätte.<br />
Er ist für den Quacksalber einfach zu jung, zu dynamisch – in der heutigen<br />
Neu-Sprache: Plachetka ist kein „loser“! Und er wäre wohl ein idealer<br />
Gegenspieler zu Nemorino. Alessio Arduini, der aktuelle Belcore,<br />
war vor allem vokal zu sehr ein „Leichtgewicht“. Die Wiener Staatsoper<br />
dürfte dem sympathischen Bariton doch eine „Schuhnummer zu groß“<br />
sein. Auch die <strong>neue</strong> Giannetta von Bryony Dwyer fällt in diese Kategorie<br />
von „Belcanto light“.<br />
Bleibt alles in allem: das Wiener Staatsopernorchester und der Chor der<br />
Wiener Staatsoper erweisen sich immer mehr als die Säulen des aktuellen<br />
Repertoire-Betriebes. Es gab ein Dutzend Vorhänge, das Haus war<br />
voll und die Kassa muss gestimmt haben. <br />
Peter Dusek<br />
9.11.: Ballettabend „TANZPERSPEKTIVEN“<br />
Einfach perfekt! Perfekt getanzt. Das Wiener Staatsballett präsentierte sich<br />
in dem im Februar unter dem nicht so ganz plausiblen Titel „Tanzperspektiven“<br />
erstmals gezeigten vierteiligen Programm von seiner besten, seiner<br />
allerbesten Seite. Vier Piecen im Stil der aktuellen Ballettmode, welche<br />
dass sich für den Betrachter nach den drei vorher gezeigten Stücken eine<br />
interessante <strong>neue</strong> Perspektive ergibt.<br />
Eine perfekte Dressur der Tänzer, welche auch ein breiteres Opernpublikum<br />
zum Staunen bringen kann. <br />
Meinhard Rüdenauer<br />
10.11.: „UN BALLO IN MASCHERA“<br />
Ein „Melodramma in 3 Akten“ ist angekündigt, das klingt nach „fad“,<br />
aber weit gefehlt, Auge und Ohr freuen sich gleichermaßen. Keine Modernisierungen,<br />
kein Boston. Nur 3 Hauptrollen und 2 wichtige Nebenrollen,<br />
aber die Bühne ist oft voll, Chor, Bühnenorchester und Staatsballett<br />
gestalten einen Maskenball, wie er 1792 wohl in der Stockholmer<br />
Oper stattgefunden haben könnte, wobei laut Geschichtsbuch Gustav III.<br />
von Ankarström von hinten erschossen, nicht erdolcht wurde. (Er lebte<br />
dann noch 14 Tage.) Aber die Zeit von 1792 ist in Bühnenbild (Emanuele<br />
Luzzati) und Kostümen (Santuzza Cali) bestens getroffen und die<br />
Regie (Gianfranco de Bosio) macht alles plausibel.<br />
Unter der robusten Leitung von Jesús López-Cobos spielt das Orchester<br />
typischen Verdi der mittleren Periode, noch nicht – so scheint es – lauter<br />
Höhepunkte, aber voll mit bekannten Stellen zum Mitsingen. Amelia<br />
Sondra Radvanovski wurde vorweg angesagt, kam aber gut über die<br />
Runden, nur bei 2 Tönen hörte man ein paar Unsauberkeiten. Respekt!<br />
König Gustaf wurde von Ramón Vargas gesungen. Die Rolle wurde berührend,<br />
weniger heldisch als lyrisch ausgeführt, passte aber wunderbar<br />
in das Bühnenbild hinein. Renato Ankarström, George Petean, machte<br />
seine Zweifel deutlich, sang aber auch die heldischen Passagen mit viel<br />
Einsatz. Furchterregend, wie es sich gehört, waren die Szenen der Ulrica<br />
Monica Bohinec. Erfreulicherweise waren Auge und Ohr gleichmäßig<br />
entzückt. <strong>Der</strong> Schlussbeifall war dementsprechend lange und herzlich,<br />
und zwar für alle Sänger gleich. <br />
Hans Peter Nowak<br />
11.11.: „MADAMA BUTTERFLY“ – Premierenstimmung: 4 wichtige<br />
Rollendebuts und dazu Plácido Domingo am Pult.<br />
Seit 1971, als ich ihn einmal auf der Orgel begleiten durfte, verehre ich<br />
ihn. Kollegen fahren extra nach Amerika, um ihn dirigieren zu sehen.<br />
A 1000 kisses to my skin - es küssen Olga Esina & Vladimir Shishov<br />
(© WSTB)<br />
extreme Motorik, rasante Tempi und artistischen körperlichen Einsatz erfordern.<br />
Und, auch klar, auf diese Manierismen setzen, welche den momentanen<br />
zeitgenössischen Ausdrucks-Standards entsprechen. Bravourös<br />
gemeistert von der ganzen Kompanie. Somit – es wäre unfair, hier eine<br />
oder einen der Mitwirkenden in den zahlreichen virtuos choreographierten<br />
und gemeisterten Passagen hervorzuheben.<br />
Tanz pur in drei durchgestylten Kreationen und ein etwas weniger gelungenes<br />
Anhängsel.<br />
Die stärkste expressive Kraft mag vielleicht Jean-Christoph Maillots<br />
„Vers un Pays Sage“ zu beißendem und unablässig dräuenden Sound<br />
von John Adams zuzusprechen sein. Die Choreographen David Dawson<br />
(„A Million Kisses to my Skin”, 1. Klavierkonzert von J. S. Bach)<br />
und Helen Pickett („Eventide“, Philip Glass und Ravi Shankar) beherrschen<br />
ihr gestalterisches Handwerk und halten ihre Kreationen in einem<br />
mitreißenden Bewegungsfluss. Solch einer wäre auch Patrick de Banas<br />
„Windspiele“ gegeben, doch da wirkt zum Ausklang des guten Abends<br />
bereits alles allzu gleichförmig, und die Tänzer eilen und hüpfen hier par<br />
distance zum ersten Satz von Tschaikowskys Violinkonzert herum, ohne<br />
Heimkehrer Neil Shicoff mit <strong>neue</strong>r Butterfly - Ana Maria Martinez<br />
18 | DER NEUE MERKER 12/2013
Aktuelles aus Österreich<br />
Nun konnte man dies bequem von den <strong>Merker</strong>sitzen aus tun. Man merkt<br />
– ein musikalischer Sänger dirigiert. Wird gesungen, muss das Orchester<br />
sich anpassen, bei Zwischenspielen darf es voll ausspielen. Domingos<br />
Bewegungen sind jugendlich frisch. Das Ergebnis ist dementsprechend.<br />
Das nächste Positivum, das allerdings gegen eine Premiere spricht (361.<br />
Aufführung), ist die Regie (Josef Gielen) und die hervorragende Ausstattung<br />
(Tsugouharu Foujita). Ein großes Positivum sind die Bewegungen<br />
von Butterfly und Suzuki, die so typisch japanisch sind. Auch stimmlich<br />
füllen beide Damen, Ana Maria Martinez und Alisa Kolosova, ihre Rollen<br />
voll aus. Und wenn man die Augen schließen und sich auf den Gesang<br />
konzentrieren will, geht das wegen des schönen Bühnenbildes und<br />
ihrer wunderbaren Bewegungen nicht.<br />
Neil Shicoff als Pinkerton ist kein Neuling, ein paar Töne sind ihm jedoch<br />
missglückt. Die Uniform machte aus ihm einen jugendlichen Schwerenöter.<br />
Gabriel Bermúdez als Sharpless ist ein guter Neuzugang. Einprägsam<br />
waren auch Herwig Pecoraro als Goro und Alexandru Moisiuc<br />
als Onkel Bonze.<br />
<strong>Der</strong> Beifall war einer „Premiere“ mehr als würdig. Domingo lenkte seinen<br />
Anteil hoch erfreut auf das Orchester ab. Hans Peter Nowak<br />
12.11.: „L’ELISIR D’AMORE“<br />
Stephen Costello wirkte an diesem Abend wesentlich gelöster als in der<br />
Aufführungsserie im März. Sein erster Auftritt erweckt zwar zunächst den<br />
Eindruck, dass er Wahlkampf für seine Wahl zum Bürgermeister betreibt,<br />
wenn er versucht, möglichst vielen Choristen die Hand zu schütteln.<br />
Dann aber verwandelt er sich doch in den gehemmten jungen Burschen,<br />
der so gerne die reiche Adina gewinnen möchte. Da er aber nicht einmal<br />
jonglieren kann, verlegt er sich auf einen stilistisch schönen Gesang und<br />
hat damit auch Erfolg. <strong>Der</strong> Bordeaux, der ihm vom smarten Quacksalber<br />
teuer verkauft wird, kann ja wohl nicht die Wirkung haben, da er vor<br />
dem Trinken auch noch ordentlich geschüttelt werden soll. Adam Plachetka<br />
als Dulcamara verdient schon allein für seine pantomimische Darstellung<br />
des alten Senators beim „Io son ricco, tu sei bella“ eine Auszeichnung.<br />
Wie er den nicht vorhandenen Stock in den Augen des Zusehers<br />
entstehen lässt, das ist große Klasse. Nebenbei singt er noch ausgezeichnet.<br />
<strong>Der</strong> Konkurrent um Adina ist Alessio Arduini als Belcore. Auch er<br />
überzeugt mit viel Spielfreude und sauber geführtem Bariton. Leider ist<br />
Sylvia Schwartz eine Adina mit ziemlich kleiner Stimme. Sie singt dann<br />
mit viel Druck und da gerät die Stimme doch ziemlich schrill. In der jungen<br />
Stipendiatin Bryony Dwyer scheint ihr aber mittelfristig keine Konkurrenz<br />
zu erwachsen.<br />
Das Orchester (insbesondere die Holzbläser), hatte unter Guillermo Garcia<br />
Calvo leichte Anfangsprobleme, danach wurde es aber eine zügige Wiedergabe,<br />
zu der auch der Chor das Seine beitrug.<br />
Dass nach über 200 Aufführungen die meisten Gags altbekannt sind, ist<br />
natürlich nicht überraschend, aber auch Dinner for one erzeugt zu Silvester<br />
immer wieder Heiterkeit. <br />
Wolfgang Habermann<br />
13. 11.: „UN BALLO IN MASCHERA“ – Ein Abend der Debüts<br />
Kamen Chanev sprang kurzfristig für den erkrankten Ramón Vargas ein<br />
und sang seinen ersten Gustaf III. Er hat eine sehr schöne Stimme und<br />
der kluge Künstler weiß um alle lyrischen Passagen dieser Partie genauest<br />
Bescheid und setzt diese auch gekonnt um. Sehr erfreulich auch seine<br />
Pianokultur und die Gestaltung des Gustaf in den beiden ersten Bildern,<br />
wo man wirklich den Eindruck hatte, der macht sich aus dem Besuch bei<br />
Ulrica eine „Riesenhetz“. Da es eine sehr traditionelle Inszenierung ist,<br />
hatte er auch nie Probleme mit der Rollengestaltung. Warum gerade der<br />
König keine Perücke hat, macht auf ein seltsames „Sparprogramm“ am<br />
schwedischen Königshof aufmerksam.<br />
Eine Freude ist es auch immer, dem Belcantoschmelz von George Petean<br />
zu lauschen. Sein Renato ist kein Racheengel, sondern ein zutiefst<br />
Große Verdi-Heroine - Sondra Radvanovsky<br />
gekränkter, in seiner Ehre getroffener Mann, der sich von seinen „Liebsten“<br />
hintergangen und verraten fühlt. Beide Arien waren ein großartig,<br />
ganz herrlich auf Linie gesungen. Amelia, die Dame, die die beiden<br />
Freunde trennt, wird von Sondra Radvanovsky sehr glaubwürdig dargestellt<br />
und hervorragend gesungen, wären da nicht so gewisse Schärfen bei<br />
den Fortehöhen. Aber sehr ergreifend die Arie im 3. Akt. Eine Ulrica mit<br />
enorm breiter Tiefe ist Monica Bohinec. Sehr beeindruckend gelang ihre<br />
große Szene mit dem Damenchor. Aber auch ihre restlichen Szenen zeigten,<br />
wie gut sich diese Künstlerin entwickelt. Erstmals als Oscar war Hila<br />
Fahima dabei. Eine eher soubrettige Darbietung des Pagen – da braucht<br />
es noch einiger stimmlicher Reifung. Mihail Dogotari zeigte nicht allzu<br />
viel als Christian, aber vielleicht habe ich mir auch zu viel erwartet. Die<br />
beiden Widersacher des Königs waren Sorin Coliban als edelklingender<br />
Graf Warting und raustimmig Alexandru Moisiuc als Graf Horn. Peter<br />
Jelostits ergänzte als Richter und Diener.<br />
Thomas Lang leitete den in allen Bildern gut studierten Chor. Die<br />
Tanzeinlagen sind entzückend und alles wirkte wieder bestens geprobt.<br />
Jesus Lopez-Cobos leitete den Abend routiniert und schwungvoll, und<br />
nahm auf alle Bühnenkünstler Rücksicht.<br />
Ein Kompliment an die Maske. Nur ein Barockkönig mit Messerhaarschnitt<br />
geht nicht. Da wird es doch eine Zopfperücke geben?!<br />
Ein sehr schöner Abend mit etwas zu wenig Applaus für die Protagonisten.<br />
<br />
Elena Habermann<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 19
Aktuelles aus Österreich<br />
14.11.: „TANZPERSPEKTIVEN“ – Besetzung wie 2.11.<br />
15.11.: „MADAMA BUTTERFLY“ – Puccini lebt!<br />
Fast will es scheinen, dass es die Wiener Staatsoper mit aller Emphase<br />
zurzeit darauf anlegt, den hohen Wert des Repertoire-Betriebs zur<br />
Schau zu stellen. Die älteste Inszenierung des Hauses (Josef Gielen,<br />
1957) erlebte mit einigen Rollendebutanten, bewährten Ensemblemitgliedern,<br />
einem nochmals eingesetzten Tenorstar von früher und einem<br />
noch größeren am Pult eine derart dichte, packende, hochemotionale<br />
Wiedergabe, dass man ein <strong>neue</strong>s Werk zu entdecken glaubte.<br />
Plácido Domingo – das ist die Verkörperung eines Lebens für die Oper.<br />
In allen denkbaren Funktionen, die hier nicht aufgezählt werden müssen.<br />
Das Dirigieren gehört dazu und gewinnt mit vermehrter Routine immer<br />
Hellwach und voller Liebe - Plácido Domingo am Pult<br />
mehr an Qualität. Es „zerreißt“ ihn nicht mehr im Affekt, er gibt ganz professionell<br />
die Einsätze dort, wo es nötig ist, und lässt Musiker und Sänger<br />
sich entfalten, wo sie keiner Nachhilfe bedürfen. Ich reihe ihn nun unter<br />
die sog. „Wohlfühl-Dirigenten“ ein. Damit meine ich die Maestri, denen<br />
man gerne zuschaut, weil alles so gut und richtig ist, was sie machen, und<br />
deshalb auch das optimale Resultat dabei herauskommt. Im konkreten<br />
Fall: Puccini ohne unnötigen Lärm, in den Japanismen des 1. Akts sehr<br />
locker und beschwingt, beim Einsetzen von Kantilenen (sei es orchestral<br />
oder vokal) jedesmal das Gefühl vermittelnd, als werde jetzt eine <strong>neue</strong><br />
Gefühlswelt geschaffen (wir sind ja schließlich auch bei den asiatischen<br />
Schauplätzen des Meisters aus Lucca noch immer in Italien!) und in den<br />
dramatischen Momenten mit einer quasi „sachlichen“ Konzentration, die<br />
die Tragödie sozusagen auf den Punkt bringt.<br />
So war z. B. der 2. Akt, der sich mitunter zieht, als kontinuierliche emotionale<br />
Steigerung aufgebaut. Bei Cio-Cio-Sans „Un bel dì vedremo“ nahm<br />
dieses Gefühls-Crescendo erstmals so überhand, das man genau wusste:<br />
es gibt für sie kein Zurück – entweder alles oder nichts. Wie Domingo<br />
da die Sängerin gleichsam emporhob und ihre große Liebe All-umfassend<br />
wurde (fast ein bisschen an Isoldes „Weltatem“ erinnernd), war ebenso<br />
überwältigend wie die beinah trunkene Hingabe der beiden Frauen an<br />
das Kirschblütenduett, das einen <strong>neue</strong>n Frühling heraufbeschwören sollte.<br />
Dabei blieb alles im kultivierten Rahmen, ohne Überhandnehmen übermäßiger<br />
Lautstärke, und es gab keinerlei Leerläufe bis zum fatalen Ende<br />
der Oper. Eine alles in allem wirklich meisterhafte Dirigentenleistung,<br />
die von den Musikern selbstverständlich mit Hochgenuss in Edelklang<br />
umgesetzt wurde.<br />
Die für Wien <strong>neue</strong> Butterfly von Ana Maria Martinez brachte keine wirklich<br />
große, ausladende Stimme mit. Gut und sicher geführt, kam sie über<br />
alle Runden bzw. bewältigte auch die extremen Höhen, aber mit etwas zu<br />
viel Nachdruck, sodass die Klangqualität ihres schlanken Soprans nicht<br />
optimal war. Stilistisch war sie im Bilde. Sie konnte dadurch auch die Figur<br />
berührend gestalten und somit das Publikum ganz auf ihre Seite ziehen.<br />
Weit lockerer sang ihre Leidensgefährtin, die erst 25-jährige Alisa<br />
Kolosova. Eine so warmstimmige Suzuki mit solch schönem, flexiblem<br />
Mezzo und derart lebhafter Anteilnahme an Freud‘ und Leid der ihrer<br />
Obhut anvertrauten jungen Braut und Ehefrau verdient gesondert hervorgehoben<br />
zu werden, gerät die getreue Dienerin doch allzu oft auf die<br />
Nebengeleise unseres Interesses.<br />
Mit Neil Shicoff muss wohl sein Tenorkollege persönlich gearbeitet haben.<br />
Natürlich war zu hören, dass Shicoffs Stimme nicht mehr taufrisch<br />
ist, aber nach dem vorjährigen „Maskenball“-Debakel hätte man kaum erwartet,<br />
dass er mit einem jugendlichen italienischen Liebhaber doch noch<br />
einigermaßen zurechtkommt. Er sah sehr gut aus, schlank und rank, mit<br />
schöner schwarzer Perücke und guter Maske, ließ es zwar bei Pinkertons<br />
Beteuerung seiner Lebensgenussphilosophie an Lockerheit fehlen, ließ dafür<br />
aber von Anfang an spüren, dass er moralische Bedenken mit in die<br />
999-Jahre währende Ehe mitnimmt. Seine immer schon sicheren Höhen<br />
waren da, auch wenn sein Gesang sich nicht durch extreme Geschmeidigkeit<br />
auszeichnete. Als Meister gebrochener Charaktere gelang ihm im<br />
3. Akt die glaubwürdige Darstellung des von Reue und neu erwachter<br />
Liebe gequälten Mannes, der nur noch aus dem Terrain seines Vergehens<br />
flüchten kann. Ein gut charakterisierender Konsul Sharpless war Gabriel<br />
Bermudez. Er gestaltete seine Rolle sehr wortdeutlich und teilnahmsvoll<br />
und sein jugendlicher Bariton konnte sich dank Domingos einfühlsamer<br />
Orchesterbegleitung auch durchsetzen, sollte fürs große Haus aber noch<br />
weit mehr Volumen entwickeln.<br />
Herwig Pecoraro als geschwätziger Goro, Simina Ivan als verständnisvolle<br />
Kate Pinkerton, Hans Peter Kammerer als abgewiesener Yamadori, Alexandru<br />
Moisiuc als zeternder Onkel Bonze, sowie Martin Müller (Standesbeamter),<br />
Martina Reder (Mutter) und Jung Won Han (Base) erfüllten<br />
ihre Rollen ebenso zufriedenstellend wie der von Martin Schebesta<br />
gut studierte Staatsopernchor.<br />
Die singuläre Glanzleistung Domingos vom Pult aus war nicht zuletzt ein<br />
Plädoyer für Puccinis geniales Gesamtkunstwerk. Sieglinde Pfabigan<br />
16.11.: „UN BALLO IN MASCHERA“ – Orrore!<br />
O Schreck! – was für ein Gegenschlag nach dem wunderbaren Puccini-<br />
Abend. Und das meine ich wörtlich: Dirigent und Primadonna lieferten<br />
einander ein Duell „Wer kann’s lauter?“ Jesús Lopez-Cobos drosch<br />
Verdi zutode. Gerade noch, dass die paar ruhigen Chorstellen leise belassen<br />
wurden und im 3. Akt Amelia sich um ein paar kultivierte piano-<br />
Phrasen bemühte, tat der Maestro alles, um Verdis wunderbare Noblesse<br />
und Kantabilität zu ständigen Attacken auf unsere Gehörorgane umzufunktionieren.<br />
Und was Sondra Radvanovsky an geschrieener Pseudo-<br />
Dramatik produzierte, war nicht minder unerquicklich. Schon im Vorjahr<br />
befleißigte sie sich in der Rolle der Amelia vor allem unkontrollierter Lautstärke,<br />
aber diesmal hatte ihr einstmals recht respektabler Sopran schon<br />
gar keinen Klang mehr, weder im ff noch in den bemühten piano-Phrasen<br />
– es gab nur noch durchdringende, scharfe, gequälte Töne. Welcher<br />
Teufel sie wohl bei dieser „Singweise“ geritten hat?<br />
20 | DER NEUE MERKER 12/2013
Aktuelles aus Österreich<br />
Ladies first? Ja, wenn sie es verdienen. Eine wahre Wohltat war daneben<br />
die noch im Volumen begrenzte, aber bezaubernde, süße Stimme des<br />
<strong>neue</strong>n Oscar: Hila Fahima. Locker und leicht daher perlend, verbreitete<br />
die junge Dame Anmut, Wohlwollen und Witz in der die Tragödie aufheiternden<br />
Pagenrolle. Am anderen Ende der Stimmregister beeindruckte<br />
die Ulrica der Monica Bohinec, die es sich leisten kann, ihren beachtlichen<br />
Mezzo mit voller Wucht aufzudrehen und in der Höhe wie in der<br />
Tiefe bedrohliche Mitteilungen zu machen.<br />
Gutes ist von allen singenden Herren zu berichten. Ramón Vargas, der<br />
die vorhergehende Aufführung hatte absagen müssen, musste sich zwar<br />
bei einigen Spitzentönen noch anstrengen, aber sein Verdi-Gesang mit<br />
der eleganten Phrasierung, dem goldenen, sinnlichen Timbre, das für spanischblütige<br />
Tenöre so charakteristisch ist, und die wunderbare italienische<br />
Diktion, dazu die im 1. Akt so unbeschwert-lockere, elegante Stimmführung<br />
und Rollengestaltung des lebensfrohen, verliebten schwedischen Königs<br />
– das alles war Balsam auf die uns Verdi-Liebhabern an diesem Abend<br />
zugefügten Wunden. Ein berührender Abschiedsgesang des Mordopfers<br />
beendete das Drama. Nicht gerade balsamisch, aber mit mächtigem Bariton,<br />
dem keine noch so fordernden dramatischen Momente etwas anhaben<br />
können, sang George Petean einen auch von der Figur her imposanten<br />
Grafen Ankarström. <strong>Der</strong> Jung-Bariton Mihail Dogotari machte<br />
als Christian angenehm auf sich aufmerksam. Aus den Kehlen der beiden<br />
Verschwörer Horn und Warting dröhnten mächtige dunkle Töne: Alexandru<br />
Moisiuc und Sorin Coliban konnten einem in ihrer unerbittlichen<br />
Rachsucht schon Angst machen. Peter Jelosits waltete seine Richteramts<br />
und als Diener mit solidem, klarem Tenor. <strong>Der</strong> von Thomas Lang betreute<br />
Chor fungierte wieder einmal als „Stammhalter“ alles Guten und<br />
Richtigen, wo das Orchester, dem Stab des Dirigenten folgend, der nie<br />
ein Zeichen einer gewünschten Lautstärke-Einschränkung von sich gab,<br />
einfach nach Gutdünken drauflos blies, fiedelte oder schlug. Kein Verdi-<br />
Festabend. <br />
Sieglinde Pfabigan<br />
17.11.: Premiere „DIE ZAUBERFLÖTE“ – siehe Seite 6<br />
18.11.: Keine Vorstellung.<br />
19.11.: „MADAMA BUTTERFLY“<br />
Die positive Überraschung dieses Abends: Plácido Domingo als Puccini-<br />
Dirigent. Von den großen, berühmten Dirigenten wird diese Tragödie der<br />
kleinen Geisha Cio-Cio-San nach wie vor geschnitten. Zumindest in Wien<br />
ist „Madama Butterfly“ zumeist eine Oper für Dirigenten-Anfänger, mitunter<br />
auch für Opern-Aufhörer. (<strong>Der</strong> Premierendirigent der Karajan-Ära, Dimitri<br />
Mitropoulos, oder die 4 Vorstellungen in der Saison 2008/09 unter<br />
Andris Nelsons gehören zu den rühmlichen Ausnahmen.) Diesmal wurde<br />
man eines besseren belehrt. Die zum Teil exotische Klangfülle verdeckt oft<br />
die Grundstruktur eines Werkes, das an musikdramatischer Aussagekraft<br />
der „Tosca“ oder „Bohème“ in nichts nachsteht. Die Unerbittlichkeit eines<br />
fatalen Missverständnisses sollte auch aus dem Orchestergraben erklingen.<br />
Unter der Leitung von Plácido Domingo tat sie dies mit großer Empathie<br />
und handwerklicher Souveränität. Da der Vollblutmusiker auch ein<br />
hochkarätiges Ensemble aufbieten konnte, war die Wirkung umso größer.<br />
Vor allem Ana Maria Martinez war eine exzellente Butterfly. Die in Puerto<br />
Rico geborene Sängerin erhielt ihre musikalische Ausbildung in New<br />
York, gewann u.a. den Domingo-Wettbewerb Operalia und debütierte<br />
bereits 1998 an der Wiener Staatsoper, wo sie vor allem in Pucccini-Rollen<br />
wie Mimi oder Liu zu hören war. Nun war sie eine junge, eher lyrische<br />
Cio Cio San, die aber die dramatische Entwicklung voll meisterte.<br />
Großartig das große Liebesduett und das Finale. Bei der großen Arie der<br />
Butterfly fehlt (noch) die Kraft für die Spitzentöne. Umso eindrucksvoller<br />
die Szene mit dem US-Botschafter Sharpless, der diesmal von Gabriel<br />
Bermúdez verkörpert wurde. Während Neil Shicoff als Pinkerton fast den<br />
Rahmen dieser Repertoire-Vorstellung sprengte – er begann im Grunde<br />
Die hoffnungsvolle Nachtwache (Ana Maria Martinez, Alisa Kolosova)<br />
gelangweilt, fing dann Feuer und zerbrach an der Wiederbegegnung mit<br />
Butterfly bzw. ihrem 2½-jährigen Sohn. Wirkte der spanische Bariton<br />
Gabriel Bermúdez zu gleichgültig, zu elegant. Sein Singen ist zu lyrisch.<br />
Schade! Großartig hingegen die junge Russin Alisa Kolosowa als dunkel<br />
timbrierte Suzuki mit großem emotionalem Einsatz. Das Blüten-Duett<br />
wurde so zu einem der Höhepunkte der Vorstellung. Positiv fielen noch<br />
auf: Herwig Pecararo als dramatisch intriganter Goro, Hans Peter Kammerer<br />
als Kommissar und Yamadori sowie Alexandru Moisiuc als polternder<br />
Onkel Bonze.<br />
Die Inszenierung von Josef Gielen (Ausstattung Tsugouharu Foujita)<br />
stammt aus dem Jahr 1957 und hält immer noch. Dank Plácido Domingo,<br />
dem Orchester und dem Chor der Wiener Staatsoper sowie einem hochkarätigen<br />
Sänger-Ensemble gab es auch bei der 363. Reprise noch keine<br />
Abnützungserscheinungen. Die „Butterfly“ wäre eine späte Entdeckung<br />
durch weitere Spitzen-Dirigenten dennoch wert. Peter Dusek<br />
20.11.: „DIE ZAUBERFLÖTE“<br />
Bis in den Mai dieses Jahres wurde an der Wiener Staatsoper die recht ordentliche<br />
Produktion von Marco Arturo Marelli gezeigt und brachte es<br />
auf 121 Aufführungen. Wenn nun also ein halbes Jahr später eine Neuproduktion<br />
herauskommt, so sollte es einen triftigen Grund dafür geben.<br />
Die <strong>neue</strong> Inszenierung des Duos Moshe Leiser und Patrice Caurier<br />
bleibt aber die Antwort auf diese Frage weitestgehend schuldig. In Anspielung<br />
auf die Uraufführung besannen sie sich auf die Tradition der Wiener<br />
Zauberoper und ließen sich von Christian Fenouillat eine leere Vorstadtbühne<br />
bauen, die durch Portaleinbauten verkleinert wurde. Durch einen<br />
Vorhang entsteht von Zeit zu Zeit auf der Vorderbühne ein zweiter Spielraum,<br />
der für Szenen genutzt wird, die in geschlossenen Räumen spielen.<br />
Schade ist, dass zwar die technischen Tricks von Versenkungen und<br />
„fliegenden Menschen“ zum Einsatz kommen, die auf der Bühne schön<br />
nachgebauten Kulissenzüge jedoch nie Verwendung für zumindest angedeutete<br />
Kulissen finden und einzig die Beleuchtung (Christophe Forey),<br />
einige Sessel und Mengen von leuchtenden Pyramiden und Kugeln für<br />
optische Abwechslung sorgen.<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 21
Aktuelles aus Österreich<br />
herangewachsen ist. Seine Pamina wurde von Chen Reiss gesungen, die<br />
sich sehr um die Gesangslinie bemühte und bewies, wie schwer die g-moll-<br />
Arie wirklich ist. Höchst erfreulich ist der sehr natürliche Papageno von<br />
Markus Werba. Er nützt auch die ihm von der Regie geschaffenen Möglichkeiten<br />
bei seinem Auftritt aus dem Zuschauerraum und hat nicht umsonst<br />
bei der Applauschoreographie den letzten Auftritt. Seine Papagena<br />
ist Valentina Nafornita. Sie hat es während ihrer ersten Auftritte nicht<br />
leicht, als Vogel zu agieren, löst diese Aufgabe aber mit Bravour. Nach<br />
dem entzückend gesungenen Pa-pa-pa –Duett verschwinden die Beiden<br />
dann Richtung Schnürboden.<br />
Ungewohnt ist der Sprecher mit Alfred Šramek besetzt. Er hat so gar<br />
nichts Hoheitsvolles, sondern ist der Typ „väterlicher Freund“. Stimmlich<br />
ist er erfreulicherweise sehr gut in Form und kann als 2. Priester (neben<br />
Benedikt Kobel) auch einige kleine Gags anbringen. Die drei Damen in<br />
ihren Faschingskostümen sind Olga Bezsmertna, Christina Carvin und<br />
Alisa Kolosova. Bei ihnen (und Chen Reiss) sind die Dialoge besonders<br />
schlecht verständlich. Thomas Ebenstein als Monostatos wirkt in seinem<br />
Aufzug, als käme er direkt aus Jonny spielt auf. Mit ziemlich scharfem Tenor<br />
charakterisiert er den schmierigen Opportunisten. Um das Transportieren<br />
des von Sarastro erlegten Hirschen in die Kühlkammer zu überwachen,<br />
wurden die beiden Geharnischten (Marian Talaba und Dan Paul<br />
Dumitrescu) in den akustisch ungünstigsten Winkel der Bühne verbannt,<br />
wo sie wie zwei Mafiosi die Geschehnisse beobachten und dann mit der<br />
Zigarette die Feuerprobe anzünden. Die drei Knaben haben mehr Spielfreude<br />
als Wohlklang zu bieten.<br />
Am Pult steht Christoph Eschenbach und beweist, dass die <strong>neue</strong> Produktion<br />
sicher nicht seinetwegen zustande kam. Eine solide Repertoireleistung,<br />
die aber aus dem Orchester sicher nicht das Mögliche herausholt.<br />
Gut der von Martin Schebesta einstudierte Chor, auch wenn ihm augenscheinlich<br />
nur die Polizistenszene Freude macht.<br />
Die Repertoiretauglichkeit dieser Produktion hängt an hohen Kothurnen,<br />
denn ein <strong>neue</strong>r Sarastro muss wohl erst ein Trainingslager absolvieren.<br />
Und hoffentlich findet man auch schwindelfreie Sänger für Pamina,<br />
Papagena und Papageno und – unter den vielen guten Mozart-Dirigenten,<br />
die es tatsächlich gibt, auch einen für die Wiener Staatsoper…<br />
<br />
Wolfgang Habermann<br />
21. und 22.11.: „TANZPERSPEKTIVEN“ – Besetzung wie 2.11.<br />
Überlebensgroßer Sarastro (Brindley Sherratt), Pamina (Chen Reiss)<br />
zu seinen Füßen<br />
Den oft gewählten Ansatz einer Einführung in die Freimaurerei ignorieren<br />
die Regisseure bewusst und interpretieren die Handlung als Entwicklung<br />
zum Erwachsensein. Lohnt es aber, Prüfungen auf sich zu nehmen,<br />
um dann Mitglied einer uniformen, hässlich gekleideten Masse (Kostüme:<br />
Agostino Cavalca), die marionettenhaft agiert, zu werden? Denn gerade<br />
dem Chor wird von der Regie eine grauenhafte Choreographie verschrieben:<br />
Im ersten Finale zappeln alle, als wären sämtliche Toiletten des Hauses<br />
besetzt, zum Adagio des „O Isis und Osiris“ laufen sie von der Seite<br />
herein, als wäre endlich eine frei geworden und im Finale beglückwünschen<br />
sich alle mit Handschlag, dass sie nun endlich eine gefunden haben.<br />
Natürlich gibt es, vor allem im 1. Teil viele schön gelungene Szenen, angefangen<br />
vom ersten Auftritt Taminos und der Schlange als überdimensionierte<br />
Schatten (die von der Galerie nur leider kaum sichtbar sind) oder<br />
den Papageno-Auftritt mit lebenden Tauben. (Ob die blendend dressierte<br />
weiße Taube, die ihm während der Arie zufliegt, bereits ein Angebot für<br />
einen Parsifal hat?). Dazu einige Holzhammer-Gags, die aber ihre Wirkung<br />
erzielen: Wenn Monostatos gleich seine Absichten verrät und in der<br />
Unterwäsche zu Pamina kommt oder die Sklaven in der Polizeiuniform,<br />
die bei „Das klinget so herrlich“ im Tutu von der Bühne tanzen. (Hoffentlich<br />
kriege ich nicht Probleme, wenn ich bei einer Verkehrskontrolle den<br />
Polizisten nach seinem Tutu frage.) Auch die wilden Tiere (Bären, Nashorn<br />
und Strauße) verfehlen ihre Wirkung nicht.<br />
Musikalisch sind in dieser Produktion jeweils die „Chefs“ für Wien neu<br />
und hier ist an erster Stelle die Königin der Nacht von Olga Pudova zu<br />
nennen. Ein wirklich dramatischer Sopran mit blitzenden Koloraturen,<br />
der auch die notwendige Attacke nicht fehlt. <strong>Der</strong> Sarastro von Brindley<br />
Sherratt überragt dank seiner Kothurne alle anderen. Er hat aber leider<br />
nur eine sonore Tiefe zu bieten. In den höheren Lagen wird die Stimme<br />
sehr flach. Möglicherweise ist das aber noch eine Nachwirkung der Verkühlung,<br />
die ihm bei der Premiere zu schaffen machte. Als Tamino war,<br />
wie in den letzten Vorstellungen der alten Inszenierung, Benjamin Bruns<br />
aufgeboten und er bewies, dass in ihm ein wirklich guter Mozart-Tenor<br />
23.11.: „PETER GRIMES“ – Wiederaufnahme der Inszenierung von<br />
1996 (34. Vorstellung), die zugleich die Erstaufführung an der Wiener<br />
Staatsoper (unter dem noch mit dem Komponisten befreundeten<br />
Mstislav Rostropovich) war.<br />
Damals war Benjamin Britten erst 20 Jahre tot, Peter Grimes aber schon<br />
50 Jahre „auf der Welt“. Ich hatte etliche Bühnenwerke des Komponisten<br />
in den 60er-Jahren in England kennen und schätzen gelernt. Heute<br />
liebe ich sie alle. Und es gibt sicher nicht mehr viele Opernfreunde, die<br />
es nicht tun. <strong>Der</strong> Britten-„boom“ anlässlich seines 100. Geburtstages ist<br />
überaus erfreulich.<br />
<strong>Der</strong> „<strong>Merker</strong>“ brachte bereits im Oktoberheft 2012 einen umfassenden<br />
Leitartikel unseres England-Korrespondenten und großen Britten-Kenners<br />
Stephen Mead mit einer Würdigung aller seiner Bühnenwerke. Auf<br />
meine Frage im Editorial jenes Heftes: „Wer (außer dem Autor des Artikels)<br />
alle Britten-Opern kennt, möge sich melden!“ kam keine Rückmeldung. Dass<br />
sich diese Situation zunehmend ändert, wäre wünschenswert. Das Hauptkriterium<br />
für geniale Schöpfungen, nämlich, dass sie mit jeder Wiederbegegnung<br />
an Faszination gewinnen, trifft nämlich auf alle Britten-Werke zu.<br />
Ich habe „Peter Grimes“ in den letzten 50 Jahren in den unterschiedlichsten<br />
Inszenierungen gesehen (London, Wien, Salzburg, Berlin, München,<br />
Karlsruhe, Zürich, Turin, Bratislava) und fand das Stück jedes Mal noch<br />
ergreifender. Interessanterweise erlebte ich in allen diesen Opernhäusern<br />
durchwegs erstklassige Sängerdarsteller. Das hängt vielleicht damit zusam-<br />
22 | DER NEUE MERKER 12/2013
Aktuelles aus Österreich<br />
Geglückte Facherweiterung - Herbert Lippert als Peter Grimes<br />
men, dass man das Stück nur aufführt, wenn die richtige Besetzung zur<br />
Verfügung steht und keinen Repertoireschlendrian einreißen lässt. Oder<br />
gar damit, dass es sich um durchwegs dankbare Rollen handelt, von denen<br />
die meisten keine übermäßigen stimmlichen Anforderungen stellen<br />
und leicht aus dem jeweiligen Ensemble rekrutiert werden können? Vor<br />
allem aber meine ich, dass Britten es den Opernsängern leicht macht, sich<br />
zu profilieren, weil er lebendige Menschen auf die Bühne stellt. Ebenso<br />
viel Freude macht das Werk ganz offensichtlich auch den Dirigenten und<br />
Musikern, denn die Musik zwingt einen einfach, sich mit den Charakteren<br />
und Situationen zu identifizieren, sodass ich auch diesbezüglich von<br />
ausschließlich positiven Erfahrungen berichten kann.<br />
So wurde auch die gegenwärtige Aufführungsserie unter Brittens Landsmann<br />
Graeme Jenkins zu einem Klangerlebnis der Sonderklasse. Nicht<br />
nur der Titelheld kommt vom Meer nicht los, das für die Bewohner des<br />
Fischerstädtchens die Existenzgrundlage darstellt. Auch als bloßer Zuhörer<br />
hat man das Gefühl, dass die so meisterhaft in Töne gesetzten kleinen<br />
Wellen und gewaltigen Wogen, von einzelnen Holzbläsern, dem<br />
Streicher-Corps oder dem dunkel dräuenden Blechbläserchor in lebendiger<br />
Bewegung oder trügerischer Ruhe dargeboten, einen erregen, verlocken,<br />
erheben oder verschlingen. Es ist, als hätte man den festen Boden<br />
unter den Füßen verloren, vertraut sich dem trügerischen Element<br />
aber doch immer wieder gerne an. Allein schon die oft konzertant dargebotenen<br />
„Sea interludes“ sind ein Faszinosum für sich. Ich empfinde<br />
diese Musik immer mehr als Droge, von der man nicht mehr loskommt.<br />
Wenn dann noch das Philharmonische Wiener Staatsopernorchester<br />
im Einsatz ist, kommen dank seiner betörenden Klangschönheit auch<br />
die grellen, dissonanten Stellen oder Szenen, die die Tragödie des unrettbaren<br />
Außenseiters Peter Grimes ebenso charakterisieren wie die ruhigen,<br />
verinnerlichten Passagen, in ihrer humanen Botschaft zur Geltung.<br />
Bei hochgelagerten Orchestergräben, wie an der Wiener Staatsoper, besteht<br />
natürlich die Gefahr, dass das Orchester zu dominant wird und manche<br />
Sängerstimmen untergehen. Diesmal konnte der Dirigent, der das Werk<br />
offenbar gut kennt und fest in der Hand hat, auch jenseits der rein orchestralen<br />
Passagen des öfteren loslassen, denn es standen genügend voluminöse<br />
Stimmen zur Verfügung. Dass nicht alle Rollenträger starke Charakterporträts<br />
zuwege brachten, „danken“ sie der Regisseurin Christine<br />
Mielitz, die zwar etliche Klischees des modernen Regietheaters bediente,<br />
aber keine wirklich profilierte Personenregie bot. (Siehe „<strong>Merker</strong>“ 3/1996)<br />
Dass der für den wieder einmal absagenden Ben Heppner einspringende<br />
Herbert Lippert diese Herausforderung souverän bewältigte, erhöht seinen<br />
Wert als Ensemblemitglied. Mit echter heldentenoraler Durchschlagskraft<br />
gab er dem Peter Grimes die nötige vokale Präsenz, konnte aber auch<br />
mit den leiseren kantablen Passagen beeindrucken. Die Verzweiflung über<br />
die für ihn ausweglose Situation des als Kindesmörder angeklagten Fischers<br />
glaubte man ihm, die psychisch unvermeidbare Zuflucht zu roher Gewalt<br />
sollte noch eindrücklicher gebracht werden, und sein Gesicht sollte noch<br />
deutlicher die Seelenqualen des Grimes „sprechen“ lassen. Es ist ja so etwas<br />
wie eine „Lebensrolle“, in die auch viele seiner großen Tenorkollegen<br />
erst hineinreifen mussten.<br />
Mit enormem Stimmvolumen und interessantem Timbre überraschte die<br />
Hausdebutantin Gun-Brit Barkmin (die bereits beim Japan-Gastspiel der<br />
Wiener Staatsoper im Herbst unter Peter Schneider die Salome gesungen<br />
hatte) als Ellen Orford, die meist von lyrischeren Sopranen gesungen wird,<br />
verkörperte eine starke Frau, die zu retten versucht, was möglich ist, indem<br />
sie Peter Grimes Halt zu geben und ihn zu freundlicher Behandlung<br />
des jungen Fischergehilfen zu bewegen trachtet. Ihr Schreck, wenn sie erkennen<br />
muss, dass es für ihn am Ende keinen anderen Ausweg als das von<br />
Balstrode vorgeschlagene „Sink the boat!“ geben kann, ist nicht nur gespielt.<br />
Wir sind nun doppelt neugierig auf ihre Salome und Sieglinde noch<br />
in dieser Saison. Ebenfalls Hausdebutant war der Bariton Iain Paterson<br />
als Captain Balstrode, eine Autorität, die in der kleinen Stadt nach dem<br />
Rechten sieht. Das bewies er sowohl mit seinem vollen, kernigen Bariton<br />
als auch durch seine Haltung und ein Minimum an passenden Gesten.<br />
Das übrige Ensemble konnte sich nur vokal profilieren, weil die Regie zu<br />
wenige Entfaltungsmöglichkeiten vorsieht – die Chorumtriebe waren ihr<br />
wichtiger. An vorderster Stelle ist da Norbert Ernst zu nennen, der die<br />
Zednik-Rolle des zynischen, stets betrunkenen Bob Boles mit gänzlich anderem,<br />
heldischerem Stimmcharakter eindringlich singt. Wolfgang Bankl<br />
als Dorfrichter, von Britten dezent als „lawyer“ bezeichnet, der schon im<br />
Prolog den Angeklagten zur Schnecke macht, indem er ihm immer wieder<br />
das Wort abschneidet, tat dies imposant mit seinem durchsetzungsfähigen<br />
Bassbariton. Monika Bohinec als Auntie, Donna Ellen als Mrs.<br />
Sedley und die beiden Nichten Simina Ivan und Hyuna Ko zeichneten<br />
sich durch Bemühen um verständliche englische Diktion ebenso aus wie<br />
die Herren Carlos Osuna (Reverend Horace Adams), Gabriel Bermúdez<br />
(Ned Keene) und Janusz Monarcha (Hobson). <strong>Der</strong> von Thomas<br />
Lang betreute Chor konnte seine Allmacht trefflich unter Beweis stellen.<br />
Während Britten und sein Librettist Montague Slater gerade in diesem<br />
Stück, wo die Masse Mensch einen Einzelgänger vernichtet, weil sie einen<br />
Sündenbock braucht, auf die genaue Zeichnung einzelner Individuen<br />
Wert gelegt haben, glaubte Christine Mielitz dies zugunsten einer vagen<br />
Modernität ignorieren zu müssen.<br />
Die gute Hintergrundbeleuchtung trug jedoch einiges zur optischen Bereicherung<br />
bei. Da wurde doch die düstere, gefahrvolle Atmosphäre geschaffen,<br />
die auch in der Musik vorherrscht.<br />
Zur Un-Ehre der Wiener Staatsoper muss ich leider feststellen, dass alle<br />
anderen mir bekannten Inszenierungen dem Stück weit besser gerecht<br />
wurden. Dank der grandiosen Musik und unserem vortrefflichen Ensemble<br />
konnte Brittens humane Botschaft trotzdem auch hier ankommen. <br />
<br />
Sieglinde Pfabigan<br />
24.11.: „DIE ZAUBERFLÖTE“<br />
Unser lieber alter Musikprofessor betrat in der 1. Klasse Gymnasium das<br />
Musikzimmer mit einem Klavierauszug der „Z“ unter dem Arm und erklärte:<br />
„Jetzt werdet ihr was vom Schönsten hören, dass es überhaupt gibt!“<br />
Dann begann er mit der Ouvertüre. Beifall. – Doch dann ging es los: Er<br />
sang zum Klavier alle Partien, die es gibt. Hohe, tiefe, lustige, traurige.<br />
<strong>Der</strong> Beifall war enden wollend. Doch ernste seelische Verletzungen gab<br />
es keine. Merke! Als Erst-Oper gar nicht so geeignet, wie man vielleicht<br />
glauben könnte. Zumindest mit Klavier.<br />
An dem Abend klang es schon viel, viel besser.<br />
Gesungen hat alles, was junge und schöne Stimmen hat. So gleich der Sarastro<br />
des Bridley Sherratt, ein wohltönender Bass, dem nur noch der Ausbau<br />
der tiefen Lage etwas fehlt. Dem Tamino des Benjamin Bruns fehlt<br />
an Stimme gar nichts, nur dass diese etwas dunkler und ausdrucksvoller<br />
sein könnte, was aber sicher nur eine Frage der Zeit ist, – Sprecher und 2.<br />
Priester liegen bei Alfred Šramek in wohlerprobter Kehle, der 1. Priester<br />
desgleichen bei Benedikt Kobel. Olga Pudova als nächtliche Königin ist,<br />
kurz gesagt, Erste Klasse. <strong>Der</strong>artig brillantene Höhen und scharf geschliffene<br />
Koloraturen hat man schon die längste Zeit nicht mehr gehört. Die<br />
Pamina der Chen Reiss besticht in ähnlicher Weise durch Schöngesang<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 23
Aktuelles aus Österreich<br />
Tamino umringt von drei Damen besingt, eine - vierte! (Benjamin Bruns)<br />
Ein echter Glücksfall für diese Serie ergab sich (durch die Absage von<br />
Ben Heppner) für Herbert Lippert. Sie ermöglichte ihm als Einspringer<br />
ein fulminantes Rollendebut in der packenden Rolle des Peter Grimes.<br />
Er meistert die gesanglichen Schwierigkeiten souverän – die Partie liegt<br />
ihm (im Gegensatz zum Erik und Lohengrin) ganz perfekt in der Kehle;<br />
seine darstellerischen Fähigkeiten ermöglichen ihm eine Charakterstudie<br />
dieses brutalen, harten Fischers – der aber auch seine Träume hat<br />
und unter dem Mobbing der oberflächlichen selbstgerechten „normalen“<br />
Leute leidet – wie man es nur selten auf einer Opernbühne erlebt.<br />
und den Beweis, dass belcanto nicht nur ein Privileg südlicher Kehlen ist.<br />
Die Drei Damen O. Bezsmertna, C. Carvin, A. Kolosova machen ihre<br />
Sache, munter gekleidet wie gespielt und gesungen, recht erfreulich. Auch<br />
Marcus Werba als Papageno ist ein Volltreffer, was die wienerische Seite<br />
des Volksstückes betrifft. Ob er nicht doch mit seinen vielen internationalen<br />
Verpflichtungen etwas mehr maßhalten sollte? Seine Papagena Valentina<br />
Nafornita ist als Alte recht komisch, als Junge erklärbar gebärfreudig.<br />
Drei singende Knaben sind leider kaum zu hören. Wohl aber der<br />
Monostatos des Thomas Ebenstein. Das Böse ist eben immer lauter als<br />
das Gute. Zwei Geharnischte, Marian Talaba und Dan Paul Dumitrescu,<br />
sind mit ihrem Doppelgesang eine ernste Mahnung.<br />
Christoph Eschenbach muss ein großer Mozart-Verehrer sein. So hört es<br />
sich an. Regie von Moshe Leiser und Patrice Caurier räumen mit alten<br />
Regiegedanken ziemlich radikal auf, was aber entschlackt, ohne zu stören.<br />
Prächtig tönen die Chöre unter Martin Schebesta und runden mit<br />
dem wunderbaren Orchester den Eindruck eines unvergänglichen Werkes<br />
ab. <br />
Fritz Tront<br />
25.11.: Keine Vorstellung.<br />
26.11.: „PETER GRIMES“<br />
„WELL DONE“ – Eine gelungene Würdigung von Benjamin Britten<br />
zum 100. Geburtstag stellt die wiederaufgenommene Serie dieser tief<br />
berührenden Oper über einen unglücklichen Menschen in den Fängen<br />
einer oberflächlichen, kleinbürgerlichen Dorfgesellschaft an der Ostküste<br />
Englands dar.<br />
Diese Regiearbeit von Christine Mielitz stammt aus einer Schaffensphase<br />
(1996 – für uns ihre beste Arbeit in Wien), in der noch das Werk<br />
– und nicht die Selbstdarstellung – im Mittelpunkt stand, und erzählt<br />
eindrucksvoll diesen fesselnden Stoff, der ja Benjamin Britten auch<br />
aufgrund seiner eigenen Lebensgeschichte so viel bedeutete. Die auch<br />
handwerklich gute Arbeit mit gekonnter Personenführung lässt auf der<br />
praktisch leeren Bühne nicht eine Sekunde Leerlauf zu – besonders der<br />
hervorragend singende Staatsopernchor hat offensichtlich zur Wiederaufnahme<br />
sehr erfolgreich geprobt und agiert sehr ambitioniert.<br />
Das Staatsopernorchester unter der Leitung des Engländers Graeme<br />
Jenkins zeigt wieder einmal seine Stärken bei der Interpretation von extrem<br />
ausdrucksstarker Musik. Die sinfonischen Zwischenspiele zählen<br />
– in dieser Qualität dargebracht – zu Höhepunkten der Opernliteratur.<br />
Rührt stets ans Herz - Peter Grimes hält den ihm anvertrauten toten Knaben<br />
Die Sopranistin Gun-Brit Barkmin, die im Rahmen der Wiener Staatsoper<br />
bisher nur als „Salome“ beim Japan-Gastspiel mitwirkte, wird in<br />
der laufenden Saison auch noch als Salome und als Sieglinde im Haus<br />
am Ring zu erleben sein. Aufgrund der Darstellung der Lehrerin, die<br />
auch als Außenseiterin der Gesellschaft eine interessante Persönlichkeit<br />
ist, kann man sich darauf durchaus freuen. Die Szene mit dem Buben<br />
am Strand – mit der betenden Gemeinde im Hintergrund – war eindrucksvolles,<br />
großes Theater. Ihre Stimme ist technisch sehr gut geführt,<br />
geradlinig und gut tragend.<br />
Die dritte Hauptrolle, der Balstrode, Handelsmarine-Kapitän in Ruhestand,<br />
wurde vom schottischen Bariton Iain Peterson (erstmals in<br />
der Wiener Staatsoper) mächtig und mit passendem stimmlichen Ausdruck<br />
dargestellt.<br />
Monika Bohinec war als „Auntie“ stimmlisch und darstellerisch sehr<br />
gut und lieferte gemeinsam mit ihren Nichten Simina Ivan (die reifere<br />
der beiden Schwestern – war sie doch immerhin schon bei der Premiere<br />
1996 mit dabei) und Hyuna Ko mit Gun-Brit Barkmin als Lehrerin<br />
im Quartett einen Höhepunkt des Abends.<br />
Wolfgang Bankl war als Swallow eine Luxusbesetzung – eigenartigerweise<br />
mussten wir beide während seines Gesanges an Ostern denken!<br />
Die kleineren Rollen – Norbert Ernst als Bob Boles, Donna Ellen als<br />
Mrs. Sedley, Carlos Osuna als Reverend Horace Adams, Gabriel Bermudez<br />
als Ned Keene und Janusz Monarcha als Hobson waren gesanglich<br />
und schauspielerisch sehr gut aus dem Ensemble besetzt und hatten<br />
einen großen Anteil am eindrucksvollen Ergebnis dieses Abends, der dem<br />
dritten Jubilar dieses Jahres, aber auch der Wiener Staatsoper, abseits<br />
vom populänen Repertoire, Ehre machte. Maria und Johann Jahnas<br />
27.11.: „DIE ZAUBERFLÖTE“<br />
Ich bin nicht traurig über den Verlust der einzigen Marelli-Inszenierung,<br />
die ich nicht für besonders gelungen erachtete. Die <strong>neue</strong> „Zauberflöte“<br />
von Moshe Leister und Patrice Caurier erzählt im Wesentlichen<br />
ein Märchen, als das es auch Helmut Lohner in der Volksoper<br />
und Otto Schenk in einer früheren Inszenierung gesehen haben. Allerdings<br />
gibt es dabei einige Brüche: Sarastro als Aufsichtsratsvorsitzender<br />
24 | DER NEUE MERKER 12/2013
Aktuelles aus Österreich<br />
passt in das Märchenkonzept nicht allzu gut, genauso wenig wie die<br />
naturalistische Erhängungsszene von Papageno sowie ein wenig anzügliches<br />
Betragen des Vogelmenschen. Das Bühnenbild von Christian<br />
Fenouillat bildet einen attraktiven Rahmen um die Kostüme von<br />
Agostino Cavalca, die teils schrill, wie bei den drei Damen, teils etwas<br />
einfallslos, wie bei Tamino und Pamina, aber nie hässlich sind.<br />
Schwebende Menschen und pyrotechnische Effekte waren nett, aber<br />
nicht sehr beeindruckend, die wilden Tiere allerliebst, und die Stimmung<br />
im Haus sehr angetan.<br />
Aus der soliden Besetzung ragte der sehr wienerische Papageno von<br />
Markus Werba hervor, der seine Rolle mit viel Charme erfüllte und<br />
seinen schlanken Bariton wirksam einsetzte. Benjamin Bruns ist Wiener<br />
Opernbesuchern schon seit einiger Zeit als zuverlässiger Interpret<br />
des Tamino ein Begriff. Seine schlanke, hell timbrierte Stimme setzt er<br />
mit Nuancen ein und spielt sehr gefällig, ein außerordentlicher Vertreter<br />
seiner Rolle ist er nicht. Chen Reiss gelangte zu Pamina-Ehren, weil<br />
die ursprünglich vorgesehene Sängerin ein Problem mit einigen Metern<br />
über dem Bühnenboden Entschweben hatte, was man ihr nicht verdenken<br />
kann. Für mich stellte sie nur optisch eine Idealbesetzung dar – ihrer<br />
Stimme fehlte die lyrische Wärme, die ich mir von diesem Mädchen<br />
erwarte. Olga Pudova als Königin der Nacht bot blitzsaubere Koloraturen,<br />
für die sie heftig beklatscht wurde; das Timbre ihres Soprans habe<br />
ich als ein wenig scharf empfunden.<br />
Ihr Gegenspieler Sarastro, verkörpert von Brindley Sherratt auf Kothurnen,<br />
wirkte vor allem deshalb; ein wenig fehlte mir bei seinem schlanken<br />
Bass die Wärme des Weisen.<br />
Thomas Ebenstein verkörperte den Monostatos gut, Marian Talaba<br />
und Dan Paul Dumitrescu waren, wie das gesamte „Personal“ von Sarastro,<br />
in Aufsichtsrats-Anzüge gekleidet. Alfred Šramek als Sprecher<br />
und 2. Priester erging es ebenso, doch er versah seine Rollen mit schöner<br />
Stimme und Würde, ebenso wie Benedikt Kobel als 1. Priester. Auch<br />
das hohe Paar erscheint am Ende in Kostüm und Anzug – gehören sie<br />
jetzt auch zum Establishment?<br />
Olga Bezsmertna, Christina Carvin und Alisa Kolosova waren sehr<br />
gut besetzte Drei Damen, die wie Marketenderinnen aus der Barockzeit<br />
gewandet waren und ihre Dialoge sehr natürlich lieferten, was für<br />
Pamina nur bedingt galt. Valentina Nafornita als Papagena war eine<br />
allerliebste Luxusbesetzung; ihre turnerische Leistung als alter Vogel<br />
fand ich beachtlich.<br />
Die drei Knaben waren mit Wiener Sängerknaben besetzt, deren Engelsstimmen<br />
stellenweise nicht ganz harmonisch klangen.<br />
Christoph Eschenbach am Pult dirigierte eine sehr rasche Auffassung<br />
von der Partitur. Ich fand sie kein bisschen langweilig, aber auch gar nicht<br />
außergewöhnlich, so, wie die Aufführung sich auch darstellte: solide.<br />
<br />
Traude Steinhauser<br />
28.11.: „MANON“<br />
Ein grandioses Trio ließ hier die emotionalen Funken sprühen: Olga<br />
Esina in der Titelrolle gestaltet in den 3 Akten die Figur der Manon<br />
vom unschuldig-naiv-unerfahrenen Mädchen über die glückselig<br />
Verliebte zur Frau, die der Verführung durch schnöden Mammon<br />
erliegt und ihre weiblichen Reize gezielt zu nutzen gelernt hat, um<br />
dann schließlich doch der Liebe zu folgen und auf der Flucht den Erschöpfungstod<br />
zu erleiden. Ihre packende Darstellung geht zu Herzen,<br />
die technische Umsetzung macht sie zur souveränen Bühnenerscheinung.<br />
Vladimir Shishov kann als Des Grieux mit intensivem<br />
Ausdruck glaubhaft seine tiefen und wahren Gefühle für seine Manon<br />
spürbar machen und damit kleine tänzerische Unsicherheiten<br />
zu Beginn rasch überwinden – hat er doch erst mit dieser Aufführung<br />
erstmals in dieser Saison eine Hauptpartie getanzt. Mihail Sosnovschi<br />
ist der Dritte im Bunde, der diese Vorstellung so sehenswert<br />
machte: präsent und charakterstark wie stets verkörpert er den windigen<br />
Lescaut, der nicht nur seine Geliebte „vermarktet“, sondern<br />
auch nicht davor zurückscheut, seine eigene Schwester gewinnbringend<br />
an den reichen Mann zu bringen. Sein eigentlich verwerfliches<br />
Tun auf der Bühne lässt ihn dennoch als Publikumsliebling beim<br />
Schlussapplaus heftig akklamiert werden. Bei diesen drei Künstlern<br />
sprühte es nur so vor explosiver Emotionalität und Leidenschaftlichkeit<br />
– so dass einige technische Pannen nur ganz kurz für Irritation<br />
sorgten – am auffälligsten der Schuss, der Lescaut töten soll, und zuerst<br />
zu früh und dann verspätet noch einmal fällt.<br />
Alice Firenze debütiert als Lescauts Geliebte und kann hier gute Akzente<br />
setzen. Thomas Mayerhofer (Monsieur G.M.) und Gabor Oberegger<br />
(Aufseher) tragen das Ihre bei zur gelungenen Vorstellung, indem sie<br />
überzeugend die Wirkung ihre Macht deutlich machen. Marcin Dempc<br />
gefällt zunächst als frech-verschmitzter Bettlerkönig und später gemeinsam<br />
mit Alexandru Tcacenco und Dumitru Taran als elegante Kavaliere<br />
im Haus von Madame (Dagmar Kronberger). Das Corps de ballet<br />
gefällt durch angeregtes Spiel.<br />
Peter Ernst Lassen leitete das Orchester (die Oper ist derzeit in Oman<br />
auf Gastspiel) mit eindringlicher Dichte. Ein sehr sehenswerter Abend<br />
mit viel Applaus. <br />
Ira Werbowsky<br />
29.11.: „PETER GRIMES“<br />
Noch unbeschwert von den kommenden tragischen<br />
Ereignissen - Ellen Orford (Gun-Brit Barkmin)<br />
Benjamin Brittens 100. Geburtstag wiegt offenbar nicht so schwer wie<br />
die zwei 200er. Freuen wir uns, dass die Staatsoper immerhin eine – und<br />
zwar überwiegend gute – Inszenierung von Christine Mielitz mit Bühnenbildern<br />
und Kostümen von Gottfried Pilz wieder ausgegraben hat.<br />
„Peter Grimes“ ist eine von fünf Britten-Opern, deren Titel aus Vor- und<br />
Familiennamen besteht. Wie bei fast allen ist der Titelheld kein Held,<br />
sondern ein kleiner Mann im Kampf mit widrigen Umständen, d. h. mit<br />
der Natur als Umgebung<br />
und Lebensraum<br />
sowie der kleinstädtischen<br />
Bevölkerung.<br />
Brittens persönliche<br />
Umgebung war ja ähnlich.<br />
Und auch in der<br />
Partitur siegt für mich<br />
als erstes das Orchester<br />
und sein Dirigent<br />
Graeme Jenkins<br />
bei den weit ausgebreiteten<br />
Sea Interludes<br />
in einer selbständigen,<br />
interessanten,<br />
gewaltigen und schönen<br />
Musiksprache, ex<br />
aequo der Chor (Leitung<br />
Thomas Lang).<br />
Dann kommt natürlich<br />
der Titel-(held?)<br />
Herbert Lippert, der<br />
auch unter den widrigen<br />
Umständen seinen<br />
klaren, kraftvollen Tenor<br />
souverän einsetzt<br />
und auch mit seinem<br />
Gehaben durchaus als<br />
englischer Fischer durchgehen kann. Die Damen stechen durch ihre<br />
hellen Stimmen aus der Masse hervor: Gun-Brit Barkmin als mitfühlende,<br />
schönstimmige Ellen Orford, Monika Bohinec als Auntie, und<br />
nicht zuletzt Simina Ivan und Hyuna Ko als die beiden Nichten im<br />
Minirock und Donna Ellen als Mrs. Sedley. Als schottischer Import ist<br />
Iain Paterson als Gegenspieler Balstrode mit prächtigem Bariton sehr<br />
überzeugend als Verteidiger des Geächteten. Ebenso Norbert Ernst als<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 25
Aktuelles aus Österreich<br />
Bob Boles, Wolfgang Bankl als Swallow, Carlos Osuna als würdiger<br />
Reverend Adams (sehr schön die Kirchenchorszene). Gabriel Bermúdez<br />
war Ned Keene und Andreas Hörl hatte sein Rollendebur als Hobson-Einspringer<br />
wegen Erkrankung von Janusz Monarcha. Erst die 36.<br />
Aufführung! Das Stück verdient noch viele weitere.<br />
P.S.: Das war für mich ein würdiger Abschluss des Tages, an dem wir uns<br />
von Christopher Norton-Welsh verabschiedet hatten. Er war rezensierender<br />
Kollege bei Opera News und wir hatten uns zuletzt bei der Eötvös-Oper<br />
getroffen. Ich lernte ihn vor 40 Jahren als Tenorsolisten (später wurde er als<br />
Bariton ein gefragter Liedsänger) in der Karmelitenkirche kennen und er<br />
machte mich auf Britten und seine Lieder aufmerksam. <br />
<br />
Hans Peter Nowak<br />
Man wollte dem Wiener Publikum <strong>neue</strong>re, bessere, stimmigere Mozartdeutungen<br />
bieten, aber leider hat das auch diesmal nicht geklappt. Irgendwie<br />
ist bei den Neuinszenierungen der Opern Wolfgang Amadeus<br />
Mozarts der Wurm drinnen, was sehr schade ist, da doch Österreich eine<br />
Vorreiterrolle bei der Interpretation dieses Komponisten innehabe sollte.<br />
Zuerst erblickt man einen zweiten Bühnenrahmen, nachempfunden der<br />
creme-goldenen Innenausstattung des Bühnenraums und dahinter ein<br />
großes Nichts – eine gähnend leerer Raum ( Christian Fenouillat), lediglich<br />
durch einen alten, schäbigen Heizungskörper aufgelockert. Dieser<br />
erste Eindruck ließ gleich mal die Hoffnungen sinken. <strong>Der</strong> Abend<br />
und die Inszenierung (Moshe Leiser und Patrice Caurier) plätscherten<br />
dann dahin, aufgelockert von einigen kleinen Gags um das Publikum<br />
zu amüsieren. Man bediente sich im ersten Teil vieler Knaller und<br />
pyrotechnischer Effekte, um die Auftritte der Königin, ihrer Damen<br />
und die Macht Sarastros zu demonstrieren. Im zweiten Teil wurde gern<br />
und viel an Seilen hängend über die Bühne geschwebt. Ob sich das für<br />
Gastsänger als praktisch erweisen wird? Die Männer Monostatos’ sind<br />
wie Wiener Polizisten gekleidet, die ihre Jacken öffnen, darunter Tutus<br />
anhaben und so zum Glockenspiel tanzen. Dies brachte zumindest Lacher<br />
im Publikum.<br />
Die wilden Tiere (ausgenommen die putzig trippelnden Strauße) sind<br />
wie aus einem Schauerfilm ausgeliehen, kamen aber auch gut an.<br />
Sarastros Welt gleicht einer extrem düsteren Jagdgesellschaft in eigenartiger<br />
trachtig angehauchter Kleidung (Kostüme: Agostino Cavalca)<br />
oder Trenchcoat und Hut, wie Geheimpolizisten; die Sonnenwelt wird<br />
nur durch kleine, beleuchtete Pyramiden und Sonnen angedeutet. Ich<br />
frage mich nur, was das märchenhafte junge Paar an dieser düsteren<br />
Welt verlocken soll? Oder will man erklären, dass Erwachsenwerden<br />
den Wechsel in eine graue trostlose Welt voll Konformität, wo nur eine<br />
kleine Sonne leuchtet, bedeutet?<br />
Die musikalische Seite der Aufführung war leider auch nicht strahlend,<br />
sondern recht durchwachsen und bieder.<br />
<strong>Der</strong> Dirigent Christoph Eschenbach ist traurigerweise derzeit anscheinend<br />
der einzige ,,Nachwuchs“ bei den Mozartdirigenten. Er leitete<br />
den Abend recht langatmig und schwergewichtig mit unausgewogenen<br />
Tempi, nicht premierenwürdig sondern durchschnittlich.<br />
<strong>Der</strong> Beste der Sängerriege war eindeutig Markus Werba in der dankbaren<br />
Rolle des Papageno trotz des hässlichen gagerlgelben Kostüms. Er<br />
durfte einige Witzchen reißen, durch das Publikum toben, in Falltüren<br />
verschwinden und durch die Lüft schweben, und hielt so den Abend<br />
am Laufen. Stimmlich ist er zwar kein Riese, scheint aber jetzt doch in<br />
diesem großen Haus angekommen.<br />
Benjamin Bruns, in einem Fantasiekostüm, wie aus 1000 und einer<br />
Nacht, war sowohl stimmlich als auch optisch ein netter Prinz Tamino,<br />
sang ohne Fehl und Tadel trotz nicht ganz mozart’scher Stimme und<br />
wirkte etwas zu ernst, fast musterschülerhaft.<br />
Seine Pamina, dargestellt von Chen Reiss, die ursprünglich für die Papagena<br />
vorgesehen war, wirkte auch ein wenig hölzern, sang schön, aber<br />
kühl, für die große Bühne vielleicht zu schwach, konnte den Zauber<br />
dieser Rolle nicht ins Publikum transportieren.<br />
30.11. ,, DIE ZAUBERFLÖTE“<br />
Leider vergebliche Liebesmüh<br />
Schwebend im Liebeshimmel - Papagena und Papageno<br />
(Hila Fahima mit Markus Werba) (alle © Michael Pöhn)<br />
Die Debutantin Olga Pudova gab die sternflammende Königin im roten<br />
Abendkleid. Sie musste sich ständig völlig gebrochen dahinschleppen.<br />
Ihre Koloraturen und hohen Töne sind ausgezeichnet, in der Mittellage<br />
vibriert es etwas, jedoch eine gute Leistung.<br />
Brindley Sherratt musste auf unter der Hose verborgenen Kothurnen<br />
herumstelzen und sah aus, wie ein überdimensionaler Freizeitjäger. Er<br />
sang eine schöne Linie und er gefiel mir recht gut, leider war er durch<br />
die Regie arg behindert.<br />
Hilla Fahima sang eine putzige Papagena, die die meiste Zeit als menschliche<br />
Krähe herum kreischen muss.<br />
Die drei Damen Olga Bezmerta, Christina Carvin und Alisa Kolosova<br />
waren nicht sehr einheitlich, und fielen durch schwer akzentbehaftetes<br />
Deutsch auf. Die drei Knaben habe ich schon lange nicht so<br />
schlecht und piepsig gehört.<br />
Monostatos Thomas Ebenstein musste sich als Witzfigur hinstellen<br />
lassen.<br />
Alfred Šramek als Sprecher im Anzug und als 2. Priester spielt mit<br />
dem Priester Bendikt Kobel gemeinsam das Spiel ,,Guter Polizist, böser<br />
Polizist“.<br />
Ferner trugen zu dem Abend Marian Talaba und Dan Paul Dumitrescu<br />
als Geharnischte bei.<br />
Man kann mit dieser <strong>neue</strong>n Zaubeflöte zwar leben, aber besser als die<br />
alte Inszenierung ist sie leider nicht gelungen. Daher siehe oben: vergebliche<br />
Mühe. Hätte man doch besser eine <strong>neue</strong> ,, Entführung“ gemacht!<br />
Silvia Herdlicka<br />
26 | DER NEUE MERKER 12/2013
Aus dem Volksopernrepertoire:<br />
2.11.: „DIE CSÁRDÁSFÜRSTIN“<br />
Diese wunderschöne Inszenierung von Robert Herzl in prächtigen Bühnenbildern<br />
von Pantelis Dessyllas und kleidsamen Kostümen von Silvia<br />
Strahammer stammt aus dem Jahr 1982 und hat es zu Recht schon auf<br />
306 Vorstellungen gebracht. Diesmal erweckte das Rollendebüt von Ursula<br />
Pfitzner als Sylva Varescu das besondere Interesse der Operettenfreunde.<br />
Es ist als durchaus geglückt zu bezeichnen. Natürlich konnte sie davon<br />
profitieren, dass sie eine Ballett- und Schauspielausbildung an der Wiener<br />
Staatsoper absolviert hat. So gelang ihr ein durchaus stimmiges Rollenportrait<br />
der Chansonette, in dem auch die stimmlichen Aspekte nicht zu<br />
kurz kamen. Sie sang, spielte und tanzte aus vollem Herzen und erzielte<br />
dadurch große Wirkung und volle Zustimmung beim Publikum. Nicht<br />
so gut war es um ihren Edwin Ronald bestellt. Thomas Sigwald spielte<br />
mit vollem Einsatz, hatte aber stimmlich doch einige Defizite aufzuweisen.<br />
Das Buffopaar hatte alle Sympathien des Publikums auf seiner Seite. Johanna<br />
Arrouas ist eine charmante, tanzfreudige Komtesse Stasi, Michael<br />
Havlicek war nach etwas steifem Beginn ein spiel- und sangesfreudiger<br />
Graf Boni. Nicht unproblematisch ist die Besetzung des Feri Bácsi<br />
mit Kurt Schreibmayer. Er kann in keiner Phase verleugnen, dass seine<br />
Ursula Pfitzner als rollendeckende Sylva Varescu (© Pallfy)<br />
Wiege in Klagenfurt stand. Die Welt des kleinen ungarischen Landadeligen<br />
ist ihm sichtbar und hörbar fremd, so dass konsequenterweise sein berühmtes<br />
„Jaj Mamám, Bruderherz, ich kauf mir die Welt!“ nicht die Wirkung<br />
beim Publikum erzielt hat, die bei seinen Vorgängern immer wieder<br />
mehrmalige Wiederholungen in verschiedenen Sprachen erzwungen hatte.<br />
Ein Kabinettsstück ist der Fürst Lippert-Weylersheim von Peter Matic.<br />
Seine Bühnengattin Anhilte, Regula Rosin, assistierte ihm humorvoll.<br />
Erwähnenswert sind noch Martin Bermoser, rollendeckend als besonders<br />
unsympathischer Baron Rohnsdorff, und Raimund-Maria Natiesta<br />
als Notar. Was sich aus einer scheinbar kleinen, unbedeutenden Nebenrolle<br />
an Bühnenwirksamkeit herausholen lässt, zeigte Nicolaus Hagg als<br />
Siggi Gross, Manager des Orpheum. Spielfreudig und um köstliche Pointen<br />
nie verlegen, zieht er die Fäden im 1. und 3. Akt.<br />
Für echte Operettenstimmung aus dem Orchestergraben sorgte der Doyen der<br />
Wiener Operette, Rudolf Bibl. Orchester und Chor der Volksoper Wien –<br />
einstudiert von Thomas Böttcher – hatten großen Anteil an der herrschenden<br />
Operettenseligkeit. Mit viel Applaus dankte das Publikum allen Künstlern.<br />
<br />
Hans Sabaditsch<br />
27.11.: „IL TROVATORE“<br />
Drei Rollendebüts machten die 4. Vorstellung nach der Premiere für<br />
Opernfreunde interessant. Die schon für die Premiere vorgesehene Janina<br />
Baechle konnte endlich ihre Azucena dem Wiener Publikum vorstellen.<br />
Hörbar hatte sie ihre Erkrankung noch nicht ganz überwunden.<br />
So fehlte ihr in manchen Passagen einfach die Kraft, was sich besonders<br />
im 3. Akt im Terzett mit Luna und Ferrando bemerkbar machte. Auch<br />
im Spiel wirkte sie seltsam zurückhaltend, von Leidenschaften war hier<br />
nicht sehr viel zu bemerken. Die Stärken von Janina Baechle liegen sicher<br />
eher im deutschen Fach. Kristiane Kaiser ist eine sehr lyrische, in<br />
den Koloraturen und in der Höhe sichere Leonora. Über weite Strecken<br />
hatte man den Eindruck, dass sie viele Passagen stilistisch wie eine Mozart-Arie<br />
singt (Kerkerarie!), was zu schönen musikalischen Momenten<br />
führte – die Neuinszenierung war aber doch dem Jahresregenten Verdi<br />
gewidmet. Besonders eindrucksvoll und ergreifend gelang ihr vielleicht<br />
gerade deshalb die Sterbeszene. Trotzdem hat der Musikfreund auch bei<br />
Kristiane Kaiser den Eindruck, dass ihr Sopran eher im deutschen Fach<br />
beheimatet ist. Die dritte Rollendebütantin, Renate Pitscheider, bewältigte<br />
die Ines mit kleiner Stimme sicher.<br />
Bei den Herren dominierte eindeutig Stuart Neill als Manrico. Mit großem<br />
dramatischem Tenor meisterte er die gefürchteten Höhen bombensicher.<br />
Beeindruckend war das hohe „C“ in „all‘ armi“. Aber auch die lyrischen<br />
Stellen phrasierte er sehr schön, ja sogar Pianotöne hatten in seiner<br />
Interpretation Platz – insgesamt eine ausgezeichnete Leistung. Tito You<br />
verfügt über eine breite Mittellage, die Stimme verengt sich aber in der<br />
Höhe, was gerade beim Luna zu Problemen führt. Auch machten sich<br />
immer wieder Intonationsschwierigkeiten bemerkbar. Die berühmte Arie<br />
„Il balen del suo sorriso...“ hatte besonders darunter zu leiden. Christian<br />
Drescher war ein skurriler Ruiz. <strong>Der</strong> Ferrando war mit Petar Naydenov<br />
stark unterbesetzt.<br />
Enrico Dovico leitete das Orchester der Volksoper Wien sicher, aber mit<br />
zu wenig Temperament und Leidenschaft. Die vielen langsamen Tempi<br />
bereiteten den Sängern einige Schwierigkeiten. Chor und Zusatzchor<br />
der Volksoper, einstudiert von Thomas Böttcher, waren auf der Höhe<br />
ihrer Aufgabe.<br />
Wieder einmal muss der Opernfreund mit einer Inszenierung leben, die<br />
als misslungen zu bezeichnen ist. Dietrich W. Hilsdorf siedelt diese Oper<br />
im Verismo an und zeigt vor allem zu Beginn des 3. Aktes Grausamkeiten<br />
und Brutalitäten, die in der Musik keinen Widerhall finden. Es ist jede<br />
Romantik ausgeklammert, in einigen Szenen schrammt die Regie hart an<br />
der Parodie oder an den Pradler Ritterspielen vorbei. Die Bühnenbilder<br />
von Dieter Richter sind unansehnlich, die Kostüme von Renate Schmitzer<br />
wenig kleidsam. Interessant ist, dass Direktor Robert Meyer von seinem<br />
Credo, alle Opern in deutscher Sprache zu spielen, abgegangen ist<br />
und „Il trovatore“ in der Originalsprache singen lässt, was offensichtlich<br />
mit der Koproduktion mit dem Theater Bonn zusammenhängt. Das Publikum<br />
zeigte sich zufrieden und feierte vor allem die Rollendebütantinnen.<br />
<br />
Hans Sabaditsch<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 27
Aktuelles aus Österreich<br />
MUSIKALISCHES THEATER<br />
Burgtheater: „SPATZ UND ENGEL“ – 18.11.<br />
In dem am 17.9. 2013 als Koproduktion mit dem Schauspielhaus Graz<br />
in Wien uraufgeführten Werk behandeln die Autoren Daniel Große<br />
Boymann und Thomas Kahry die Beziehung bzw. Freundschaft zwischen<br />
Edith Piaf und Marlene Dietrich. Die (einschließlich 1 Pause) rd.<br />
2-stündige Aufführung wurde von Matthias Hartmann gekonnt eingerichtet<br />
und wies in ihrer Dichte keinerlei Leerlauf auf (Ausstattung: Volker<br />
Hintermeier/Lejla Ganic). Alexandra Henkel, Marcus Kiepe und<br />
Dirk Nocker schlüpften glaubwürdig in verschiedene Figuren, waren jedoch<br />
nur Stichwortbringer für Sona MacDonald als Marlene und Maria<br />
Happel als Edith, die den Abend auf beeindruckende Weise trugen.<br />
Nicht nur, dass sie das komplizierte Verhältnis der beiden, in etwa demselben<br />
Genre tätigen Künstlerinnen und einzelne Lebensstationen derselben<br />
drastisch und persönlichkeitsstark ausspielten, begeisterten sie als Sängerinnen.<br />
Die Josefstädter „Leihgabe“ MacDonald kannte man ja schon<br />
von anderen Gelegenheiten als sehr gute Sängerin, dass jedoch das hauseigene<br />
Ensemblemitglied Happel fast ebenso überzeugend in die Kehle<br />
des „Spatzes von Paris“ zu schlüpfen vermochte, überraschte. Beide sangen<br />
einen großen Teil des bekannten Repertoires der Dietrich und der<br />
Piaf und als Zugabe wiederholten sie ein Spoliansky-Lied. Ihre musikalische<br />
Begleitung erfolgte durch ein von Otmar Klein angeführtes 10-köpfiges<br />
Ensemble, das seine Sache vorzüglich machte.<br />
Obwohl die Produktion großartig gemacht und ein riesiger Publikumserfolg<br />
ist, darf man bei dem dürftigen Spielplan an starken Klassiker-Inszenierungen<br />
schon bemerken, dass das zwar ein reizvoller „Herausreißer“,<br />
doch nicht unbedingt das ist, was man vom „Österreichischen Nationaltheater“<br />
erwartet. <br />
Gerhard Ottinger<br />
Wien modern – Palais Kabelwerk 15.11. (Pr.14.11.):<br />
„GATES“ (Kurzopern)<br />
Zweimal vier Operellen waren der Lilith zur Eröffnung von „Wien modern“<br />
leider nicht ebenbürtig. Es lag nicht an den bemühten Ausführenden.<br />
Im 1. Teil empfand ich die ständigen Textwiederholungen auch eher<br />
einem Kabarett als einer (Kurz-)Oper angemessen.<br />
Hier war das Stück „Inventur“, komponiert auf ein Libretto von Brigitta<br />
Falkner von Fernando Riederer, für mich eindeutiger Sieger. Theresa<br />
Dlouhy (Sopran) und Johann Leutgeb (Bariton) konnten brillieren.<br />
Es geht um Einwohner in Büchern, wie Bücherläuse. In den andern<br />
Stücken im 1. Teil waren noch Richard Klein, Clemens Kölbl und Ingrid<br />
Habermann als Sänger und Darsteller tätig. Das Ensemble Platypus<br />
spielte unter der animierten Leitung von François-Pierre Descamps.<br />
Die Regie führte Kristine Tornquist vom Sirene Operntheater. Von dort<br />
haben wir aber schon häufig bessere Sujets und Musik gehört.<br />
Im 2. Teil, betreut von progetto semiserio, waren die beiden ersten Stücke<br />
interessant. „Seelentore“ von Jörg Ulrich Krah, Libretto von Susanne<br />
Felicitas Wolf spielt auf einem Bahnhof und 3 Menschen erzählen<br />
von ihren Befindlichkeiten: Levent Bakirci (Bariton), Ingrid Habermann<br />
(Sopran) und Paul Schweinester (Tenor).<br />
Im besten Stück des Abends, „Wärme“, wird eine Japanerin in Europa<br />
geschildert. Ich musste auch an Butterfly denken. Kaoko Amano gestaltet<br />
eine wunderbare Szene. Konzept, Text und Komposition sind Tamara<br />
Friebel zu danken. Ein Blüten-Hintergrund wird eingespielt.<br />
Mit der Beschreibung der übrigen Stücke will ich mich nicht noch einmal<br />
unnütz ärgern. <br />
Hans Peter Nowak<br />
The Armed Man<br />
A Mass for Peace von Karl Jenkins<br />
Keine Zeit hat so furchterregende Waffen hervorgebracht wie das 20.<br />
Jahrhundert. Grund genug, für den Jahrtausendwechsel wenigstens mit<br />
den friedlichen Mitteln der Musik eine Friedensvision zu beschwören:<br />
Vom Royal Armouries Museum<br />
bei Karl Jenkins in Auftrag gegeben<br />
und den Opfern des Kosovo-Konflikts<br />
gewidmet, ist das Werk für<br />
Chor und großes Orchester ein zeitgenössisches<br />
Beispiel einer Messe<br />
auf der Grundlage des aus dem 15.<br />
Jahrhundert stammenden französischen<br />
Lieds „L‘Homme Armé“.<br />
Das Gesamtwerk beinhaltet religiöse<br />
und weltliche Texte, die als<br />
Kontrapunkte zwischen die Teile einer<br />
großen christlichen Messe gesetzt<br />
sind. Karl Jenkins verbindet<br />
die Tonsprache klassischer Musik<br />
mit Elementen von experimentellem<br />
Jazz und Weltmusik .<br />
Ein großartiges Werk, das den Zuhörer<br />
im Innersten aufwühlt: mal<br />
Karl Jenkins - ein echter Universal-<br />
Musiker (© unbezeichnet)<br />
durch zur Schlacht rufende Fanfaren,<br />
mal durch engelsgleiche Chöre<br />
- vom irdischen Kampf zum himmlischen<br />
Frieden, hoffnungsvoll endend<br />
mit der bitter bezahlten Erkenntnis „better is peace“.<br />
Kartenpreise: € 15/13/11 Loge € 25 Kinder und Jugendliche € 9/7/5<br />
Team und Besetzung<br />
Chorus Juventus der Wiener Sängerknaben<br />
Auswahlchor des Musischen Gymnasiums Salzburg (Chorleitung Thomas<br />
Huber), Landesjugendorchester Salzburg<br />
Dirigent: Norbert Brandauer<br />
5.11.: <strong>Merker</strong>-Kunstsalon mit zwei Opernraritäten:<br />
„PIGMALIONE“ von Gaetano Donizetti und<br />
„LA FALCE“ von Alfredo Catalani<br />
Am 5. November 2013 glänzte der <strong>Merker</strong>-Kunstsalon in Wien-Döbling<br />
wieder einmal mit Ausschnitten aus zwei Opernraritäten: „Pigmalione“<br />
von Gaetano Donizetti (1797 – 1848) und „La Falce“ von Alfredo Catalani<br />
(1854 – 1893), beides Erstlingswerke der italienischen Komponisten.<br />
Den lyrischen Einakter „Pigmalione“ schrieb Donizetti im Jahr 1816 als<br />
19-jähriger, doch wurde das Werk, dessen Libretto Antonio Simone Sografi<br />
verfasste, erst 1960 in seiner Geburtsstadt Bergamo uraufgeführt. Die mythologische<br />
Handlung zeigt uns Pygmalion, den König von Kreta, der den<br />
Frauen entsagt hat und sich der Bildhauerei widmet, wobei er versucht, die<br />
ideale weibliche Schönheit zu gestalten. Es gelingt ihm so perfekt, dass er<br />
sich in die von ihm geschaffene Statue verliebt und nicht mehr imstande ist,<br />
der Geliebten mit seinem Meißel Schmerzen zuzufügen. In seiner Not bittet<br />
er die Göttin Aphrodite um Hilfe, welche die Statue, die er Galathea nennt,<br />
zum Leben erweckt. Die beiden gestehen einander schließlich ihre Liebe.<br />
Die Titelrolle verkörperte der beliebte Tenor Pablo Cameselle, dem es mit<br />
seiner lyrischen, am Belcanto geschulten Stimme gelang, die Leidenschaft<br />
des Königs für die weibliche Schönheit wunderbar auszudrücken. <strong>Der</strong> zum<br />
Leben erweckten Galathea lieh die Sopranistin Anna Ryan ihre markante<br />
Stimme und die Attraktivität ihrer leider viel zu stark verhüllten Figur!<br />
28 | DER NEUE MERKER 12/2013
Aktuelles aus Österreich<br />
Auch das Egloga orientale genannte Werk „La Falce“ („Die Sichel“) von<br />
Alfredo Catalani ist ein Jugendwerk, das der Komponist mit knapp 21<br />
Jahren schrieb und dessen Libretto niemand Geringerer als Arrigo Boito<br />
verfasste. Die Oper wurde 1875 in Mailand uraufgeführt.<br />
In der Schlacht von Bedr, auf packende Art in der Ouvertüre musikalisch<br />
geschildert, wird das Mädchen Zohra zur Waise. Sie beklagt ihr Schicksal<br />
und wünscht sich den Tod. Als im Dunkel ein Fremder mit einer Sichel<br />
erscheint, hält Zohra ihn für den von ihr herbeigesehnten Todesengel<br />
Azraël und wünscht sich von ihm Liebe und Tod. <strong>Der</strong> Schnitter Said<br />
verspricht ihr aber Liebe und Leben – und so schließen sie sich unter Lobpreisungen<br />
Allahs einer vorbeiziehenden Karawane an.<br />
In der Rolle des Mädchens Zohra konnte Anna Ryan ihre prächtige Sopranstimme<br />
leuchten lassen. Wunderbar auch ihr Duett mit Said, der vom<br />
Tenor Raul Iriarte ausdrucksstark gesungen wurde. Begleitet wurden die<br />
Beiden am Flügel, wie schon im 1. Teil, von Pavel Kachnov, der auch die<br />
Ouvertüre eindrucksvoll wiedergab.<br />
Das von den Darbietungen begeisterte Publikum im Festsaal der Bezirksvorstehung<br />
Döbling<br />
(Bezirksvorsteher Adolf Tiller, bekannt für sein Kunstinteresse, hatte den<br />
Ehrenschutz übernommen), unter dem sich auch Gäste aus Frankreich<br />
befanden, dankte am Schluss dem dreiköpfigen Sängerensemble und dem<br />
Pianisten für ihre Darbietungen mit minutenlangem Applaus. Udo Pacolt<br />
Ehrbar-Saal, 19.11.: Felicity Lott in „La voix humaine“<br />
Das Monodram wurde in der Originalversion mit Orchester von Francis<br />
Poulenc nach einem Text von Jean Cocteau 1959 uraufgeführt. <strong>Der</strong><br />
Komponist selbst machte eine Klavierfassung, die jetzt zur Aufführung<br />
kam. Pianist war Graham Johnson.<br />
In der Partitur schreibt der Komponist u. a.: „Die einzige Rolle muss von<br />
einer jungen und eleganten Frau gegeben werden… Die Länge der Orgelpunkte,<br />
die so wichtig sind, hängt von der Ausführenden ab… Alles in einem<br />
sehr freien Tempo…“ Und der Textdichter macht Angaben über das Bühnenbild,<br />
das hier im Ehrbar-Saal durch ein Sofa und ein altertümliches<br />
Telefon gut wiedergegeben wurde.<br />
Das atemberaubende Ereignis des Abends war Felicity Lott, die die Dramatik<br />
um ein mehrfach unterbrochenes Telefongespräch mit ihrem Liebhaber,<br />
der sie verlassen will, in ¾ Stunden in tadellosem Französisch verdeutlicht.<br />
Man glaubt, das Stück sei für sie komponiert (war es aber für<br />
Denise Duval). Langer Beifall erzwang noch mehrere Zugaben und nach<br />
Schluss stellten sich die Besucher um Autogramme an. Hans Peter Nowak<br />
23.11., Mariahilferkirche: Erstaufführung „Mysterium mortis“<br />
– ein Requiem von 3 Komponisten<br />
Diese haben den Text in etwa 2 gleiche Teile geteilt. François-Pierre<br />
Descamps, der auch den Chor einstudiert und die Aufführung dirigiert<br />
hat, komponierte Introitus und Kyrie sowie den Schluss mit Agnus Dei,<br />
Libera und In Paradisum. Jury Everhartz, den wir auch vom sirene operntheater<br />
her kennen, komponierte den größten Teil der Sequenz. Von Christa<br />
Stracke stammen Lacrimosa, Offertorium und Sanctus mit Benedictus.<br />
Vor der Aufführung, die etwa 60 Minuten dauerte, hielt Christine<br />
Obonya-Raunigg eine Einführung mit Musikbeispielen live, also etwa<br />
„von Takt 26 bis 35“, die sehr hilfreich war. Sie bezeichnete die Aufführung<br />
als „work in progress“. Das heißt also, dass Verbesserungen möglich sind<br />
und dass z. B. mein einziger wesentlicher Einwand, das Sanctus möge fortissimo<br />
und mit Trompete beginnen, noch berücksichtigt werden könnte.<br />
Ich hatte Gelegenheit, die Chorpartitur zu studieren. Bei Everhartz ist<br />
Doppelchor, Sopran (Renate Stübner) und Mezzosopran (Nina Edelmann)<br />
als Soli vorgeschrieben, er nimmt ungewöhnliche Takteinteilungen<br />
(z. B. 11/4) vor, das hört sich alles aber sehr gut an. Christa Stracke<br />
schreibt manchmal generelle Vorzeichen. Ihre Schreibweise ist am wenigsten<br />
avantgardistisch. Trotzdem gibt es keine Bruchlinien.<br />
Neben den genannten Solistinnen spielten 7 Instrumente und Martin Nowak<br />
(nicht mit mir verwandt) auf der Orgel. <strong>Der</strong> Piaristenchor war gefordert<br />
und meisterte alle tonalen und taktlichen Schwierigkeiten.<br />
Die Aufführung geriet sehr schön und erhielt viel Beifall. In Zukunft<br />
könnte man also nicht nur vom Mozart- und vom Verdi-Reqiem, sondern<br />
auch vom „Mysterium mortis“ sprechen. Hans Peter Nowak<br />
Kaisersaal 8.11.: „Donauwalzer“ mit Arno Raunig<br />
Dies war ein Kompositionsabend des Tiroler Komponisten Norbert Zehm.<br />
Er war am Klavier, Franz-Markus Siegert an der Violine, Arne Kirchert<br />
am Cello, Roland Schrettl war für die Visuals, Irina Zehm für Soundeinspielungen<br />
zuständig. Arno Raunig bereicherte teils mit tiefer Sprech-,<br />
teils mit hoher Gesangsstimme (und einmal auch als Textdichter des Liedes<br />
„Tränen der Nacht“ das Programm. Zwei Ausschnitte aus der Oper<br />
„Cadence Macbeth“ waren für mich Höhepunkte des Programms: „Be someone“<br />
und „The year is a song“. „Time windows“ (Text Peter Wolf) und das<br />
vom Komponisten getextete „Frequencies need space“ gaben weitere Einblicke<br />
in eine interessante Kompositionsweise, die u.a. auch Klangeinspielungen<br />
wie Weltraumgeräusche (Signale der Cassini Huygens Raumsonde<br />
während der Landung auf dem Saturnmond Titan) verwendet. <strong>Der</strong> „Donauwalzer“<br />
(„so blau an der Donau“) wurde zur Uraufführung gebracht.<br />
An die ständig wiederholten Motive in der Klavierstimme (z. B. bei der<br />
Cellosonate und dem Klaviertrio Nr.4) musste ich mich erst gewöhnen.<br />
Als Zugabe brachte Arno Raunig ein Ave Maria von Caccini, also über<br />
400 Jahre alte Musik, in einer Besetzung für Klaviertrio, das sich nahtlos<br />
an das Zehm-Stück anfügte. Es gab großen Erfolg für den Komponisten<br />
und alle Mitwirkenden, am meisten natürlich für Arno Raunig. <br />
<br />
Hans Peter Nowak<br />
7.11.: 2. LEHÀRIADE im Lehár-Schikaneder-Schlössl<br />
(Wien 19., Hackhofergasse 18)<br />
Allein die Örtlichkeit, wo der große Franz Lehár so viele Jahre gewohnt<br />
und geschaffen hat, erweckt immer wieder erhebende Gefühle, zumal, seit<br />
der Festsaal so schön renoviert und Lehárs Flügel endlich wieder bespielbar<br />
ist und man inmitten<br />
von Erinnerungsstücken<br />
an den Komponisten<br />
sitzt. Hans Peter<br />
Nowak, der unermüdliche<br />
„Ausgräber“ verborgener<br />
Schätze, hat<br />
in Zusammenarbeit<br />
mit „Kultur Döbling“<br />
(verbindende Worte:<br />
Sepp Stranig) wieder<br />
ein hochinteressantes<br />
Programm zusammengestellt<br />
und auf<br />
dem kostbaren Flügel<br />
die Sänger begleitet.<br />
Dass man Lehár und<br />
Lilla Galambos - für die Operette prädestiniert -<br />
mit Stimme, Charme und tänzerischem Können<br />
(© Internet)<br />
Mozart, der wegen<br />
seiner Verbindung zu<br />
Schikaneder an diesem<br />
Abend die zweite<br />
Hauptrolle spielte, von ganz unterschiedlichen Stimmtypen zu Gehör<br />
bringen kann, war eine weitere positive Erfahrung. Die für Operettenrollen<br />
prädestinierte, sehr attraktive, charmante und temperamentvolle<br />
junge Ungarin Lilla Galambos, die ja auch ausgebildete Tänzerin ist, wusste<br />
mit ihrem hellen, schlanken Sopran und trefflichem Vortrag Effekt zu<br />
machen und der im Volksopernchor beheimatete Frederick Greene, der<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 29
Aktuelles aus Österreich<br />
dem Stimmcharakter nach eigentlich ein kraftvoller Heldentenor ist, bot<br />
ein sehr männliches Pendant zu der zarten Dame und gönnte sich sogar<br />
das Vergnügen, als Papageno und Don Giovanni in den Duetten des Vogelfängerpaares<br />
und mit „La ci darem la mano“ sein durchaus vorhandenes<br />
Bariton-Potential zum Einsatz zu bringen. Für die Operettennummern<br />
(Arien und Lieder) braucht er ja auch in den Tenorrollen eine gut<br />
fundierte Mittellage. Greene ließ es aber auch an Höhenglanz und dem<br />
für die Operette unverzichtbaren Humor nicht fehlen.<br />
Neben Bekanntem aus der „Lustigen Witwe“, dem „Land des Lächelns“<br />
„Paganini“ und Kálmáns „Czárdásfürstin“ erfreuten vor allem die Raritäten<br />
aus Lehárs „Die blaue Mazur“ und „Zigeunerliebe“. Köstlich das Tenorlied<br />
„Ja warum soll ich denn schlafen gehen?“ des weitgereisten polnischen<br />
Helden Adolar, der ein Doppelleben führt, untertags ganz brav ist,<br />
aber nach Sonnenuntergang zum Schürzenjäger wird, was man dem Sänger<br />
ebenso abnahm wie das Zigeunerkind, das sich mit Glut in den Adern<br />
im Sturmwind zuhause fühlt. Ein besonderes Zuckerl: Mozarts „Nun, liebes<br />
Weibchen“ KV 592a, das eigentlich aus Schikaneders „<strong>Der</strong> Stein der<br />
Weisen oder Die Zauberinsel“ stammt und sich zum Katzenduett „mausert“<br />
(ein amüsanter Vorläufer für den weit bekannteren Rossini-Spaß):<br />
„<strong>Der</strong> Teufel hol‘ das Miau-Geschrei…sie ist verhext…“<br />
Das Publikum war sehr angetan. <br />
Sieglinde Pfabigan<br />
Baden: „FIGAROS HOCHZEIT“ – 22.11. –<br />
Ein musikalischer Regisseur!<br />
Wie man heutig, schön, gut und richtig Mozart inszeniert? Wer es<br />
nicht weiß und nicht glaubt, dass dies im Jahre 2013 ganz mühelos<br />
möglich ist, der sehe sich den „Figaro“ am Stadttheater Baden an. <strong>Der</strong><br />
Regisseur ist niemand anderer als Robert Herzl, der künstlerische Leiter<br />
des Hauses, langjähriger Hausregisseur an der Volksoper und, jetzt<br />
Anfang 70, als alter „Theaterhase“ mit allen Wassern gewaschen, die<br />
fürs Musiktheater vonnöten sind, oder: mit allen Salben geschmiert,<br />
die dazu beitragen, Stücke als Ganzes, in Wort und Ton, mit Szene<br />
und Kostümen, Spiel und Tanz so auf die Bühne zu bringen, dass jeder<br />
Neuling sie versteht und der langjährige Opernbesucher sie spannend<br />
wie am ersten Tag findet.<br />
Testen das eheliche Lager aus (Jasmina Sakr/Susanna und<br />
Frans Fiselier/Figaro) (© Christian Husar)<br />
„Figaro“ quasi als Kammeroper in deutscher Sprache mit gesprochenen<br />
Dialogen statt der Rezitative – das hat zur Abwechslung durchaus seinen<br />
Reiz. Da größtenteils Sänger mit deutscher Muttersprache im Einsatz waren<br />
(der holländische Figaro, der Cherubin mit rumänischem Nachnamen,<br />
der slowenische Basilio und die russische Barbarina haben an deutschen<br />
Hochschulen studiert), die noch dazu alle von der hervorragenden<br />
Dialogregie Herzls gewaltig profitierten, gerieten diese Szenen durchwegs<br />
lebendig und hatten viel Lacherfolg. Die neu übersetzten Gesangstexte<br />
konnten mit dem bewährten „Nun vergiss, leises Flehn, süßen Kosen“ oder<br />
„Will der Herr Graf ein Tänzchen nun wagen“ nicht mithalten, und dass<br />
„Frau Gräfin, vergebt mir“ das „Contessa perdono“ nie und nimmer ersetzen<br />
kann, muss wohl nicht extra betont werden.<br />
Die Ausstattung von Pantelis Dessyllas beschränkt sich auf drei seitliche<br />
Soffitten links und rechts, die dann im Gartenbild einfach beseitigt werden,<br />
auf ein Doppelbett im Zentrum der Bühne, das schon während der<br />
Ouvertüre mit Leintuch, Decken und Polstern zubereitet und vom Grafen<br />
auf seine Tauglichkeit überprüft wurde, darüber hängend ein schön<br />
drapierter Baldachin und an der Vorderseite eine Sitzbank. Im 4. Akt wird<br />
das Bett zur Seite geschoben und dient auch da für allerlei Überraschungen.<br />
Alles ist hell und freundlich und für die unterschiedlichsten Aktionen<br />
tauglich. Cherubin etwa versteckt sich im 1. Akt einfach unter der<br />
Bettdecke oder Susanne verkriecht sich im 2. Akt, ehe der Graf sich das<br />
Werkzeug für das versperrte Gemach holt, unter diesem Bett. Dessillas<br />
war auch für die schönen, stilvollen Kostüme zuständig. Es stimmte einfach<br />
alles, incl. der Choreografie von Michael Kropf.<br />
Was kann man noch für Mozart tun, wenn man keine Weltstimmen zur<br />
Verfügung hat? Das führte der Dirigent Franz Josef Breznik, der musikalische<br />
Chef des Hauses, ganz wunderbar vor. Die Ouvertüre braust<br />
ganz revolutionär auf, wirkt vielleicht etwas zu robust, bringt aber Leben<br />
ins Haus. Im ganzen übrigen Stück beglückt die gute Balance nicht nur<br />
zwischen Bühne und Graben, sondern auch innerhalb der Arien, Szenen<br />
und Ensembles. Das Orchester der Bühne Baden spielte ausgezeichnet,<br />
mit Lust und Liebe, brachte den Humor, die Raffinesse und den Mozartschen<br />
Charme zu Gehör und unterstützte jederzeit die Sänger. Die Arie<br />
des Grafen im 3. Akt etwa mit dem gekonnten musikalischen Aufbau, sodass<br />
Breznik ein eigenes kleines Drama daraus machen konnte, sei als ein<br />
gutes Beispiel hervorgehoben. Zum Höhepunkt der Aufführung wurde<br />
– ganz ungewöhnlich, weil meistens eher ein ermüdenden Anti-Climax<br />
– der gesamte 4. Akt. Da hatten sich nicht nur alle Sänger freigesungen,<br />
sondern der Dirigent verstand es auch, die einzelnen Gesangsnummern<br />
bis zum krönenden Ensemblefinale wunderbar auszuformen, die pure<br />
Schönheit der Musik, aber auch die Doppelbödigkeit des ganzen Intrigenspiels<br />
fühlbar zu machen. Es war gesunder, stets lebendig pulsierender<br />
Mozart in durchwegs richtigen Tempi und Lautstärken bis hinein in die<br />
spannungserfüllten Generalpausen und das befreiende Finale, das letztlich<br />
alles offen lässt, aber dennoch Freude macht.<br />
Unter den durchwegs ordentlichen Sängern stach das hochzeitende Paar<br />
hervor. Im 1. Akt stimmlich noch etwas gehemmt wirkend, entfaltete<br />
sich der hübsche Sopran von Jasmina Sakr und der wohlklingende Bariton<br />
von Frans Fiselier zu immer klangvollerem und souveränerem Gesang,<br />
der sich mit entsprechend gewandtem Spiel verband. Als Graf Almaviva<br />
war Reinhard Alessandri figürlich ideal, aber die recht kraftvolle<br />
Stimme ging nicht so richtig auf. <strong>Der</strong> Gräfin von Julia Kamenik fehlte<br />
einfach das reizvolle Timbre, das vor allem ihre beiden Arien zu besonderen<br />
Mozart-Juwelen machen sollte. Cristina Pasaroiu wird im Programmheft<br />
als Sängerin unzähliger Sopranrollen vorgestellt und konnte mit zu<br />
heller Stimme demnach als Cherubin zu wenig punkten. Eine köstliche<br />
Type von Dr. Bartolo stellte Jürgen Trekel auf die Bühne, während seine<br />
Bühnenpartnerin Elisabeth Reichart der Marzelline eine charakteristische<br />
Mezzostimme vorenthalten musste. Als umtriebiger Gärtner Antonio<br />
konnte Daniel Ohlenschlsäger gefallen und sein Töchterchen Barbarina<br />
wurde von Lisa Koroleva ganz reizend gesungen und quicklebendig<br />
gespielt. Matjas Stopinšek durfte als Basilio sogar die meist gestrichene<br />
Arie – mit seiner sehr ansprechenden hellen Tenorstimme zum Besten<br />
geben und Beppo Binder sich an der Gestaltung des stotternden Don<br />
Curzio delektieren, ebenso der Chor an seinen mannigfachen Aufgaben.<br />
Alles in allem bereitete der Abend großes Vergnügen.<br />
<br />
Sieglinde Pfabigan<br />
30 | DER NEUE MERKER 12/2013
Aktuelles aus Österreich<br />
Neunkirchen: 30 Jahre „AMICI DEL BELCANTO“<br />
„VERDI – WAGNER“ – Stadtpfarrkirche 15. 11.<br />
Das war das letzte Konzert im Rahmen der 30 Jahrfeier des Vereins mit<br />
dem stets um beste Ideen bemühten Präsidenten Michael Tanzler, der unermüdlich<br />
immer <strong>neue</strong> Sänger bringt und auch sich gerne vom „0815-Programm-Trampelpfad“<br />
entfernt.<br />
Die Sänger sind international bekannt und an allen großen Häusern im<br />
ersten Fach zu hören. Für mich war „die“ Sensation der Violinist Michal<br />
Hudak. Er kommt aus dem Orchester der Oper von Banska Bystrica,<br />
wo er Konzertmeister ist, und wahrhaft meisterlich war sein Solo im Vorspiel<br />
und Terzett und Finale aus „I Lombardi“ mit den Solisten Dimitra<br />
Theodossiou, Gustavo Porta und Duccio dal Monte. Dieses Terzett<br />
war überhaupt der absolute Höhepunkt des Konzertes, das keine<br />
Schwachstelle hatte.<br />
Weiters bestach der Tenor Gustavo Porta mit überaus wortdeutlichen „Winterstürmen“,<br />
wunderbar auf Linie gesungen, dass sich so manch deutschsprachiger<br />
Kollege daran orientieren könnte. Im „Forza del destino“-Teil<br />
Graz: „Die Zauberflöte“ – Pr. 9.11.<br />
Meterhohes Gras, dazwischen Felsen, dahinter eine Hügellandschaft<br />
mit Gestrüpp, wo sich viel Plastik- und Papiermüll angesammelt hat,<br />
vorne links ein altes, verrostetes Wrack eines abgestürzten Flugzeuges:<br />
So präsentiert sich „Die Zauberflöte“ von Wolfgang Amadeus Mozart<br />
am Grazer Opernhaus im 1. Akt. Jetzt ist diese Koproduktion<br />
mit der Opéra du Rhin und der Opéra Nice Cote d’Azur, wo sie bereits<br />
Ende 2012 bzw. Anfang 2013 gezeigt wurde, in der steirischen<br />
Hauptstadt gelandet.<br />
Mariame Clément stellt in dieser Oper die Natur der Wissenschaft<br />
gegenüber. Nur ist die Natur nicht mehr intakt, sondern schon sehr<br />
geschädigt und teilweise verdorrt. Seltsame Menschen, wie aus einem<br />
Science Fiction Endzeitfilm bevölkern die Bühne. <strong>Der</strong> eine steigt aus<br />
dem Cockpit des Fliegers, der ihm offensichtlich als Wohnung dient,<br />
und fängt Vögel, die er dann in Plastiksackerln verstaut und aufhängt:<br />
Es ist Papageno, ein Gestrandeter, ein Sonderling, ein Aussteiger. <strong>Der</strong><br />
andere spricht eine unverständliche Sprache, offensichtlich Koreanisch,<br />
trägt eine Lederjacke und seltsame technische Geräte herum,<br />
scheint überhaupt aus einem anderen Sonnensystem zu kommen und<br />
hier auch gestrandet zu sein: Es ist Tamino. Die andere kriecht aus einem<br />
Erdloch und hat so gar keine königliche Präsenz an sich, obwohl<br />
sie die Königin der Nacht ist. Dann erscheinen Unmengen von Männern<br />
in Anzügen mit dicken Brillen und Notizblöcken und beginnen<br />
die Pflanzenwelt zu untersuchen: Es sind die Auserwählten. Und in einem<br />
cremefarbigen Anzug, wie ein Dandy gekleidet, stolpert einer daher,<br />
der sich mit einem langen Stab vortastet, denn er ist blind: Das ist<br />
Sarastro. So unpoetisch und unmärchenhaft sieht zumindest die französische<br />
Regisseurin die Figuren von Mozarts Meisteroper.<br />
Im 2. Teil folgt dann die Wissenschaft: Ein abgewohnter, garstiger Forschungsraum,<br />
eine Art Bunker mit dunkelbraunen Holzwänden, wo<br />
sich beleuchtete Vitrinen mit allerlei Grünpflanzen finden (Ausstattung:<br />
Julia Hansen). Dort fuhrwerkt auch ziemlich sinnlos eine Putzkolonne<br />
herum. Auch mit Videoprojektionen wird nicht gespart: Die<br />
furchterregende Schlange zu Beginn, die Feuer- und Wasserproben<br />
sieht man als Naturkatastrophenfilme. Und zum Finale dürfen dann<br />
Sarastro und die Königin der Nacht heftig herumzuschmusen und<br />
finden sich entgegen den Handlungsvorgaben zu einem Liebespaar.<br />
Die Verdi- und Wagner-Spezialisten im Bild (© H. Haider)<br />
hörte man die sehr und schön mit viel Piano vorgetragene Arie des Alvaro.<br />
Und bei den „Lombardi“ durfte das berühmte „La mia letizia infondere“<br />
natürlich nicht fehlen. Auch das wieder im besten Verdi-Stil<br />
perfekt vorgetragen. Duccio das Monte ist ein Bass aus Italien, mit einer<br />
Wienerin verheiratet und hat sein musikalisches Hauptziel bei Wagner<br />
gefunden. Ausgezeichnet die Szene des Gurnemanz – auch er mit brillanter<br />
Diktion! Das Gebet des König Heinrich aus „Lohengrin“ musste<br />
aus orchestertechnischen Gründen aus dem Programm genommen werden<br />
und wurde durch einen anderen Jahresregenten ersetzt, Pietro Mascagni,<br />
dessen 150er im Rummel um die beiden „200er“ doch leider sehr<br />
unterging. Gespielt wurde das berühmte „Intermezzo sinfonico“ aus „Cavalleria<br />
rusticana“. Weiters hörte man Duccio dal Monte noch als Pater<br />
Guardian in der großen Szene mit „Leonora“ aus der „Forza“ und als Pagano<br />
in den „Lombardi“.<br />
Die „Silberne Lyra“ der Amici, eine besondere Auszeichnung für Belcantosänger,<br />
ging diesmal an Dimitra Theodossiou, die an diesen Abend als<br />
Leonora in den „Forza del destino“ Szenen mit Duccio dal Monte brillieren<br />
konnte und als Griselda in „Lombardi“ mit dem Gebet aus dem 1.<br />
Akt und der Cabaletta aus dem 4. Akt voll überzeugte. Eine sehr vielseitige<br />
Künstlerin, die gerne, so wie die beiden Herren natürlich auch, wieder<br />
kommen wird.<br />
Das bemühte Orchester „Klangbogen“ wurde routiniert von Erwin<br />
Stoll geleitet.<br />
Die Kirche war zum Bersten voll! <br />
Elena Habermann<br />
Mutter und Tochter - sternflammende Königin (Hila Fahima) mit Pamina<br />
(Nazanin Ezazi) (© Werner Kmetitsch)<br />
Aber all dies Suchen nach Neuem, nach einer <strong>neue</strong>n Deutung, was es<br />
eigentlich nicht wirklich ist, wirkt extrem krampfhaft, teilweise sehr<br />
rätselhaft und geht nicht wirklich auf. Da helfen auch einige witzige<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 31
Aktuelles aus Österreich<br />
und noch mehr unwitzige Späßchen nicht zur Rettung der eher trostlosen<br />
Inszenierung.<br />
Trostlosigkeit ist beim Sängerensemble nicht auszumachen, aber auch<br />
nicht gerade eine umwerfende Qualität. Eine Ausnahme bildet zweifellos<br />
Yosep Kang, der im Frühjahr am Stadttheater Klagenfurt als<br />
Nadir in Bizets „Perlenfischer“ reüssierte. Sein Tamino klingt einfach<br />
prachtvoll mit seinem kräftigen, strahlenden Tenor. Auch André<br />
Schuen singt den Papageno mit großer Natürlichkeit, mit ausgesprochen<br />
schönem Bariton und exemplarischer Wortdeutlichkeit. Er wird<br />
im Frühjahr 2014 am Theater a. d. Wien in Harnoncourts konzertantem<br />
Mozart-Da Ponte Zyklus den Figaro, den Don Giovanni und<br />
den Guglielmo singen. Manuel von Senden ist ein fieser Monostatos<br />
mit idealem Stimmmaterial. Wilfried Zelinka als Sarastro hat wenig<br />
von einem Herrscher. Er wirkt stimmlich zwar sehr gepflegt, aber insgesamt<br />
eher blass und zurückhaltend. Hila Fahima, kurzfristig von<br />
der Staatsoper Wien eingesprungen, singt die Königin der Nacht zwar<br />
eher kleinstimmig, aber mit perfekten und blitzsauberen Koloraturen.<br />
Nazanin Ezazi verfügt als Pamina über eine feine Höhe, singt sehr<br />
warmherzig, hat jedoch Intonationsprobleme, die aber vielleicht mit<br />
der Premierennervosität erklärbar sind. Tatjana Miyus ist eine ideale<br />
Papagena. Vibratoreich hört man David McShane als Sprecher.<br />
Fehlerlos singen Konstantin Sfiris und Taylan Reinhard die Priester.<br />
Mit reinster Intonation hört man die drei Damen – Margareta<br />
Klobucar, Dshamilja Kaiser, Xiaoyi Xu –, die die drei Lebensalterabschnitte<br />
darstellen – eine sieht man als junges Mädchen, die zweite<br />
als Schwangere und die dritte als alte Frau, die am Stock geht. Hingegen<br />
nicht immer sauber singen die drei Knaben. Homogen klingt der<br />
Chor des Hauses (Einstudierung: Bernhard Schneider).<br />
Die Grazer Philharmoniker unter dem <strong>neue</strong>n Chefdirigenten Dirk<br />
Kaftan musizieren Mozart mit Leichtigkeit und Vitalität, aber auch<br />
mit extrem zugespitzten Tempi – teilweise mit solcher Eile, dass die<br />
Sänger nicht mehr folgen können. Starker Applaus! Helmut Christian<br />
Mayer<br />
nie in die Nähe von Lärm, wie das so oft passiert, weil es beachtlich<br />
gut vom Dirigenten disponiert und vom Orchester realisiert wurde.<br />
Das Vorspiel zu „Tristan und Isolde“ ist eines der meistdiskutierten und<br />
analysierten. 1860 erschien Wagners Interpretation als Programmbeitrag<br />
für die Pariser Konzerte im Jänner und Februar. Wenn man das<br />
liest, beneidet man den Dirigenten nicht mehr. Wenn er einen Aspekt<br />
von Wagners genialem Klangrausch realisiert, bleibt immer noch ein<br />
gehöriger „ Erdenrest, zu tragen peinlich“. Das sehr langsame Grundtempo<br />
(„langsam und schmachtend“) wurde vom Dirigenten etwas<br />
gestrafft, wodurch er die Spannung erhöhte. Die Kette der Dissonanzen,<br />
ein ganz wesentliches Merkmal in diesem revolutionären Stück<br />
am (oder schon) im Eingang zur Welt der Atonalität, fand im Orchester<br />
mit imponierender Farbkraft eine ausgeprägte Betonung.<br />
Den vokalen Beitrag zu diesem Abend leistete die hochdramatische<br />
Linda Watson, in den Medien gerne als „Sopran der Rekorde“ apostrophiert.<br />
Sie nahm bisher (angeblich) die meisten „Ring“-Gesamteinspielungen<br />
auf. Ihr etwas pompöses Kostüm und ihr majestätisches<br />
Auftreten passten gut zu Wagners Pathos. Die große Stimme glänzt<br />
und strahlt nach wie vor. Die Schlussszene aus „Götterdämmerung“<br />
bestach vor allem durch die sicheren exponierten Höhen. <strong>Der</strong> Liebestod<br />
gelang ihr recht gut, aber gegen Schluss schien das Orchester eine<br />
Art von Ekstase zu überkommen – es klang etwas unkontrolliert. „Unbewusst,<br />
höchste Lust“ konnte sich deshalb trotz des Wagner-Weltstars<br />
nicht so durchsetzen wie erhofft.<br />
Frenetischer Applaus! <br />
Ferdinand Rudolf Dreyer!<br />
Innsbruck: „DON PASQUALE“ – Von der comedia<br />
dell‘ arte inspiriert<br />
Einen Fehler dürfen die Besucher dieser Neuinszenierung von Donizettis<br />
meisterlicher Opera buffa nicht begehen – Dominique Menthas<br />
Salzburg:<br />
WAGNER-MATINEE des MOZARTEUM<br />
ORCHESTERS mit LINDA WATSON 10.11. –<br />
Geglückte Hommage zum 200. Geburtstag<br />
Wir saßen im Großen Festspielhaus und zum Glück nicht in der Rheinoper,<br />
wo der „Tannhäuser“ in Grund und Boden inszeniert worden<br />
war (Venus in SS- Uniform mit ihren Schergen, wie sie eine Familie<br />
tötet und Tannhäuser zum Morden anhält – wurde am Rhein Wagners<br />
„Idee vom Konflikt zwischen exzesshafter und keuscher Liebe“<br />
verwirklicht). „Unsere“ Tannhäuser-Ouvertüre machte Zusammenhänge<br />
und Gegensätze (Erlösung und Vergebung) eindringlich hörbar,<br />
ja spürbar. Geheimnisvolle Pianostellen wechselten mit auftrumpfenden<br />
Tutti. Überzeugend der Übergang in das Bacchanale, mit viel<br />
Temperament und Erotik dirigiert und gespielt. Das Mozarteum Orchester<br />
Salzburg musste auf den angekündigten, erkrankten Chefdirigenten<br />
Ivor Bolton verzichten. Ihn vertrat Johannes Wildner mit<br />
viel Routine und bewies, dass Wagners Vorspiele auch auf dem Konzertpodium<br />
attraktiv und mitreißend sein können.<br />
Nach dem filigranen, innigen Beginn des Vorspiels zu „Lohengrin“ mit<br />
„den klarsten, blauen Himmelstönen“ (Wagner) entfaltete das Orchester<br />
einen kraftvollen, mitreißenden klanglichen Prunk mit elektrisierenden<br />
Beckenschlägen und siegreichen Trompetenklängen. Schließlich<br />
kehrte die ursprüngliche ätherische Stimmung wieder zurück. Die<br />
achtstimmigen Violinen dominierten. <strong>Der</strong> vom Komponisten ersonnene<br />
weihevolle Orchesterklang verzauberte nochmals. <strong>Der</strong> Trauermarsch<br />
war von unheimlicher Wucht, aber auch die kurzen leisen Trauermomente<br />
ergriffen mich! Trotz der Klangmassen geriet dieses Stück<br />
2 tolle Buffo-Charaktäre: Malatesta (Davide Fersini) und<br />
Don Pasqaule (Noè Colin) (© Rupert Larl)<br />
virtuose Produktion von 1994/95 geistig abzurufen. Konzentriert man<br />
sich hingegen ausschließlich auf die Neudeutung durch Stefan Tilch,<br />
die von einem ganz anderen Aspekt ausgeht, wird man auch Freude<br />
an einer soliden, familientauglichen Produktion haben, trotz einiger<br />
sich tot laufender Gags (Italiener essen ausschließlich Spaghetti und<br />
rauchen ohne Unterlass). Ein Regie-Einfall wird wegen seiner Stimmigkeit<br />
besonders nachwirken: als der vom Onkel verstoßene Ernesto<br />
durch das Gassengewirr irrt und einen traurigen Clown auf der Straße<br />
sitzend antrifft, der die melancholische Einleitung zur Arie „Povero Ernesto“<br />
auf seiner Trompete intoniert.<br />
<strong>Der</strong> Regisseur verlegt die Handlung in die 50er des letzten Jahrhun-<br />
32 | DER NEUE MERKER 12/2013
Tanzwelt<br />
derts. <strong>Der</strong> titelgebende Hagestolz lebt in einem eher abgewirtschafteten<br />
Ambiente, auch die Wohnung macht einen ziemlich ramponierten<br />
Eindruck (hier würde man eher Don Magnifico mit seinen Töchtern<br />
erwarten). Norina singt ihre Cavatine während einer Filmvorführung<br />
in einem total verrauchten Kinosaal und schmiedet ihre Ränke mit<br />
Malatesta in einer Pizzeria. Im Haus des Heiratswütigen verhält sie<br />
sich dezent und verzichtet auf allzu furienhaftes Gehabe. Eine grundlegende<br />
Verschönerung von Pasquales Heim bleibt dem Publikum verwehrt<br />
(abgesehen von einem riesigen Bild mit einem in einem Kahn<br />
befindlichen Elefanten). Karlheinz Beers Bühnenlösungen zeigen<br />
verwinkelte Gassen und Piazzette, wo ein brillantes Comedia-dell‘-<br />
Arte-Trio (David Labanca – Pantaleone = Malatesta, Florian Stohr<br />
– Dottore und Samuel Müller – Innamorato = Ernesto) seine Späße<br />
treibt und sich immer wieder in die Handlung einmischt, um die Befindlichkeiten<br />
von Pasquale, Ernesto und Malatesta zu reproduzieren.<br />
Wie gesagt – herrlich gespielt, aber bedarf ein derart fabelhaftes, ausgefeiltes<br />
Werk wie „Don Pasquale“, wo sich Musik und Handlung in<br />
kongenialer Weise treffen, eine derartige visuelle Verstärkung, das den<br />
Witz eher bremst als ihn unterstützt?<br />
Ungetrübtes Glück bescherte die musikalische Umsetzung. Alle vier<br />
Solisten waren typenmäßig bestens besetzt und boten ein Belcantofest,<br />
das Vito Cristofaro am Pult des beherzt aufspielenden Tiroler Symphonieorchester<br />
Innsbruck mit feiner Dynamik und idealen Tempoabstufungen<br />
maßgeblich zu unterstützen verstand. Sophie Mitterhuber<br />
entzückte mit ihrem feingesponnenen, herrlich gerundeten<br />
lyrischen Sopran samt Koloraturgeläufigkeit und ihrem temperamentvollen<br />
Spiel, das ohne Klischees auskommt. <strong>Der</strong> drahtige, hochgewachsene<br />
Davide Fersini (Pistola der diesjährigen Salzburger Festspiele)<br />
verlieh dem Malatesta smarte Züge plus südländisches Flair und ließ<br />
seinen kultiviert geführten Bariton vorteilhaft erklingen. Noè Colin,<br />
der in den letzten Jahren der Intendanz Mentha Ensemble-Mitglied<br />
war, kehrte mit dem Titelhelden an die Stätte seiner ersten Erfolge zurück<br />
und bewies seine Kompetenz im Buffo-Fach. Da sitzt jede Pointe<br />
und das Zusammenspiel mit den Partnern. Gesanglich kommt ihm<br />
seine jahrelange Erfahrung auf internationalen Bühnen in diesem Repertoire<br />
sehr zugute. Diesen Pasquale muss man einfach gern haben.<br />
Zum absoluten Publikumsfavoriten wurde der Ernesto, den der junge<br />
Mexikaner Jesús León mit bübischem Charme verkörpert und dessen<br />
tenorale Qualitäten das Herz eines jeden Stimmliebhabers höher<br />
schlagen lässt. Was für eine flexible, betörende Stimme! Dürfen wir<br />
auf ein weiteres Engagement mit diesem hochtalentierten Sänger rechnen,<br />
Herr Intendant?<br />
Üppiger, ausdauernder Premierenjubel, der auch den Chor des TLT<br />
(wie immer präzise einstudiert von Michel Roberge) für den gewitzten<br />
Vortrag des Dienerchors und die für die zeitgemäßen Kostüme verantwortliche<br />
Iris Jedamski einschloss. <br />
Dietmar Plattner<br />
Tannhäuser 1470,– €<br />
Premiere 25. Juli<br />
Lohengrin 1210,– €<br />
31. Juli, 03., 06., 09.,17. Aug.<br />
Holländer 1210,– €<br />
26. Juli, 04., 08., 16., 20., 24. Aug.<br />
Tannhäuser 1210,– €<br />
02., 12., 18., 21., 28. Aug.<br />
Walküre 1210,– €<br />
05. Aug.<br />
Ring I (27.07.-02.08.) 4450,– €<br />
Ring II (10.08.-16.08.) 4450,– €<br />
Ring III (22.08.-28.08.) 4450,– €<br />
BAYREUTHER FESTSPIELE 2014<br />
Arrangement: 1 Ticket Parkett,<br />
1x ÜF in Bayreuth<br />
Arrangement Ring: 4 Tickets Parkett,<br />
6 x ÜF in Bayreuth<br />
Einführungsvortrag<br />
Willkommenspräsent<br />
Hotels in Bayreuth:<br />
Goldener Hirsch, Ramada, Arvena,<br />
Rheingold, Goldener Anker (Aufpreis)<br />
Hotel in Bischofsgrün:<br />
Kaiseralm inkl. Transfer<br />
Aus der Tanzwelt<br />
Wiener Stadthalle:<br />
Gastspiel des St. Petersburg Festival Ballett:<br />
„DORNRÖSCHEN“ – 23. 11. –<br />
Ein kleiner Etikettenschwindel<br />
Russlands wendige Geschäftemacher dürften zurzeit nicht nur mit Pussy<br />
Riot und Greenpeace und so manch anderen Gutmenschen ihre Probleme<br />
haben. Auch in der vormals so blühenden traditionsreichen Ballettszene<br />
muss man sich nun vor Säureattentaten in Acht nehmen, und mit dem<br />
ehemals so famosen Ruf der russischen Tanzkunst wird nun wohl gelegentlich<br />
ein kleiner Etikettenschwindel betrieben. Oder gar ein größerer,<br />
wie an diesem einen Abend „Dornröschen“ mit dem St. Petersburg Festival<br />
Ballett in der Wiener Stadthalle? Wie es eher richtiger aussehen dürfte:<br />
Die Tänzer haben ihre Trainingsstätte nicht in der Ballett-Hochburg St. Petersburg,<br />
sondern eventuell irgendwo am Ufer der Wolga – in Samara vielleicht?<br />
– bezogen. Und nicht von den großen Festivals wird diese Kompanie<br />
eingeladen, sondern das Management hat zur Zeit One-Night-Stands<br />
quer durch Deutschland arrangiert. Mit einem Abstecher nach Wien, in<br />
die Stadthalle. Und da diese Kurzfassung von „Dornröschen“ auch nicht<br />
mit besonderer Liebe zu stilvollen Details erarbeitet wurde, wäre eine Begegnung<br />
mit diesem wunderbaren Märchenballett wohl eher in Spielstätten<br />
in Leoben oder Steyr zu erwarten gewesen. Dort wäre zu erleben: vor<br />
allem die so klangschöne Tschaikowski-Musik, zwar von CD abgespielt,<br />
doch tänzerisch gut aufbereitet. Bunter Kostümzauber in einer romantischen<br />
Waldlandschaft. Ein klein besetztes und durchaus solide auftretendes<br />
Corps. Die anonym bleibenden Solisten dürfen kein besonderes Charisma<br />
entwickeln, doch das liebe Rotkäppchen, der Gestiefelte Kater und<br />
das Weiße Kätzchen oder der Blaue Vogel, die kommen in den Augen der<br />
doch zahlreichen Kinder im Publikum recht gut an.<br />
Somit: Kein Festival-reifes „Dornröschen“, doch ein milder Abglanz davon.<br />
Nur um dem Angebot die richtige Etikette zu verpassen.<br />
<br />
Meinhard Rüdenauer<br />
Festspielhaus St. Pölten:<br />
Sidi Larbi Cherkaoui – „milonga“ 16.11.<br />
Ist St. Pölten nun schon bald oder wird es erst später das <strong>neue</strong> Luftfahrtkreuz<br />
choreographischer Höhenflüge? –<br />
Nach dem Eröffnungsabend der <strong>neue</strong>n Intendanz von Brigitte Fürle mit<br />
Angelin Preljocajs „Les Nuits“ schien mir die Antwort darauf nicht mehr<br />
so klar. Wer auch immer die bezwingend wuchtige Strawinski-Choreographie<br />
seiner „Les Noces“ kennt und schätzt, war von seinem da neu präsentierten<br />
1001-Nacht-Verschnitt nicht eben sehr angetan, da wurde später<br />
zu viel an night-club-touch eingearbeitet, obgleich das Stück recht atmosphärisch<br />
mit einem sozusagen lebendig gewordenen Bild des berühmten<br />
Ingres-Gemäldes der Schönen im türkischen Bade begann.<br />
Wie man dem Tango argentino in einer sozusagen zeitgenössischen Choreographie<br />
huldigt, konnten wir bis dato optimal stringent ablesen am Beispiel<br />
von Hans van Manens stupenden „5 Tangos“! Da kommt schon die<br />
<strong>neue</strong> Arbeit von Sidi Larbi Cherkaoui, ein Projekt des „Sadlers Wells“-<br />
Theatre, aber wirklich nicht heran. Dessen Idee war die Koppelung von<br />
zwei zeitgenössisch ausgebildeten Modern-dance-Tänzern mit einer wohl<br />
ausgezeichnet tanzenden Amateur-Gruppe von Tango-argentino-Tänzerinnen<br />
und Tänzern. Zu der authentischen 5-köpfigen Live-Band gab es<br />
legendäre alte Tango-Klassiker wie „La Cumparsita“ oder diverse Astor-<br />
Piazolla-Tango-nuevo-Stücke, wie „Libertango“, einige waren umrandet<br />
von quicken lebensfrohen Milonga-Piecen. Am interessantesten fand ich<br />
z. B. einen Tanz von 3 Männern miteinander, der auf die Tanz-historischen<br />
Wurzeln des Tangos zurückführte, wo sich Männer beim Warten<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 33
Tanzwelt<br />
Tango mit „Zweitfrau“ (© Diego Franssens)<br />
im Bordell die Zeit damit vertrieben, sich untereinander – also Macho-<br />
Mann mit Macho-Mann – im Tango zu messen! Akkurate Live-Projektionen<br />
putzten im Hintergrund laufend die insgesamt recht kommerzielle<br />
Show optisch auf und nahmen ihr damit den doch etwas zweifelhaften<br />
Nimbus von Show-Wettbewerben beim „ball-room-dancing“…<br />
<br />
Norbert A. Weinberger<br />
Linz: „ROMEO UND JULIA“ – Musiktheater – 15.11.<br />
Die Premiere war für den 25. Mai vorgesehen, musste jedoch wegen Verletzung<br />
eines Tänzers verschoben werden. Choreografie und Inszenierung<br />
stammen von Jochen Ulrich, der am 10. November des Vorjahres im Alter<br />
von 68 Jahren verstorben ist. Es war ihm leider nicht vergönnt, seine<br />
Version des Stückes im <strong>neue</strong>n Musiktheater zu erleben.<br />
Es scheinen diesmal einige Personen auf, die in meinem sehr guten Führer,<br />
den ich zu Rate ziehen musste, gar nicht vorkommen, zumindest sind<br />
sie nicht namentlich genannt, bzw. solche, die wiederum hier keine Rolle<br />
spielen. Zudem gibt es eine Menge <strong>neue</strong>r Tänzer, die vermutlich von der<br />
<strong>neue</strong>n Ballettchefin Mei Hong Lin mitgebracht wurden. So fange ich<br />
einfach der Reihe nach an, wie sie im ursprünglichen Programmheft stehen<br />
bzw. auf dem Abendspielzettel, denn auch da gibt es jede Menge Abweichungen.<br />
DIE MONTAGUES: Romeo: Jonatan Salgado Romero, Mercutio: Alexander<br />
Novikov, Benvolio: Pavel Povraznik, Antonio: Julio Andrés Escudero,<br />
Balthasar: Geoffroy Poplawski, Rosalinde: Sabra Johnson, Bianca:<br />
Mireia González Fernández, Victoria: Nuria Gimenez Villaroya. Pater<br />
Lorenzo: Leonardo Barbu. DIE CAPULETS: Lord Capulet: Wolfgang<br />
Berner (Er sitzt übrigens im Rollstuhl. <strong>Der</strong> wievielte Rollstuhl in den verschiedenen<br />
Produktionen ist das eigentlich?) Die eiskalte Lady Capulet:<br />
Andressa Miyazato, die kindliche Julia: Ilja van den Bosch, deren betuliche,<br />
gütige Amme: Anna Stèrbová. Von fast animalischer Ausstrahlung<br />
ist Tybalt Ziga Jereb, vor dem seine Tante Lady Capulet (hier ganz und<br />
gar nicht kühl), angetan zu sein scheint. <strong>Der</strong> aalglatte, geschniegelte Graf<br />
Paris, Matej Pajgert, ist chancenlos bei Julia – da helfen auch seine roten<br />
Rosen nichts, die sie angewidert zur Seite wirft. Zudem gibt es 6 Damen<br />
und 6 Herren im Hause Capulet sowie einen Diener.<br />
Das Bühnenbild stammt von Kathrin Kegler. Von Verona ist nicht einmal<br />
ein Hauch zu spüren. Soll auch nicht so sein. Vielmehr ist hier der<br />
Schauplatz der Liebestragödie ein verbrannter und vom Krieg der Familien<br />
verwüsteter Ort, an dem das „militant faschistoid“ geführte Herrscherhaus<br />
Capulet mit einer jungen, revoltierenden „Streetgang“ der Montagues<br />
konfrontiert wird. Das erklärt, warum die Freundinnen und Freunde<br />
Romeos gekleidet sind, als seien sie gerade aus der „West Side Story“ gefallen.<br />
Und somit ist auch die „Garde der Capulets“ sonnenklar. Ob man<br />
das schön findet oder nicht, ist Geschmackssache. Im Gegensatz dazu sind<br />
die restlichen Kostüme, vor allem die der Damen (kreiert von Marie-Théresè<br />
Cramer) ein Traum oder die farbenfrohen schwingenden Umhänge<br />
der Herren. Dass mit Degen gekämpft wird, na ja, so ganz kommt man<br />
an der Renaissance halt doch nicht vorbei. Denn sonst müssten Julia und<br />
Romeo am Ende nicht Gift schlucken, Julia würde sich erschießen und<br />
nicht erdolchen, daher funktioniert die viel gepriesene Zeitlosigkeit wie<br />
so oft nicht. Die „Trauungszeremonie“ von Romeo und Julia findet vor<br />
einem goldschimmernden Vorhang statt, dazu gibt es eine Leiter, die geradewegs<br />
in den Himmel zu führen scheint. Sehr hübsch! Meine Angst,<br />
die beiden müssten womöglich hinaufklettern, erwies sich glücklicherweise<br />
als unbegründet!<br />
Daniel Linton-France leitete das Bruckner Orchester. Die Musik von<br />
Sergej Prokofjew ist ja äußerst facettenreich (das Blech fand ich des Öfteren<br />
empfindlich laut) und dann wieder so zart und fein, hinreißend! Die<br />
phantastischen Tänzerinnen und Tänzer sind eine Augenweide und jeder<br />
einzelne eine Klasse für sich. Das zeigt der frenetische Applaus. Die Poesie<br />
bleibt leider auf der Strecke – für mich hinterlässt der Abend recht gemischte<br />
Gefühle. <br />
Heide Müller<br />
Stuttgarter Ballett<br />
„FORT// SCHRITT//MACHER“ – Pr. 8.11. –<br />
Erweckte Theatergeister<br />
Drei Choreographen aus drei Generationen, die alle wesentlich zur Modernisierung<br />
des Balletts beigetragen haben und dies auch weiterhin verfolgen,<br />
markieren das <strong>neue</strong>ste Programm des Stuttgarter Balletts. In diesen<br />
zunehmend dunkleren Tagen hätte sicher so mancher Zuschauer etwas<br />
lichtvollere, für das Auge weniger anstrengende Arbeiten bevorzugt, doch<br />
bei konzentrierter Betrachtung förderten die drei gezeigten Stücke viel Sehenswertes<br />
ans Licht.<br />
William Forsythes „WORKWITHINWORK“ wurde im Oktober 1998<br />
in Frankfurt uraufgeführt und markiert den Abschluss seiner Ballette über<br />
das Ballett. Purer Tanz in einer etwas diffusen Beleuchtung, die die Tänzer<br />
manchmal nur wie Schatten aussehen lässt. Trotz aller Bewunderung der<br />
unendlich variierten <strong>neue</strong>n Zusammensetzungen des klassischen Ballettvokabulars<br />
in wechselnden kleineren und größeren Tänzergruppen, des<br />
exakten Schliffes aller Windungen und Wendungen zwischen kurz eingestreuten<br />
konventionellen Spitzendrehungen, beginnt das halbstündige<br />
Geschehen irgendwann auf der Stelle zu treten. Eine große Rolle spielt<br />
34 | DER NEUE MERKER 12/2013
Tanzwelt<br />
dabei natürlich die Musik, denn Luciano Berios „Duetti per due violini“<br />
mögen anfangs in ihrer feingliedrigen, ganz nach innen horchenden<br />
Musikalität, so wie sie von Wolf-Dieter Streicher und Luminitza Petre<br />
in harmonischer Übereinstimmung ausgefüllt wird, die Dichte des choreographischen<br />
Ausdrucks unterstützen – der zunehmend kontrapunktische<br />
Verlauf der beiden Geigenstimmen driftet letztlich in die Beliebigkeit<br />
unorientierten Geschehens.<br />
Für die 18 TänzerInnen in schwarzen Slips bzw. Shorts und verschieden<br />
farbigen Tops von Stephen Galloway bedeutet das erstmals in Stuttgart<br />
getanzte Stück zweifellos eine wertvolle Erweiterung ihres Repertoires,<br />
des Beweises ihrer sicheren technischen Ausrüstung und ihrer Fähigkeit<br />
in solcher Abstraktion ein gewisses Maß an Seele mitschwingen zu lassen.<br />
Dass keiner der 6 eingesetzten Ersten bzw. Solisten hervortritt, sondern in<br />
die Gruppe mit den Halbsolisten und Corps de ballet-Tänzern gleichberechtigt<br />
integriert sind, spricht sowohl für den Leistungs-Standard letzterer<br />
als auch für den bewussten Ensemble-Charakter.<br />
Nach dieser schweren Kost bedeutete die Wiederaufnahme von Hans<br />
van Manens 2005 uraufgeführten „FRANK BRIDGE VARIATIONS“<br />
fast eine Erleichterung, ja Befreiung, obwohl die Ansprüche des holländischen<br />
Grandseigneurs nicht zu unterschätzen sind. Die Strenge seiner<br />
handlungslosen Werke wird durch das Aufgreifen stets <strong>neue</strong>r gesellschaftlicher<br />
Themen rund um den Eros, die durch viel Augenkontakt und gegenseitige<br />
Reaktion erzielte zwischenmenschliche Komponente sowie<br />
humorvoll ironisierte Abgänge gelockert und unter Spannung gehalten.<br />
Nichts lenkt von den in grünen, dunkelroten und schwarzen Trikots steckenden<br />
10 TänzerInnen ab, wenn sie Benjamin Brittens faszinierend<br />
Alicia Amatriain und Evan McKie - schnittig dramatisch in van Manens<br />
„Frank Bridge Variations“ (© Stuttg. Ballett)<br />
instrumentierte 10 Variationen eines Themas seines Lehrers Frank Bridge<br />
in glasklar ausgerichteten Linien mit den van-Manen-typischen neoklassischen<br />
Formen diagonal nach oben gestreckter Arme oder langsamem<br />
Schreiten mit wechselndem Ausdruck erfüllen, so wie Britten die einzelnen<br />
Abschnitte den verschiedenen Charaktereigenschaften seines Lehrers<br />
zugeordnet hat und dabei mehrere musikalische Stile von Vivaldi bis Strawinsky<br />
parodierend aufgreift. Den beiden Hauptpaaren gelingt das so bestechend<br />
gut, auf eine ganz uneitel virtuose Art, präzisest in jeder Haltung<br />
und im Timing des Aufeinander-Abgestimmt seins. Eine weiblich aparte<br />
Note steuert Maria Eichwald bei, Alicia Amatriain bildet das sportivere,<br />
wie gewohnt unendlich dehnbar scheinende Pendant, Evan McKie vereint<br />
Ernst und mitreißende Attacke, Marijn Rademaker verblüfft mit<br />
der scheinbaren Unvereinbarkeit von Akkuratesse und Lässigkeit. Und<br />
die 6 Solisten/Halbsolisten Rachele Buriassi, Miriam Kacerova, Alessandra<br />
Tognoloni, Roland Havlica, Roman Novitzky und Brent Parolin<br />
vervollkommnen den Funeral March zum tief unter die Oberfläche<br />
dringenden Schreit-Akt.<br />
Bereits im Vorfeld hatte Haus-Choreograph Marco Goecke verlauten lassen,<br />
künftig mehr aus der Dunkelheit seiner bisherigen Arbeiten hervorzutreten,<br />
nach nun gewonnener Etablierung in der Tanzgeschichte sich<br />
mehr zum Publikum hin zu öffnen. Die Erwartungshaltung mag deshalb<br />
besonders spannend gewesen sein. Dass „ON VELVET“ (= auf Samt)<br />
denn gar zum unbestrittenen Höhepunkt und einhelligen Erfolg des von<br />
Pina Bausch geprägten Wuppertalers wurde, ließ diesen Abend in einem<br />
so nicht vermuteten Jubelgeschrei enden.<br />
Die gewohnt dunkel ausgekleidete Bühne gibt zusehends zwei Reihen Theatergestühl<br />
frei, auf dem sich die wie aus dem Nichts des Hintergrunds<br />
erwachenden Geister des Hauses räkeln, die verborgenen Geschichten,<br />
die so ein Theaterraum in sich birgt, in gewohnt nervösem, aber weiter<br />
als bisher ausgreifendem Spiel der Hände und Arme, sowie die Körper<br />
nicht mehr so streng vertikal einsetzenden Haltungen, erzählen, zum Leben<br />
erwecken und dabei manchmal wie über dem Boden zu schweben<br />
scheinen – mal verängstigt, verstört, mal berührend naiv. Es gibt zwar<br />
auch wieder einen Punkt, wo das Vokabular innerhalb dieses Kreises erschöpft<br />
scheint, doch füllen die 12 Tänzer das imaginäre Theater mit ausreichend<br />
durchhaltendem Leben. Einen wesentlichen Faktor leistet dabei<br />
das 2006 uraufgeführte Cellokonzert des jungen Tirolers Johannes Maria<br />
Staud, in dem er ein anfangs zitiertes Mozart-Fragment langsam in<br />
seine eigene moderne Klangsprache übergehen und in teils schroff peitschenden,<br />
teils extrem hohe Frequenzen berührenden zarten Verästelungen<br />
des Solo-Cellos (Zoltan Paulich mit bewundernswerter Tonkonstanz)<br />
kulminieren lässt. Die unterschwellig bedrohlichen Klangräume, die sich<br />
hier öffnen, werden von Goecke in den stets unruhigen Bewegungsfluss<br />
seiner Tänzer übertragen.<br />
Magdalena Dziegielewska tritt mit ihrer witzigen Körpersprache und<br />
flinken Beweglichkeit ebenso besonders hervor wie Arman Zazyan durch<br />
seine stille Anpassungsfähigkeit. Neben dem ohnehin von spezieller Körperhaltung<br />
geprägten Robert Robinson vermag auch erstmals Ludovico<br />
Pace in einem deutlich hervor gehobenen Part nachdrücklich auf seine Präsenz<br />
aufmerksam zu machen. Und mit Marijn Rademaker hat der Choreograph<br />
noch auf einen erfahrenen Hauptakteur, der bereits sein „Äffi“<br />
erfolgreichst aus der Taufe gehoben hatte, gesetzt und ihm zu den martialischen<br />
Klängen von Edward Elgars „March of the Mogul“ ein wahrhaft<br />
krönendes Solo mit irrsinnig schnellen Fall- und Stütz-Aktionen auf<br />
den Leib geschnitten. Ein so theatergerecht abschließendes Finale wäre<br />
Goecke aufgrund seines bisher in moderner Abruptheit oder Versickern<br />
im Nichts endenden Oeuvres gar nicht zuzutrauen gewesen. Nicht zuletzt<br />
dies hat (in der packenden Wiedergabe durch das Staatsorchester<br />
Stuttgart unter James Tuggle) zur begeisternden Publikums-Reflektion<br />
beigetragen. <br />
Udo Klebes<br />
Gauthier Dance Stuttgart<br />
„CANTATA SPECIALE“ – Pr. 14.11. – Viel Erfreuliches<br />
Eric Gauthier und seine Tanz-Compagnie sind im 6. Jahr ihres Bestehens<br />
so gefragt, dass ein beträchtlicher Teil ihrer Auftritte außerhalb von Stuttgart<br />
stattfindet. Diesen Herbst verschob sich der heimatliche Saison-Auftakt<br />
dadurch auf Mitte November. Wie gewohnt, mit einer launigen Begrüßung<br />
durch den Chef persönlich, mit der er das Publikum auf seine<br />
lässig humorvolle Art sofort auf seiner Seite hatte. An diesem Abend gebe<br />
es zwar choreographisch gesehen nicht so viel Neues, aber äußerst Erfreuliches.<br />
Zum einen die Rückkehr des Publikumslieblings Garazi Perez<br />
Oloriz nach einer einjährigen Verletzungspause, vorläufig zwar mit<br />
nur einem, aber was für einem persönlichkeits-fesselnden Auftritt in Alejandro<br />
Cerrudos bereits vor einigen Jahren hier gezeigtem „LICKETY<br />
SPLIT“, zum anderen die bevorstehende Faust-Preis-Verleihung an die<br />
dafür nominierte, ebenfalls in vorderer Publikumsgunst stehende Anna<br />
Süheyla Harms. Und nicht zuletzt die Gelegenheit, Mauro Bigonzettis<br />
umwerfend animierendes gut dreiviertelstündiges „CANTATA“ noch<br />
einmal mit dem Live-Auftritt des neapolitanischen Frauen-Quartett As-<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 35
Tanzwelt<br />
WOLVES“, in dem die gegenseitigen Mächte von Dirigent und Musikern<br />
in Wolfsmasken zu Beethovens viel strapazierter, hier aber das Thema<br />
trefflich unterstreichender Schicksalssinfonie (1.Satz) bitter, aber letztlich<br />
doch vergnüglich aufs Korn genommen werden. Unter den 7 Tänzern waren,<br />
wie auch in „Cantata“, die seit September erfolgten Neuzugänge im<br />
Ensemble, die beiden Französinnen Caroline Fabre und Sandra Bourdais,<br />
der Schweizer Maurus Gauthier und der Brasilianer Juliano Nunes<br />
Pereira erstmals zu erleben.<br />
Noch einer hat sich besondere Erwähnung verdient: der blonde Florian<br />
Lochner hat sich innerhalb kurzer Zeit von einem begabten Nachwuchstänzer<br />
zu einem bemerkenswert männlich gereiften und an körperlicher<br />
Aussagekraft sowie Ausstrahlung gewonnenem Künstler entwickelt.<br />
Bravo!<br />
Es bedarf fast keiner Erwähnung mehr, dass wiederum alle Folgevorstellungen,<br />
auch schon viele Wochen im Voraus, ausverkauft sind. Die Tanzfans<br />
haben auch allen guten Grund, das Theaterhaus zu stürmen und das<br />
Zugpferd dieser alternativen Bühneneinrichtung Abend für Abend zu feiern.<br />
<br />
Udo Klebes<br />
Festspiele Baden-Baden:<br />
„DIE KLEINE MEERJUNGFRAU“<br />
(Hamburg Ballett) 17.11. – Zwei Welten<br />
Präzise und lässig zugleich - Eric Gauthier in Goeckes „I found a fox II“<br />
(© Regina Brocke)<br />
surd erleben zu können, was in der Tat wesentlich zum Flair dieses Stückes<br />
zwischen überschäumender Lebensfreude und sich dahinter öffnenden<br />
Aggressionen beiträgt. Und vielleicht auch ein letztes Mal mit Egon<br />
Madsen als würdevollem Dorfältesten, dessen Präsenz auch bei reduzierter<br />
tänzerischer Aktivität Wellen schlägt. Reizvoll ist auch der immer wieder<br />
erfolgende Rollentausch, so dass den in italienischen Wortkaskaden entladenden<br />
Disput diesmal ein Mann und eine Frau austragen – für Muttersprachler<br />
Rosario Guerra und die temperamentvolle Belgierin Anneleen<br />
Dedroog im Verbund mit ihrer körperlichen Elastizität ein ideales Futter,<br />
Begeisterungsstürme zu entfachen.<br />
<strong>Der</strong> Jubel gilt neben der famosen Compagnie zu Recht dem mit Akkordeon<br />
und (wie die Tänzer barfuß auftretenden) musizierenden Vokalquartett,<br />
das aus traditioneller neapolitanischer Tradition gespeiste, wirklich<br />
großartige Volkskunst bietet.<br />
So südländisch ausgeprägt war die Zuschauerstimmung bei den kürzeren<br />
Beiträgen vor der Pause nicht, aber auch Marco Goecke holte sich für den<br />
uraufgeführten 2. Teil seines „I FOUND A FOX“ sehr viel Zustimmung,<br />
obwohl er im direkten Vergleich zum zuvor noch einmal präsentierten<br />
1. Teil nicht mehr ganz dessen Dichte erreichte. Eventuell war dies auch<br />
der parallel dazu erfolgten Premiere beim Stuttgarter Ballett geschuldet.<br />
Eric Gauthier zirkelte auch jetzt wieder mit messerscharfen Akzenten<br />
den Raum aus, ehe ihn 4 Tänzerinnen flankieren, den Fuchs quasi etwas<br />
in die Enge treiben. Ein aus den Lautsprechern dröhnender Kate Bush-<br />
Song überlagerte dabei beinahe das tänzerische Geschehen, auch wenn<br />
der theatralische Einschlag ganz gut passte.<br />
In der Tat „SO SO EASY“ erschien Gauthiers mit Selatin Kara im Frühjahr<br />
2013 gemeinsam geschaffenes Duo in der poppig rappigen Präsentation<br />
von Miriam Gronwald und David Valencia M. Für Heiterkeit und<br />
Erstaunen sorgte auch wieder sein vier Jahre altes „ORCHESTRA OF<br />
Unerfüllbare Liebe - Hélène Bouchet als kleine Meerjungfrau und<br />
Dario Franconi als ersehnter Prinz (© Holger Badekow)<br />
Anlässlich des 200. Geburtstages des dänischen Dichters Hans Christian<br />
Andersen im Jahr 2005 hat John Neumeier für das Königlich Dänische<br />
Ballett eine Choreographie zur wohl berühmtesten Schöpfung Andersens,<br />
der „Kleinen Meerjungfrau“ geschaffen und zwei Jahre später auch mit seiner<br />
Hamburger Compagnie einstudiert. Mit einer, wie von ihm gewohnt,<br />
wieder etwas überarbeiteten Fassung gastierte das Ensemble im Rahmen<br />
seiner regelmäßigen Herbsttour damit im Baden-Badener Festspielhaus.<br />
Die Kartennachfrage ist inzwischen so groß, dass der Zuschauerraum<br />
mit seinen 2500 Plätzen mühelos an drei Abenden gefüllt werden kann.<br />
Neumeiers Kreationen sind stets von komplexen Zusammenhängen getragen,<br />
da macht auch seine Version dieses Märchenstoffes keine Ausnahme.<br />
In diesem Fall begnügt er sich dementsprechend nicht mit einer<br />
eingleisigen Darstellung, fügt ihr vielmehr eine zweite, sich darin spiegelnde<br />
und dadurch psychologisch verdichtete Komponente hinzu. Den<br />
Ausgangspunkt bildet die Parallele zwischen einer wesentlichen biographischen<br />
Fußnote und dem Schicksal der dichterischen Figur: Andersen<br />
hatte sich in Edvard Collin, den Sohn seines Pflegevaters und Förderers<br />
verliebt. Genau in dem Jahr (1836) als er an der kleinen Meerjungfrau ge-<br />
36 | DER NEUE MERKER 12/2013
Tanzwelt<br />
arbeitet hatte, heiratete Edvard Henriette Thyberg. Wie das bedingungslos<br />
den Prinzen liebende Wasserwesen scheitert seine Sehnsucht an nicht<br />
erwiderter, einseitiger Liebe. Neumeiers Handlung setzt dort ein, wo der<br />
Dichter auf einer Seereise an Bord einem Hochzeitspaar begegnet, das Edvard<br />
und Henriette frappierend ähnelt. Die Erinnerungen übermannen<br />
ihn, eine Träne verwandelt sich in ein Meer voller Phantasien, seine Sehnsüchte<br />
personifizieren sich in der Gestalt der Meerjungfrau.<br />
Bereits hier, wo das reale Leben in die Unterwasserwelt übergeht, beginnt<br />
die szenische Faszination, mit der Neumeier in bewährter Personalunion<br />
als Choreograph, Regisseur, Bühnen-, Kostüm- und Lichtgestalter dem gesamten<br />
Ablauf einen Rahmen gibt: ein kleiner, erhöhter wie gerahmt erscheinender<br />
Bildausschnitt skizziert die Szene auf dem Schiff, wo sich der<br />
Dichter in seinem Erinnerungsschmerz über die Reling neigt und unter eine<br />
sich auf und ab bewegende geschwungene blaue Linie taucht, die die Meeresoberfläche<br />
und den Wellengang symbolisiert. Eine Gruppe von Tänzern<br />
deutet mit langsamen, fließenden Bewegungen das Wasser an, schillernde<br />
Blautöne, die bereits in dem als Vorhang dienenden Aquarell ineinander<br />
vermischt sind, sorgen im Rahmen des phantasievollen Beleuchtungskonzepts<br />
für die entsprechende Stimmung. Aus der Unterwasser-Perspektive betrachtet,<br />
überquert auf der Meeresoberflächenlinie ein Miniatur-Dampfer<br />
die Bühne. Die weiteren Szenen an Deck sind durch ein paar Schornsteine<br />
skizziert, die nach ihrer Verwandlung durch den Meerhexer unter den Menschen<br />
lebende Meerjungfrau kämpft in einer ganz vorne an der Rampe eingelassenen<br />
Mini-Kammer gegen ihre Schwerfälligkeit. An die Stelle von platter<br />
realistischer Ausstattung tritt das Angedeutete, die Konzentration richtet<br />
sich verstärkt auf die expressive Körpersprache der Tänzer.<br />
Des Dichters und des Wasserwesens Schicksal überlappt sich, wenn der<br />
Edvard gleichende Bräutigam einem ins Wasser bugsierten Golfball hinterher<br />
springt, von der für ihn vorerst unsichtbaren Meeresjungfrau vor<br />
einem vom Meerhexer entfachten Sturm (als Wille des Dichters) gerettet<br />
und schließlich geküsst wird. Doch seine Liebe gilt der ihn weckenden<br />
Prinzessin Helene, während des Wasserwesens Liebe so weit geht, dass es<br />
fest entschlossen ist, ein Mensch zu werden. Gewaltsam entledigt er sie<br />
ihres Schwanzes, für den Neumeier im japanischen Noh-Theater eine Lösung<br />
gefunden hatte: eine blaue dehnbare Hose, die dem menschlichen<br />
Körper eine andere Dimension gibt, unterstützt und durchs Wasser bewegt<br />
von drei Tänzern, die als schwarze Schatten tituliert sind.<br />
Als die Meerjungfrau an mangelnder Bewegungsfähigkeit leidet und sich<br />
in der Rolle als Brautjungfer bei der Hochzeit des Prinzen erniedrigt fühlt,<br />
sehnt sie sich zurück in ihre Welt. Wie wir auch aus anderen Verarbeitungen<br />
des Märchenstoffes wissen, ermöglicht ihr dies nur die Opferung des Prinzen.<br />
Bei Neumeier reicht ihr der Meerhexer das Messer, doch wieder lässt<br />
es der in ihr verkörperte Dichterwille nicht zu, dass sie den Geliebten tötet.<br />
In ihrem unendlichen Leid und Schmerz sind der Dichter und seine Kreation<br />
am Ende eins, auf der Suche nach einer <strong>neue</strong>n Welt verhelfen sie sich<br />
gegenseitig zur Unsterblichkeit. Die Bewegungen der beiden nun barfuß<br />
Tanzenden decken sich in schönster Synchronität. Bis dahin hat Neumeier<br />
die Darsteller mit viel psychologischer Expressivität miteinander verwoben,<br />
sie auf klassischer (Spitzen-) Basis mit vielfältigen Errungenschaften<br />
des modernen Tanzes und Tanztheaters charakterisiert.<br />
Die an diesem dritten Abend eingesetzte Alternativ-Besetzung zeigte sich ausgeglichen,<br />
ohne irgendwo herauszuragen oder zu wünschen übrig zu lassen.<br />
Hélène Bouchet in der Titelrolle glänzte auf stille Art, mit viel Sensibilität,<br />
wo es um ihre bedingungslose Liebe geht, aber auch Kraft und Selbstbewusstsein,<br />
wo sie Grenzen überschreiten will und gegen ihr Schicksal ankämpft.<br />
Jugendliches Wesen und doch schon sehr gereiftes Gestaltungsvermögen<br />
geben dem Part sowohl Glaubwürdigkeit als auch das nötige Gewicht.<br />
Carolina Agüero ist da als ihre prinzessliche Kontrahentin eine vergleichsweise<br />
blasse Tänzerin, doch mag das auch an der am wenigsten konturierten<br />
Hauptrolle liegen. Sicher im Umgang mit Neumeiers Anforderungen<br />
zeigt sich die Argentinierin allemal.<br />
Wiederum rollenbedingt gelingt Alexandre Riabko als Meerhexer die<br />
stärkste Bühnenvereinnahmung, zumal allein schon die ebenfalls dem japanischen<br />
Theater entstammende, mit viel aufgespritzter Farbe erzielte<br />
Spezialmaske eines Glatzköpfigen für die entsprechend bedrohliche Autorität<br />
und Macht sorgt. Darüber hinaus strotzt der aus Kiew stammende<br />
Publikumsfavorit der Compagnie vor kraftvoller Virtuosität und körperlicher<br />
Hochspannung.<br />
Zarter besaitet, aber trotz seiner Jugend steht der italo-amerikanische Gruppentänzer<br />
Sasha Riva als Dichter in Anzug und Zylinder seinen Mann,<br />
mischt sich mit Einfühlungsvermögen unters Geschehen und hat mit der<br />
Meerjungfrau als projizierte, übertragene Leidensgenossin die ausdrucksstärksten<br />
Momente.<br />
<strong>Der</strong> Solist Dario Franconi entspricht dagegen so ganz dem Bild des smarten<br />
Lovers, des schönen Prinzen und hat dazu noch Gelegenheit die mehr<br />
klassisch elegante Seite von Neumeiers Stil mit Leichtigkeit und schöner<br />
Balance zur Geltung kommen zu lassen.<br />
Das Ensemble ist mit zahlreichen Aufgaben aus den beiden gegensätzlichen<br />
Welten betraut – zum einen der Gestaltung der Unterwasserwelt<br />
mit magischen Schatten in teils fast punkartigen, in Türkis schillernden<br />
Gewändern, dann aber auch in traditioneller Matrosenkluft und schließlich<br />
als Hochzeitsgesellschaft inkl. Brautjungfern in schicken Haute Couture-Kreationen.<br />
Die Vervollkommnung des Ganzen liefert die in Neumeiers Auftrag eigens<br />
dafür erdachte Komposition der Lettin Lera Auerbach, eine ganz eigenständig<br />
geprägte Musik für großes, aber sehr differenziert aufgefächert<br />
eingesetztes Orchester, bei der man sich dennoch immer wieder ertappt,<br />
z.B. Schostakowitsch, Mahler oder auch Weill zu hören. Besonders aufhorchen<br />
lässt ein sogenanntes Theremin, bei dem Töne nicht durch Berührung,<br />
sondern durch die Bewegung der Hände in einem elektromagnetischen<br />
Feld rund um das antennenartige Instrument entstehen und<br />
dadurch einen geheimnisvollen, allem Menschlichen fremden Klang aufweisen,<br />
wie er der Außenseiter-Funktion der kleinen Meerjungfrau entspricht.<br />
Faszinierend – wie so vieles an diesem komplexen Ballett, für das<br />
die Compagnie viel Jubel erntet und Neumeier mit stehenden Ovationen<br />
gefeiert wird. <br />
Udo Klebes<br />
München:<br />
Bayerisches Staatsballett: „ROMEO UND JULIA“ – 10.11.<br />
(14.30 Uhr):<br />
In der Nachmittagsvorstellung gab es ein interessantes Debut zu erleben:<br />
Ivy Amista tanzte ihre erste Julia. Darauf konnte man deshalb besonders<br />
gespannt sein, weil man bisher doch noch nicht so oft die Gelegenheit<br />
gehabt hatte, diese technisch so souveräne Tänzerin auch einmal in einer<br />
darstellerisch anspruchsvollen Rolle zu sehen. An diesem Nachmittag<br />
zeigte sich dann, dass Ivy Amista auch eine sehr gute Interpretin ist.<br />
Man mochte kaum glauben, dass sie die Partie zum ersten Mal tanzte, so<br />
ausgereift erschien ihr Rollenportrait. Zuerst war sie eine wunderschön<br />
mädchenhafte, aber nicht zu kindliche Julia und entwickelte sich dann<br />
zu einer selbstbewussten Frau, die sich nicht scheut, gegen ihre mächtige<br />
Familie aufzubegehren. Dies alles trug sie mit großem Selbstverständnis<br />
und ohne Manierismen oder übertriebener Theatralik vor. Daneben<br />
beherrschte sie die Rolle auch technisch sehr souverän, von ihrem Ball-<br />
Solo bis zu den schwierigen Pas de deux. Ein rundum gelungenes Debut!<br />
Dass diese Vorstellung etwas Besonderes war, lag jedoch nicht allein an<br />
Ivy Amista, sondern zumindest zu gleichen Teilen an ihrem Partner, Tigran<br />
Mikayelyan. Sein Romeo war ein schwärmerischer, friedliebender,<br />
edler junger Mann, dem die Kämpfe und der Stolz seiner adligen Umwelt<br />
gänzlich fremd sind, der nur seinen romantischen Idealen lebt. So ist es<br />
ihm in der Ballszene fast unverständlich, warum sich die Gäste und natürlich<br />
die Capulets an seiner erwachenden Liebe zu Julia stören, scheint<br />
sie doch für ihn etwas ganz Natürliches zu sein. Selten habe ich in den letzen<br />
Jahren eine so stringente und feinsinnige Interpretation dieses Charakters<br />
gesehen. Großes Kompliment! Dazu kam, dass er Ivy Amista auch<br />
ein sehr guter Partner war, so dass die großen Pas de deux sehr flüssig und<br />
natürlich gelangen und die dramatische Kraft von Crankos Choreographie<br />
voll zum Ausdruck kam.<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 37
Tanzwelt<br />
Das genaue Gegenteil von Mikayelyans schwärmerischem Romeo war der<br />
gut aussehende elegante, jedoch kalte und adelsstolze Tybalt von Matej<br />
Urban. Auch Matej Urban tanzte seine Rolle in dieser Vorstellung zum<br />
ersten Mal. Schade, dass es auch für diese Saison schon wieder das letzte<br />
Mal war, zumindest in München. Man hätte ihm gerne noch bei der weiteren<br />
Entwicklung der Rolle zugesehen. Karen Azatyan war ein übermütiger,<br />
virtuoser Mercutio. Das „Montague-Trio“ wurde von Ilia Sarkisov<br />
als quirligem Benvolio komplettiert. Erik Murzagaliyev machte viel aus<br />
der undankbaren Rolle des Grafen Paris.<br />
Robertas Švernikas leitete das Bayerische Staatsorchester, das nach einiger<br />
„Einspiel-Zeit“ noch zu einer klangmächtigen, dramatischen Interpretation<br />
von Prokofjews herrlicher Musik fand. Insgesamt eine berührende<br />
Vorstellung. <br />
Gisela Schmöger<br />
Bayerisches Staatsballett: „ROMEO UND JULIA“ – 10.11.<br />
abends<br />
„So schön hab ich das noch nie gesehen“, seufzte mein Sitznachbar nach<br />
der überwältigenden Balkonszene in John Crankos „Romeo“-Realisation.<br />
Und in der Tat, da war nichts von Arbeit in dieser so anspruchsvollen, verausgabenden<br />
Szene zu bemerken – nur Liebe, ausgedrückt in edelstem Tanz<br />
und für jedermann verständlicher Körpersprache. Schon vorher ist man gefesselt<br />
wie Lucia Lacarra (Julia) allein „mit den Armen spricht“, geschweige<br />
denn letztlich mit dem gesamten Körper. Das ist schlichtweg faszinierend.<br />
Da sich ihr Partner Marlon Dino (Romeo) in ebensolcher Spitzenverfassung<br />
zeigte, gibt es wirklich nichts zu kritisieren, nur begeistert zu berichten.<br />
Einen brillanten Mercutio brachte Lukáš Slavický auf die Bühne, Javier<br />
Amo war Benvolio, Maxim Chashchegorov Prinz Paris und Cyril Pierre<br />
der bewährt finstere Tybalt.<br />
Robertas Šervenikas ging mit dem Orchester ganz schön in die Vollen,<br />
so dass die Tragik des Stückes dem Zuhörer akustisch manches Mal geradezu<br />
brutal entgegen geschleudert wurde. Dorothea Zweipfennig<br />
Bayerisches Staatsballett: „LA BAYADÉRE“ mit Polina Semionova,<br />
22.11.:<br />
Vom 22.11 bis 5.12. gibt es in München drei verschiedene Besetzungen von<br />
„La Bayadère“ (Choreographie: Marius Petipa, Patrice Bart) zu sehen, mit<br />
drei hochkarätigen Ballerinen in der Hauptrolle: Polina Semionova (22. und<br />
30.11.), Daria Sukhorukova (29.11.) und Lucia Lacarra (3. und 5.12.). Den<br />
Anfang machte am 22.11. Polina Semionova. Sie begeisterte das Publikum<br />
nicht nur mit ihrer technischen Brillanz und ihrem reinen klassischen Stil, sondern<br />
auch mit ihrer beeindruckenden Rollengestaltung. Im 1. Akt war sie die<br />
leidenschaftliche, für ihre Liebe in den Tod gehende Tempeltänzerin, im Schattenakt<br />
dann ätherisch kühl, aber dennoch sehr faszinierend. Ihr Partner als Solor<br />
war – wie auch schon bei ihrem letzen Auftritt als Nikija im März 2013 –<br />
Staatsballett-Solist Maxim Chashchegorov. Er konnte mit seiner feinen und<br />
zugleich intensiven Bühnenpräsenz und seinem eleganten, klassischen Stil sehr<br />
für sich einnehmen. Besonders schön und klar tanzt er das von Patrice Bart für<br />
die Münchner Produktion choreographierte Solo im 1. Bild, das wegen seines<br />
unkonventionellen Bewegungsflusses bei den meisten anderen Tänzern, die bisher<br />
in München den Solor getanzt haben, immer etwas unharmonisch aussah.<br />
Ivy Amista zeigte als Gamzatti ebenfalls eine hervorragende Leistung. Die anspruchsvolle<br />
Partie bereitet ihr keinerlei Schwierigkeiten, so dass sie die Schönheit<br />
und Brillanz dieser Rolle voll zur Geltung bringen kann.<br />
Auch die übrigen Solisten zeigten sich an diesem Abend in sehr guter<br />
Form, etwa Ilia Sarkisov als Goldenes Idol oder Lisa-Maree Cullum,<br />
Ekaterina Markowskaja und Ekaterina Petina in den Schatten-Soli. Das<br />
Corps de Ballet zeigte sich im Schattenakt ebenfalls auf sehr hohem Niveau.<br />
Die erste der drei Alternativ-Besetzungen war in jedem Fall schon<br />
mal ein voller Erfolg und man freut sich schon auf die noch folgenden<br />
Vorstellungen mit anderen, hoffentlich genauso mitreißenden Interpretationen.<br />
<br />
Gisela Schmöger<br />
Düsseldorf: Ballett am Rhein: „b.16“ – 13.10.<br />
Auch Martin Schläpfers 16. Programm beim Ballett am Rhein (in Düsseldorf<br />
und Duisburg) hat wieder eine dreiteilige Struktur, doch folgt diesmal<br />
mit Schläpfers eigener Choreographie „Nacht umstellt“ eine Großform<br />
auf zwei einleitende Miniaturen.<br />
„Afternoon of a Faun”, 1953 UA NYC Ballett, für Düsseldorf einstudiert von<br />
Anita Paciotti, vom Jerome Robbins dauert kaum länger als die dazugehörige<br />
Musik. Claude Debussys sinnliches „Prélude à l’après-midi d’un faun“, von<br />
den Düsseldorfer Symphonikern unter Wen-Pin Chien ist tanzgeschichtlich<br />
und inhaltlich ein hoch dosiertes Konzentrat. Historisch, weil er anspielt auf Vaslav<br />
Nijinskys berühmte Choreographie von 1912 zum selben Musikstück, die<br />
wegen ihrer untergründigen sexuellen Aufladung Skandal machte, inhaltlich,<br />
weil er diesem Stil- und Motivzitat eine zweite, reflektierende Ebene hinzufügt.<br />
Handfester geht es bei Hans van Manens „Without Words“ zu, 2010<br />
für Het Nationale Ballett kreiert, einstudiert von Mea Venema. <strong>Der</strong> Titel<br />
geht zurück auf die Idee des mit van Manen befreundeten Dirigenten<br />
Reinbert de Leeuw zu vier „Mignon-Liedern“ von Hugo Wolf als musikalische<br />
Grundlage. Operndirektor Stephen Harrison spielt am Klavier.<br />
Martin Schläpfers <strong>neue</strong>s Ballett „Nacht umstellt“ greift zu auf Musik zweier<br />
Komponisten, Franz Schuberts „Unvollendete“ ist eingerahmt von Salvatore Sciarrinos<br />
gesten- und geisterhaften Orchesterstücken „Il Suono e il tacere“ und<br />
„Shadow of Sound“ (2004 und 2005). Alle drei Stücke werden live und mit<br />
hoher Ausdrucksintensität von den Düsseldorfer Symphoniker unter Wen-Pien<br />
Chien gespielt. Die Außenschicht sind die 16 Deutschen Tänze D 783 Schuberts<br />
zu einer Aufnahme von Alfred Brendel aus 1988 und dem Männerchor<br />
„Die Nacht“ D 983c 1991 (Rundfunkchor Berlin unter Dietrich Knothe.)<br />
<strong>Der</strong> Abend treibt in die düstere Nacht-Seite der Romantik, ins Zwielicht, in<br />
den Zweifel. Er wird zum Sommernachts-Albtraum, wo einer dem anderen<br />
zum Gespenst wird. Sciarrinos sparsame, klagende und kratzige Musik wirkt<br />
wie eine Lupe, unter der die Gefühle des Verlassen seins zum Vorschein kommen.<br />
Im ganzen Ensemble wirkt die drahtige Marlúcia do Amaral wie die<br />
einzige, die nicht der Macht dieser Musik unterliegt, sondern sie zu bezwingen<br />
vermag. Mit energischen, blitzartigen Bewegungen wie eine Zauberin verscheucht<br />
sie schließlich Sciarrino und schafft Raum für die „Unvollendete“.<br />
Die aber erscheint fast wie eine Fortsetzung des Sciarrinoschen Nachtstücks.<br />
Es entfalten sich zwar Melodien, doch wirkt Schuberts Musik plötzlich<br />
eigenartig unberechenbar. In einem langen Solo reckt sich Yuko Kato<br />
immer wieder gen Himmel und wird von unsichtbarer Hand immer wieder<br />
heruntergedrückt. Anne Marchand geistert wie eine verstörte Giselle<br />
über die Bühne, mit starrem Blick in die Ferne und verliert ihren Partner<br />
Jackson Carroll aus den Augen. Höhepunkt des Spukhaften ist, wenn<br />
zu den kurzen Fortissimopassagen des langsamen Satzes fast die gesamte<br />
Bühnenmannschaft wie ein stampfendes Menschenknäuel vorbeizieht.<br />
Schubert gleitet wieder zurück in Sciarrino, und Marlúcia do Amaral hat<br />
am Ende noch größere Mühe, die bösen Geister zu verscheuchen. Am Ende<br />
bleibt sie übrig – mit Bruno Narnhammer und Bogdan Nicula, dem als einzigem<br />
die Nachtstimmungen nie so recht etwas anhaben konnten, zu Schuberts<br />
Männerchor-Vertonung „Die Nacht“. Ein wenig mehr lüftet sich die<br />
von Bühnenbildner Florian Etti entworfene dunkle Hinterwand, in der zuvor<br />
nur einzelne Risse den Blick auf das dahinter liegende Blau freigaben.<br />
Hinaus freilich kommt niemand aus dem Dunkel. Andreas Hauff<br />
Kaiserslautern: „DER PAGODENPRINZ“<br />
– 19.10.<br />
Indem es John Crankos und Benjamin Brittens Ballett „<strong>Der</strong> Pagodenprinz“<br />
(„The Prince of the Pagodes“) auf den Spielplan bringt, setzt das<br />
Pfalztheater in Kaiserslautern noch einmal einen besonderen Akzent<br />
zum Britten-Jahr. Das abendfüllende Werk, 1957 vom Royal Ballett in<br />
Covent Garden uraufgeführt, ist ein Stiefkind der Bühnen. Warum, lässt<br />
sich nach der Kaiserslauterner Aufführung und einiger begleitender Lek-<br />
38 | DER NEUE MERKER 12/2013
Tanzwelt<br />
türe schnell erschließen. Das Szenario ist wenig originell: „Das bekannte<br />
Cranko-Medley von Märchenmotiven zwischen ‚Aschenbrödel’ und ‚La Belle<br />
et la Bête’, mit einer Prise ‚König Lear’ und ‚Turandot’.“ (So der Ballett-Kritiker<br />
Horst Koegler in einer zornigen Rezension der Straßburger Fassung<br />
von Bertrand d’At 2002.) Schon die Namen der beiden weiblichen Hauptrollen,<br />
Belle Epine (Schöner Dorn) und Belle Rose (Schöne Rose) führen<br />
die Handlung unweigerlich ins Klischee. Dass der Choreograph Kenneth<br />
McMillan für eine Neuinszenierung 1989 am Royal Ballett zusammen<br />
mit dem Schriftsteller Colin Thubron eine psychologisch vertiefte Version<br />
entwickelte, half der Rezeption auch nicht auf. Dabei gab sich Benjamin<br />
Britten bei der Komposition viel Mühe, einen fernöstlichen Tonfall<br />
zu finden und unternahm dafür 1956 sogar eine Studienreise nach Bali.<br />
Das berühmte, doch zu selten aufgeführte Britten-Ballett ist wieder im Repertoire<br />
Und er weigerte sich zeitlebens, einer Kürzung seiner Musik zuzustimmen.<br />
In Kaiserslautern erleben wir nun den „Pagodenprinzen“ als Kammerspiel-<br />
Version auf der Werkstattbühne in einer um eine Stunde auf ca. 90 Minuten<br />
gekürzten Version. Die Musik kommt vom Band – wie die Nachfrage<br />
ergab, in einer Aufnahme mit dem BBC Symphony Orchestra unter Leonard<br />
Slatkin. In zwei Szenen (Luft und Wasser) hat Ballettdirektor Stefano<br />
Giannetti zudem die Musik gestrichen und stattdessen Geräusche<br />
unterlegt. So kommt man also leider um die Chance, ein großes Orchester<br />
mit sechs balinesisch agierenden Schlagzeugern zu erleben. Für die<br />
kleine Lösung sprechen dennoch zwei Argumente: Das aufwändige Originalszenario<br />
hätte die kleine Kaiserslauterner Ballettkompanie personell<br />
überfordert – und es hätte unweigerlich die Erwartung nach einer repräsentativen<br />
Ausstattung à la „Land des Lächelns“ befördert. So aber bietet<br />
sich die Chance, dem Klischee zu entkommen.<br />
In seiner Choreographie folgt Giannetti in den Grundzügen der von<br />
Cranko entworfenen Handlung. Einige Nuancen scheinen von McMillan<br />
entlehnt. Im Reich der Mitte erwartet der amtsmüde Kaiser (Chris<br />
Kobusch) vier Könige; mit einem von ihnen will er seine ältere Tochter<br />
Belle Epine (Laure Courau) verheiraten. Diese fängt Feuer für den vor<br />
Männlichkeit strotzenden König des Südens (Salvatore Nicolosi). <strong>Der</strong><br />
aber entfernt sich, ohne um ihre Hand angehalten zu haben. Da erscheint<br />
ein Bote des Pagodenprinzen mit einem Kästchen. Belle Epine vermag es<br />
nicht zu öffnen, allerdings ihre jüngere Schwester Belle Rose (Gabrielle<br />
Limatola), die nun mit dem Boten (wiederum Salvatore Nicolosi) durch<br />
die Elemente Luft, Wasser und Feuer ins geheimnisvolle Land des Prinzen<br />
reist. Ein faszinierender Salamander entpuppt sich als der verwandelte<br />
Pagodenprinz (Kei Tanaka). Die beiden verlieben sich. In der Heimat<br />
hat inzwischen Belle Epine die Macht an sich gerissen und den Vater<br />
eingekerkert. Belle Rose kehrt in Begleitung des Prinzen zurück. Sie befreien<br />
den Vater, der gerne in die Eheschließung einwilligt, und setzen<br />
Belle Epine ab. Dieser verzeiht der Kaiser und vermählt sie mit dem König<br />
des Südens, der sich inzwischen entschlossen hat. Ausgiebig wird die<br />
Doppelhochzeit begangen.<br />
Vor einem blau leuchtenden Horizont beschränkt sich das Bühnenbild<br />
von Julia Buckmiller und Barbara Kloos auf ein Gestell, dessen Stangen<br />
mehrere Quader andeuten. Das reicht tatsächlich, um den kaiserlichen Palast<br />
mit Zimmern, Balkonen und Verlies zu erkennen. Alle weiteren Szenarien<br />
ergeben sich aus der Bewegungskunst der Darsteller. Weiß gekleidet<br />
sind die Normalsterblichen, grün der geheimnisvolle Prinz, blau und<br />
rot die Darsteller von Wasser und Feuer. <strong>Der</strong> Tanz ist fast ganz im klassischen<br />
Stil gehalten; allerdings haben Giannetti<br />
und sein Ensemble enorme Sorgfalt darauf verwendet,<br />
jede einzelne Rolle und jede Szenenfolge<br />
charakteristisch zu gestalten – bei zahlreichen<br />
Doppelrollen eine besondere Herausforderung.<br />
Pfalztheater-Dramaturgin Tanja Herrmann hat<br />
durchaus Recht, wenn sie im Programmheft ausführlich<br />
von dem faszinierender tänzerischen Ergebnis<br />
dieser Detailarbeit schwärmt. (Allerdings<br />
meine ich, dass das nicht ihre Kernaufgabe ist<br />
und sie eher über das wenig bekannte Stück hätte<br />
informieren sollen.)<br />
Eine deutliche dramaturgische Schwäche ist die<br />
Rückkehr Belle Roses an den Kaiserhof. Eine<br />
kleine Geste des Pagodenprinzen genügt, um<br />
die Usurpatorin zum Verzicht zu bewegen und<br />
den Kaiser zu befreien. Gerade im Verhältnis zu<br />
den ausufernden, in der Auftrittsfolge aber sehr<br />
geschickt gestaffelten Hochzeitsfeierlichkeiten<br />
müsste die Überwindung des Bösen auch als<br />
Anstrengung deutlich werden. Britten orientiert<br />
sich bei den repräsentativen Abschluss-Tänzen<br />
anscheinend an den neoklassizistischen Ballettmusiken<br />
von Sergej Prokofjew, ohne dabei auf<br />
eigene Akzente zu verzichten. Besonders auffallend<br />
ist ein Art Walzer, der mehr im geraden als im Dreiertakt steht. Da<br />
fragt man sich, wie viel an Parodie oder Ironie in der Partitur steckt und<br />
ob nicht auch die Choreographie stärker ironische Züge tragen könnte.<br />
Giannetti nimmt sie über weite Strecken sehr ernst. Bei den vier Bewerbern<br />
um Belle Epine gönnt er sich karikierende Momente. Für den alten<br />
Kaiser aber hat er eine wenig elegante, groteske Bewegungssprache entwickelt.<br />
Wie Chris Kobusch am Ende die Hochzeitsleute wegschickt und<br />
– froh, wieder seine Ruhe zu haben – sich mit aufgestütztem Kopf vorne<br />
auf den Bühnenboden setzt, ist dann doch sehr witzig. Andreas Hauff<br />
Ludwigsburg: Gastspiel des Ballett Zürich<br />
„WOYZECK“ – 27.11. – Mit wenig Neuem viel erreicht<br />
Zürichs Ballettdirektor Christian Spuck hat Georg Büchners Drama<br />
2011 für das Norwegische Nationalballett in Oslo für den Tanz adaptiert.<br />
Nun hat er es passend zum 200. Geburtstags des in Zürich gestorbenen<br />
und begrabenen Dichters mit seiner eigenen Compagnie einstudiert und<br />
damit im Rahmen der begehrten Tanzreihe des Ludwigsburger Forums<br />
für 2 Vorstellungen in der Nähe seiner alten Heimat gastiert.<br />
Genauso knapp wie das Drama des jung verstorbenen revolutionären<br />
Schriftstellers als damals sehr modern anmutend entworfen ist, hat Spuck<br />
die Übertragung auf die tänzerische Ebene vorgenommen. In 80 pausenlosen<br />
Minuten richtet sich der Blick konzentriert aufs Wesentliche.<br />
Wer von ihm dabei eine Entwicklung oder gar Veränderung seiner Stilmittel<br />
erwartet hatte, wurde enttäuscht, greift der ehemalige Stuttgarter<br />
Hauschoreograph doch auf seine mehr oder weniger bewährten Me-<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 39
Tanzwelt<br />
taphern zurück. Angefangen bei der spartanisch ausgerichteten Bühne,<br />
in deren Mitte sich eine geschwungene halbhohe Wand für die schnellen<br />
Szenenwechsel dreht und mal ein Miniatur-Dorf mit Fachwerkhäuschen<br />
als Verortung des Geschehens oder ein paar Tische zu sehen sind.<br />
Die Einbeziehung letzterer wie auch von Stühlen in den choreographischen<br />
Aufbau wirkt inzwischen doch etwas abgegriffen, weil die Figuren<br />
und die damit verbundenen Bewegungsmuster doch zu sehr vielen Vorgänger-Arbeiten<br />
gleichen und keine werk-spezifische Verwendung mehr<br />
bedeuten. Optisch erinnert vieles an seine einige Jahre zuvor entstandene<br />
„Leonce und Lena“-Choreographie, quasi als tragisches Spiegelbild zum<br />
absurd ironischen Lustspiel Büchners.<br />
Nicht nur die die gesellschaftliche Norm verkörpernden Tanzpaare als Gegenbild<br />
zu den Bauern aus der Komödie, auch die Uniformen und Zylinder,<br />
die weitgehend schwarz-graue Ausrichtung der Kostüme (Emma<br />
Ryott) sowie auch der eckige, vielfach abgewinkelte Einsatz der Arme wurden<br />
von Spuck schon vielfach angewandt.<br />
Die Doppelbödigkeit der Charaktere zwischen Täter- und Opfer-Funktion<br />
sowie zwischen der Kreatur Woyzeck, Marie und ihren Demütigen<br />
kommt sowohl im Tanz als auch in der raffinierten Einbeziehung verschiedener<br />
Musik-Auswahlen zum Vorschein. Alfred Schnittke, György Ligeti,<br />
Phillip Glass, Bach und der beständig mit elektronischen Möglichkeiten<br />
arbeitende Komponist Martin Donner stehen für eine Vielfalt zwischen<br />
passenden Jahrmarkts-/Spieldosenklängen, live erfolgender Trommelwirbel,<br />
originell verfremdeten Polkas und Walzern sowie brillante Höhepunkte<br />
aufbauender Film-Musik. Schade nur, dass der Orchesterpart den Gastspiel-<br />
Umständen geopfert werden und eine Band-Aufzeichnung herhalten musste.<br />
Aber auch ohne das klangliche Live-Erlebnis setzte das Geschehen Emotionen<br />
frei, ließ einen, wie es auch Büchner beabsichtigt hatte, mit Woyzecks<br />
Ohnmacht mittrauern. Speziell in den Szenen mit Marie hebt die Choreographie<br />
zu Höhenflügen großzügigen Ballett-Vokabulars ab, während den<br />
holzschnittartigen, Karikaturen gleichenden Figuren der Peiniger entsprechend<br />
eckigere, mechanische Bewegungen zugeordnet sind.<br />
Im Falle der Titelrolle hat Spuck auf einen für diese Rolle ungewöhnlich<br />
jungen Tänzer gesetzt und Recht behalten. <strong>Der</strong> große schmächtige Belgier<br />
Jan Casier identifiziert sich total mit dem geschundenen und von seiner<br />
Umwelt getriebenen Soldaten bis in die kleinsten Partikel seines meist dicht<br />
am Körper und Kopf entlang gehaltenen Bewegungs-Kanons, der bereits<br />
in seinem ersten Auftritts-Solo in komprimierter Form vorgeführt wird.<br />
Wie befreit, von einem Funken Hoffnung getragen, agiert er in den Szenen<br />
mit Marie, die mit der Ex-Stuttgarterin Katja Wünsche sehr aufrichtig besetzt<br />
ist, mit einer Mischung aus Reife und Losgelassenheit. Dabei macht<br />
sie spürbar, dass sie die Armut des Geliebten weg von ihm in die Arme des<br />
Frauen imponierenden Tambourmajors treibt, der ihr Ohrringe schenkt, die<br />
dann Woyzecks Eifersucht bis zur wahnhaften Obsession steigern. Ihre tragische<br />
uneheliche Beziehung, gekettet durch den gemeinsamen Sohn, gipfelt<br />
in der musikalisch formidabel umhüllten Ermordung Maries unter einer<br />
angestrahlten Wasser-Gischt. Selbst da ergreift der Choreograph noch<br />
Partei für den ausweglosen Mörder, was auf der anderen Seite noch durch<br />
den sehr viel Sympathie ausstrahlenden Belgier unterstützt wird.<br />
In die Begeisterung wurde auch das weitere Ensemble und Christian<br />
Spuck selbst einbezogen, besonders der einstige Stuttgarter Publikumsliebling<br />
William Moore für seinen herrlich gockelhaften und athletisch<br />
stolzen Tambourmajor. Passende Profile hatten auch Christian Alex Assis<br />
als Hauptmann, Manuel Renard als Doktor, Filipe Portugal als Professor,<br />
Ty Gurfein als Andres und Galina Mihaylova als Margret. Udo Klebes<br />
Györ:„EIN SOMMERNACHTSTRAUM“ –<br />
16.11.<br />
Ein typischer Novembertag – nasskalt, sehr nebelig – verlockte dennoch<br />
zum Abstecher zu sommerlichen Reminiszenzen im Nationaltheater in<br />
Györ zur <strong>neue</strong>sten Ballettproduktion (Premiere war am 19.10.): „Ein Sommernachtstraum“<br />
in der Choreographie von Youri Vamos. Die Uraufführung<br />
von diesem Stück gab es bereits 1995 im Theater Basel.<br />
Die Intention des Choreographen ist es, vor allem klassische Ballettthemen<br />
in <strong>neue</strong>r Fassung und teilweise veränderter Handlung zu erschaffen.<br />
In seiner Version des Shakespeareschen Liebesverwirrspiels wird das neckische<br />
Treiben durch 2 Kobolde – Puck und Robin – durcheinandergewirbelt;<br />
lässt er die Irrungen statt in dezent-ästhetischer Andeutung in<br />
derb-deftiger Manier stattfinden. Es gibt viel Slapstick und viel Pantomime;<br />
aber auch schön getanzte Corps de ballet-Szenen in Gruppenformation.<br />
Als Mittel zum Liebeszauber kommt statt einer Wunderblume<br />
ein Glitzerhandschuh á la Michael Jackson zum Einsatz.<br />
Kostümmäßig ist die reale Handlung aus dem antiken Griechenland in die<br />
Jetztzeit versetzt; die Bühnenausstattung ist gut gelungen und lässt durch<br />
einfaches und praktikables Umdrehen der Büsche den raschen Wechsel vom<br />
Zauberwald in die Realität zu. Die Feenwelt ist durch silber- bzw. grünglänzende<br />
Ganzkörpertrikots gekennzeichnet; die Handwerker tragen Lederhosen<br />
– sogenannte „Krachlederne“, während bei den Liebespaaren die Mädchen<br />
in duftigen Blümchenkleidchen die Männer becircen, die in Hemd,<br />
Hose und Gilet durch entsprechende Farbgebung die Pärchenzusammengehörigkeit<br />
dokumentieren. Musikalisch kommen neben der eigentlichen<br />
Sommernachtstraum-Musik (aus der Konserve) noch andere Kompositionen<br />
von Felix Mendelssohn-Bartholdy zum Einsatz. Die beiden Liebespaare<br />
sind es auch, die durch Lebensfreude, unbeschwerte Fröhlichkeit und<br />
intensives Ausdrucksspiel am besten gefallen: Melinda Berzéki (Helena)<br />
und Krisztián Horváth (Demetrius) sowie Tatjana Shipilova (Hermia)<br />
und Artem Pozdeev (Lysander) finden letztendlich zueinander.<br />
Die beiden Schabernack treibenden Kobolde sind bei Daichi Uematsu<br />
(Puck) und Tamás Szanyi (Robin) bestens aufgehoben. Souverän über<br />
allem steht Balázs Pátkai als Feenkönig Oberon, ihm zur Seite Georgina<br />
Szendrei als hoheitsvolle Feenkönigin Titania, die sich durch den eingesetzten<br />
Zauber in den Esel verliebt – Bálint Sebestyén verkörpert selbigen.<br />
Dem Publikum im ausverkauften Haus hat es gut gefallen – viel Applaus<br />
bei dieser Repertoirevorstellung! <br />
Ira Werbowsky<br />
Buch / STUTTGARTER BALLETT-ANNUAL<br />
Ein traditioneller und immer schon sehnsüchtig erwarteter Band: Im Stuttgarter<br />
Ballett Annual. Hg. vom Stuttgarter Ballett und der John Cranko Gesellschaft<br />
(ISBN978-3-9814688-1-6) stehen diesmal die Spielzeiten 2011/12 und 2012/13<br />
im Fokus. Auf 200 Seiten findet sich alles Wissenswerte und Informative aus den vergangenen<br />
beiden Saisonen über die weltberühmte Ballettcompagnie. Wie gewohnt<br />
und bewährt, ist auch dieser Band mit unzähligen wunderschönen Farbfotos versehen<br />
– darunter wird natürlich dem Abschied von Christian Spuck, Katja Wünsche<br />
und William Moore sowie Alexander Zaitsev ebenso ausgiebig Raum gewidmet<br />
wie dem Jubiläum zu 50 Jahren „Romeo und Julia“. Als Bildimpressionen festgehalten<br />
sind auch die Gastspiele in Japan, Korea, China und zuletzt Moskau. Im Betrachten<br />
der Fotos fühlt man sich wie mitten drin in diesen lebhaften Geschehnissen<br />
– wunderbare Momente sind für die Ewigkeit festgehalten. Auch die Nachrufe<br />
auf die beiden wesentlichen Persönlichkeiten der aktuellen Ballettgeschichte finden<br />
sich im Annual: auf den unvergleichlichen Welttänzer Richard Cragun und auf den<br />
Ballettpapst Horst Koegler.<br />
Um der Bedeutung der international sehr renommierten Balletttruppe Rechnung<br />
zu tragen, sein alle Beiträge natürlich sowohl auf deutsch als auch auf englisch abgedruckt.<br />
Neben dem Vorwort des Ballettintendanten Reid Anderson gibt es auch<br />
ein ausführliches Interview mit ihm; ein Grusswort der John Cranko Gesellschaft<br />
und einen Artikel über selbige findet sich ebenso im Buch. Als Portraits werden die<br />
Tänzer Hyo-Jung Kang, Alexander Jones, Myriam Simon und Arman Zazyan sowie<br />
der <strong>neue</strong> Stuttgarter Hauschoreograph Demis Volpi vorgestellt. Die Spielzeitberichte<br />
rufen nochmals die vergangenen Highlights in Erinnerung. <strong>Der</strong> Beitrag über<br />
40 Jahre John Cranko Schule widmet sich dem Jubiläum der außergewöhnlichen<br />
Talenteschmiede. Vor den Vorhang geholt werden diesmal auch diejenigen, die für<br />
die gelungenen Aufführungen zuständig sind: die Ballettmeister. Ohne deren unermüdliche<br />
Arbeit im Hintergrund würde keine Vorstellung stattfinden können. Weiters<br />
wird die Initiative Stuttgarter Ballett JUNG vorgestellt – das Programm für<br />
die Jugend, das Angebot für Schulklassen und Familien. Den Abschluss bilden die<br />
Auflistung aller Compagnie-Mitglieder und vom Leading Team samt Portraitfotos<br />
und die Übersicht über die Vorstellungen (darunter alle Premieren und Wiederaufnahmen)<br />
mit den Besetzungen sowie anderen Veranstaltungen mit dem Stuttgarter<br />
Ballett bzw. der John Cranko Schule. Die Beiträge stammen von Nikolai Forstbauer,<br />
Claudia Gass, Andrea Kachelrieß, Udo Klebes, Hartmut Regitz, Angela<br />
Reinhardt, Kristina Scharmacher und Gary Smith. Eine wunderschön aufbereitete,<br />
sehr umfassende Dokumentation einer großartigen Ballettcompagnie – ein absolutes<br />
Muss für jeden Ballettinteressierten. <br />
Ira Werbowsky<br />
40 | DER NEUE MERKER 12/2013
Deutschland<br />
Berlin:<br />
Oper International<br />
Deutsche Oper: Verdi, Verdi, Verdi…<br />
„Don Carlo“ – 31.10.<br />
Diese Aufführung war des großen Verdi-Jubiläums 2013 absolut würdig. Hier<br />
brillierten nicht nur zwei Stars. Alle Mitwirkenden sorgten dafür, dass der<br />
Abend das Publikum zu Beifallsstürmen hinriss. Donald Runnicles am Pult<br />
des ausgezeichneten Orchesters war ein überlegener, temperamentvoller Leiter<br />
der Aufführung und gleichzeitig ein aufmerksamer Begleiter der Sänger, bei<br />
denen natürlich an erster Stelle die beiden starken Frauen des Abends standen.<br />
Anja Harteros, die ich leider jetzt erst in der Partie der Elisabeth von Valois<br />
erleben konnte, ist einfach überwältigend in ihrer Vollendung, mit<br />
der sie alle Facetten dieser leidenden Frau zur Geltung bringt, denn sie hat<br />
neben ihren engelhaften Piano-Tönen die dramatische Kraft, mit der sie<br />
auch ohne den Fontainebleau-Akt die Standhaftigkeit und Opferbereitschaft<br />
der unglücklich liebenden Frau in der Fremde verständlich macht.<br />
Ein stimmlicher Höhepunkt war dabei natürlich die große Arie im Schlussbild.<br />
Violeta Urmana, hier wieder im Mezzo-Fach (sie sang ja auch die<br />
Amneris in Verona) war eine Eboli der stürmischen Leidenschaft, für die<br />
sie fulminant ihre stimmlichen Mittel schonungslos einsetzte, wobei gelegentliche<br />
Schärfen in der Höhe überhaupt nicht störten.<br />
Neben diesen beiden großartigen Sängerinnen wurde Hans-Peter König<br />
stürmisch gefeiert als starker, zupackender Philipp II. mit großer Stimme,<br />
dem man allerdings die quälenden Zweifel, auch in der großen Arie, kaum<br />
anmerkt. Paata Burchuladze sang den Großinquisitor mit fahler, dunkler<br />
Stimme und war in der Darstellung ein überzeugend unerbittlicher Kirchenfürst.<br />
Die beiden jungen Rebellen waren bei Russell Thomas in der<br />
Titelpartie und Dalibor Jenis als Posa bestens aufgehoben. <strong>Der</strong> amerikanische<br />
Tenor mit seinem schönen Timbre sang und spielte den verzweifelten<br />
Infanten sichtbar noch ohne jede Routine sehr eindringlich und berührend.<br />
Die dramatische Stimme von Dalibor Jenis hatte schon in der<br />
konzertanten „Attila“-Aufführung beeindruckt, und auch hier überzeugte<br />
er als leidenschaftlicher Streiter für Gerechtigkeit.<br />
Die kleineren Partien waren ebenfalls durchweg ausgezeichnet besetzt.<br />
Erwähnt seien hier Alexandra Hutton als quicklebendiger Tebaldo, Slobhan<br />
Stagg mit ihrem glockenhellen Sopran (sie ist bereits als Waldvogel im<br />
„Siegfried“ sehr angenehm aufgefallen) im Autodafé als eine junge Frau,<br />
der man das Kind nimmt – eigentlich ja die Stimme von oben), sowie<br />
Tobias Kehrer, der nicht nur einen der flandrischen Deputierten sang,<br />
sondern auch mit schöner, klarer Stimme die Partie des Mönchs, der Don<br />
Carlo hier nicht vor dem Tode retten kann. Das Publikum war hörbar begeistert<br />
von diesem mitreißenden Opernabend, an dessen Gelingen auch<br />
der großartige Chor wieder führend beteiligt war.<br />
„Falstaff“ – Pr. 17.11.<br />
Ja, das Leichte ist oft schwieriger als das Schwere. Christof Loy, der mit<br />
seiner „Jenůfa“ sehr erfolgreich war, konnte mit Verdis Spätwerk weniger<br />
überzeugen. Dass man ihm allerdings vorwirft, sich wie einige andere Regisseure<br />
auf Verdis Casa di Riposo, das berühmte Mailänder Altersheim<br />
für bedürftige Künstler, zu beziehen, halte ich für absolut ungerecht, denn<br />
dieser Bezug bietet sich gerade für ein Werk an, bei dem es um das Altern<br />
geht. Da jeder auf seine Weise mit dem Thema umgeht, ist das kein<br />
Plagiat. Die Einleitung mit dem Kurzfilm über das Leben in der Casa di<br />
Riposo (gedreht in einem beliebten Berliner Künstlerhotel, das jetzt seinen<br />
Betrieb einstellen muss – und es erklingt „Quand’ero paggio“ mit der<br />
Stimme von Verdis Falstaff Victor Maurel) hat durchaus Charme und<br />
die Überleitung zur Bühne mit rotem hinteren Vorhang war gelungen.<br />
Vor diesem Vorhang wurden dann in aller Eile die jeweils benötigten Requisiten,<br />
sogar ein riesiger aufklappbarer Bücherschrank, auf die leere<br />
Bühne gebracht (Bühne: Johannes Leiacker). Auch der Wirbel, wenn die<br />
alten Menschen blitzschnell sich ihrer Perücken und Oberkleider entledigten<br />
und darunter ohne jedes Gebrechen die Sänger der Oper zum Vorschein<br />
kamen, entsprach weitgehend dem Wirbel der Handlung und der<br />
Musik. Leider wurde dieser schnelle Wechsel von alt zu jung und umgekehrt<br />
mitunter zu einem übertriebenen Durcheinander. Bei Falstaff kam<br />
noch hinzu, dass auch der Bauch jeweils abgeschnallt wurde, danach<br />
zeigte sich ein fast noch jugendlicher kräftiger Mann, der so gar nicht<br />
dem alternden Haudegen entsprach, den Verdi hier portraitierte. Dieses<br />
Manko wurde noch dadurch verstärkt, dass Noel Bouley, ein Stipendiat<br />
des Förderkreises der Oper, der für den erkrankten Markus Brück einsprang,<br />
auch nicht das stimmliche Format für diese Rolle hatte. Über das<br />
Bemühen kam der junge amerikanische Bassbariton mit seiner angenehmen<br />
Stimme leider nicht hinaus.<br />
Das weitere Ensemble konnte immerhin sehr solide Leistungen bieten –<br />
Michael Nagy war der temperamentvolle eifersüchtige Ehemann Ford,<br />
der auch stimmlich überzeugte, Barbara Havemann und Jana Kurucová<br />
sangen die spielfreudigen Damen, die sich für die Annäherungsversuche<br />
Falstaffs rächen wollten. Als Mrs. Quickly präsentierte sich Dana<br />
Beth Miller mit tiefen Tönen und als Sexbombe, später als Hexe verkleidet.<br />
Thomas Blondelle (Doktor Cajus), Gideon Poppe (Bardolfo) und<br />
Marko Mimica (Pistoia) konnten da sehr gut mithalten. Herausragend<br />
aus diesem Ensemble waren mit ihren schönen Stimmen die beiden jungen<br />
Liebenden Nannetta (Elena Tsallagova) und Fenton (Joel Prieto).<br />
In den ersten beiden Akten war vieles überdreht, was sicher auch dazu<br />
führte, dass es musikalisch mitunter zu Ungenauigkeiten kam. Andererseits<br />
liegt diese Art der Komposition dem Dirigenten Donald Runnicles<br />
doch weniger als die Werke der großen Dramatik und der symphonischen<br />
Breite. Doch trotz vieler Unzulänglichkeiten kamen diese beiden<br />
Akte dem Werk wesentlich näher als der 3. Akt nach der Pause, denn da<br />
wurde aus den stimmungsvollen Szenen eine mondäne Großveranstaltung,<br />
bei der die musikalische Poesie Verdis weitgehend auf der Strecke<br />
blieb. Am Schluss, nachdem sie wieder in ihr Altersdasein zurückgekehrt<br />
waren, konnten alle Mitwirkenden den freundlichen Beifall des Publikums<br />
entgegennehmen.<br />
„Macbeth“ – 21.11.<br />
Auch dieser Abend zeigte eindrucksvoll die musikalische Vielfalt des großen<br />
Komponisten, den wir gerade wegen eines Jubiläums feiern, obwohl<br />
keine Jahreszahl nötig wäre, sein Genie dankbar zu genießen, was ja zum<br />
Glück auch seit langer Zeit weltweit geschieht.<br />
<strong>Der</strong> Dirigent Paolo Arrivabeni bemühte sich erfolgreich, die vielen Aspekte<br />
dieser Shakespeare-Nachdichtung mit Leben zu erfüllen, und das<br />
Orchester folgte ihm dabei großartig.<br />
Bei den Sängern gab es zwei interessante Neubesetzungen. Liudmyla Monastyrska,<br />
die in der Philharmonie beim konzertanten „Attila“ bereits<br />
stürmisch gefeiert wurde, konnte auch hier durch ihre überwältigende<br />
Dramatik und den Umfang ihrer Stimme das Publikum zur Begeisterung<br />
hinreißen. Besonders eindrucksvoll ist es, dass sie auch die leisen Töne<br />
makellos beherrscht, so dass vor allem die Wahnsinnsszene zu einem Höhepunkt<br />
der Aufführung wurde. Simon Keenlyside, hier bisher vor allem<br />
als Konzertsänger bekannt, erfüllte die Titelpartie mit Leben, obwohl<br />
das in der hiesigen Inszenierung mit den Machtspielen eines autoritären<br />
Staates nicht ganz einfach ist. Bei Keenlyside war der Zwiespalt zwischen<br />
Amtsmissbrauch und Machtanspruch stets sichtbar, auch die Abhängigkeit<br />
von seiner Frau machte er gut verständlich. Hinzu kam seine großartige<br />
stimmliche Leistung, so dass kein Wunsch offen blieb. Die Besetzung<br />
des Banquo machte an diesem Abend Schwierigkeiten, da Ante Jerkunica<br />
ganz kurzfristig erkrankte, aber in der Lage war, die Partie auf der<br />
Bühne zu spielen. Daher gab es wieder einmal die Notlösung, dass auf<br />
der Bühne stumm agiert wurde, während am Bühnenrand Marco Mi-<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 41
Deutschland<br />
mica im Frack am Notenpult sang. Großen Beifall erhielt Yosep Kang<br />
als Macduff mit seiner wunderschönen Arie, auch zusammen mit Clemens<br />
Bieber in dem kurzen Duett der beiden Tenöre. Bei den kleinen<br />
Partien war besonders Fionnuala McCarthy als Kammerfrau und Erscheinung<br />
herausragend, obwohl sie in den Ensembles neben Liudmyla<br />
Monastyrska kaum eine Chance hatte, zur Geltung zu kommen. Dieses<br />
Problem hatten die eindrucksvollen Chöre unter William Spaulding<br />
überhaupt nicht, waren sie doch auch bei dieser Verdi-Oper die Garanten<br />
für die Kraft und Wirkung der Musik, sowohl in allen großen Ensembles<br />
als auch bei dem wunderbaren Chor der Flüchtlinge und nicht<br />
zuletzt als lebhafte Hexen der tollen Putzkolonne. Dafür wurden sie<br />
am Schluss ebenso begeistert gefeiert wie die Solisten dieses großartigen<br />
Abends. <br />
Käthe Wegler-Heinze<br />
Klar, dass sie auch klangschön sterben kann, so schön, dass das Publikum<br />
fast das Husten vergisst.<br />
Ein Einspringer – Gaston Rivero – gibt den Troubadour Manrico. In den<br />
leisen, lyrischen Passagen klingt sein Tenor ansprechend, verliert aber im<br />
Forte an Farbe. Gut gelingen ihm stimmlich die Szenen mit seiner Zigeunermutter<br />
Azucena. Die – Marina Prudenskaya – war mit ihrem satten<br />
Mezzo in Wien ebenso hoffentlich genau so großartig wie jetzt in Berlin.<br />
Zum Schluss erhält sie fast ebenso viel Applaus wie Anna!<br />
Und nun zu Plácido Domingo, dem ergreifenden Simone Boccanegra<br />
in 2009 und 2012 am gleichen Haus. Noch immer ist er voller Bühnenpräsenz<br />
und Spieleifer, doch ganz so überzeugend gelingt ihm diese <strong>neue</strong><br />
Baritonrolle nicht. Bei der Schilderung seiner Besessenheit für die (nicht<br />
Staatsoper: „IL TROVATORE“ – Premiere in Starbesetzung<br />
– 29.11.<br />
„‚Il Trovatore‘ ist ein Emotionsgewitter“, hat Regisseur Philipp Stölzl gesagt,<br />
aber auch eingeräumt, dass er den Inhalt erst nach mehrfachem Lesen<br />
verstanden hätte. Tatsächlich ist der sonderbar sprunghaft und nicht<br />
immer logisch.<br />
Die Story bloß nicht zu ernst nehmen – ist daher erkennbar Stölzls Devise.<br />
Also inszeniert er dieses durchaus so von Verdi gewünschte Schauermärchen<br />
– angesiedelt im mittelalterlichen Spanien – als einen frühen<br />
Comic, stellt aber das Geschehen auf eine zunächst völlig karge Schräg-<br />
Würfel-Bühne (erdacht von Conrad Moritz Reinhardt und ihm selbst).<br />
Musikliebhaber, die diese Inszenierung bereits in Wien gesehen haben, werden<br />
sich sicherlich an manche Details erinnern. So an Hauptmann Fernando,<br />
der – auf den Zehenspitzen tänzelnd – seiner rhythmisch swingenden<br />
Zylindersoldatentruppe die haarsträubende Geschichte von Prinzenraub, Zigeunerin-<br />
und Baby-Verbrennung zu Gehör bringt (Adrian Sâmpetrean).<br />
Sie werden sich auch an die Reifröcke erinnern, in denen die Damen<br />
durchs Geschehen kreisen wie Püppchen auf einem Spieluhrset (Kostüme<br />
Ursula Kudrna). Sicherlich haben auch viele über die altertümliche<br />
Kanone geschmunzelt, die mit einem gewaltigen Krachbumm ein<br />
Kampfgetümmel karikiert.<br />
Andere sehen vielleicht noch den Grafen Luna vor sich, der in dunkler<br />
Nacht seinen Rivalen Manrico mordlüstern umschleicht. Angetan mit<br />
Kapuze und Henkersbeil, das Leonora ihm zu entwinden versucht. Dem<br />
Filmemacher Stölzl ist vieles eingefallen, Lustiges, Sarkastisches und Makaberes,<br />
letzteres speziell bei den Massenszenen. Mit solchen Bildern belebt<br />
er das recht störrische Stück.<br />
Verdi, der Stimm-Fetischist, hat die in seiner mittleren Schaffensphase<br />
komponierte Oper auf die Sänger zugeschnitten, und die sind in der<br />
Staatsoper im Schillertheater andere als kürzlich in Wien.<br />
Wir erleben (und gar zu selten) Anna Netrebko, in diesem Fall als die von<br />
den beiden bereits genannten Männern begehrte Leonora. Einer von ihnen<br />
ist Plácido Domingo als Graf Luna. Diese Weltstars verleihen der<br />
Berliner Premiere und den folgenden Aufführungen gehörigen Glanz, so<br />
dass auch diese schon seit Monaten ausverkauft sind.<br />
Anna sieht trotz Blondperücke und Reifrock verführerisch aus. Bewegungsfreundlich<br />
ist solch ein Outfit allerdings nicht. Versiert, wie sie ist,<br />
macht sie das Beste daraus. Bei Verdi und auch hier zählt die Stimme und<br />
nicht das Kleid. Ihre ersten Töne kommen, vermutlich schmuddelwetterbedingt,<br />
noch etwas rau, doch schnell wird ihr weit reichender Sopran<br />
immer runder und glutvoller. Schon eingekleidet als Nonne, kommt ihr<br />
Beten wunderbar zart und innig herüber, schwingt sich aber – beim unerwarteten<br />
Erscheinen des totgeglaubten Geliebten – in kraftvoll strahlendem<br />
Jubel ohne jede Schärfe empor. (Vulgo: lieber Kerl als Kloster).<br />
Absoluter Höhepunkt wird durch sie der 4. Akt, in dem sie all ihr Können<br />
abruft. Fabelhaft, wie sie auf der Tonleiter balanciert. Auch bei den<br />
Koloraturen ist sie auf gutem Weg. Ungemein farbenreich gestaltet sie<br />
einzelne Sätze, auch manches Wort. Mal glutvoll, mal scheinbar nachgebend,<br />
kämpft sie vokal mit allen Finessen um das Leben des Geliebten.<br />
Netrebko und Domingo in <strong>neue</strong>n Verdi-Rollen in einer comic-strip-Inszenierung<br />
(© Website Deutsche Staatsoper)<br />
anwesende) Leonora bricht ihm im hohen Bereich mal die Stimme weg,<br />
klingt aber, wenn es um Kampf und Rache geht, wieder markig. Als „Domingo,<br />
the one and only,“ wird er bei der anschließenden Premierenfeier<br />
aufs Podium gebeten. <strong>Der</strong> bleibt ein Phänomen und ein Publikumsliebling.<br />
Außerdem bewähren sich Anna Lapkovskaja als Ines, Florian Hoffmann<br />
als Ruiz und „natürlich“ der Staatsopernchor, einstudiert von<br />
Martin Wright. Großes Lob verdient und erhält die Staatskapelle Berlin<br />
unter Daniel Barenboim. <strong>Der</strong> lässt nichts anbrennen und die Musik<br />
Verdi gemäß oft dramatisch aufrauschen. Doch auch in den lyrischen<br />
Passagen ist ihm sehr angenehm auf der Spur.<br />
Nach viel Zwischenapplaus dröhnt zuletzt kräftiger Beifall durchs Haus,<br />
vermischt mit einigen Buhs fürs Regieteam, aber mit vielen Bravos für die<br />
Sänger. Anna Netrebko und Marina Prudenskaya sind an diesem Ausnahmeabend<br />
die „Königinnen der Nacht“. Ursula Wiegand<br />
Komische Oper: „COSÌ FAN TUTTE“ – Pr. 3.11.<br />
Den Subtitel „Dramma giocoso“ sollten Liebhaber dieser Mozart-Oper<br />
nicht wortwörtlich nehmen, jedenfalls nicht das „giocoso“. Denn was so<br />
fröhlich beginnt, nimmt bekanntlich ein recht tragisches Ende. Aus der<br />
angeblichen „Schule der Liebenden“ gehen alle als Verlierer oder zumindest<br />
als Geschädigte hervor.<br />
42 | DER NEUE MERKER 12/2013
Deutschland<br />
Einfach „Schwamm drüber“ und, lebensklug geworden weitermachen wie<br />
vorher – diese Aufforderung von Don Alfonso stieße heutzutage eher auf<br />
taube Ohren. In der <strong>neue</strong>n Inszenierung des bekannten lettischen Schauspielers<br />
und Theaterregisseurs Alvis Hermanis an der Komischen Oper<br />
wird das deutlich. Bei ihm steht der zynische Ideengeber dieser Treue-<br />
Wette zuletzt recht zerknirscht da, als er merkt, was er angerichtet hat.<br />
Und müsste diese Oper nicht eher „Così fan tutti“ heißen? Schließlich<br />
sind es die Männer, die ihre Verlobten zu Testpersonen degradieren und<br />
deren Bedürfnis nach Liebe – übrigens ohne Rücksicht auf den Kompagnon<br />
als nur „ziemlich beste Freunde“ – voll auskosten? Verstört schaut der<br />
eine dem anderen bei der Verführung der eigenen Geliebten zu.<br />
Dass sich die beiden Frauen, angefeuert durch die mit allen Liebeswassern<br />
gewaschene Despina, „rumkriegen“ lassen, macht Hermanis verständlich.<br />
Er versetzt das Geschehen zunächst in eine sterile Restaurationswerkstatt<br />
(Bühnenbild: Uta Gruber-Ballehr). Alle arbeiten in weißen Kitteln und<br />
sind offenbar gefühlsmäßig unterkühlt. Die anfangs ungeschickten Annäherungsversuche<br />
der Männer finden bei den beiden ernsten, bebrillten<br />
Frauen eher Erstaunen, wecken aber Neugier und Sehnsüchte.<br />
Alvis Hermanis, nach eigener Aussage geschichtsbewusst, führt uns den durch<br />
die Verkleidung der Herren verursachten Stimmungswechsel alsbald tatsächlich<br />
und nicht ohne Ironie vor Augen. Bis auf Despina, hier als schwangere<br />
Putzfrau agierend (Mirka Wagner mit koloratursicherem Mezzo), werden die<br />
Paare wie zu Mozarts Zeiten ausstaffiert (Kostüme: Eva Dessecker).<br />
Schon die Rokoko-Gemälde, die von Anfang an die Bühne bevölkern<br />
und per Video (Ineta Sipunova) die Erotik jener Epoche detailreich vor<br />
Augen führen, haben die Richtung vorgegeben. Und bevor die Verkleidungsszene<br />
mit dem Partner-Wechsel beginnt, wurden bereits die Männerbildnisse<br />
auf den Staffeleien ausgetauscht, an denen die beiden Restauratorinnen<br />
zuvor gearbeitet haben.<br />
Nun beginnt ein turbulentes Drunter und Drüber auf dem Sofa. Die Männer<br />
grabschen nach den Frauen, doch die flüchten. Im 2. Akt, der insgesamt<br />
mehr hergibt, hantieren die Schwestern, teils unbeholfen, teils lüstern,<br />
mit einem dicken Entlüftungsschlauch, der womöglich die Schlange<br />
aus dem Paradies darstellen soll.<br />
Dorabella will sich als erste was gönnen und verschwindet mit ihrem Galan<br />
in einem Zimmer. Durch dessen Scheiben können wir das Geschehen<br />
beobachten. Selbst Fiordiligi, die Konservativere, lässt – wie auf einem Fragonard-Gemälde<br />
auf der Schaukel schwingend – Ferrando gerne unter ihre<br />
fliegenden Röcke gucken, bereut aber bald ihren (nicht gezeigten) Fehltritt.<br />
Wie sich das entwickelt und von einem Extrem ins andere kippt, wird<br />
überzeugend gespielt und zumeist auch gut gesungen. Den Don Alfonso,<br />
Cosi fan tutte - so machen es alle? (© Rittershaus)<br />
Initiator der üblen Wette, gibt Tom Erik Lie mit gebotenem Besserwisser-Zynismus<br />
und klangreichem Bariton. Dem Guglielmo verleiht Dominik<br />
Köninger, ebenfalls Bariton, stimmlich und darstellerisch gute Figur.<br />
Beim Gast Aleš Briscein (Ferrando) wird jedoch der Tenor im Forte<br />
einige Male platt und lässt mitunter Intonationstrübungen hören. Wenn<br />
er italienisch singt, tritt das weniger zu Tage. (In dieser Aufführung wird<br />
mal Deutsch, mal Italienisch gesungen).<br />
Am besten gefallen mir die beiden Damen. Die müssen sich jedoch (ebenso<br />
wie die Herren) öfter gegen Henrik Nánási durchsetzen, der das Orchester<br />
der Komischen Oper eher straff und lebhaft als lyrisch-schmeichlerisch dirigiert.<br />
Die US-Amerikanerin Nicole Chevalier, als Fiordiligi Guglielmos<br />
Partnerin, kann sich mit ihrem kräftigen Sopran dennoch überzeugend Gehör<br />
verschaffen. Theresa Kronthaler, jung und hübsch, wird mit schlankem<br />
Mezzo und mancher Munterkeit dem Namen Dorabella durchaus gerecht.<br />
Dem Beinahe-Heiratsfest folgt der Kater. Die ertappten Frauen wünschen<br />
sich (zumindest verbal) inbrünstig singend den Tod (Zwischenbeifall, insbesondere<br />
für Nicole Chevalier). Die gewonnene Erkenntnis ist für alle<br />
eine bittere Medizin, selbst wenn der gemeinsame Schlussgesang, angeführt<br />
von Don Alfonso, zu Klugheit und Versöhnung aufruft. Die zuvor<br />
heile Welt, an der wohl auch Mozart gezweifelt hat, ist kaputt. Ein Paar<br />
stiebt auseinander, das andere arrangiert sich vielleicht.<br />
Zuletzt kräftiger und anhaltender Applaus für alle Sänger, mit einigen<br />
Phon mehr für die Damen. Viel Zustimmung auch für Henrik Nánási<br />
und das Orchester, einige wenige Buhs fürs Regieteam, die vom Beifall<br />
schnell übertönt werden. Insgesamt keine außerordentliche „Così“, aber<br />
eine passable, die vermutlich dank Mozart ihren Weg machen wird.<br />
<br />
Ursula Wiegand<br />
Weitere Termine: 9. und 15. November, sowie 1., 10., 15. und 19. Dezember,<br />
wieder ab Mai 2014 (www.komische-oper-berlin.de)<br />
Komische Oper: Jubel umtoste Premiere von<br />
„WEST SIDE STORY“ – 24.11.<br />
Jubel ist gar kein Ausdruck für all die Begeisterung, die schon im Verlauf<br />
der „West Side Story“-Premiere immer wieder durch die Komische Oper<br />
Berlin brandet. Intendant Barrie Kosky hat einen <strong>neue</strong>n Knaller und sicherlich<br />
einen Dauerbrenner gezündet und dabei die hochgeschraubten<br />
Erwartungen noch übertroffen.<br />
Gemeinsam mit Otto Pichler hat er dieses krasse Kunstwerk von Leonard<br />
Bernstein aus dem New York der 1950er Jahre gekonnt ins Heute überführt,<br />
aus dem damaligen Amerika in die globalen Großstadt-Slums, wo<br />
mehr denn je die Gewalt grassiert. Vor allem bei den Tanzszenen (Choreographie<br />
Otto Pichler) wird das überaus deutlich.<br />
Zunächst sehen wir nur einen einzigen Ballkünstler auf einem markierten<br />
Basketball-Feld, doch dann stürmen die alteingesessenen Jets unter Führung<br />
von Riff auf die weitgehend kahle Bühne, die ihnen viel Platz zum<br />
Austoben lässt. Und den nutzen diese durchtrainierten Breakdance-Akrobaten<br />
aufs Allerbeste. Sie rasen, rollen über den Boden, schlagen Salti,<br />
klettern geschwind die Leitern an beiden Seiten empor. Einige, insbesondere<br />
Daniel Therrien, Chef der Riffs, kann dazu noch gut singen. Wo<br />
haben Kosky und Pichler diese Allround-Talente aufgegabelt?<br />
Ihre Konkurrenten, die aus Puerto Rico zugewanderten Sharks unter Führung<br />
von Bernardo (Gianni Meurer), eher tätowiert als gekleidet (Bühne<br />
und Kostüme Esther Bialas), stehen ihnen an Körperkönnen und Aggressivität<br />
keineswegs nach. Sie alle räumen sogleich beim Beifall ab, ebenso<br />
die rasant-charmante Girl-Truppe mit dem Temperamentsbündel Sigalit<br />
Feig (die spätere Anita) und dem Song „I like to be in America“. Für den<br />
vollen Sound sorgen zusätzlich einige Chorsolisten des Hauses.<br />
Die treibende Kraft bei diesen Ausbrüchen ist jedoch das Orchester der<br />
Komischen Oper Berlin unter Koen Schoots. <strong>Der</strong> setzt auf straffe Tempi,<br />
der spitzt die Synkopen zu, lässt aber auch die lyrischen Partien warm aufleuchten.<br />
Die Instrumentalisten musizieren diese knifflige Partitur, die<br />
europäische Operettentradition mit altjüdischen Klängen und US-Jazz<br />
genial kombiniert, mit solcher Verve, als täten sie das jeden Tag. So gut<br />
und so plausibel habe ich das weltbekannte Stück noch nie gehört und<br />
erlebt. Diese <strong>neue</strong> Berliner Variante stellt sogar das New Yorker Original<br />
und den berühmten Film in den Schatten.<br />
Doch was wäre das Stück ohne das passende Liebespaar? Das besitzt die<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 43
Deutschland<br />
Dann aber lang anhaltender Jubel, Gejohle und Standing Ovations für<br />
diese glühende Darbietung, die die Mehrheit der Musicals zu lauwarmen<br />
Übungen degradiert. Hinrennen, anrufen, eine Mail schreiben –<br />
das wäre jetzt ein Muss. Doch schon vor der Premiere waren die Folgenvorstellungen<br />
ausverkauft. Wer Glück hat, bekommt noch eine Restkarte<br />
an der Abendkasse oder muss auf den Frühsommer 2014 hoffen. <br />
<br />
Ursula Wiegand<br />
Konzerthaus Berlin: Leonard Bernsteins: „A QUIET PLACE”,<br />
konzertante Kammerfassung, 27.11.<br />
Maria and Toni - Julia Giebel und Tansel Akzeybek (© Iko Freese)<br />
Komische Oper mit Julia Giebel als Maria und Tansel Akzeybek als<br />
Tony in den eigenen Reihen. Die beiden trifft, das wird spürbar, die Liebe<br />
wie ein heller Blitz aus dem hier düsteren Himmel.<br />
Bei Tonys „Maria, Maria, Maria“ muss jedes Frauenherz schmelzen, und<br />
beim gemeinsamen „Tonight, tonight“ haben die Zwei nicht nur den (vorläufigen)<br />
Sieg über die Grenzlinien ihrer verfeindeten Gangs gewonnen,<br />
sondern auch die Herzen des Publikums. Diese Anteilnahme wächst noch<br />
im Verlauf, zumal Tansel Akzeybeks Tenor immer mehr an Wärme, Volumen<br />
und schließlicher Tragik gewinnt. Super!<br />
Denn auch Bernsteins Version von Shakespeares „Romeo und Julia“ endet<br />
bekanntlich in der Katastrophe, scheitert an der Gewaltgier, die den Vermittler<br />
(Tony) im Affekt selbst zum Mörder werden lässt. Nach dem Tod<br />
seines Freundes Riff stößt er Bernardo, Marias Bruder, das Messer ins Herz.<br />
Noch ahnt Maria nichts von dieser Eskalation und trällert spritzig „I feel<br />
pretty“. Danach bleibt nur fassungsloses Erschrecken, das jedoch in die Dennoch-Hoffnung<br />
auf ein friedliches Leben weit weg von der Großstadt mündet.<br />
Dieser 2. Akt, in dem ungezügelte Gewalt auch zwei Liebende zerstört,<br />
kann leicht in den Kitsch abgleiten, tut es hier aber nicht.<br />
Die Spannung bleibt erhalten, mucksmäuschenstill verfolgt das Publikum<br />
das schlimm-traurige Geschehen, auch die Vergewaltigung der Anita (Marias<br />
Freundin) von der anderen Gang.<br />
Das Gegengewicht bilden die anhaltend innigen Liebesbekundungen von<br />
Maria und Tony. Beide wollen beim Tod von Bernardo nicht stehen bleiben.<br />
Doch das Idyll endet abrupt. Tony, von einer Fehlmeldung Anitas sichtlich<br />
erschüttert, lässt sich widerstandslos vom herbei gerufenen Konkurrenten<br />
Chico (Kevin Foster) abknallen. Maria hält den Sterbenden in den Armen.<br />
Nun wird hier nicht mehr opernmäßig gesungen, Tony röchelt sein Leben<br />
aus, Maria setzt nur einige leise hohe Töne. Wunderbar und lebensecht.<br />
Und es hat gar nichts genützt, dass der mutige Obsthändler Doc (Peter<br />
Renz in einer Sprechrolle) die Gewalttätigen zuvor auseinander gejagt<br />
hatte. Die beiden Polizisten (Christoph Späth und Philipp Meierhöfer)<br />
hatten ein Eingreifen eh nur vorgetäuscht, während sich die jugendlichen<br />
Intensivtäter über den Sozial-Ansatz heutiger Tage lustig machten.<br />
(Deutsche Fassung von Frank Thannhäuser und Nico Rabenald).<br />
Wer nur Leonard Bernsteins schmissige „West Side Story“ mit ihren<br />
Ohrwürmern kennt, wird beim kurzen Hineinhören in „A Quiet Place“<br />
kaum vermuten, dass der auch diese Musik geschaffen hat, solch einen<br />
weitgehend dissonanten Parcours durch Dodekaphonie über streng Serielles<br />
bis zu diatonischen Choralklängen. „Trouble in Tahiti“ hieß die zunächst<br />
einaktige, 110 Minuten dauernde Oper von Bernstein und dem<br />
Theaterregisseur Stephen Wadsworth. Die aber stieß bei der Uraufführung<br />
am 17. Juni 1983 in Houston/Texas weitgehend auf Ablehnung. Nicht<br />
nur die ungewohnt extreme Komposition verstörte das Publikum, sondern<br />
auch das Thema: eine zerrüttete Familie mit all ihren, auch sexuellen<br />
Besonderheiten. Ein Tabubruch sondergleichen zur damaligen Zeit. Da<br />
Bernstein selbst mit dieser ersten Fassung unzufrieden war, wurde sie revidiert<br />
und in eine dreiaktige<br />
Oper verwandelt, die 1984<br />
in Mailand und dann –<br />
mit weiteren Korrekturen –<br />
1986 unter Bernsteins Leitung<br />
in Wien aufgeführt und<br />
auf CD eingespielt wurde.<br />
<strong>Der</strong> Maestro sah in diesem<br />
Werk einige seiner kreativsten<br />
Ideen verwirklicht, doch<br />
ein dauerhafter Erfolg stellte<br />
sich auch nach diesen Änderungen<br />
nicht ein, zumal die<br />
Darbietung wegen der erforderlichen<br />
72 Instrumentalisten<br />
äußerst aufwändig war.<br />
Die New Yorker Neuproduktion<br />
in 2008 verpuffte ebenfalls.<br />
Aus diesem Dilemma zog<br />
Garth Edwin Sunderland<br />
vom Leonard Bernstein Office,<br />
unterstützt vom Dirigenten<br />
Kent Nagano, die<br />
Konsequenzen. Er hat eine<br />
Kammerfassung für nur 18<br />
Kent Nagano dirigiert Bernstein-Rarität<br />
(© Felix Broede)<br />
Instrumentalisten geschaffen, die nach seiner Meinung das Beste aus der<br />
ersten und der revidierten Fassung kombiniert. Außerdem sind die einzelnen<br />
Teile neu geordnet.<br />
Im Konzerthaus Berlin war die 105-minütige konzertante Uraufführung<br />
dieser Zusammenfügung zu erleben. Unter der Stabführung von<br />
Kent Nagano gestalten das Ensemble Modern und Vocalconsort Berlin<br />
sowie zahlreiche britische Sänger diese Bernstein-Hommage. „Bestattungsinstitut“,<br />
„Das Haus der Familie“ und „<strong>Der</strong> Garten“ heißen die drei<br />
Akte. Doch hinter den harmlosen Bezeichnungen verbergen sich ungeahnte<br />
Abgründe.<br />
Anlass des Familientreffens ist der tödliche Autounfall von Dinah, Sams<br />
Frau. Wie es ein späterer, mit Keksen garnierter Abschiedsbrief nahe legt,<br />
war es ein Selbstmord. Das Ehepaar lebte getrennt. Auch die Kinder – die<br />
schöne Dede (Didi gesprochen) und der schwule Sohn, nur Junior genannt<br />
– waren weggezogen.<br />
44 | DER NEUE MERKER 12/2013
Deutschland<br />
Doch „A quiet place“ ist diese Leichenhalle mitnichten. Statt Totenruhe und<br />
gesitteter Trauer beherrscht zunächst nur unverbindlicher Small Talk das Geschehen,<br />
das alsbald in einen familiären Showdown mündet. Denn es sind<br />
viele persönliche Rechnungen offen, und alle lassen dem über die Jahre angestauten<br />
Frust vollen Lauf. Junior, auch psychisch gestört, legt am Sarg sogar<br />
einen (hier nicht gezeigten) Striptease hin. Schon als Junge hatte er ein<br />
sexuelles Verhältnis mit seiner kleinen Schwester Dede, zuletzt eines mit Francois,<br />
ihrem jetzigen Mann, der schließlich dieser total kaputten Inzest-Familie<br />
die Leviten liest. Francois und der Junior sind also „bi“ und deuten damit<br />
laut Programmheft auch Bernsteins Veranlagungen an. Sam, der Vater, zuvor<br />
immer ein Gewinnertyp, sieht sich durch den Selbstmord Dinahs plötzlich<br />
als Verlierer, regt sich darüber auf und entwickelt auch Schuldgefühle. Die<br />
heimgekehrte schöne Dede im leuchtend roten Kleid himmelt ihn jedoch an,<br />
wohl nicht nur in rein töchterlicher Zuneigung. Liebevolle Gefühle hegt sie<br />
nach wie vor auch gegenüber dem Bruder. Beide schwärmen von ihrer Kinderzeit<br />
in dem von der Mutter gepflegten Garten und schlafen im Doppelbett.<br />
„I want you“, sagt Junior unvermittelt. Die deutsche Übersetzung „Ich<br />
liebe dich“ auf den Übertiteln trifft das Gemeinte nicht so ganz.<br />
Aber noch mehr verlangt Junior nach der Liebe seines Vaters Sam, die der<br />
ihm stets verweigert hat. Erst ganz zum Schluss des Stückes schließt er seinen<br />
Sohn in die Arme. „Wir sind, wer wir sind“, lautet das Fazit.<br />
Engagiert musizieren die 18 Instrumentalisten Bernsteins wagemutiges, oft<br />
faszinierendes Werk. Auch die Interpreten der vier Hauptpersonen werfen<br />
sich voll und überzeugend in ihre Rollen. Mit klarem Sopran singt die<br />
aparte Claudia Boyle (Dede) ihre Partie. Mit Verve ruft Benjamin Hulett<br />
(Tenor) als Francois seine <strong>neue</strong> Familie zur Raison, schwärmt aber zärtlich<br />
für seine Frau Dede. Gekonnt in Stimme und Mimik gestaltet Jonathan<br />
McGovern die krankhaften Ausbrüche von Junior. Pointiert singt<br />
sich Christopher Purves (Sam) mit kräftigem Bariton in Rage.<br />
Mit starkem Beifall quittiert das Publikum im fast voll besetzten Großen<br />
Saal die erbrachten Leistungen. Ob mit dieser Kammerfassung ein Durchbruch<br />
für Bernsteins letzte Oper gelungen ist, wird die Zukunft zeigen.<br />
<br />
Ursula Wiegand<br />
Die Berliner Philharmoniker und Ian Bostridge<br />
huldigen Benjamin Britten zum<br />
100. Geburtstag – 22.11.<br />
22. November 1913 – ein für die britische Musikgeschichte signifikantes<br />
Datum, erblickte doch an diesem Tag Benjamin Britten das Licht der<br />
Welt. Jener Meister, der als bedeutendster englischer Komponist seit Henry<br />
Purcell der britischen Musik nach etlichen Jahrzehnten des Dornröschenschlafs<br />
mit seinem „Peter Grimes“ und all den anderen großartigen Opern<br />
dereinst eine gewichtige Stimme im Konzert der Völker verschaffen sollte.<br />
22. November 2013 – für die Berliner Philharmoniker und ihren renommierten<br />
Gast Ian Bostridge Ehrensache, dem Orpheus Britannicus zum 100.<br />
Geburtstag eine exquisite Soirée auszurichten. Und dabei den Blick betont<br />
auf seine Vokal- und Instrumentalmusik der intimeren Form zu richten.<br />
Eine Entdeckung war da schon seine Sinfonietta op. 1 für die solistische<br />
Besetzung von 10 Instrumenten – das frühreife Werk eines kaum 19-Jährigen,<br />
in dem sich bereits die für sein späteres Schaffen so markante kammermusikalische<br />
Gestaltung seiner Werke sowie die Abneigung gegen ausufernde<br />
Klanggemälde andeutet. Wie da die philharmonischen Solisten,<br />
ein Bläser- und ein Streichquintett, die klangfarbliche Ausdrucksindividualität<br />
jeder einzelnen Stimme wie auch die Transparenz des Klangbildes<br />
zelebrierten, dürfte wahrlich im Sinne des Tondichters gewesen sein.<br />
Dass auch Brittens instrumentale Musik stark vom Vokalen geprägt ist,<br />
zeigte seine Komposition „Lachrymae“, Reflections on a Song of John<br />
Dowland für Viola und Klavier op. 48 (1950) – zugleich ein Beleg für<br />
seine Verwurzelung in der altenglischen Tradition. Die Bratschistin Julia<br />
Gartemann und Julius Drake am Klavier ließen da aus einem dem<br />
Werk zugrundeliegenden Lied jenes Renaissancekomponisten einen Zyklus<br />
subtil geformter Variationen erstehen. Plastische Bildhaftigkeit der<br />
Tonsprache, in Brittens Opern immer wieder zu bewundern, findet sich<br />
auch in der musikalischen Gestaltung seiner „Sechs Metamorphosen nach<br />
Ovid“ für Solo-Oboe op. 49 (1951). Ein großer Tag für Jonathan Kelly,<br />
der mit faszinierender klanglicher Flexibilität den Charakterstudien antiker<br />
Götter und Figuren geradezu bildhafte Gestalt verlieh.<br />
Wie vielschichtig ist doch des Komponisten Vokalmusik! Liederzyklen mit<br />
Klavier und Gesangsstücke mit orchestraler Begleitung gehören zu seinen<br />
persönlichsten Schöpfungen. Wobei die vielfältigen Textvorlagen aus der<br />
Feder von rund 60 Autoren, zumeist englischen, aber auch ausländischen,<br />
sein weitreichendes literarisches Interesse bekunden. Dabei berührt immer<br />
wieder sein ursprüngliches Verhältnis zur menschlichen Stimme und damit<br />
zum kantablen Melos. Ein Glücksfall, dass der herausragende britische<br />
Tenor Ian Bostridge – nach dem Tod von Brittens Lebenspartner und Uraufführungsinterpreten<br />
Peter Pears der derzeit bedeutendste Protagonist der<br />
Vokalmusik des Jubilars – im Geburtstagskonzert mit von der Partie war.<br />
Fünf seiner Vokalwerke hat der Autor mit dem Begriff Canticle übertitelt,<br />
mit dem die anglikanische Kirche Hymnen, Psalmen und andere Lobgesänge<br />
bezeichnet. Bewegend wirkte da in Bostridges ergreifender Lesart Canticle<br />
III – basierend auf Edith Sitwells (1887-1964) Gedicht „Still Falls the<br />
Rain“ op. 55, das die deutschen Luftangriffe auf britische Städte 1940 thematisiert<br />
und dabei das historische Geschehen mit der christlichen Passionserzählung<br />
konfrontiert. <strong>Der</strong> Tenor wurde von Stefan Dohr (Horn) und<br />
Julius Drake (Klavier) feinfühlig unterstützt.<br />
Bestechend auch, wie Bostridge in den „Sechs Hölderlin-Fragmenten“<br />
op. 61 (1958) mit seinem Klavierpartner Drake dem zwischen Sehnsucht<br />
und Hoffnungslosigkeit changierenden Affektgehalt der Dichtung sensibel<br />
nachspürte. Als Krönung des Abends die Serenade für Tenor, Horn und<br />
Streicher op.31 (1943), in der der Tondichter 6 Gedichte verschiedener Autoren,<br />
die die „Nacht und ihre Erscheinungen“ besingen, in so wunderbare<br />
musikalische Stimmungsbilder gekleidet hat, dass man sich in diese abendlich-nächtliche<br />
Naturreflexionen direkt einbezogen fühlte. Zumal, wenn so<br />
exzellente Protagonisten wie Bostridge und Dohr sowie etliche philharmonische<br />
Mitstreiter unter Duncan Wards Leitung von der einleitenden Pastorale<br />
bis zum abschließenden Sonett einen ausdrucksmäßig höchst differenzierten<br />
Bogen spannten. <br />
Dietrich Bretz<br />
München:<br />
Bayerische Staatsoper: „IL TROVATORE“ – 12.11. – Alternativbesetzungen<br />
Es hat sich in mehrfacher Hinsicht gelohnt, zur 2. Serie von Olivier Pys<br />
„Trovatore“-Version zu gehen. Manches, worüber man sich vielleicht beim<br />
ersten Besehen geärgert haben mag, nahm man nun mit einem Schmunzeln<br />
oder gar Lachen hin. Die Nackedeis (Azucenas Mutter, in etwas entgruselter<br />
Personifizierung, und eine Tänzerin) tragen der Ästhetik zuliebe<br />
hautfarbene Stringtangas; der Leonora im vorletzten Bild geleitende<br />
schwarze Geist hält sich dezenter zurück. Das nie klappen wollende Timing<br />
zu Manricos „Infida!“ nach dem Ständchen im 1. Akt singt selbiger<br />
nun aus einer Seitenluke der Aufbauten, um zum Terzett dann rechtzeitig<br />
auf der Bildfläche zu erscheinen.<br />
Leonora trägt die hässliche Brille, welche ihre Blindheit (?) verdeutlichen<br />
soll, nur einmal, beim ersten Auftritt, dann erleben wir eine wunderbare<br />
Nachtwandlerin von Krassimira Stoyanova. Wie sie diese blinde Leonora<br />
darstellt, ist in höchstem Maße überzeugend und ergreifend, was ebenso für<br />
ihren Gesang gilt. In Stoyanovas Sopran schwingt all das große Gefühl mit,<br />
das ich bei der kunstvoll singenden Harteros so vermisste. War eigentlich der<br />
<strong>neue</strong> Bariton Ursache meines Aufführungsbesuches gewesen, so war es nun<br />
die Stoyanova, die mit ihrem intensiv überzeugenden Rollenportrait und<br />
ihrem ausdrucksstarken Gesang zum Ereignis wurde. Offenbar empfanden<br />
das die Zuschauer ebenso, denn das Haus bebte bei ihrem Schlussapplaus. –<br />
<strong>Der</strong> für München <strong>neue</strong> Bariton/Graf Luna ist Vitaliy Bilyy aus der Ukraine.<br />
Die Hörtests auf Youtube versprachen sehr viel. Die Bemerkung<br />
eines Kritikers nach der ersten Aufführung, Bilyy habe „sehr verhalten“<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 45
Deutschland<br />
Wehe, wenn er los gelassen - Oliver Pys „Trovatore“ mit<br />
Jonas Kaufmann und Elena Manistina (© Hösl)<br />
begonnen, reizte den Sänger offenbar zu größerem Stimmeinsatz. Aber<br />
gleich so sehr, dass er eigentlich den ganzen Abend über mit chronischem<br />
Überdruck sang, anstatt seinen potenten Bariton einfach mal richtig schön<br />
„strömen“ zu lassen. Nichtsdestotrotz wurde auch er vom Publikum gefeiert.<br />
– Eine begrüßenswerte Änderung gegenüber der „wobbelnden“ Premierenbesetzung<br />
(K. Youn) gab es bei der Rolle des Ferrando: Goran Jurić<br />
überzeugte vollkommen, mit seinem kernigen Bass ebenso wie darstellerisch.<br />
– Azucena war, wie bei der Premiere, Elena Manistina mit ihrem<br />
aufregend gurrenden Mezzo und intensivem Spiel rund um ihren Manrico.<br />
Manrico, il Trovatore = Jonas Kaufmann. Deshalb waren sämtliche Aufführungen<br />
auch bei der 2. Serie in kürzester Zeit total ausverkauft. Wer<br />
an diesem Tenor als Verdi-Interpret herummäkelt, beweist damit eindeutig<br />
seine diesbezügliche Inkompetenz, ja, begeht vielleicht gar ein „Sakrileg“.<br />
Man muss wirklich froh und dankbar sein, dass die Opernwelt gegenwärtig<br />
in ihm ein derart tolles tenorales Gesamtkunstwerk hat. Und<br />
für Verdi zumal, da ist alles da: Kraft, Höhenstrahl, der berühmte Squillo,<br />
ein wunderbares Legato und die Fähigkeit zu Crescendo und Diminuendo<br />
nach Belieben. Dazu Kaufmanns Aufgehen in jeder seiner Rollen<br />
(von der Optik ganz zu schweigen); ganz egal, was ihm von der jeweiligen<br />
Regie auferlegt wird, er macht immer was draus. Hier war das Zusammenspiel<br />
mit der Stoyanova besonders einnehmend und berührend.<br />
Paolo Carignani untermauerte das Schauerdrama zusammen mit dem<br />
Bayerischen Staatsorchester mit der nötigen musikalischen Dramatik.<br />
Und schließlich die finalen Jubelorgien samt Begeisterungs-Getrampel für<br />
alle – sie hatten es sich verdient. <br />
Dorothea Zweipfennig<br />
Bayerische Staatsoper: „DIE ZAUBERFLÖTE“ – 23.11.<br />
Nachdem in der letzten Saison auch die traditionelle Inszenierung von<br />
„Hänsel und Gretel“ einer Neuproduktion weichen musste, wird die Liste<br />
der Stücke, die geeignet sind, Kinder an die Oper heranzuführen, in München<br />
immer kleiner. Die „Zauberflöte“ in der zeitlosen Inszenierung von<br />
August Everding (Bühne und Kostüme: Jürgen Rose; Neueinstudierung:<br />
Helmut Lehberger) ist noch so eines. Und so waren dann auch viele Kinder<br />
mit ihren Eltern oder Großeltern in dieser Familienvorstellung. Da<br />
herrscht vor Beginn im Zuschauerraum schon gespannte Erwartung und<br />
während der Aufführung sind die Reaktionen der (kleinen) Zuschauer<br />
immer besonders direkt und herzlich.<br />
Publikumsliebling ist natürlich der Papageno, der an diesem Abend von<br />
Daniel Schmutzhard gesungen und gespielt wurde. Er spielte die Rolle<br />
sehr sympathisch und witzig, ohne übertriebenen Klamauk. Sängerisch<br />
konnte er mit seinem eher dunkel timbrierten Bariton ebenfalls voll überzeugen.<br />
Ein Papageno, wie man ihn sich vorstellt. Kein Wunder, dass er<br />
am Ende mit dem meisten Beifall bedacht wurde. Aber auch die übrigen<br />
Protagonisten standen beim Publikum hoch im Kurs, insbesondere Albina<br />
Shagimuratova als fulminante Königin der Nacht. Besonders die<br />
2. Arie sang sie mit atemberaubender Souveränität. Ihr Gegenspieler als<br />
Sarastro war an diesem Abend Günther Groissböck, der wieder einmal<br />
zeigte, dass er nicht nur ein hervorragender Sänger, sondern auch ein<br />
wunderbarer Schauspieler ist. Sein Sarastro war zwar ein noch sehr junger,<br />
aber dennoch würdiger Herrscher mit großer Autorität. Toby Spence<br />
sang den Tamino mit ausdrucksstarker, strahlkräftiger Stimme. Beeindruckend<br />
war außerdem seine deutliche Diktion und sein (fast) akzentfreies<br />
Deutsch in den Dialogen. Genia Kühmeier als Pamina begeisterte vor<br />
allem durch ihre differenzierte musikalische Gestaltung und ihre weiche,<br />
fließende Stimme.<br />
Tareq Nazmi als Sprecher, Laura Tatulescu, Tara Erraught, Okka von der<br />
Damerau als die „Damen“ sowie Ulrich Reß als Monostatos und Mária<br />
Celeng als Papagena komplettierten das hervorragende Solistenensemble.<br />
Ivor Bolton dirigierte das Bayerische Staatorchester sehr zupackend,<br />
so dass manche Nuance der Partitur verloren ging. Einige Male gab es<br />
auch Abstimmungsprobleme mit den Sängern. Insgesamt jedoch eine<br />
sehr schöne Aufführung, besonders für die vielen Kinder. Gisela Schmöger<br />
Im Gespräch: Josef E. Köpplinger<br />
<strong>Der</strong> Niederösterreicher Josef E. Köpplinger war am 14. November<br />
2013 zu Gast bei den Künstlergesprächen des „IBS-Münchner Opernfreunde“.<br />
Seit der Spielzeit 2012/13 ist Köpplinger Intendant des<br />
Staatstheaters am Gärtnerplatz in München. Dies ist seine vierte Intendanz,<br />
nach dem Musicalfestival Schloss Prugg/NÖ, der Position<br />
des Schauspieldirektors am Theater St. Gallen und der Leitung des<br />
Stadttheaters Klagenfurt.<br />
Das Gärtnerplatztheater wird seit Beginn Ihrer Intendanz generalsaniert,<br />
zum Spielzeitbeginn 2015/16 soll die Wiedereröffnung stattfinden.<br />
Wie kommen Sie mit den wechselnden Spielstätten zurecht?<br />
Wunderbar! Es ist eine große Herausforderung. Aber unser „Wanderzirkus“<br />
bringt schon auch logistische Probleme: Wann muss ich wo sein, wie<br />
viel Zeit brauche ich von einer Spielstätte zur anderen, vom Büro zum<br />
Probengebäude. Die Räumlichkeiten bekommen wir nicht, wie und wann<br />
wir sie wollen, sondern wie sie frei sind. Im Normalfall, an einem festen<br />
Haus, hat man 8-9 Produktionen zum Repertoire dazu, was auch schon<br />
sehr viel ist. Jetzt muss ich mich den zur Verfügung stehenden Räumen<br />
anpassen. Wenn ich nur zweimal für wenige Wochen ein Haus habe, in<br />
dem große Oper oder Operette möglich ist, kann ich dort nicht vier Stücke<br />
machen. Bei der Spielplangestaltung braucht man gute Nerven, bis<br />
sich das Puzzle mit allen Spielstätten ausgeht.<br />
Beispiel Cuvilliéstheater, in dem wir im letzten Jahr „Don Pasquale“ und<br />
heuer „Semele“, ein Werk von Händel, aufgeführt haben. Das Haus wird<br />
ab 9 Uhr morgens geöffnet, bis 13 oder 14 Uhr kann ich dort arbeiten.<br />
46 | DER NEUE MERKER 12/2013
Deutschland<br />
Dann ist dieses Rokoko-Theater für Touristenführungen geöffnet, also<br />
fällt der Eiserne und ich kann auf der Bühne nichts mehr machen. Punkt<br />
18 Uhr geht der Eiserne wieder hoch und dann erst kann ich proben.<br />
Werden Sie die Herausforderung der wechselnden Räume vermissen,<br />
wenn das Stammhaus wieder bespielbar wird?<br />
Vielleicht, denn das Herumreisen ist natürlich auch eine große kreative<br />
Herausforderung, andererseits freuen wir uns alle auch wieder auf einen<br />
geordneten Spielbetrieb an einem festen Haus.<br />
Sie inszenieren 3 Produktionen pro Spielzeit in München, machen noch<br />
Gastregien und haben nebenbei während der Ferien im Burgenland<br />
„Hänsel und Gretel“ inszeniert. Können Sie ohne Arbeit nicht leben?<br />
Ich will ja gar nicht, ich kann schon. Die Gastregien sind zum Teil noch<br />
alte Verträge. Außerdem bringen die Kooperationen und das Inszenieren<br />
So kennen wir ihn - Josef E. Köpplinger (© Sarah Rubensdörffer)<br />
an anderen Häusern unserem Haus Geld. Was ich einstellen musste, ist<br />
die Arbeit an großen internationalen Häusern. Vom Ministerium habe<br />
ich die Vorgabe, zwei bis drei Inszenierungen am Haus selbst zu machen.<br />
Allerdings bin ich nicht der Ansicht, dass man am Haus der beste Regisseur<br />
sein muss. Als Intendant muss man schauen, dass man die spannendsten<br />
Kollegen herbekommt und ihnen das anbietet, mit dem sie dann dem<br />
Haus auch bestmöglich dienen.<br />
Sie erhielten am 7.11.13 den Bayerischen Kulturpreis in der Kategorie<br />
Kunst. In der Laudatio heißt es u. a. „Mit herausragender Kreativität,<br />
Mut und hohem Arbeitseifer gibt Köpplinger dem Staatstheater<br />
am Gärtnerplatz seine eigene Note…“<br />
Wir werden derzeit mit Lob überschüttet: Die Feuilletons der Münchner<br />
Zeitungen bedenken uns mit „Sternen“ und „Rosen“. Neben dem Bayerischen<br />
Kulturpreis wurden wir von „Die deutsche Bühne“ (Magazin des<br />
Deutschen Bühnenvereins) in deren Ranking als Nr. 5 aller deutschsprachigen<br />
Theater genannt. Da haben wir uns höchst überrascht und beglückt<br />
die Augen gerieben und festgestellt: das, was wir machen, wird<br />
auch überregional angenommen.<br />
Haben Sie trotz der vielen Arbeit gelegentlich noch Stunden der Muße?<br />
Man findet schon einige Mußemomente – die muss man haben. Ich bin<br />
bei aller Besessenheit definitiv kein Workaholic. Egal welchen Beruf man<br />
hat, je höher die Verantwortung und die Position, desto geringer der Lustgewinn,<br />
und dann muss man eben auch die Mußestunden einplanen, um<br />
etwa in Ruhe eine Besetzung durchzudenken. Außerdem versuche ich, obwohl<br />
kein ausgewiesener Morgenmensch, die Kreativarbeit, die ja zu einem<br />
inszenierenden Intendanten dazu gehört, entweder nachts zu machen<br />
oder frühmorgens. Dann bleibt Zeit fürs Klavierspielen – und da<br />
kann ich herrlich entspannen.<br />
Sie fordern viel von sich und anderen. Können Ihre Mitarbeiter da<br />
mithalten?<br />
Ich glaube, im Prinzip ganz gut. Das Gros meiner Mitarbeiter ist hoch<br />
motiviert. Als ich bei meinem Arbeitsantritt das Ensemble schweren Herzens<br />
auflösen musste, war mir klar, dass es einen Rattenschwanz von Problemen<br />
nach sich zieht. Man stößt auf Unverständnis, bekommt Prügel<br />
von allen Seiten. Es war aber aus finanziellen Gründen nicht anders möglich.<br />
Das ist die eine Seite. Die andere ist die künstlerische Verpflichtung,<br />
die man hat: Ich muss die Sänger doch beschäftigen. Bei den Bedingungen,<br />
unter denen wir momentan Theater machen müssen, hatte ich aber<br />
keine dauernde Beschäftigung für die Solisten. Ich kann einem Künstler<br />
nicht 13 Gehälter zahlen und ihm dazu eineinhalb Partien anbieten. Am<br />
Anfang dachte ich noch, ich könnte zu den Unkündbaren etwa 10 Sänger<br />
im Ensemble als Stamm halten. Aber es ging nicht.<br />
Aber Sie haben doch die Kollektive (Chor und Orchester) behalten,<br />
dazu die eigenen Werkstätten, insgesamt 500 Menschen, die Sie bezahlen<br />
müssen?<br />
Das Orchester ist natürlich mit jeder Produktion beschäftigt. Dieses hervorragende<br />
Orchester halte ich für das flexibelste der Stadt. Da wird ohne<br />
Probleme von einem Broadway-Klassiker über eine Revue-Operette zum<br />
Feuervogel und zur Barockoper gewechselt, wirklich phantastisch. Auch<br />
der Chor ist gut ausgelastet: Wir machen Gastspiele in anderen Städten.<br />
Ich habe von Beginn an gesagt, keine einzige künstlerische Planstelle bei<br />
den Kollektiven wird bei mir gestrichen. Die brauchen wir. Sowohl Chor<br />
als auch Orchester sind teilweise mehr ausgelastet als in einem normalen<br />
Repertoirebetrieb. Die spielen vormittags im Kinderkonzert, am Abend<br />
Oper oder Ballett und dazwischen gibt es noch Probeneinheiten. Da kommen<br />
Menschen auch an die Grenze ihrer Belastbarkeit. Da muss man miteinander<br />
reden und schauen, wie man neben Zeiten mit großer Belastung<br />
auch Zeiten mit weniger Diensten schafft. Wir setzen uns selbst die Herausforderung,<br />
100 Vorstellungen pro Spielzeit zu spielen. Das ist für das<br />
Haus, das eben kein festes Haus hat, also nicht Repertoire spielen kann,<br />
gar nicht so wenig.<br />
Wien, Berlin, Paris und London haben je zwei Opernhäuser (Berlin<br />
und Wien sogar drei). Das sind Hauptstädte. Braucht die Provinzstadt<br />
München zwei Opernhäuser?<br />
Brauchen tut man in der Kunst gar nix. Aber Kunst ist die höchste Form<br />
der Sozialisierung. Man kann alles wegsparen, die Frage ist jedoch, was<br />
will sich eine Stadt, ein Staat leisten. Unser Theater ist nicht nur für München<br />
gedacht, wir haben auch die Aufgabe, Menschen aus dem Umland<br />
in unser Haus zu locken. Und: Was niemand bedenkt, die am Theater<br />
Beschäftigten zahlen hier ihre Steuern, das sind 30-35 % direkter Steuerrückfluss.<br />
Dazu kommt die Umweg-Rentabilität. Taxifahrer, Gastronomie,<br />
Hotels leben auch vom Kulturangebot einer Stadt.<br />
Wir müssen keine Kopie der Staatsoper sein, die Bayerische Staatsoper ist<br />
eines der führenden Häuser der Welt. Aber mal ehrlich, wie viele Münchner<br />
können sich mehrere Besuche im Jahr in der Staatsoper leisten? Deswegen<br />
sind wir die Volksoper, auch im Bereich der Kartenpreise. Wir machen<br />
Musical, Operette, Tanz, Spieloper, aber auch große Oper.<br />
Was sollte ein guter Intendant tun oder besser lassen?<br />
Zunächst: Intendant sein kann man nicht lernen, irgendwie muss man etwas<br />
in sich tragen, dass man sich das antut. Denn es ist wirklich viel Arbeit<br />
– und einsame Arbeit. Die Eitelkeit darf nie größer sein als die Begabung;<br />
das Ego (ich spreche von inszenierenden Intendanten) darf sich nie<br />
über die Bedürfnisse des Hauses stellen; man sollte sich nicht einbilden,<br />
nur das eigene Haus sei gut und alles Andere nichts; man hat unabhängig<br />
zu bleiben von Kulturpolitik; man muss wissen, dass der Unterschied<br />
zwischen Opportunismus und Diplomatie löschblattdünn ist; man muss<br />
in der Kunst, in der Neugierde sehr beweglich bleiben; mit Respekt all seinen<br />
Mitarbeitern begegnen, keinen Unterschied machen, auch wenn man<br />
eventuell Ja sagen möchte, aber in Verantwortung für das Haus Nein sagen<br />
muss. Ein bisschen sollte ein Intendant auch eine despotische Ader haben,<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 47
Deutschland<br />
um die nötigen Entscheidungen zu treffen. Wichtig ist es, Ressortleiter zu<br />
haben, denen man vertraut, und gleichzeitig in einem gesunden Maß die<br />
Kontrolle nicht aus der Hand zu geben, damit man dann, wenn etwas passiert,<br />
schnell handeln kann. Das alles gibt es auch in jedem Wirtschaftsunternehmen.<br />
Aber: Wir am Theater stellen keine Kühlschränke her, sondern<br />
wir arbeiten mit Kunst. Egal was hinter der Bühne passiert, der Vorhang<br />
hat hoch zu gehen, das Publikum hat bezahlt und will davon nichts wissen.<br />
Marcel Prawy hat einmal gesagt, dass man bei einer Opern-Neuinszenierung<br />
sich das Video anschauen solle, ohne Ton. Wenn man dann<br />
bis zum Ende des 1. Akts wisse, um welches Werk es sich handele, habe<br />
der Regisseur seine Arbeit gut gemacht… Wie muss Musiktheater heute<br />
sein? Aufrüttelnd, provozierend, verstörend, unterhaltend?<br />
Ich habe einen sehr großen Toleranzpegel – den erwarte ich auch vom Publikum.<br />
Ich möchte nicht etwas so machen, wie Sie sich das genau wünschen,<br />
denn dann müssen Sie selbst Regie führen. Theater muss nicht<br />
immer etwas zwingend Neues, aber etwas Ehrliches haben. Wenn in einer<br />
Aufführung das Liebespaar an der Rampe herumsteht, sich nicht ansieht,<br />
während sie ‚Ich liebe dich, ich liebe dich‘ singen und den Dirigenten<br />
niederstarren – dann ist das für mich kein sinnvolles Musiktheater.<br />
Jeder Mensch, gleich welchen Alters und welcher sozialen Schicht, hat<br />
seine freien Gedanken, aber er sollte sich doch bitte eine Offenheit und<br />
einen Respekt vor einer Kunst bewahren, die auch als höchstes menschliches<br />
Gut die Freiheit hat. Man kann durchaus buhen oder ablehnen. Unsere<br />
Sehgewohnheiten hängen auch von Tagesverfassungen ab: Wenn ich<br />
ins Theater gehe und etwas Entspannendes erwarte und ich sehe etwas nicht<br />
Entspannendes, dann gehe ich beim nächsten Mal nicht mehr hin. Womit<br />
ich ein Problem habe, sind die Ewig-Gestrigen, die einfach nur ihre Sichtweise<br />
bestätigt sehen wollen. Es wird nie möglich sein, 100 % des Publikums<br />
gleich glücklich zu machen. Das geht einfach nicht.<br />
Sind junge Menschen heute eher bereit, in ein angesagtes Event zu gehen,<br />
statt in die Oper oder Operette?<br />
Ich sehe das Theater immer auch als etwas Generationenverbindendes. Ich<br />
bitte Sie alle, die jungen wie die älteren Semester, die andere Altersgruppe<br />
mal in der Pause anzusprechen und sich auszutauschen. Wir müssen uns<br />
doch fragen: Wie viele unter 20-jährige oder unter 25-jährige finden Sie<br />
in der Oper? Warum gehen die nicht hin? Welche Schuld tragen wir oder<br />
Sie, dass es als abschreckendes Beispiel gilt, in die Oper zu gehen? Theater<br />
bewegt sich, verändert sich mit der Gesellschaft. Ich muss auch an die<br />
junge Generation denken, Musicals spielen, vermeintlich Unkonventionelles<br />
zulassen, <strong>neue</strong> Sichtweisen anbieten, sonst haben wir in 20 Jahren<br />
kein Publikum und dann bald keine Oper mehr.<br />
Ist vielleicht in den 50-60 Opern, die vorwiegend in unseren Theatern,<br />
vor allem an den großen Häusern, gespielt werden, inzwischen<br />
alles gesagt – wurde jedes Detail ausgeleuchtet? Ist da überhaupt dem<br />
Zuschauer noch etwas Neues zu vermitteln beim x-ten „Trovatore“?<br />
Das zahlende Publikum hat ein Anrecht darauf, das Stück, die Geschichte,<br />
die man erzählt, zu verstehen. Wir haben eine Verpflichtung, als Regisseure<br />
eine Geschichte klar zu erzählen, ohne dass man im Programmheft<br />
mehrere Seiten lesen muss, um sie zu verstehen. Was man einfordern<br />
kann, ist die Beherrschung des Handwerks…es kann natürlich manchmal<br />
auch schief gehen.<br />
Ich mache Theater, weil ich der festen Überzeugung bin, dass Theater unsere<br />
Gesellschaft verbessert, dass es ein Ort der letzten gelebten Utopien<br />
sein kann. Vielleicht können auch die Engstirnigsten einmal eine Scheuklappe<br />
öffnen und nach links oder nach rechts sehen, um sich zu begegnen,<br />
vielleicht auch über ein befremdendes Erlebnis. Ich bin kein Vertreter<br />
dessen, dass man alles wie 1880 macht oder 1950, denn wir sind<br />
inzwischen im 21. Jahrhundert.<br />
Am Gärtnerplatz gibt es für Zeitgenössisches eine gute Tradition, die Sie<br />
mit Cerhas „Onkel Präsident“ und demnächst Wilfried Hillers „<strong>Der</strong><br />
Flaschengeist“ weiterführen. Werden Sie weitere Aufträge vergeben?<br />
Ja, bis 2017/18, solange wie mein Vertrag läuft, sind bereits alle Aufträge vergeben.<br />
Mit dem Fokus auf volksoperntaugliche Stoffe, entweder musikalisch<br />
oder im Libretto, im besten Fall beides. Es wird zwei Musical-, zwei Opern-,<br />
und drei Ballett-Uraufführungen geben. Bei der Operette wird es schwierig,<br />
aber mir schwebt so eine Art Volksoperette oder Singspiel vor – wahrscheinlich<br />
werden wir da auch zwei Uraufführungen haben. Ich versuche,<br />
in den nächsten sechs Jahren zehn bis dreizehn Uraufführungen zu machen.<br />
Sie sind bekennender Operettenliebhaber. Was macht Operette heute<br />
noch interessant?<br />
In der Zeit vor dem 2. Weltkrieg hat man alles Jiddische, Transvestitische,<br />
Schwule, Brisante, Sozialkritische aus der Operette gestrichen. Ab den 50er<br />
Jahren spielte man dann Operette – nicht überall, aber sehr häufig – in<br />
einer netten, leicht vertrottelten Haltung. Seit einiger Zeit scheint eine<br />
Trendwende beim Publikum stattzufinden. Man will wieder Operette sehen,<br />
Operette ist wieder salonfähig. Und zwar in der <strong>neue</strong>n, alten Form,<br />
also fernab von der Betulichkeit der Wirtschaftswunderzeit. Für diese <strong>neue</strong><br />
Operette stehen die Komische Oper Berlin, wo man die Revue-Operette<br />
pflegt, das Gärtnerplatz-Theater mit einem Mix aus klassischer und Revue-Operette<br />
und natürlich die Wiener Volksoper.<br />
Bei manchen szenischen oder konzertanten Operettenaufführungen<br />
fällt auf, dass gerade junge Sänger sich schwer tun, dem Gesang und<br />
der Sprache die nötige Leichtigkeit zu geben.<br />
Man muss junge Sänger auch mit dem Operette-Singen betrauen, damit<br />
sie es lernen. Wir werden im zukünftigen Gärtnerplatz-Ensemble vier Positionen<br />
haben für Operette und Spieloper. Ich möchte ein Opernstudio<br />
speziell für Opéra comique machen – das muss finanziert werden. Wie,<br />
weiß ich noch nicht. Aber wir müssen das machen. Denn es ist jetzt schon<br />
schwierig, genügend begabte Singschauspieler für Operetten zu finden.<br />
Sie als Publikum können auch helfen, junge Sänger für die Operette zu<br />
begeistern: Applaudieren Sie nicht nur dem hohen C des Operntenors,<br />
sondern bejubeln Sie ebenso den Operettensänger.<br />
Wie geht es weiter mit dem Gärtnerplatztheater?<br />
In diesen „Wanderjahren“ muss ich zu 80 % Stücke bringen, die ich, wenn<br />
wir wieder eröffnen, übernehmen kann ins Repertoire. Eigentlich müsste<br />
ich sofort anfangen, ein Ensemble zu beschäftigen. Damit fängt man zwei<br />
Jahre vorher an. Aber wir warten noch, bis der endgültige Einzugstermin<br />
ins renovierte Haus feststeht.<br />
Was für Theaterbesucher wünschen Sie sich?<br />
Bewahren Sie sich Ihre Aufgeschlossenheit, Ihren Enthusiasmus und seien<br />
Sie allen Theatern Münchens gewogen. Und haben Sie Humor – besser<br />
drüber lachen als sich ärgern. <br />
Jakobine Kempkens<br />
Tareq Nazmi – Bass und Münchner –<br />
Dass Tareq Nazmi 1983 in Kuwait das Licht der Welt erblickte, lag daran,<br />
dass sein ägyptischer Vater dort als Musiklehrer tätig war. Tareqs<br />
Mutter ist Deutsche, und schon als Baby kam er mit seiner Familie nach<br />
München. Hier ist er aufgewachsen, zur Schule gegangen und hat an der<br />
Hochschule für Musik und Theater studiert, bis 2010 bei Edith Wiens.<br />
Seit Herbst 2010 war er Meisterklassenstudent von Christian Gerhaher.<br />
Neben seinem Studium besuchte Tareq Nazmi Meisterkurse bei Matthias<br />
Goerne, Dmitri Hvorostovsky, Malcolm Martineau, Brian Zeger, Rudolf<br />
Piernay, Margot Garret, Denise Massé und Stephan King.<br />
<strong>Der</strong> Bassist mit dem exotischen Namen ist also ein Münchner durch und<br />
durch. Dass Tareq Sänger wurde, was ihn ursprünglich gar nicht interessiert<br />
hatte, hat sich erst nach und nach ergeben. Zunächst lernte er Geige<br />
bei seinem Vater, dann zog ihn die Schwester mit zum Chor, in dem sie<br />
sang, dort entdeckte man sein beachtliches „Material“ – und dann nahmen<br />
die Dinge ihren bestmöglichen Lauf.<br />
48 | DER NEUE MERKER 12/2013
Deutschland<br />
Tareq wurde Mitbegründer der Nostalphoniker, eines Ensembles in der<br />
Tradition der Commedian Harmonists, wo er sein naturgegebenes komisches<br />
Talent ausleben konnte.<br />
In der Liste der „möglichen“ Rollen führt Nazmi u. a. Rossinis Basilio<br />
an – das wär’s doch: eine Idealpartie für den langen Kerl mit dem komischen<br />
Talent und der tollen Bass-Stimme.<br />
Diverse Preise, national und international, konnte Tareq Nazmi erringen<br />
und erste Bühnenerfahrung sammelte der junge Bass bei den Produktionen<br />
der Bayerischen Theaterakademie und des Opernstudios der Bayerischen<br />
Staatsoper. Als Mitglied des Opernstudios war er in München in einigen<br />
Produktionen zu sehen, wie z. B. in einer „Fidelio“-Inszenierung von Calixto<br />
Bieito (2. Gefangener), in „Cenerentola“ (Alidoro), als Marquis d’Obigny in<br />
„La Traviata“ oder als Sir Gualtiero in „Roberto Devereux“ mit Edita Gruberova.<br />
– Mit der Spielzeit 2012/2013 wurde Tareq Nazmi fest ins Ensemble<br />
der Bayerischen Staatsoper übernommen, wo er als Zuniga, Masetto,<br />
Don Fernando und zunehmend immer größeren Partien zu erleben ist.<br />
Als Sarastro, also in einer der wohl wichtigsten Bass-Partien, hat er bereits<br />
am Theater Augsburg gastiert und war bei der bayerischen „Zauberflöte“<br />
von Enoch zu Guttenberg Anfang November in derselben Rolle zu<br />
erleben, hier allerdings als verkleideter König Ludwig - diese Produktion<br />
wurde erfreulicherweise aufgezeichnet.<br />
Neuer vielversprechender Baß -<br />
Tareq Nazmi (© privat)<br />
Als Konzertsänger war Nazmi<br />
schon während des Studiums<br />
sehr gefragt, nicht nur in und<br />
um München, sondern auch<br />
landesweit und bei Auslandseinsätzen<br />
in Übersee. Da hat<br />
er sich bereits ein recht umfangreiches<br />
Repertoire erarbeitet.<br />
Bei zahlreichen Konzertveranstaltern<br />
kann man seinen<br />
Namen lesen, bei Oratorien<br />
und Messen ebenso wie bei<br />
weltlichen Programmen. Tareq<br />
Nazmi war bei unterschiedlichen<br />
konzertanten Opernaufführungen<br />
des Münchner<br />
Rundfunkorchesters dabei, u.<br />
a. in „Macbeth“ unter der Leitung<br />
von Friedrich Haider, in<br />
„Silvana“ von Carl Maria von<br />
Weber und „Orfeo“ von Monteverdi/Orff,<br />
in „La Bohème“<br />
als Colline, alles unter der Leitung des Chefdirigenten Ulf Schirmer. 2009<br />
war er an der dortigen Erstaufführung von Beethovens 9. Sinfonie in Hanoi<br />
(Vietnam), mit dem Vietnam National Symphony Orchestra unter<br />
der Leitung von Jonas Alber, beteiligt.<br />
Mit Enoch zu Guttenberg arbeitet Tareq Nazmi regelmäßig zusammen, unter<br />
dessen Leitung er im Sommer 2012 mit Beethovens 9. Sinfonie beim Herrenchiemsee-Festival<br />
zu hören war. Sein Einstand beim Schleswig Holstein<br />
Musik Festival bei einem Goethe-Abend gemeinsam mit Christiane Karg,<br />
Michael Nagy und Gerold Huber war mehr als erfolgreich: „<strong>Der</strong> junge Bass<br />
Tareq Nazmi – eine sensationelle Entdeckung!” – so das Hamburger Abendblatt<br />
im August. Unter der Leitung von Manfred Honeck war er zu Gast<br />
beim Wolfegg Festival sowie auf einer Tournee mit Mozarts Requiem mit<br />
dem Münchner Kammerorchester unter Alexander Liebreich in Berlin,<br />
Weingarten und München. Eine Tournee mit dem Orchestre des Champs<br />
Elysées unter Philippe Herreweghe führte ihn zu den Festivals nach Edinburgh,<br />
Luzern und Grafenegg (auf dem Programm: Bruckners Te Deum).<br />
Mit dem Requiem von Mozart debütierte er 2013 auch beim Washington<br />
National Symphony Orchestra unter Christoph Eschenbach. Im selben<br />
Werk war er gerade in München in der Michaelskirche zu erleben.<br />
War Nazmi bei zu Guttenberg Sarastro, so ist er in der „Zauberflöten-<br />
2-November-Serie der Bayerischen Staatsoper als Sprecher vertreten. Großes<br />
Ziel: noch nichts Bestimmtes. <strong>Der</strong>zeit arbeitet Nazmi an der Erweiterung<br />
seiner Höhe (weiß man, wo das hinführt?), die schöne, volle Tiefe<br />
hat er ohnehin. Große Wunschpartie: Da erwartet den jungen Künstler<br />
ja noch bergeweise das große Bass-Repertoire. – Was er schon griffbereit<br />
hat und was bald kommen könnte u. m. findet man auf seiner Website -<br />
ebenso beeindruckende Hörproben.<br />
Das mit dem Rigoletto als Wunschpartie dürfte wohl eher dem interessanten<br />
Rollencharakter geschuldet sein denn als stimmliches Ziel angesehen<br />
werden – wäre ja schade um den schönen Bass…<br />
Eine eigene Familie hat Tareq Nazmi noch nicht gegründet. Für Hobbys<br />
bleibt nicht viel Zeit, wobei ja sein Hobby auch sein Beruf ist. Zum Ausspannen<br />
geht Nazmi gerne mal in Berge zum Klettern. Ansonsten müsste<br />
er sich eigentlich wie im 7. Himmel fühlen, weil alles so wunderbar läuft<br />
für ihn und er nun auch gleich an seiner heimischen Staatsoper engagiert<br />
wurde, worüber nicht zuletzt auch die Opernbesucher glücklich sind,<br />
die diesen immer freundlichen Menschen und großen Hoffnungsträger<br />
der Bass-Gilde bereits ins Herz geschlossen haben. Dorothea Zweipfennig<br />
Philharmonie: ANGELA GHEORGHIU auf Tournee<br />
– mit Tenor CHARLES CASTRONOVO – 8.11.<br />
Sie sei eine Diva par excellence, heißt es allgemein. Kann einem doch<br />
egal sein, entscheidend ist, was für den Zuschauer/-hörer dabei herauskommt.<br />
Vor längerer Zeit erlebte ich eine Traviata an der Staatsoper mit<br />
ihr, wobei sie von mehreren geplanten Aufführungen nur die erste sang,<br />
die aber war eine Sternstunde im Zusammenspiel mit Jonas Kaufmann.<br />
Bei ihrem Konzert in München sang sie zwar sehr gepflegt mit ihrem apart<br />
edel timbrierten Sopran, aber doch wohl ein wenig auf Sparflamme, wie<br />
mir schien. Nach einigen etwas lauter produzierten Spitzentönen flippten<br />
ihre Fans dann allerdings jedes Mal beglückt aus. Ein bisschen mag<br />
es auch platzabhängig gewesen sein, wie gut Gheorghius Stimme beim<br />
jeweiligen Hörer ankam. (Das hat nicht explizit etwas mit der Münchner<br />
Philharmonie zu tun, das ist in ziemlich allen Konzertsälen so).<br />
Diese ihre erste Tournee dieser Art führte sie derzeit durch drei deutsche<br />
und weitere europäische Städte. 3 Tenöre durften La Gheorghiu auf dieser<br />
Tour begleiten: In Frankfurt der Amerikaner Stephen Costello, in<br />
Hamburg der Brasilianer Atalla Ayan und in München der Amerikaner<br />
Charles Castronovo.<br />
Charles Castronovo ist nun wirklich so ein Typ zum Liebhaben. Bei seinem<br />
Auftritt an der Staatsoper in „Lucrezia Borgia“, neben der Gruberova,<br />
hatte er sowohl gesanglich als auch darstellerisch stark überzeugen können.<br />
Auf dem ergreifenden DVD-Mitschnitt von „Il Postino“ mit Domingo<br />
ergreifen einen diese beiden zu Tränen. Gerade war Castronovo zu 3 Aufführungen<br />
der Münchner „Cosi“ im Lande und sollte hier auch Mitte Dezember<br />
eine „Bohème“-Serie singen (die wurde aktuell mit Stephen Costello<br />
umbesetzt). Geplant sind zum Jahreswechsel noch 3 „Traviatas“ mit<br />
Castronovo und Costellos Ehefrau Aylin Perez. Castronovos jugendlicher,<br />
mit strahlenden Höhen gesegneter Tenor erfreute in den (intensiv ausgespielten)<br />
Duetten aus „Traviata“, „Amico Fritz“, „Elisir d’Amore“, und<br />
dem großen Liebesduett aus „Romeo et Juliette“ – nein, was schmuste<br />
die Diva da mit ihrem bel Tenore (im Juli war ihr sogar ein Techtelmechtel<br />
mit ihm nachgesagt worden*), sowie mit Arien aus „L’Arlesiana“ und<br />
„Romeo et Juliette“ (Ah, lève toi…). Angela Gheorghiu sang neben den<br />
erwähnten Duetten Arien aus Händels „Serse“, Rusalkas Mondlied und<br />
Catalanis Wally-Arie.<br />
Das Konzertprogramm, erweitert durch ein paar mehr oder weniger befriedigende<br />
Zwischenspiele der Philharmonie Bohuslav Martinů unter<br />
Tiberiu Soare, endete um 22:00 Uhr; dann aber gab es noch 35 Min. Zu-<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 49
Deutschland<br />
gaben. Bedauerlicherweise reservierte Frau Gheorghiu diese alle für sich.<br />
Sogar die beiden Tenorschlager, „Non discordar di me“ und „Granada“ sang<br />
sie unisono zusammen mit dem Tenor, dabei hätte man „Charly“ dieses<br />
durchaus gerne alleine schmettern hören. Angela sang hier noch das „Ave<br />
Maria“ aus „Otello“, „Il mio babbino caro“, sowie für das deutsche Publikum<br />
„Guten Abend, gut‘ Nacht“ und für ihre anwesenden rumänischen<br />
Landsleute ein rumänisches Volkslied a cappella – hier klang ihre Stimme<br />
besonders schön. <br />
Dorothea Zweipfennig<br />
„Konstantin Wecker & Angelika Kirchschlager“:<br />
„Liedestoll – 9.11.<br />
Gemischtes Doppel - Angelika Kirchschlager und Konstantin Wecker<br />
(© Nikolaus Karlinsky)<br />
Einer der beliebtesten deutschen Liedermacher und eine Opernsängerin<br />
singen gemeinsam Politisches, Poetisches – Bekanntes und Neues von Wecker,<br />
Schumann, Schubert und Strauss. Als kongeniale Partner begleiteten<br />
Jo Barnikel am Klavier, Sebastian Trimolt am Schlagwerk und das<br />
Spring String Quartett.<br />
Man war gespannt, wie das zusammengehen sollte: Ein Widerborst wie Wecker<br />
und eine glutvolle Mezzosopranistin wie Kirchschlager. Und war überrascht<br />
– denn Wecker war (das wissen seine altgedienten Fans seit langem)<br />
niemals nur linker Revoluzzer, sondern er ist vor allem ein hinreißender<br />
Poet, einer der die Worte und Verse wägt und dreht und dann ganz zarte,<br />
filigrane Melodien für seine Texte findet. Und Angelika Kirchschlager, sie<br />
wollte schon immer mal politische Lieder singen, noch besser ein Kampflied<br />
– bekennt sie. Wecker wiederum verehrt Schumann und noch mehr<br />
Schubert, versuchte sich schon früh, nämlich als 11-Jähriger, mit hohem Sopran<br />
am „Heideröslein“, wie die Einspielung zu Beginn des Abends zeigte.<br />
Beiden Künstlern gelang ein fulminanter Abend. Wecker- sowohl wie<br />
Kirchschlager-Fans durften <strong>neue</strong> Seiten an ihren Lieblingen entdecken<br />
und spätestens bei den Zugaben, beim wilden Improvisieren auf dem Flügel<br />
zwischen Wecker und Jo Barnikel verschwammen die Grenzen zwischen<br />
E- und U-Musik. Zuvor war man berührt von Konstantin Wecker<br />
als „Leiermann“, begleitet von Angelika Kirchschlager am Flügel oder „Sag<br />
mir liebe Erde“ aus Weckers Hundertwasser-Musical, das schlicht und dafür<br />
umso eindringlicher von Angelika Kirchschlager vorgetragen wurde.<br />
Es gab immer wieder Nachdenkliches, Zartes wie das „Kleine Herbstlied“<br />
und Großartiges, Ungewohntes wie das gemeinsam vorgetragene „<strong>Der</strong><br />
Tod und das Mädchen“ oder der „Erlkönig“ begleitet von einer E-Gitarre.<br />
Natürlich fehlten auch die vom Publikum stürmisch begrüßten Ohrwürmer<br />
wie „Was ich an dir mag“, „Empört euch“ oder „Liebesflug“ nicht.<br />
Man spürte den großen Spaß, den beide Künstler bei diesem Austausch<br />
hatten, die Sorgfalt, mit der das Programm zusammengestellt wurde. Wecker<br />
moderierte launig und erzählte augenzwinkernd so manche Entstehungsgeschichte<br />
von Liedern.<br />
Standing ovations für ein großartiges Konzert, ein sich begeistert Zugaben<br />
erklatschendes Publikum, das schließlich gegen 23 Uhr mit einem<br />
kleinen Gedicht von Wecker heimgeschickt wurde. Jakobine Kempkens<br />
MOZART im Michaelskonzert/Jesuitenkirche St. Michael –<br />
17.11.<br />
Hatte bei der Jubiläums-Matinee der Bayer. Staatsoper Landtagspräsidentin<br />
Stamm noch erzählt, dass man seinerzeit Mozart an Münchens Oper aus dem<br />
einfachen Grund nicht gebrauchen konnte, weil keine Planstelle frei war, so<br />
wies Dr. Frank Höndgen vor Beginn des Konzertes darauf hin, dass in St. Michael<br />
schon immer Platz für Mozart gewesen sei, zumindest für seine Werke.<br />
Am Sonntag, 17.11. um 16 Uhr wurde in St. Michael in einem festlichen<br />
Chor- und Orchesterkonzert das Requiem d-Moll KV 626 von W. A.<br />
Mozart aufgeführt. Mozarts letztes Werk wurde mit einem ebenfalls in<br />
seinen letzten Lebenswochen entstandenen Werk kombiniert, dem Klarinettenkonzert<br />
KV 622.<br />
Die Musik an der Jesuitenkirche St. Michael blickt auf eine über 400-jährige<br />
Tradition zurück und war immer ein besonderer kultureller Anziehungspunkt.<br />
1597 von Wilhelm V. ins Leben gerufen und von Orlando di Lassos Bruder Rudolfo<br />
begründet, war der Chor maßgeblich an der Wiederbelebung der Musik<br />
alter Meister beteiligt. Auch als 1804 das angegliederte Seminar aufgehoben<br />
wurde, gelang es, einen eigenen Chor und auch ein eigenes Orchester zu erhalten.<br />
So hat bis heute die Kirchenmusik ihren besonderen Stellenwert in St. Michael.<br />
<strong>Der</strong> große Chor der St. Michaelskirche gestaltet hauptsächlich das sonntägliche<br />
Hochamt. Das Repertoire umfasst alle bedeutenden Ordinariumsvertonungen<br />
vom 17. – 19. Jh. In den nächsten Jahren wird der Chor neben der<br />
selbstverständlichen Pflege des traditionellen Repertoires auch Messkompositionen<br />
des 20. Jhs. erarbeiten. Neben seinen liturgischen Aufgaben singt der<br />
Chor große Werke des geistlichen Konzertrepertoires.<br />
Im Orchester St. Michael spielen Musiker aus allen bedeutenden Orchestern<br />
der Landeshauptstadt. Unter dem langjährigen Leiter Prof. Elmar Schloter<br />
wurden fast alle großen Messvertonungen aufgeführt. Nun hält auch das<br />
Repertoire für Orgel und Orchester und die Musik des 20. und 21. Jhs. nach<br />
und nach Einzug in Liturgie und Konzert der Michaelskirche.<br />
Die beiden Klangkörper stehen für hohe künstlerische Qualität und haben<br />
in Dr. Frank Höndgen einen hochqualifizierten und ambitionierten<br />
Chef. Die zahlreichen Konzerte in St. Michael verzeichnen sowohl einen<br />
sehr guten Zuhörer-Zulauf als auch reichlich Anfragen von Künstlern, dort<br />
musizieren zu dürfen. Dies betrifft u. a. auch namhafte Organisten, welche<br />
gerne an der von Michaelsorganist Peter Kofler betreuten Rieger-Orgel<br />
(2011 modernisiert und erweitert) spielen wollen. <strong>Der</strong> letzte Orgelherbst<br />
wies in diesem Sinne zahlreiche bedeutende Kirchenmusiker-Namen auf.<br />
17.11.: <strong>Der</strong> Soloklarinettist des Bayerischen Staatsorchesters, Andreas<br />
Schablas, spielte zu Beginn Mozarts Klarinettenkonzert A-Dur, KV 622,<br />
mit großer Intensität und angenehm weichem Klang.<br />
Dann zum Hauptwerk, Mozarts Requiem d-Moll KV 626. Darf man<br />
als Rezensent eine Vokabel wie „erbaulich“ verwenden? Zumindest empfand<br />
nicht nur ich diese Aufführung so.<br />
Man muss sich zwar erst einmal an den starken Hall in diesem zwar gar nicht<br />
so großen, aber sehr hohen Kirchenraum gewöhnen, ein Raum für vorzugsweise<br />
getragene Tempi. Frank Höndgens Dirigat war nicht nur dem angemessen,<br />
er ließ auch wohltuend normal musizieren, soll heißen, er vermied<br />
klanglich übertriebenes „Historisieren“, eine Sache, die ja nicht unbedingt<br />
jedermanns Gusto entspricht. Neben dem großartigen Chor und Orchester<br />
trug auch das ausgezeichnete Solistenquartett zum hohen Niveau der Aufführung<br />
bei. Voran Tareq Nazmi mit seinem Samtbass, gefolgt von Okka<br />
von der Damerau mit warm tönendem Mezzo. Bettina Kühnes klarer Sopran<br />
hatte fast etwas Knabenhaftes und Markus Zeitlers heller Tenor den<br />
typischen Evangelisten-Klang (Oratorien). Dorothea Zweipfennig<br />
50 | DER NEUE MERKER 12/2013
Deutschland<br />
Dresden: „Tannhäuser“ – 31.10.<br />
Peter Konwitschnys „Tannhäuser“ – Inszenierung stammt aus dem<br />
Jahre 1997. Von Abnutzungserscheinungen kann keine Rede sein. Bereits<br />
die Ouvertüre offenbarte die Qualitäten der Sächsischen Staatskapelle<br />
Dresden. Wagner selber hätte an seiner „Wunderharfe“ ungetrübte<br />
Freude gehabt. Constantin Trinks und seine Musiker zelebrieren<br />
einen mit angemessenen Tempi ausgestatten nervigen Wagner. Da wird<br />
nichts zu dick aufgetragen oder unnötig in die Länge gezogen. Wunderbar<br />
gelingt es, die Situationen auf der Bühne musikalisch zu untermalen.<br />
<strong>Der</strong> Sängerkrieg besitzt Präzision und dramatische Spannung –<br />
das Vorspiel zum 3. Akt gestaltet sich zu einem atmosphärisch dichten<br />
Stimmungsbild.<br />
Bei Konwitschny ist Tannhäuser der nach Wahrheit suchende Künstler.<br />
Die Wartburggesellschaft ist in ihrem Denken und Handeln verkrustet.<br />
Tannhäuser muss ihr den Rücken kehren. Die antike sinnliche Welt<br />
der Venus scheint ein Pendant zu sein, entpuppt sich jedoch als Albtraum.<br />
Die Suche nach dem Heil in Rom erweist sich ebenfalls als Irrfahrt.<br />
Während die anderen Pilger entsühnt, jedoch ihrer Identität beraubt,<br />
aus Rom zurückkehren, kriecht Tannhäuser zerknirscht auf die<br />
Bühne. An der Seite Elisabeths gibt er sich den Tod. Konwitschny findet<br />
für seine Lesart mit seinem Ausstatter Hartmut Meyer und seiner<br />
Kostümbildnerin Ines Hertel beeindruckende Bilder und Momente.<br />
Nicht jeder im Publikum wird diese Ansicht teilen. Freilich schlägt Konwitschny<br />
bei der einen oder anderen Szene auch über die Stränge. Aber<br />
das kennt man inzwischen.<br />
Innerhalb kürzester Zeit hatte Frank von Aken die Titelpartie übernommen.<br />
Er weilte in Dresden, um sich intensiv auf den Tristan vorzubereiten.<br />
Das Ergebnis muss daher mit Respekt betrachtet werden.<br />
<strong>Der</strong> Sänger verfügt über einen baritonal gefärbten Tenor, der sich kraftstrotzend<br />
in Szene zu setzen weiß. Angesichts tagelanger „Tristan“-Proben<br />
ging der Sänger ökonomisch mit seinen Kräften um. Ermüdungserscheinungen<br />
zeigte er im 3. Akt. Dort deklamierte er mehr, als dass er<br />
sang. Mich störte es nicht. Ich empfand es eher als rollendeckend, denn<br />
Tannhäuser ist am Boden zerstört.<br />
Marjorie Owens war im 2. Akt eine sehr selbstbewusste Elisabeth, die<br />
sich emotionsgeladen schützend vor Tannhäuser stellt. Im 3. Akt gefällt<br />
ihre beseelte Gestaltungsintensität. Die Partie der Venus wurde mit verführerischem<br />
Ton und äußerst höhensicher von Michelle Breedt gesungen.<br />
Christoph Pohl war ein gesanglich wie darstellerisch ein hinreißender<br />
Wolfram. Mit herrlich fließender und wohlklingender Stimme<br />
stattete er diese Figur aus. Hervorzuheben ist seine beispielhafte Artikulation.<br />
Jede Phrasierung war angemessen und durchdacht.<br />
Selbst Insider können sich nicht daran erinnern, dass in dieser Inszenierung<br />
außer Tom Martinsen ein anderer Interpret den Walther von<br />
der Vogelweide gesungen hätte. Ein zuverlässiger Sänger, der mit schöner<br />
Stimmgebung und ansprechendem Tenor seine Aufgabe erfüllte!<br />
Erstmalig sang Tilmann Rönnebeck die Partie des Landgrafen. <strong>Der</strong><br />
Bassist verfügt über eine sehr kultiviert klingende Stimme. <strong>Der</strong> Sänger<br />
ging allerdings recht vorsichtig zu Werke. Raumfüllend war sein Vortrag<br />
nicht. Seiner Stimme fehlte es gelegentlich auch an Tiefe. Die Figur des<br />
Landgrafen blieb aus meiner Sicht daher etwas unterbelichtet. Gut in<br />
Szene zu setzen wusste sich dagegen Bernd Zettisch als Biterolf. Seine<br />
robuste Stimme passte so recht zu der Person, die Tannhäuser sehr treffend<br />
beschreibt. Timothy Oliver als Heinrich der Schreiber und Tomislav<br />
Lucic Reinmar von Zweter passten sich nahtlos in die Gruppe<br />
der Minnesänger ein. Tadellos erfüllte Christiane Hossfeld ihre Aufgabe<br />
als Hirtenknabe. Ein Garant für die Qualität der Aufführung waren<br />
die von Pablo Assante hervorragend einstudierten Chöre, die weder<br />
Klangfülle noch Perfektion vermissen ließen.<br />
Das Publikum honorierte die solistischen Leistungen mit entsprechend<br />
abgestuftem Applaus. Einhellig und frenetisch war jedoch der Jubel für<br />
Constantin Trinks und die Staatskapelle. Christoph Suhre<br />
„Carmen“ – 25.11. (Pr.28.10.)<br />
Opern, die in der Publikumsgunst sehr weit oben stehen, sind zweifellos<br />
mit vielen Erwartungshaltungen und Klischees beladen. Um dem zu entgehen,<br />
versuchen Regisseure oftmals, <strong>neue</strong> Lesarten zu konzipieren, die<br />
mit dem eigentlichen Stück kaum noch etwas gemein haben. Dem geht<br />
Axel Köhler bei seiner Dresdner „Carmen“-Inszenierung aus dem Weg.<br />
Er stellt Beziehungen zwischen den Figuren her und bezieht Impulse aus<br />
der Partitur. Für ihn ist Carmen eine begehrenswerte junge Frau, die nicht<br />
mit ihren Reizen geizt und die leidenschaftlich unterschiedlichste Situationen<br />
bis zur Neige auskostet und auslebt. Dass José ihr nicht sofort zu<br />
Füßen liegt, befremdet sie. Sie muss aktiv werden. Don José verfällt ihr.<br />
Dann begegnet sie Escamillo. Durch ihn fühlt sie sich aufgewertet. Er,<br />
der aus einer höheren Schicht stammt, bekennt ihr gegenüber öffentlich<br />
seine Liebe. Axel Köhler erzählt das geradlinig und schnörkellos. Er ist<br />
sich allerdings auch dessen bewusst, dass ganz im Shakespearschen Sinne<br />
tragische Momente auch komische Gegengewichte brauchen. Auch das<br />
funktioniert im Wesentlichen ohne Brüche. Die Choreografin Katrin<br />
Wolfram nutzt die stellenweise leichte und federnde Musik Bizets dazu,<br />
einige Auftritte tänzerisch zu gestalten. Betroffen sind davon vor allem<br />
die Szenen der Schmuggler. Viel Bewegung gibt es auch in dem Bühnenbild<br />
von Arne Walther. Es entstehen immer wieder <strong>neue</strong> Räume, die, obwohl<br />
sie klare Strukturen besitzen, dem Publikum Fantasie abverlangen.<br />
Carmen - Nadja Mchantaf mit Escamillo - Kostas Smoriginas<br />
(© Creutziger)<br />
Die Dresdner Inszenierung besticht freilich auch dadurch, dass alle Partien<br />
sehr ausgewogen besetzt werden können und dass die Staatskapelle<br />
unter der musikalischen Leitung von Josep Caballé-Domenech Bizets<br />
Musik in allen möglichen Schattierungen exzellent zu Gehör bringt. Es<br />
fehlt weder an Leidenschaft und Feuer noch an Sinnlichkeit und Anmut.<br />
Einzelnen Orchesterstimmen lauscht man mit Genuss.<br />
Anke Vondung stellt eine sehr selbstbewusste, aber nie vordergründig<br />
agierende Carmen auf die Bühne. Sie lässt die Titelfigur nicht unbedingt<br />
als „femme fatale“ erscheinen, die mit ihrem Eroszauber die Männerwelt<br />
herabzieht. Sie singt mit schöner natürlicher Stimmgebung, bleibt ihrem<br />
Part vielleicht in den Tiefen etwas schuldig, besticht dafür aber mit mühelosen<br />
Höhen. Die sogenannte Kartenarie gestaltet sie besonders bewegend.<br />
Es ist ein Moment innerer Zurückgezogenheit, in dem alles andere<br />
um sie herum erstarrt. Dass sie sich am Schluss ihrem Schicksal relativ<br />
widerstandslos ergibt, befremdet allerdings. Die Micaela ist ein sehr ernst<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 51
Deutschland<br />
zu nehmender Widerpart zu Carmen. Sie gibt sich in allen Situationen sehr<br />
couragiert. Ihre Liebe zu Don José bekennt sie recht offen. Nadja Mchantaf<br />
aus dem Ensemble der Staatsoper hat sich in letzter Zeit großartig entwickelt.<br />
Ihre raumfüllende und tragfähige Stimme besitzt Geschmeidigkeit<br />
und Glanz. Ihre Arie in der Felsenschlucht (hier eher ein Schmugglercamp)<br />
stattet sie mit kräftigen und leuchtenden Spitzentönen aus. Das war höchst<br />
beeindruckend. Das Selbstbewusstsein dieser jungen Frau wird auch durch<br />
ihr Outfit (Kostüme: Henrike Bomber) unterstrichen. Blonde Zöpfchen<br />
und blaues Kleidchen wären völlig deplatziert! Marcello Giordani ist alles<br />
andere als ein naiver Bursche vom Land. Dieser Don José hat eine gehörige<br />
Portion an Charisma. Dazu passt auch die kräftige, ebenmäßig glänzende<br />
und höhensichere Stimme des Tenors. Giordani verfügt auch über<br />
entsprechende Reserven, um die Schlussszene emotional glaubhaft zu gestalten.<br />
Nicht zu überhören waren einige Anpassungs- und Abstimmungsprobleme.<br />
Als Escamillo hat Kostas Smoriginas in der Schenke reichlich<br />
Gelegenheit, seinen Modellkörper zu präsentieren. Seinen Auftritt begleiten<br />
drei Prostituierte. Für diesen Torero scheint zunächst alles Show zu sein.<br />
Die Begegnung mit Carmen hinterlässt allerdings Spuren. Dieser Bassbariton<br />
aus Litauen gefällt durchweg mit seiner kernig männlichen Stimme.<br />
In der Taverne des Lillas Pastia begegnet man auch anderen zwielichtigen<br />
Gestalten. Da sind zum einen Frasquita und Mercédès, die hier jobben und<br />
zum Vergnügen der Männer auch mal eine Tanznummer auf dem Tisch vollführen,<br />
und zum anderen Remendado und Dancairo, die nebulösen Geschäften<br />
nachgehen. Axel Köhler nutzt diese Figuren, um den tragischen<br />
Elementen zu begegnen. Singend und tanzend scheinen sie das Leben zu<br />
genießen. Die Musik gibt das her. Das Musical lässt grüßen. Norma Nahoun<br />
und Angela Liebold wirbeln ebenso agil und munter über die Bühne<br />
wie auch Timothy Oliver und Simeon Esper. Gesanglich sind sie bestens<br />
aufeinander abgestimmt. Tilmann Rönnebeck gefällt als Zuniga, Pavol<br />
Kubán als Moralès. In der Einstudierung von Pablo Assante konnte der<br />
Staatsopernchor wie immer seine Klasse unter Beweis stellen. Ein großes<br />
Kompliment verdient auch der engagiert singende Kinderchor.<br />
Diese turbulente und weitgehend stimmige Inszenierung dürfte den Dresdnern<br />
und ihren Gästen gefallen. <br />
Christoph Suhre<br />
Nicht nur Dresden, sondern auch die zauberhafte Umgebung dieser Stadt<br />
sind seit jeher magischer Anziehungspunkt für Maler, Dichter und Komponisten.<br />
Richard Wagner verbrachte einige Jahre seiner Kindheit in Elbflorenz,<br />
ehe er 1827 wieder in seine Geburtsstadt Leipzig zurückkehrte. Anstellungen<br />
führten ihn danach u. a. nach Würzburg, Magdeburg und Riga.<br />
Die Furcht vor Gläubigern trieb ihn schließlich nach London und Paris,<br />
ehe er 1842 als Kapellmeister an die berühmte Dresdner Oper verpflichtet<br />
wurde. Nachdem hier seine Opern „Rienzi“, „<strong>Der</strong> fliegende Holländer“ und<br />
„Tannhäuser“ uraufgeführt wurden, gönnte er sich im idyllisch vor den Toren<br />
Dresdens gelegenen Graupa eine Art Auszeit. Hier holte er sich Anregungen<br />
für Neues. Und das sollte der „Lohengrin“ sein. Ausgedehnte Wanderungen<br />
führten Richard Wagner mit Sicherheit auch in den „Liebethaler<br />
Grund“. Eine einzigartige Landschaft! Wer die Einmaligkeit dieser Region<br />
genießen will, lässt am besten sein Auto in Lohmen stehen.<br />
<strong>Der</strong> Grund galt ursprünglich als Eingangspforte zur Sächsischen Schweiz.<br />
<strong>Der</strong> jetzige Fußweg wurde 1841 angelegt. Mit Sicherheit wandelte Wagner<br />
auf diesem Pfad und ließ sich inspirieren. Man wähnt sich der Welt entrückt.<br />
Ab und an huscht ein Sonnenstrahl durch den laubbedeckten Wald.<br />
Sandsteinfelsen schließen den Grund ein. <strong>Der</strong> Wasserlauf der Wesenitz<br />
wird zum Wegbegleiter. Und plötzlich vernimmt man in der Stille das Vorspiel<br />
zum ersten Akt „Lohengrin“… Sphärenhafte Klänge, die nach wenigen<br />
Takten eine monumentale Größe annehmen. Und nun gewahrt man<br />
auch in Form eines 12,5 Meter hohen bronzenen Denkmals den Meister<br />
selbst. Es zeigt Richard Wagner überlebensgroß als Gralsritter mit Harfe und<br />
der Schale des heiligen Grals. Die fünf Gestalten, die ihn umgeben, verkörpern<br />
Elemente seiner Musik: <strong>Der</strong> Jüngling mit dem Schwert das tragische,<br />
die Frauengestalt mit dem Schatzkästlein das lyrische, das lauschende<br />
Mädchen das sphärische und der Jüngling mit dem Becher das dionysische.<br />
<strong>Der</strong> Schöpfer dieses Denkmals ist der Dresdner Bildhauer Professor Richard<br />
Guhr, der ein großer Verehrer des Komponisten war. Das 1912 entworfene<br />
Denkmal sollte zunächst im Großen Garten in Dresden aufgestellt werden.<br />
Das Richard-Wagner-Denkmal im<br />
Liebethaler Grund<br />
Ein Denkmal seiner selbst - in der Sächsischen Schweiz (© Christop Sure)<br />
Es wurde jedoch in dieser Version nicht realisiert. Bei der Suche nach einem<br />
geeigneten Standort kam man zu dem Schluss, dass der Aufstellungsort<br />
mit dem Leben und Werk Wagners in Einklang stehen sollten. Deshalb<br />
wurde es 1932/33 an dem Ort errichtet, an dem die ersten Kompositionsskizzen<br />
zu „Lohengrin“ (1846) entstanden. Wanderer verweilen in Demut<br />
vor dem monumentalen Bau. In einer Vase gewahrt man frisches Grün. Irgendwann<br />
lenkt der Wanderer seine Schritte weiter. Die Klänge des „Lohengrin“<br />
Vorspiels klingen ab, um schließlich ganz zu verhallen. Es dauert,<br />
ehe man sich dem Zauber des Ortes entzogen hat! Christoph Suhre<br />
Detmold: „Tristan und Isolde“ – 1.11.<br />
Es begann mit einer Überraschung: Detmold kann mit einem prachtvollen<br />
Theatergebäude aufwarten, das bereits Anfang des 19. Jhs. gebaut wurde.<br />
Trotz vieler Schwierigkeiten aufgrund von Kriegen, Bränden und den damit<br />
verbundenen finanziellen Verlusten gelang es dem Haus immer wieder, sich<br />
zu konsolidieren. Vom anfänglichen Hoftheater wandelte es sich in das heutige<br />
Landestheater, das mit seinen ca. 650 Sitzen nichts von dem damaligen<br />
Charme der Innenausstattung sowie Außenfassade verloren hat.<br />
Dass dort auch wunderbares Musiktheater gespielt wird, war die zweite<br />
Überraschung.<br />
52 | DER NEUE MERKER 12/2013
Deutschland<br />
„Nahezu das gesamte Geschehen in‚ Tristan und Isolde‘ ist innerlich“. So stand<br />
es in einem Opernführer, und so hat es wohl auch Kay Metzger gesehen,<br />
der die Inszenierung am Landestheater Detmold in ein Kammerspiel verpackt.<br />
Damit ist ihm ein Regiestreich gelungen, denn so logisch, so schlüssig<br />
und doch so spannend und intensiv habe ich diese Oper selten auf der<br />
Bühne erlebt. Zusammen mit seiner Bühnen- und Kostümbildnerin Petra<br />
Mollérus verlegt er die Handlung auf kleinsten Raum, der durch die<br />
Drehbühne, dem Regiekonzept folgend, in Tagräume, weiß und hell, sowie<br />
Nachträume, dunkel und von einem Sternenhimmel beleuchtet, verwandelt<br />
werden kann. Bei Wagner (im Gegensatz zum Epos) schafft der Liebestrank<br />
nicht die Leidenschaft zwischen den Liebenden, sondern er macht sie frei,<br />
frei für die höchste Erfüllung, den Tod. Deshalb schafft Metzger diese Kontraste:<br />
die Realität, der Alltag läuft in der Helligkeit des Tages ab, bewegt sich<br />
in gesellschaftlichen Normen. Die Nacht jedoch ist intim, verströmt Geborgenheit<br />
und Innigkeit, gehört jeder Person allein. Die Schwelle zu übertreten,<br />
kann alles bedeuten, sogar den Verlust des Lebens. Wenn Marke die<br />
Frage an Tristan nach dem Warum (des Verrats) stellt, antwortet ihm Tristan<br />
„Das kann ich Dir nicht sagen“ noch jenseits der Schwelle, dann tritt er<br />
ein in den Nachtraum, den Raum der Liebe, und fragt von dort aus Isolde,<br />
ob sie ihm folge. Liebe und Musik sind untrennbar miteinander verbunden.<br />
So gestalten Metzger und Mollérus die Nachtwelt als Musikraum, in<br />
dem ein Flügel steht und das Liebespaar Notenblätter in die Hand nimmt.<br />
Und komponiert?? Die Assoziation zu Richard Wagner und Mathilde Wesendonck<br />
ist offensichtlich, denn auch sie waren Liebende, die wie Tristan<br />
und Isolde nicht zusammen kommen konnten. Ohne Zweifel brachten die<br />
beiden ihre eigene Geschichte in diese schicksalhafte Oper ein, denn auch sie<br />
haben unter der ausweglosen Verbindung gelitten. Von diesem Leid, tiefstem<br />
Verständnis und einfacher Logik ist die gesamte Inszenierung geprägt.<br />
Man spürt, dass Kay Metzger sich sehr intensiv mit den Hintergründen zur<br />
Entstehung der Oper beschäftigt hat. Als Beweis könnte man Vieles aus dem<br />
Schriftverkehr zwischen Wagner und Mathilde zitieren, aber das würde an<br />
dieser Stelle zu weit führen. Belassen wir es bei einem Brief, in dem Wagner<br />
Mit Michael Baba holte man einen Tristan, der am Anfang einer großen<br />
Karriere im Heldentenorfach steht. Unter Gustav Kuhn sang er u.a. bei<br />
den Festspielen Erl den Tristan, Siegmund, Pasrsifal, Stolzing und Kaiser<br />
in „Frau ohne Schatten“, in Karlsruhe konnte man ihn als Florestan erleben.<br />
Seine Stimme hat eine durchsetzungsfähige Mittellage, auf der er die<br />
Höhen mit einem sicheren Legato aufbaut. Keine Anstrengung ist zu spüren.<br />
In allen Lagen klingt sein interessantes Timbre warm und ohne Schärfe.<br />
Den gefürchteten 3. Akt bewältigte er mit starker Stimme, mit intensiver<br />
Darstellung und imponierte durch einfühlsamen schmerzvollen Ausdruck.<br />
Beachtenswert ist auch seine klare Aussprache. Joanna Konefal gestaltete<br />
mit bezauberndem Charme und blonder Schönheit die Isolde. GMD Rademacher<br />
musste vor der Aufführung leider ansagen, dass Frau Konefal<br />
noch nicht ganz von einer starken Erkältung genesen sei und voraussichtlich<br />
nicht die gewohnte Leistung bringen könne. Das spürte man bei den<br />
extremen Höhen, wo sie zu viel Kraft aufbringen musste, was einige scharfe<br />
Töne hervorbrachte. Aber ihre faszinierende Gestaltung der Figur und ihre<br />
schöne Mittellage und wunderbare Piani über weite Strecken zeigten ihre<br />
Begabung. Vielleicht ist die Isolde für die junge Polin noch zu früh, es wäre<br />
schade, wenn ihre Stimme durch solch schwere Partien Schaden nähme.<br />
Über eine außergewöhnlich schöne Stimme verfügt Monika Waeckerle.<br />
Ihr Mezzo fesselte von Anfang an. Mit warmem, schönem Ton sang sie<br />
die Brangäne, überzeugte durch sympathisches Spiel und bot dazu noch<br />
eine perfekte Diktion, die jedes Wort verstehen ließ. Die Warnrufe im 2.<br />
Akt „Einsam wachend in der Nacht… habet acht, habet acht“ klangen strahlend,<br />
fast überirdisch. In vielen Inszenierungen sieht man Brangäne in dieser<br />
Szene nicht, weil sie aus dem Hintergrund singt. Hier jedoch dreht sich<br />
die Bühne einmal ganz herum und mit ihr Brangäne, an einer Wand lehnend.<br />
Sie zieht quasi einen schützenden Kreis um ihre Isolde.<br />
Doch das hilft nicht. Marke mit seinem Gefolge erscheint, das Unheil<br />
nimmt seinen Lauf.<br />
Einen tiefen, satten schwarzen Bass ließ Jens Larsen, Gast von der Komischen<br />
Oper Berlin, als König Marke vernehmen. Ausdrucksvoll sang<br />
er seinen langen Monolog und legte das ganze Leiden über den Verrat in<br />
seine Stimme. Das ging zu Herzen.<br />
Als Kurwenal begeisterte Andreas Jören mit einem kräftigen und runden,<br />
italienisch geprägten Bariton. Ungewöhnlich stark war seine Darstellung<br />
als Gefolgsmann von Tristan. Das Mitgefühl für seinen Herrn,<br />
das Mit-Leiden brachte er mit intensiver Mimik und Körpersprache zum<br />
Ausdruck. Auf gutem Niveau sangen Jundong Kim den Verräter Melot,<br />
Markus Gruber den Hirten, Chun Hoe Kim den Steuermann und Kai-<br />
Ingo Rudolph den Seemann. <strong>Der</strong> Herrenchor mit Extrachor des Hauses<br />
war von Marbod Kaiser tadellos einstudiert.<br />
Eine außergewöhnliche Aufführung! Man war gefesselt von der hohen<br />
Qualität der musikalischen Durchführung dieses äußerst schwierigen<br />
Werkes und den <strong>neue</strong>n szenischen Ideen. Das Publikum fühlte sich angesprochen<br />
und bedankte sich mit begeistertem Applaus. Leider war es die<br />
letzte Aufführung. Man kann nur hoffen, dass es eine Wiederaufnahme<br />
geben wird, denn diese tiefsinnige, durchdachte Inszenierung sollte nicht<br />
in Vergessenheit geraten. <br />
Inge Lore Tautz<br />
Joanna Konefal (Isolde) und Michael Baba (Tristan) (© Klaus Lefebre)<br />
am 21. Dezember 1861 an Mathilde Wesendonck aus Paris schrieb: „Dass<br />
ich den Tristan geschrieben, danke ich Ihnen aus tiefster Seele in alle Ewigkeit!“<br />
Auch musikalisch war der Abend ein Genuss. Das Symphonische Orchester<br />
des Landestheaters fand unter der Leitung seines <strong>neue</strong>n Generalmusikdirektors<br />
Lutz Rademacher zu einer außerordentlichen Leistung.<br />
Durch den nach hinten unter der Bühne erweiterten Orchestergraben, der<br />
vor allem alle Bläsergruppen aufnehmen kann, wurde ein ausgewogenes<br />
Klangbild geschaffen, das an Bayreuth erinnert. So werden die Streichergruppen<br />
nie übertönt, im Gegenteil. Weich und zart ertönt es aus dem Graben.<br />
Die Bläsergruppen standen dem in nichts nach, mit exakten, sauber<br />
geführten Klängen runden sie das ungewöhnlich schöne Hörerlebnis ab.<br />
Essen: „TRISTAN UND ISOLDE“ – 10.11.<br />
Vorbemerkung: <strong>Der</strong> „leise“ „TRISTAN“<br />
Gerade, als ich in Essen für die „Tristan“-Aufführung eingetroffen war,<br />
erhielt ich obigen Bericht und freute mich über die Meldung, wie eindrucksvoll<br />
Wagner an einer „Provinz“-Bühne ganz ohne Pomp sein kann.<br />
Ich hatte ja in Detmold auch schon mehrfach Wagner-Produktionen dieses<br />
Kalibers erlebt. Nach meiner Heimkehr las ich in einer Mail die folgenden<br />
Äußerungen des Nürnberger GMD Marcus Posch (dessen großartige<br />
„Tristan“-Wiedergabe in Nürnberg ich vor einem Jahr bewundert<br />
hatte): „Ein wichtiges Anliegen ist es mir, Wagners Musik aus dem Geiste Mendelssohns<br />
heraus zu dirigieren. Wenn man allein das Vorspiel zu „Rheingold“<br />
hört und „Die schöne Melusine“ im Ohr hat, dann weiß man, an welchen<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 53
Deutschland<br />
Ideen Wagner sich erfolgreich bedient hat. Das ‚falsch Pompöse‘ an Wagner<br />
liegt mir fern. Insofern ist die Suche nach Transparenz für mich wesentlich.“<br />
Dort wie da scheint also innere Stimmigkeit und Wortverständlichkeit<br />
oberstes Gebot, ohne dass dadurch das „Tristan-Mysterium zu kurz käme.<br />
Sollte damit eine <strong>neue</strong> Wagner-Ära angebrochen sei?<br />
Auch in Essen…<br />
Zusammen mit vielen anderen angereisten Opernfreunden hörte ich am<br />
Aalto Theater Wagners opus immensum in ebenfalls völlig <strong>neue</strong>r musikalischer<br />
Interpretation. Die nun wiederaufgenommene Inszenierung<br />
von Barrie Kosky hatte ich bereits 2007 (ein Jahr nach ihrer Premiere)<br />
mit denselben Titelrollensängern, damals sehr leidenschaftlich dirigiert<br />
von Stefan Soltesz, kennen gelernt. Nach dem Ausscheiden des langjährigen<br />
GMD wurde nun Peter Schneider für drei Reprisen eingeladen.<br />
Eine simple Wiederholung seiner Wiener, Hamburger oder Bayreuther<br />
„Tristan“-Interpretationen, wo die (wohlbeherrschte) orchestrale Wucht<br />
(neben allen Subtilitäten) schon gelegentlich auch recht beeindruckend<br />
war, fand jedoch nicht statt. Die Essener Vorstellung erreichte nicht einmal<br />
den halben Lautstärke-Pegel, den wir etwa unter Wiens GMD zuletzt<br />
verzeichnen konnten. Und das lag nicht etwa am tiefer liegenden<br />
Orchestergraben, sondern an der Dirigierweise des Maestro. Hauptgebot<br />
war offensichtlich: Wort und Ton zu gleichem Recht kommen zu lassen,<br />
die seelischen Regungen der handelnden Personen in den Vordergrund zu<br />
stellen und dabei Wagners Ton- und Gedankenflut allezeit in pulsierender<br />
Bewegung zu halten. Keine Rede von orchestraler Dominanz, trotz<br />
„normaler“ Orchesterbesetzung, wohl aber eine ganzheitliche Vermittlung<br />
der Aussage dieser Musik, bestehend aus Instrumental- und Vokalbeitrag.<br />
Wir haben natürlich in vielen Aufführungen den Text des Liebesduetts,<br />
den von Markes Monolog oder den Beginn des 3. Akts deutlich vernommen,<br />
aber „wann ward es erlebt“, dass man von Brangäne im 1. Akt jedes<br />
Wort verstand? „Heut hast du’s erlebt!“ konstatierten wir nach der Aufführung.<br />
Und trotzdem ging nichts an Intensität und Klangschönheit verloren,<br />
schon deshalb, weil niemand zu forcieren brauchte, um gehört zu<br />
werden. Dahinter steckt natürlich ein immenses Können von Seiten des<br />
Dirigenten und der gute Wille der Essener Philharmoniker, sich davon<br />
inspirieren zu lassen. Vielleicht wollte Schneider aber auch auf Koskys Inszenierung<br />
eingehen, die das Liebespaar sowohl im 1. wie im 2. Akt, zusammen<br />
mit den anderen Personen, in einen engen Raum zwängt, aus<br />
dem für die beiden kein Entkommen ist. In der Liebesnacht dreht sich<br />
das kleine Zimmer, wo sie abwechselnd stehen, knien oder aneinander<br />
geschmiegt liegen, im Kreise. Auch im 3. Akt, wo Tristans Wunde von<br />
Kurwenal sehr realistisch gepflegt wird, ruht der Helde nur im Lehnstuhl<br />
oder steht daneben. Dass der Tote zu Beginn von Isoldes „Liebestod“<br />
einfach aufsteht und abgeht, ebenso wie sie zum orchestralen Ausklang,<br />
muss nicht unbedingt goutiert werden, bietet aber zumindest ein Gegengewicht<br />
zum vorangegangenen szenischen Realismus, sodass der Dirigent,<br />
passend zur Szene, endlich „loslassen“ und nach dem stundenlangen unerfüllten<br />
Sehnen, Aufbegehren und Leiden der Liebenden als Erlösung<br />
von der schmerzlichen Tristan-Chromatik zuletzt ein wunderbar crescendiertes,<br />
hymnisches H-Dur-Finale aufbauen kann, das jene Transzendenz<br />
suggeriert, die Wagner nun einmal komponiert hat.<br />
Mehr als beachtlich auch die Sängerbesetzung. Bei Evelyn Herlitzius hat<br />
man sich daran gewöhnt, dass sie keine Balsamstimme besitzt. Ihr furioser<br />
Einsatz in allen Belangen, körperlich, mimisch, in der sprachlichen<br />
und vokalen Gestaltung der Rolle (und aller anderen!) hat oftmals die<br />
Befürchtung aufkommen lassen, ihre Karriere werde kurz sein. Aber ihr<br />
Gestaltungswille und ihre latente Kraft sind offenbar größer als geglaubt.<br />
Diese Isolde glüht innerlich, kämpft wie eine Tigerin um ihr Glück und<br />
gibt sich dem gemeinsamen, verklärten Nachterlebnis dann mit derselben<br />
Totalität hin. Vergleichsweise zurückhaltend, nicht nur im 1. Akt,<br />
spielt Jeffrey Dowd seine Rolle, singt den Tristan jedoch hervorragend,<br />
mit immer schönem, rundem Ton, durchgehend im Legato, bis hinein<br />
in die Wahnsinnsausbrüche des 3. Aktes. Einziges Manko: sein Gesichtsausdruck<br />
kennt keine Varianten – immer gleich gram- und schmerzvoll.<br />
Möglich auch, dass er unter weniger rücksichtsvollen Dirigenten an großen<br />
Häusern Durchsetzungsschwierigkeiten hätte. Aber einen Künstler<br />
im Hausensemble zu haben, der das gesamte schwere Fach so souverän<br />
bewältigt, ist schon ein Privileg für ein Theater.<br />
Allererste Klasse waren auch Brangäne und Kurwenal. Die Schwedin Martina<br />
Dike (in Bayreuth eine der Walküren, andernorts im gesamten deutschen<br />
Mezzofach zu hören) bringt einen leuchtenden Mezzo zum Einsatz,<br />
der in allen Lagen bis in die strapaziösen Höhen mit wunderbarer Selbstverständlichkeit<br />
funktioniert und durch eine fabelhafte Wort-Ton-Gestaltung<br />
Evelyn Herlitzius (Isolde) und Jeffrey Dowd (Tristan)<br />
(© Mathilde Jung)<br />
begeistert. Sie ist für Isolde eine ebenbürtige Partnerin, deren Argumente<br />
nicht zu ignorieren sind. Ich bin überzeugt, dass diese Sängerin ebenso wie<br />
der prächtige Kurwenal Heiko Trinsinger an jeder Weltbühne reussieren<br />
könnte. Auch er fesselt mit seinem kernigen, flexiblen, ausdrucksstarken Bariton<br />
und lebhaftem Spiel. Ebenfalls sehr präsent der schönstimmige, sein<br />
trauriges und humanes Anliegen gut artikulierende König Marke von Ante<br />
Jerkunica. Mateusz Kabala als Melot, Albrecht Kludszuweit als Hirte,<br />
Rainer Maria Röhr als Seemann und Thomas Sehrbock als Steuermann<br />
boten treffliche Ensemble-Beiträge. <strong>Der</strong> über Verstärker von außen singende<br />
Herrenchor kann hinsichtlich Klangqualität nicht wirklich beurteilt werden.<br />
Dass Wagners Botschaft angekommen ist, bewiesen die Schweigeminuten<br />
nach dem letzten Takt. Immerhin gab es mehrere Verbeugungsdurchgänge<br />
für alle Solisten, unter denen natürlich die leidenschaftliche Isolde<br />
den größten Beifall einheimste, und nachdem Peter Schneider bereits vor<br />
dem 2. Akt mit etlichen Bravo-Rufen und vor dem 3. Akt mit sehr vielen<br />
bedacht worden war, durfte er sich am Ende über den stärksten Applausanteil<br />
freuen. <br />
Sieglinde Pfabigan<br />
54 | DER NEUE MERKER 12/2013
Deutschland<br />
Philharmonie Essen:<br />
VITTORIO GRIGOLO & FILARMONICA DELLA SCALA<br />
Im sog. Stadtgarten, der eigentlich ein Kulturpark ist, steht schräg gegenüber<br />
dem Aalto Theater das Gebäude der Philharmonie, wo dasselbe Orchester<br />
beheimatet ist, das auch in der Oper auftritt. Ein paar Schritte<br />
weiter findet sich das berühmte Folkwang-Museum. Außen um den Park<br />
herum flutet der Verkehr der wichtigsten Geschäftsstadt des Ruhrgebiets,<br />
die auch noch ein Schauspielhaus, das sog. Grillo-Theater (nach dem Erbauer<br />
benannt) und ehem. erstes Opernhaus der Region, anzubieten hat.<br />
Das Jahresprogramm der Philharmonie ist beachtlich. Alle Musikgattungen<br />
kommen zum Zug, viele prominente Namen aus der internationalen<br />
Musikwelt sind zu lesen.<br />
So nützte ich den Abend vor der „Tristan“-Aufführung zum Kennenlernen<br />
dieser Institution. <strong>Der</strong> außen wie innen freundlich-helle Bau bietet<br />
großräumige Foyers und einen holzgetäfelten Saal mit breiter Bühne, ansteigenden<br />
Sitzreihen und guter Akustik. Eine Büste im Eingangsbereich<br />
stellt nicht, wie erwartet, einen Komponisten oder Dirigenten dar, sondern<br />
Alfred Krupp, den vielfachen Kulturstifter dieser Region.<br />
Gäste aus Italien bestritten den Abend. Vittorio Grigolo, das „Zugpferd“<br />
dieses Konzerts, brachte echtes mediterranes Flair ins dichtest besiedelte<br />
Gebiet Deutschlands. Leider mit nur drei Arien, die er ganz wunderbar<br />
sang: Aus Donizettis unvollendeter Oper „Il Duca d’Alba“ die beliebte<br />
Tenor-Nummer „Angelo casto e bel“ des Marcello, der sich als Sohn des<br />
Herzogs von Alba, des grausamen spanischen Unterdrückers von Flandern,<br />
dem flandrischen Widerstand angeschlossen hat und in einer herzzerreißenden<br />
Kantilene seiner geliebten Amalia gedenkt, seines „Engels“,<br />
mit dem ihm kein anhaltendes Liebesglück winkt. In kultiviertem Legato<br />
flößt der Sänger mit schönem Tenortimbre dem unglücklichen jungen<br />
Mann viel Gefühl ein. Genauso berückend gelingt ihm Nemorinos<br />
„Una furtiva lagrima“, mit langem Atem wunderbar gesteigert und am<br />
Schluss in ein berührendes pp zurückgenommen – er muss und wird seine<br />
Adina bekommen! Locker und natürlich in Haltung und Auftreten, belässt<br />
Grigolo es dann bei Besingung der „gelida manina“ nicht beim Stehen,<br />
sondern macht uns glauben, dass er die Arie – mit strahlendem hohem<br />
„speranza“-C – seiner (fingierten) Mimi zusingt, für die er am Ende<br />
an der Rampe sogar in die Knie sinkt.<br />
Was man instrumental aus italienischen Opern hörte, ließ viele Wünsche<br />
offen. Nicht nur hätte man statt zwei langer Ouvertüren (Rossinis<br />
„Barbiere“ und Verdis „Vespri“) und dem Zwischenspiel aus „Cavalleria<br />
rusticana“ gern mehr vom Tenorstar gehört, sondern der Dirigent Andrés<br />
Orozco-Estrada (uns als Leiter des Niederösterr. Tonkünstlerorchesters<br />
wohlbekannt) verabsäumte es, daraus Opernmusik zu machen. Alles<br />
klang zu symphonisch-neutral, es fehlte am rechten Aufbau, am Stimmungsgehalt<br />
und als Begleiter des Sängers drifteten die Gruppen mehrmals<br />
auseinander. Vittorio Grigolo musste selbst das Ruder in die Hand<br />
nehmen, um seine Gesangsnummern kompakt darbieten zu können. Bei<br />
dem als Draufgabe zum Verdi-Jahr präsentierten „La donna è mobile“, das<br />
der Sänger mit hinreißender Vitalität startete, konnte das Orchester überhaupt<br />
nicht mithalten. Dass der Maestro im rein symphonischen Bereich<br />
besser beheimatet ist, konnte er nach der Pause bei Mussorgskys „Bildern<br />
einer Ausstellung“ (in der orchestrierten Fassung von Ravel) beweisen,<br />
wo die Filarmonica della Scala sich als ebenso kompetenter Klangkörper<br />
präsentierte. <br />
Sieglinde Pfabigan<br />
Lübeck: „TRISTAN UND ISOLDE“ – NI 10.11.<br />
In Lübeck inszenierte der mit dem „Ring“ und „Parsifal“ hier sehr erfolgreiche<br />
Anthony Pilavachi mit dramaturgischer Assistenz von Richard Erkens<br />
nun „Tristan und Isolde“ als unerfüllte romantische Liebesbeziehung<br />
Richard Wagners (alias Tristan) zu Mathilde Wesendonck (alias Isolde)<br />
und siedelte das Stück in einem großbürgerlichen Ambiente an. Gleich zu<br />
Beginn sieht man statt auf ein Schiffsdeck in ein schon etwas vom Verfall<br />
gezeichnetes hochherrschaftliches Zimmer. Es ist bereits zum eleganten<br />
Diner gerichtet, welches natürlich nie stattfinden wird…Tatjana Ivschina<br />
ist für das über die drei Aufzüge weiter verfallende Bühnenbild und die<br />
zu dieser Ästhetik passenden Kostüme aus der Entstehungszeit des Werkes<br />
verantwortlich. Dass wir uns dennoch auf einer Reise befinden, einer<br />
Reise durch stärkste Emotionen und Gefühle, wie sich bald herausstellen<br />
wird, ist an den Schiffsplanken des Bodens sichtbar, die später das Licht<br />
von unten durchlassen.<br />
Anthony Pilavachi – und das hat er an diesem Hause, welches untrennbar<br />
mit dem Namen Thomas Manns verbunden ist, schon wiederholt unter<br />
Beweis gestellt – ist ein Meister der Psychologie. Man erlebt mit seinem<br />
„Tristan“ ein äußerst spannendes psychologisches Musikdrama, welches<br />
alle emotionalen Facetten und menschlichen Enttäuschungen der Protagonisten<br />
konsequent aufzudecken vermag.<br />
Schon bei der ersten Begegnung Tristans mit Isolde, nachdem Isolde und<br />
Brangäne in wartender Haltung schwer vom jungen Seemann, Kurwenal<br />
und deren Entourage gedemütigt worden sind, gibt es eine zärtliche Annäherung,<br />
welche die ganz große Liebe wenig später unmissverständlich erahnen<br />
lässt. Ein Liebestrank ist kaum noch nötig. Die Kussorgie mit überstürzten<br />
Entkleidungsversuchen, die zum Schluss des 1. Aufzugs Tristan<br />
und Isolde für den gebieterischen Eintritt König Markes und seines Gefolges<br />
erblinden lässt, sucht in „Tristan“-Inszenierungen der letzten Jahre<br />
sicher ihresgleichen… Auch hier dachte Pilavachi nicht zuletzt wohl an<br />
Biografisches aus dem Leben des Komponisten…Die Lichtregie von Falk<br />
Hampel trägt enorm zur Suggestivkraft dieser und späterer Szenen bei.<br />
Mit einer unerträglichen Fixierung Isoldes durch Marke beginnt der 2.<br />
Aufzug in ebenso tiefer Depression wie der erste im Liebestaumel endete.<br />
Sublim, aber schon Gefahr andeutend, sieht man langsam die Fackelträger<br />
der Jagdgesellschaft im Wald verschwinden und die Hörner verhallen –<br />
auch hier psychologisch stark aufgeladene Bilder. Schon kündigt sich der<br />
Herbst mit Laub im verfallenden Zimmer an, der Kronleuchter hängt in<br />
Edith Haller (Isolde) und Wioletta Hebrowska (Brangäne)<br />
(© Jochen Quast)<br />
Trümmern herunter, die Dinner-Stühle sind achtlos in die Ecke geworfen.<br />
In diesem Ambiente lebt beider Liebe noch einmal höchst romantisch<br />
auf, als Tristan zu Isolde tritt und ihr, also Mathilde Wesendonck,<br />
ihre von ihm vertonten (Wesendonck-) Lieder übergibt – eine Szene von<br />
größter Poesie und Intimität, zweifellos das Herzstück dieser Inszenierung.<br />
Die über alles loyale Dienerin ihrer Herrin, Brangäne, hat zuvor mit mehr<br />
oder weniger Erfolg Melot vertrieben.<br />
Die Romantik der Liebe hat aber bei Pilavachi auch eine erotische und<br />
damit durchaus wirklichkeitsnahe Entsprechung. Während der in Liebesschwelgen<br />
versinkenden Musik nach dem Duett gehen beide kurz<br />
aus der Szene und kommen mit Badehandtuch bzw. heraushängendem<br />
Hemd wieder herein. Da war also doch was…In der „echten“ Liebesbeziehung<br />
Wagners zu Mathilde blieb das ja bis heute im Dunkel. Man war<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 55
Deutschland<br />
allerdings gut beraten, diesen kurzen Ausflug in den Verismo sinnbildlich<br />
zu deuten, denn ein „Quickie“ solcher Art hätte der bisher zu erlebenden<br />
Ästhetik doch widersprochen… Realistisch drastisch ist dann allerdings<br />
auch der Selbstmordversuch Tristans, der sich das Messer Melots<br />
mehrmals in den Leib rammt. Isolde wird überhastet weggerissen, ein tiefer<br />
Fall… Bei aller poetischen und psychologischen Schwerpunktsetzung<br />
macht der Regisseur immer wieder klar, dass ihm auch am Realitätsgehalt<br />
dieses Meisterwerkes gelegen ist.<br />
<strong>Der</strong> 3. Aufzug bringt tiefgründige Assoziationen an das Ende Wagners<br />
in Venedig. Verschwommen gewahrt man den dunklen Canale Grande<br />
über der Szene, in der Tristan an einem Flügel sitzt und letzte Noten für<br />
Mathilde schreibt. Die kontemplative Aura wird zweimal unterbrochen<br />
von dem „jungen Tristan“, der mit einem Grabkranz an den Tod in Venedig<br />
erinnert, während einige schwarz gekleidete Männer im Hintergrund<br />
Wagners Sarg aus dem Palazzo Vendramin hinaustragen…Düstere Melancholie<br />
liegt über allem, verstärkt natürlich durch ein wunderschön gespieltes<br />
Englischhorn-Solo von Wolfgang Eickmeyer an Tristans Seite. In<br />
einem wundersam poetischen Schluss siegen Liebe und Kunst über den<br />
Tod: Isolde tritt aus gleißendem Licht zum sterbenden Tristan, der noch<br />
einmal erwacht und ihr die aus allen Richtungen herabfallenden Notenblätter<br />
gibt – wie im 2. Aufzug, ein letzter Akt der Liebe und Zuneigung.<br />
Sie setzt ihm den Lorbeerkranz auf, und er schläft in poetischem Frieden<br />
mit sich selbst ein. Ein Schluss, der in seiner Subtilität und Gefühlsintensität<br />
wie damals Pilavachis Finale der „Götterdämmerung“ bestens<br />
zum vorher Erlebten passte.<br />
Edith Haller sang ihre erste Isolde mit ihrem in der Mittellage gut fundierten<br />
hellen Sopran und exzellenter Diktion und Phrasierung. Sie scheint<br />
bei aller darstellerischen Qualität in der Umsetzung dieses Rollenprofils<br />
sängerisch gleichwohl noch nicht hundertprozentig in der Partie angekommen<br />
zu sein. Schon im 1. Aufzug, mehr noch aber im Duett mit Tristan<br />
im zweiten, wo auch hohe Cs zu singen sind, neigt ihr Sopran in der<br />
Höhe zu leichter Schärfe. Für den Rezensenten ist sie stimmlich doch eher<br />
noch eine Sieglinde. Peter Svensson als äußerst kurzfristiger Einspringer<br />
für Richard Decker bestach durch seinen kraftvollen Heldentenor und<br />
eine an psychologischer Intensität im Leiden keine Wünsche offen lassende<br />
Darstellung. Svensson ist ein wahrer Heldentenor mit stählerner,<br />
glanzvoller Höhe. Seine stimmliche Kraft könnte er manchmal zugunsten<br />
einer feineren Modulierung etwas zurücknehmen, wie sein Vortrag<br />
bisweilen auch weniger expressiv sein könnte. Er hat dazu alle stimmlichen<br />
Mittel. Das bewies er u.a. mit wunderschönem Legato etwa bei „Das<br />
Schiff, siehst Du’s noch nicht…?“<br />
Die dem Rezensenten in Lübeck schon länger auffallende polnische Mezzosopranistin<br />
Wioletta Hebrowska bekam nun mit der Brangäne auch<br />
eine erste große Wagner-Rolle. Sie machte dies darstellerisch und auch<br />
sängerisch mit ihrem hell getönten und farbigen Mezzo vorzüglich. Nur<br />
bei einigen Höhen kam sie leicht an ihren stimmlichen Grenzbereich.<br />
Martin Blasius sang einen erschütterten und unglaublich leidenden König<br />
Marke mit großem Bassvolumen, viel Ausdruck und guter Phrasierung,<br />
wenn auch nicht immer mit bester stimmlicher Beweglichkeit.<br />
Michael Vier gab einen kantig prägnanten und stimmstarken Kurwenal,<br />
fand im 3. Aufzug aber auch zu schönen lyrischen Momenten. Tadellos<br />
der Rest des Ensembles mit dem sehr guten Melot von Jonhoon<br />
You, den Pilavachi wie Ägisth in „Elektra“ abstechen lässt, Daniel Jenz<br />
als jungem Seemann und Hirten mit klangreinem Tenor und Kong Seok<br />
Choi als Steuermann. Exzellent auch die Herren des Chores und Extrachores<br />
des Theater Lübeck. Allerdings klangen – wohl auch begünstigt<br />
durch die relativ kleine Bühnenbox – fast alle Stimmen oft zu laut,<br />
zumindest im Parkett.<br />
<strong>Der</strong> frühere GMD Roman Brogli-Sacher kehrte an das Theater in der Beckerstrasse<br />
zurück. Er machte mit seiner fesselnden Wagner-Interpretation<br />
deutlich, was er an diesem Hause für die Musik des Bayreuther Meisters<br />
geleistet hat. Das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck<br />
spielte wieder einmal auf beeindruckend hohem Niveau. Er ließ im Vorspiel<br />
auch etwas – hier durchaus einmal angebrachtes – Pathos aufkommen<br />
und modulierte die vielen Steigerungen und kontemplativen Phasen<br />
mit der versierten Hand eines Kenners der Wagnerschen Musik. Ein<br />
erneutes Lob für das doch relativ kleine Lübecker Haus, ein solch hohes<br />
Niveau regelmäßig zu erreichen. <br />
Klaus Billand<br />
Die ebenso sehens- wie hörenswerte Produktion ist noch zu erleben am<br />
29.12.2013, 19.1., 23.2., 23.3., 13.4., 27.4. und 11.5.2014.<br />
Füssen:<br />
Schloss Neuschwanstein: „TRISTAN UND ISOLDE“<br />
– Konzert 22.9.<br />
Dara Hobbs‘ fabelhafte Isolde<br />
Im Sängersaal von Königs Ludwigs des Zweiten Schloss Neuschwanstein<br />
finden seit einigen Jahren beachtenswerte Konzerte statt. Dieses Jahr stand<br />
sogar an drei Abenden die konzertante Wiedergabe des 2. Aktes von Wagners<br />
„Tristan und Isolde“ auf dem Spielplan. Aufgespielt hat die Deutsche<br />
Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz unter dem Dirigenten Karl-Heinz<br />
Steffens. Dieser, ehemaliger Solo-Klarinettist der Berliner Philharmoniker,<br />
leitete den mehr als ordentlichen Klangkörper auch unter den erschwerten<br />
akustischen Bedingungen des für Wagner-Klänge eigentlich zu kleinen<br />
Sängersaales sicher<br />
und fest. Seine Tempi<br />
waren flüssig, die Orchester-Besetzung<br />
gerade<br />
noch dem Raum<br />
angepasst, wenn auch<br />
in Forte-Stellen gar<br />
etwas dröhnend, aber<br />
sonst war nichts zu<br />
beklagen. Die Soli der<br />
Instrumentalisten waren<br />
tadellos. Also, der<br />
Klang-Teppich war gelegt<br />
für eine erstaunliche<br />
Besetzung.<br />
Viel hatte man schon<br />
gehört von einer<br />
<strong>neue</strong>n Wagner-Sängerin,<br />
der Isolde aus<br />
Bonn, die dort und zuvor<br />
in Minden schon<br />
mächtig Furore gemacht<br />
hatte. Dara<br />
Hobbs, gebürtig aus<br />
Wisconsin USA, groß<br />
gewachsen, blond, gut<br />
Dara Hobbs (Isolde) (© M. Stutte)<br />
aussehend, sympathische<br />
Ausstrahlung und<br />
vor allem: eine richtige Wagner-Stimme. Nirgends war da irgendeine Anstrengung<br />
zu hören, mit der sie hätte gegen das Orchester ansingen müssen.<br />
Im Gegenteil, die Stimme ist herrlich ausgewogen, hat ein Timbre,<br />
das nicht von ungefähr an das von Birgit Nilsson anklingt. Ganz klar wird<br />
die stimmliche Verwandtschaft in der absolut freien Höhe, deren die Partie<br />
der Isolde einige aufzuweisen hat. Zwei hohe C’s im Liebesduett, die<br />
sie tadellos und strahlend platzierte. Auch das vorangegangene „Es werde<br />
Nacht!“ war zum Niederknien. Dazu eine flexible Mittellage, die Farben<br />
aufweist, die für die Gestaltung von Wagner-Partien besonders wichtig ist.<br />
Und immer wieder staunt man bei anglosächsischen Sängern über deren<br />
fabelhafte deutsche Aussprache. Keine Vokalverfärbung. die Vokale waren<br />
wunderbat natürlich geformt und die sie umschließenden Konsonan-<br />
56 | DER NEUE MERKER 12/2013
Deutschland<br />
ten gaben den Tönen ihre Form, ohne übertrieben „gespuckt“ zu werden.<br />
Als Brangäne war die mir unbekannte Julia Faylenbogen zu hören. Mit einer<br />
schönen Mezzostimme versehen, mit guter Höhe, sang sie den Wachtgesang,<br />
auf dem Balkon über dem Orchester platziert, volltönend und<br />
eindringlich. Als Tristan war Michael Baba mit von der Partie. Ein solider,<br />
guter Wagner-Sänger, alles gelingt ihm und man hat bei ihm nie das<br />
Gefühl, dass es ihm sonderlich Mühe bereiten würde, gegen die Wagnersche<br />
Orchesterflut anzusingen. Doch während seine Isolde in Ausdruck<br />
und Gebärde ganz in der Rolle war, wirkte Baba dagegen eher wie ein reservierter<br />
Konzertsänger und gab nicht viel Ausstrahlung ab. Leider war<br />
die Besetzung des Königs Marke mit Robert Holl kein guter Griff. Holl,<br />
eine lange und solide Karriere hinter sich wissend, investierte viel in den<br />
Monolog, aber leider wollte die Stimme nicht recht mitmachen. Zu hohl<br />
und knarrig klang sie, um den Argumenten Markes jene Eindringlichkeit<br />
zu verleihen, die sie sonst auch haben. Schade, dass wir Holl so hören mussten.<br />
Dagegen nahm Thomas de Vries als Melot seine Chance wahr, seine<br />
Anklage bebend vor Wut vorzubringen. Leider hat der Kurwenal im 2. Akt<br />
nur höchst wenig zu singen – von Marios Sarantidis hätte man gern mehr<br />
vernommen. – Nach der Pause gab‘s dann noch ein hervorragend musiziertes<br />
Vorspiel zum 1. Akt und einen herrlich durchglühten Liebestod, in<br />
dem Dara Hobbs einmal mehr beweisen konnte, dass sie ein großer Gewinn<br />
für die Welt des aktuellen Wagner-Gesangs darstellt. Freuen wir uns<br />
auf weitere Begegnungen mit ihr! <br />
John H. Mueller<br />
Nürnberg: „DAS RHEINGOLD“<br />
Pr. – 30.11. –<br />
Freia und die Riesen (Michaela Maria Mayer mit Taehyun Jun und Nicolai<br />
Karnolsky) (© Staatstheater Nürnberg)<br />
Zum Abschluss des Wagner (und Verdi) Jahres 2013 hätte man sich ja<br />
gleich den ganzen RING DES NIBELUNGEN von Richard Wagner gewünscht,<br />
aber so mussten wir uns mit einem sehr vielversprechenden Ausblick<br />
des restlos ausverkauften Staatstheaters Nürnberg auf den RING<br />
mit RHEINGOLD zufrieden geben. Wenn das Publikum in atemloser<br />
Stille verharrt und kein auch noch so kleiner Laut die Andacht trübt, und<br />
man erwartungsvoll lauscht…dann beginnt das tiefe Es der Kontrabässe…<br />
und der erste wohlige Schauer überläuft den Rücken des Wagnerianers…<br />
dann ist es so weit: Mit dem Vorabend des Bühnenfestspiels RING DES<br />
NIBELUNGEN beginnt die erhabene Tetralogie.<br />
Das Bühnenbild von Stefan Brandtmayr in der Inszenierung von Georg<br />
Schmiedleitner hinterlässt so den Eindruck, dass alles auf einer riesigen<br />
Müllhalde passiert. Und dies in den mehr oder weniger beliebigen Kostümen<br />
von Alfred Mayerhofer. Unmengen von Plastikfolie und Wasserflaschen<br />
sind auf dem Boden mehr oder weniger kunstvoll drapiert, sollen<br />
wohl die Wogen des Rheins darstellen. Dann senkt sich noch ein Algenwald<br />
herab und wir sind wirklich unter Wasser. Inmitten dieser Szenerie<br />
erhebt sich ein riesiges Podest mit echten Badewannen, in denen die Rheintöchter<br />
umher plantschen und den armen Alberich nassspritzen. Dieser<br />
bemächtigt sich ja bekanntlich des Goldes und lässt selbiges in flüssiger<br />
Form mit so einer Art Dusche aus dem Kanister über sich laufen…Wotan<br />
bedient Fricka erst von hinten, dann von vorne und genießt schlussendlich<br />
auf einem Sofa, das sich in den Plastikmüll verirrt hat, die sogenannte<br />
Reiterstellung. Da allen Wagners Musik heilig ist, ertönen keine<br />
Szene-Buhs. Was Wunder, dass der Götterboss von diesen Aktivitäten, die,<br />
damit sie auch ja keiner verpasst, per Videoprojektion von Boris Brinkmann<br />
und Stefan Brandtmayr auf den Bühnenhintergrund in Großaufnahme<br />
projiziert werden, ermattet ist; aber mit den Worten „Wotan! Gemahl!<br />
Erwache!“ wird der Chef nach gehabten ehelichen Vergnügungen<br />
nun wieder auf die Bühne heldisch-göttlicher Aktion zurück gerufen. Und<br />
die ist bitter vonnöten, nahen doch die finsteren Riesen Fasolt und Fafner,<br />
um Freia als Lohn für die Vollendung Walhalls einzuklagen. Georg<br />
Schmiedleitner hat nicht mal den Versuch unternommen, uns mit Riesen<br />
zu konfrontieren, es sind einfach etwas derbe Herren in blauen Anzügen…<br />
Mit Loge geht’s dann ab in die Unterwelt. Hier sitzt, inzwischen kann er<br />
sich vom Golde einen Smoking leisten, Alberich, und dirigiert das ambosshämmernde<br />
Nibelungenorchester. Mime sieht aus wie ein Spätachtundsechziger<br />
Hippie-Aussiedler aus dem Haight/Ashbury District in San<br />
Francisco und muss viele Tritte und Schläge kassieren. <strong>Der</strong> Tarnhelm ist,<br />
wie schon oft gesehen, ein goldenes Tuch, das man sich über den Kopf<br />
legt, und Alberich wird erst zu einer Riesen-Raupe oder so und dann zu<br />
einem Froschkönig, der von Loge und Wotan auch gleich übel misshandelt<br />
wird. Ebenso kommt hier (in Video-Großaufnahme) die Version zur<br />
Darstellung, wonach Wotan Alberich den Finger abschneidet, um an den<br />
„gelben Reif“ zu kommen. Meiner Meinung nach gibt Wagner das aber<br />
nicht her…Wieder in der Götterwelt zurück, erscheint mit einem gewaltigen<br />
Blendscheinwerfer, der die Zuschauer die Hände vor die Augen halten<br />
lässt, Erda – mit blankem Busen und einer Fasanenfederkrone wie die<br />
Königin der Nacht, um Wotan zu ermahnen. Während Fricka ein weißrosa<br />
blinkendes Lebkuchenhaus, das sehr an die Walhalla bei Regensburg<br />
erinnern soll und mit einem „W“ verziert ist, hochhält, kann von der Burg<br />
Besitz genommen werden: Im Hintergrund der Bühne erscheint ein düsteres<br />
Gemäuer, das sehr an ein südamerikanisches Foltergefängnis erinnert,<br />
und zu den Klängen des „Einzugs der Götter nach Walhall“ transformiert<br />
sich dies in eine lichtdurchbrochene Fensterfront, während Loge<br />
über das Ende der Götter sinniert…<br />
Marcus Bosch am Pult der Staatsphilharmonie Nürnberg lässt das Rheingold<br />
quasi kammermusikalisch erklingen. Die Sänger werden’s ihm gedankt<br />
haben – und für Kenner war das ein echtes Bayreuth-Feeling. Allerdings<br />
glaube ich, dass die Mehrheit der Zuschauer einen laut krachenden<br />
Wagner bevorzugt hätte. <strong>Der</strong> Nürnberger Meistersinger, Stimmwunder<br />
Vincent Wolfsteiner (obwohl angesagt), führte die großartige Sängerriege<br />
an. Fabelhafte Darstellung des listigen Loge, perfekter Sang; aber ich<br />
glaube, hier hat er sich erst warmgelaufen für den „eigentlichen“ RING.<br />
Beeindruckend souverän der Wotan von Gast Egils Silinš, der mit überaus<br />
gepflegter Stimme kurzfristig für den eigentlich vorgesehenen Randall<br />
Jakobsh dankenswerterweise eingesprungen ist. Antonio Yang – ein unvergesslicher<br />
Alberich. Stark in der Stimme, stark im Spiel. Hans Kittelmann<br />
hatte als geplagter Schmied Mime zwar nur einen kurzen Auftritt,<br />
wusste sich aber insbesondere auch durch seine Darstellung der Partie in<br />
die Herzen der Zuschauer zu singen. Adäquate Leistungen von David Yim<br />
als Froh, Martin Berner als Donner, Taehyun Jun als Fasolt und Nicolai<br />
Karnolsky als Fafner. Ein Lob geht auch an Roswitha Christina Müller<br />
als Fricka und Michaela Maria Mayer als Freia und ein Extralob an Leila<br />
Pfister als Erda. Nicht zu vergessen auch die sexy drei Rheintöchter in –<br />
überraschend – zivilen Kostümen, nämlich Hrachuhí Bassénz als Woglinde,<br />
Leah Gordon als Wellgunde und Judita Nagyová als Flosshilde.<br />
Riesen-Applaus hochverdient für alle, am meisten für Vincent Wolfsteiner.<br />
Bei der Regie gab es im Publikum offenbar eine Große Koalition zwischen<br />
Buhrufern und Bravoschreiern: Unentschieden!<br />
Versäumen Sie nicht WALKÜRE am Sa.5. April 2014 in Nürnberg!<br />
<br />
Rüdiger Ehlert<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 57
Deutschland<br />
Schweinfurt:<br />
„<strong>Der</strong> Fliegende Holländer“ – 23.11.<br />
Ukrainisch-deutsches Kulturprojekt<br />
Eine ganz besondere Wagner-Aufführung konnte man am Theater der<br />
Stadt Schweinfurt erleben. Besonders deshalb, weil es die erste Inszenierung<br />
einer Oper eines deutschen Komponisten in der Ukraine überhaupt<br />
ist und dort als „das Kulturereignis“ bezeichnet wurde. Man hatte sich zu<br />
Richard Wagners 200. Geburtstag für dieses Werk entschieden. Die Premiere<br />
im Nationaltheater Donetsk hatte bereits im Dezember 2012 stattgefunden.<br />
Außer einer Tournee innerhalb des Landes wurde die erste Vorstellung<br />
außerhalb der Ukraine in Schweinfurt gezeigt.<br />
Verantwortlich für den kulturellen Austausch ist der Geschäftsführer von<br />
Pro Musica Classic GmbH, Alexander Jankow, der seit Jahren mit Vasyl<br />
Ryabenkyy, Generaldirektor des Nationaltheaters Donetsk, befreundet ist.<br />
Als eine „nie da gewesene ukrainisch und deutsche Symbiose“ bezeichnet der<br />
deutsche Botschafter in der Ukraine, Dr. Christof Weil, dieses Ereignis.<br />
Mit der jungen deutschen Mara Kurotschka hatte man eine Regisseurin<br />
gewonnen, die auch der Inszenierung einen besonderen Stempel aufdrückte.<br />
Sie verpackt die Sage über den Holländer in eine Rahmenhandlung,<br />
in der Senta diese Geschichte „nur“ träumt, in der die realen<br />
Erlebnisse als metaphorische Traumbegebenheiten und -begegnungen erscheinen.<br />
Damit legt sie eine <strong>neue</strong> Interpretation in die Handlung, was<br />
aber weder den Inhalt verzerrt noch stört. Im Gegenteil. Dank eines unglaublich<br />
schönen Bühnenbildes und effektvoller Videoclipse von Momme<br />
Hinrichs und Torge Möller, die bereits bei den Opernfestspielen in Salzburg,<br />
Bregenz und Bayreuth mitwirkten, wurde die Inszenierung zu einem<br />
eindrucksvollen, spannenden Erlebnis.<br />
Wenn man den Zuschauerraum betritt, sieht man ein auf den Bühnenvorhang<br />
projektiertes Hochzeitsbild, das Senta und Erik als Hochzeitspaar<br />
zeigt. Erklingt die Ouvertüre, hebt sich der Vorhang, das Bild löst sich<br />
auf, Senta steht leibhaftig auf der Bühne und erschießt sich. Mit diesem<br />
Selbstmord löst sie sich aus den Zwängen der Ehe sowie der Dominanz<br />
ihres Vaters. Die Phase zwischen dem Schuss und dem Tod wird nun als<br />
Traum erzählt. Hebt sich der zweite Vorhang, sieht man ein Bett, auf dem<br />
Senta mit einem weißen blutbefleckten Kleid liegt. Plötzlich verwandelt<br />
sich das Laken in wogende Wellen, die immer größer werden, die ganze<br />
Bühne einnehmen. Senta schreitet in die Wasserfluten. Das Wasser, das<br />
von den beiden Videokünstlern Hinrichs und Möller so visuell und realistisch<br />
dargebracht wird, ist das beherrschende Element der ganzen Inszenierung.<br />
Diese Video-Bilder, vermischt mit realen Requisiten, erzeugen<br />
eine ungeheure Wirkung und damit extreme Spannung. Man sieht die<br />
Ankunft des Holländers, der sein Schiff durch übergroße Wellen steuern<br />
muss, massig schwappt das Wasser durch die Tür von Sentas Elternhaus,<br />
zieht sich wie Ebbe und Flut zurück und wird am Ende wieder auf die<br />
Bühne gespült, wenn Senta mit dem Holländer in den Fluten verschwindet,<br />
beide erlöst, er von seinem Fluch, sie von den Zwängen, die ihr Leben<br />
belastet haben. Das Schlussbild zeigt Senta tot auf dem Bett liegend.<br />
<strong>Der</strong> Traum ist zu Ende.<br />
Am besuchten Abend waren neben den russischen Sängern zwei namhafte<br />
Gäste aus Deutschland und Österreich engagiert. Zum einen Stefan<br />
Stoll, der die Titelrolle übernahm. Mit klarer Dominanz sang und spielte<br />
er einen faszinierenden Holländer. Sein ausdruckstarker Heldenbariton<br />
beherrschte die Szene. Mit dunklem Bass und klarer Diktion spielte KS.<br />
Walter Fink den Daland. Tatjana Plekhanova, mehr zu Hause im italienischen<br />
Fach, konnte die Schwierigkeiten, die Richard Wagner in die<br />
Partie der Senta komponierte, nur bei den lyrischen Stellen bewältigen.<br />
Darstellerisch gestaltete sie die Traumfigur jedoch absolut überzeugend.<br />
In den weiteren Rollen zeigte Vitalij Kosin als Erik einen zu leichten lyrischen<br />
Tenor, Natalia Matvejeva als Mary ließ mit einer sehr schönen<br />
Mezzostimme aufhorchen, während Vladimir Kamrajev als Steuermann<br />
keinen Eindruck hinterließ. <strong>Der</strong> Chor des Akademischen Nationaltheaters<br />
Donetsk unter Leitung von Lyudmyla Streltsova ergänzte den musikalischen<br />
Teil mit wohlklingender Gestaltungskraft.<br />
Senta entrückt - Tatjana Plekhanova (© Theater Schweinfurt)<br />
Als Dirigent und musikalischer Gesamtleiter fungierte Mykhaylo Synkevych,<br />
der am berühmten Mariinski-Theater St. Petersburg seinen festen<br />
Arbeitsplatz hat. Da waren die Erwartungen hoch gesteckt, die jedoch<br />
im orchestralen Bereich nicht erfüllt wurden. Das Orchester des Akademischen<br />
Nationaltheaters für Oper und Ballett Donetsk spielte zu<br />
laut, und besonders bei den Bläsergruppen gab es Intonationsschwierigkeiten.<br />
Bei einem Gespräch nach der Aufführung mit den Verantwortlichen<br />
der Produktion erfuhr man, dass ein Teil der Instrumente in keinem<br />
guten Zustand ist und das Budget die Kosten für <strong>neue</strong> nicht zulässt.<br />
In vielen Fällen spielen die Musiker sogar mit ihren eigenen Instrumenten.<br />
Dies erklärte den nicht so perfekt klingenden Orchesterapparat, was<br />
jedoch die Gesamtleistung nicht wesentlich schmälerte.<br />
Umso mehr bewundernswerter ist es, dass diese Aufführung – es gab insgesamt<br />
vier in Schweinfurt – stattfinden konnte. Dieser deutsch-ukrainische<br />
Kulturaustausch ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie erfolgreich die<br />
internationale Zusammenarbeit im Kulturbereich sein kann. Gerade bei<br />
den momentanen politischen Schwierigkeiten in der Ukraine ist „dieses<br />
zeitgenössische Kunstwerk“, d. h. die Gemeinschaftsarbeit von Ukrainern<br />
und Deutschen, eine wichtige Botschaft für ein friedliches Zusammenleben<br />
aller Länder, wofür gerade Kultur und Musik die ausschlaggebende<br />
Basis ist. <br />
Inge Lore Tautz<br />
P.S.: Ein außerordentlich gut gestaltetes Programmheft mit ausführlichen<br />
Informationen über die Entstehung der Produktion und die Gastspielreise<br />
nach Deutschland, einem interessanten Interview mit der deutschen<br />
Regisseurin sowie umfangreichen Künstlerprofilen bot eindrucksvolles<br />
Hintergrundwissen.<br />
Hannover:<br />
„DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG“<br />
– WA 9.11.<br />
Sicher, in einer unkonventionellen, ja teilweise befremdenden Optik kamen<br />
sie daher, diese „Meistersinger von Nürnberg“ in der Inszenierung von<br />
Olivier Tambosi, mit dramaturgischer Assistenz von Klaus Angermann,<br />
die in leicht abgewandelter Form auch schon in Linz zu sehen war. In simplizistischen<br />
Bühnenbildern von Bengt Gomér, der die Handlung in einen<br />
einfachen lackweißen Rahmen bei meist wenig variierender Lichtregie<br />
von Elana Siberski stellt, mit teils humoresken Assoziationen an das mittelalterliche<br />
Nürnberg und die Geschichte vom Parnass, aber mehr noch<br />
durch die ebenso simplen wie knalligen T-Shirts aller Protagonisten und<br />
Nebenrollen von Carla Caminati, mögen viele der Hannoveraner nicht<br />
58 | DER NEUE MERKER 12/2013
Deutschland<br />
das erkannt haben, was sie so allgemein für die „Meistersinger“ halten.<br />
Nicht zuletzt das könnte die relativ schwach besuchte Aufführung erklären,<br />
ein selten bei Wagner zu sehendes Phänomen. Dabei sind die Hannoveraner<br />
doch spätestens seit dem „Ring“ von Barrie Kosky alles andere<br />
als traditionelles Wagnersches Musiktheater gewohnt…<br />
Nun ja, dass alle Meistersinger, Eva und Stolzing sowie die Lehrbuben<br />
und auch viele Choristen auf ihren bunten T-Shirts jeweils eine Hauptstadt<br />
der Länder dieser Erde zur Schau tragen, geht nicht jedem sofort<br />
ein, wenngleich es möglicherweise allzu plakativ, aber doch nachhaltig<br />
auf eine großartige Idee des Regisseurs verweist: Das Stück aus seiner engen<br />
Umklammerung durch das Deutsche und das Deutschtum – nicht<br />
zuletzt verkörpert durch das mittelalterliche und kleinbürgerliche Nürnberg<br />
mit seinen Butzenscheiben und anderen Apercus – zu befreien und<br />
zur Huldigung eines globalen Kunstbegriffs auszuweiten. Überzeugende<br />
Regieansätze, die deutschnationale Vereinnahmung der „Meistersinger“<br />
abzuarbeiten, sind schwer zu verwirklichen, wie u.a. die weitgehend gescheiterte<br />
Bayreuther Inszenierung von Katharina Wagner aus dem Jahre<br />
2007 gezeigt hat. Wenn auch optisch nicht immer ganz eingängig, wirkt<br />
Tambosis Regiekonzept hingegen überzeugend, denn er leitet es konsequent<br />
aus seinem Verständnis des Werkes in drei Aspekten ab: Zunächst<br />
geht es ihm um die menschlichen Beziehungen im Stück, insbesondere<br />
das Dreiecksverhältnis zwischen Sachs, Eva und Stolzing. Die menschlichen<br />
Aspekte dieser drei zentralen Figuren sieht er hier bei Wagner viel<br />
stärker verwirklicht als bei den Protagonisten seiner anderen Werke. Zweitens<br />
steht für ihn die Frage der Kunst zur Diskussion. Ist Kunst überhaupt<br />
notwendig? Sollte sie nur einer Elite vorbehalten, oder sollen Kunst und<br />
Kreativität allen zugänglich sein? Und wie geht man mit der Avantgarde<br />
um? Alles total aktuelle Themen! Die für Wagner immer so wichtige gesellschaftliche<br />
und politische, ja bisweilen religiöse (man denke an den in<br />
der Literatur kolportierten Begriff der „Kunstreligion“) Dimension der<br />
Kunst führt schließlich zum dritten Aspekt, den Tambosi in seiner Inszenierung<br />
herausarbeitet, wie er in einem Gespräch mit Klaus Angermann<br />
im Programmheft schildert: „…das Nationale, das bei der Beschäftigung<br />
mit dem Stück heute immer wieder zu Irritationen führt. Wagners Auffassung<br />
von Kunst und Gesellschaft versteht sich hier ausschließlich als „deutsch“,<br />
grenzt Anderes radikal aus und warnt am Ende der Oper explizit vor schädlichen<br />
fremden Einflüssen.“<br />
Dass dieser Abend trotz der manchmal auch von Freunden des Werkes<br />
zugegebenen Längen eine inhärente Spannung hielt, ist Tambosis Hervorhebung<br />
des humanistischen Ideals und der konsequenten Umsetzung<br />
dieser drei Aspekte zu danken. Seine Personenführung ist ganz intensiv<br />
auf die menschlichen Beziehungen konzentriert. Und vor dieser Intensität<br />
wurde der schlichte optische Rahmen zweitrangig, obwohl auch hier<br />
immer wieder klar auf das einzig relevante Thema „Liebe“, welches man<br />
in den Sprachen aller Länder auch auf einem Riesentableau sieht, abgestellt<br />
wird. Auch das Preislied, das Sachs niederschreibt, besteht nur aus<br />
einem Herzen und dem Wort „Liebe“.<br />
Eine noch spartanischere Schusterstube hat der Rezensent nie gesehen<br />
– ein rechteckiger Ausschnitt in der weißen Wand, mit einem Stuhl, einem<br />
Tisch, ein paar Schusteruntensilien. Aber was der Wagner-erfahrene<br />
Oskar Hillebrandt mit seiner enormen Bühnenpersönlichkeit in dieser<br />
kargen Szene macht, ist schon beeindruckend. Er singt und spielt immer<br />
noch mit unveränderter emotionaler Intensität, stets passender und somit<br />
glaubhafter Mimik, bester Diktion sowie starkem Ausdruck den zwischen<br />
großen Gefühlen wankenden Schuster. Dabei lässt er die weiterhin blendenden<br />
Höhen seines Heldenbaritons hören. Wunderbar nachdenklich<br />
auch sein Flieder-Monolog! Hillebrandt war mit seiner großen Menschlichkeit<br />
und Altersweisheit ausstrahlenden Präsenz das Gravitationszentrum<br />
dieser „Meistersinger“-Aufführung – wie schon vor Jahren in der<br />
Mielitz-Produktion an der Wiener Volksoper oder vor ein paar Jahren in<br />
Erl. Es ist wohl kein Zufall, dass ausgerechnet Sachs hier die Stadt Tel Aviv<br />
verkörpert – und Stolzing Teheran…<br />
Auch der Hannoveraner Loge und Siegfried, Robert Künzli, kann mit<br />
seinem beherzten Auftreten viel Emotionalität und jugendliche Direktheit<br />
ausdrücken. Schon beim ersten Treffen mit Eva – natürlich ist weder<br />
eine Katharinenkirche noch ein Chor zu sehen (aber gut zu hören)<br />
– lässt ihn Tambosi nach einem langen und intensiven Blick Eva ebenso<br />
intensiv küssen… Künzli singt den Stolzing mit heldischem Aplomb und<br />
guten Höhen, das Preislied zwar strahlend, aber doch zu sehr mit Kraft.<br />
Sara Eterno verkörpert die Eva mit viel Empathie und singt sie mit einem<br />
klaren, leuchtenden und bestens artikulierten Sopran beeindruckend<br />
gut. Auch die Figur des Beckmesser zeichnet Tambosi bei aller Zurschaustellung<br />
seiner Schwächen und Komplexe schon im Laufe der Handlung,<br />
aber besonders am Ende mit menschlichen Zügen. Er versöhnt sich mit<br />
einer berührenden Geste nach der Niederlage auf der Festwiese mit Stolzing.<br />
Stefan Adam liefert eine exzellente Charakterstudie des Stadtschreibers,<br />
der als einziger keine Stadt auf der Brust trägt, sondern zunächst die<br />
Sonne gibt und am Ende zum Mond mutiert… Stimmlich bleibt Adam<br />
dem Beckmesser auch mit kraftvoller Höhe keine Note schuldig – eine<br />
insgesamt ausgezeichnete Leistung! Per Bach Nissen singt gut den Pogner,<br />
bisweilen mit etwas zu klangloser Höhe, Michael Dries einen gesanglich<br />
nicht überzeugenden Kothner. Ivan Tursic ist ein David mit<br />
klangvollem hellem Tenor, der auf weitere Rollen neugierig macht, Mareike<br />
Morr eine ansprechende Magdalene. Die übrigen Meister singen<br />
anstandslos. Hervorzuheben ist noch die profunde Nachtwächterstimme<br />
von Shavleg Armasi – aus dem 1. Rang.<br />
Tambosi kommt, ganz anders als Peter Konwitschny in seiner Hamburger<br />
Inszenierung, zu einer konstruktiven und ebenso zeitgemäß wie angemessen<br />
wirkenden Alternative in der Schlussansprache des Sachs.<br />
Wenngleich Eingriffe in das Libretto immer problematisch sind, erscheint<br />
dieser gerechtfertigt. Denn er trägt mehr zur Entnationalisierung des Stückes<br />
bei als mancher Regieansatz mit dem Holzhammer. Wagner schrieb<br />
selbst in seiner produktiven theoretischen Zürcher Schaffensphase, dass<br />
das Nationale im Kunstwerk nur eine Dekoration sei…<br />
Karen Kamensek schuf mit dem Niedersächsischen Staatsorchester<br />
Hannover den zu dieser Interpretation genau passenden Klang mit stets<br />
flüssigen Tempi aus dem Graben. Leicht, locker und beschwingt kam sogleich<br />
das Vorspiel daher. Klangvolle Bläser machten auch das Vorspiel<br />
zum 3. Aufzug zu einem wahren Hörgenuss. Hier war kein Raum für Pathos.<br />
Das Orchester spielte den ganzen Abend über fehlerfrei und entfaltete<br />
einen großen klanglichen Facettenreichtum, begünstigt durch die<br />
gute Akustik des Hauses. Hinzu kam der starke und homogen singende<br />
Chor und Extrachor der Staatsoper Hannover. Schade, dass die Produktion<br />
offenbar nicht von allen (ganz) verstanden wurde… Klaus Billand<br />
Kaiserslautern: „REGINA“ (Lortzing) – 31.10.<br />
Albert Lortzings in Wien entstandene Oper „Regina“ ist ein authentisches<br />
Dokument der Revolution von 1848. <strong>Der</strong> Komponist war damals<br />
Kapellmeister am Theater an der Wien (mit einem bis Ende September<br />
befristeten Zweijahresvertrag). Am 31.5.1848 begann er mit der Arbeit<br />
am Textbuch, am 20.10. war die Oper bis auf die Ouvertüre fertiggestellt,<br />
und im November übersandte er Partitur und Textbuch an seinen Verlag<br />
Breitkopf & Härtel in Leipzig. <strong>Der</strong> Verlag lehnte ab, und mit den Scheitern<br />
der Revolution zerschlugen sich die Hoffnungen auf eine Aufführung.<br />
Lange nach Lortzings Tod gab es zwei Bearbeitungen von fremder<br />
Hand: Adolph L’Arronge machte für die Aufführung an der Königlichen<br />
Oper in Berlin 1899 aus „Regina“ eine „vaterländische Oper“ mit antifranzösischer<br />
Tendenz, indem er die Handlung in die anti-Napoleonischen<br />
Freiheitskriege verlegte. In der DDR stellte Wilhelm Neef eine linientreue<br />
Fassung her, die 1953 in Rostock uraufgeführt wurde.<br />
150 Jahre dauerte es, bis die Oper in Originalfassung auf die Bühne kam:<br />
1998 gab es in Gelsenkirchen eine szenische und in Karlsruhe eine halbszenische<br />
Inszenierung. Dass nun gerade das Pfalztheater in Kaiserslautern<br />
(in Kooperation mit dem Ludwigshafener Theater im Pfalzbau)<br />
den Bann bricht, hat eine gewisse Logik. Zum einen zeigt sich die kleine<br />
Bühne im deutschen Südwesten seit Jahren programmatisch aufgeschlossener<br />
als die meisten größeren Häuser im Umkreis. Zum andern ist in der<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 59
Deutschland<br />
Pfalz die Erinnerung an die deutsche Demokratiebewegung besonders lebendig.<br />
1832 fand bei Neustadt an der Weinstraße mit dem Hambacher<br />
Fest die eindrucksvollste demokratische Kundgebung des Vormärz statt.<br />
Die Pfalz und das benachbarte Baden waren die beiden Regionen, in denen<br />
die 1848er am längsten kämpften. Erst im Juni 1849 schlugen preußische<br />
und hessische Truppen den Volksaufstand brutal nieder. In Wien hatte die<br />
Reaktion damals längst wieder die Oberhand. Schon am 9.11.1848 hatten<br />
kaiserlich-königliche Truppen den Abgeordneten des Paulskirchen-Parlaments,<br />
Robert Blum, einen Freund Lortzings, unter Missachtung seiner<br />
Immunität in der Brigittenau standrechtlich erschossen.<br />
In der Oper ist dieses Ende nicht absehbar; denn weder Lortzing noch<br />
seine Bühnenfiguren ahnten, wie die Revolution ausgehen würde. Es beginnt<br />
mit den Arbeitern des Fabrikanten Simon. Sie streiken – einmal um<br />
mehr Lohn, aber auch aus Prinzip gegen jegliche Form von Unterdrückung.<br />
Simon selbst ist verreist, aber dem Geschäftsführer Richard gelingt<br />
es, das Personal zu beruhigen. „Frei geboren sind wir alle“, stimmt er zu,<br />
verweist aber auf den Verhandlungsweg: „Freiheit ohne Einigkeit gewährt<br />
kein Glück auf Erden.“ <strong>Der</strong> Fabrikant selbst ist ein wohlhabender, aber<br />
sozial denkender bürgerlicher Patriarch. Er ist auch bereit, seine Tochter<br />
Regina mit Richard zu verheiraten, obwohl dieser aus armen Verhältnissen<br />
kommt, und damit die Sehnsucht der beiden jungen Leute zu erfüllen.<br />
Simons Werkmeister Stefan ist gleichfalls in Regina verliebt. Aus<br />
Enttäuschung und Verzweiflung schließt er sich einem Trupp von wilden<br />
Freischärlern an, die von seinem lange inhaftierten alten Freund Wolfgang<br />
angeführt werden und einen Rachefeldzug gegen den Adel führen.<br />
Die Freischärler machen Stefans Sache zu der ihren, sprengen Richards<br />
und Reginas Verlobungsfeier, entführen Regina und legen die Fabrik in<br />
Schutt und Asche. (So etwas geschah durchaus. Lortzing nahm, wie Andreas<br />
Bronkallas interessantem Programmheft zu entnehmen, Mitte März<br />
1848 an Patrouillien teil, „denn der Pöbel plünderte in den Vorstädten.“)<br />
Zwar nimmt Richard mit etlichen Arbeitern die Verfolgung auf, doch die<br />
Freischärler entkommen in die Berge. (Lortzing dachte an eine Szene an der<br />
badischen Grenze zur Schweiz.) Dort legen sie Rast in der Hütte einer alten<br />
Frau ein. Diese ist zufällig Barbara, die Mutter von Simons Diener Kilian.<br />
Zu Beginn des Aktes singt sie ein Couplet „Nicht so bleiben kann dies Treiben“<br />
und artikuliert die Ansicht derjenigen im Volk, die weder für Kriege<br />
noch Revolutionen etwas übrig haben und vor allem das Glück des Friedens<br />
schätzen. Auch Kilian flüchtet mit seiner Kollegin Beate in die Hütte<br />
seiner Mutter. Dem gewitzten Diener gelingt es, die Freischärler mit Wein<br />
betrunken zu machen. Er singt ihnen auch das verlangte Lied zur Unterhaltung,<br />
dessen Text „Hinaus, hinaus in schnellster Frist, was nicht dem Land<br />
von Nutzen ist“ Lortzing bei dem Wiener Publizisten Johann Nepomuk<br />
Vogl (1802-1866) entlehnt hat. Die Tendenz gefällt den Freischärlern, die<br />
den Refrain gleich mitsingen, aber sie ist nicht so radikal, dass Kilian sich<br />
verbiegen müsste. Lortzings alter Spielopern-Witz kommt durch, wenn aus<br />
dem vom Männerchor imitierten Gitarrenklimpern „didldum“ ein hintersinniges<br />
„dumm dumm dumm“ wird. Das Lied versandet in müdem Ritardando,<br />
sogar der Fagottist im Orchestergraben verschläft den Schlusston.<br />
Kilian gelingt es, mit Regina zu fliehen, er wird aber von den Freischärlern<br />
wieder eingeholt. Sie nehmen die Unternehmerstochter mit zu ihrem Lager<br />
in den Bergen, wo sie in einem alten Turm Pulver und Munition horten.<br />
Kilian alarmiert Simon und Richard, die auf dem Land Zuflucht gefunden<br />
haben. Zusammen mit einer Gruppe Bauern nehmen die Männer<br />
die Verfolgung auf und stellen die Entführer am Turm. Als diese unterliegen<br />
und sich Stephan in die Enge getrieben sieht, besteigt er mit Regina<br />
den Turm, um sich mit ihr in die Luft zu sprengen. Regina gelingt es im<br />
letzten Moment, ihn mit seiner eigenen Flinte zu erschießen. Als sie aus<br />
der Ohnmacht erwacht, sieht sie nicht nur Vater, Verlobten und vertrautes<br />
Hauspersonal um sich. Im Textbuch heißt es: „Landleute, Arbeiter aus<br />
allen Klassen mit Büchsen, Hacken, Sensen, bunten Fahnen etc., Soldaten<br />
stürmen von allen Seiten herbei.“ Richard berichtet: „Von allen Seiten Freiheitsboten<br />
nah’n.“ Und die Menge stimmt die von dem Frankfurter Dichter<br />
Friedrich Stoltze (1816-1901) gedichtete und von Lortzing hier als<br />
Krönung des Finales vertonte „Deutsche Volkshymne“ an: „Heil, Freiheit,<br />
Dir, o Völkerzier.“ Aus der konkreten Handlung wächst die ersehnte<br />
Utopie: Das Volk hat gesiegt – über den Adel, aber auch über die buchstäblich<br />
mit dem Feuer spielenden Radikalen.<br />
In Wirklichkeit aber siegte die Reaktion, und das dürfte der Grund dafür<br />
sein, dass Lortzing die als letztes in Angriff genommen Ouvertüre nicht<br />
mehr fertig stellte. Zwar wurde das Vorspiel später von dem Schweriner<br />
Musikdirektor Komponisten Gustav Härtel sach- und stilgerecht komplettiert<br />
und in dieser Form auch in die 1998 vom Verlag Ricordi vorgelegte<br />
„Regina“-Originalausgabe von Irmlind Capelle aufgenommen.<br />
Die Pfalztheater- Aufführung bricht mit Takt 133 ab, wo Lortzing den<br />
Stift niedergelegt hatte, motiviert dies aber szenisch: <strong>Der</strong> Chor der streikenden<br />
Arbeiter kommt aus dem Hintergrund hervor.<br />
„Regina“ kann man vermutlich nicht inszenieren, ohne auf die eine oder<br />
andere Weise zur deutschen Geschichte (einschließlich der österreichischen)<br />
Position zu beziehen. Regisseur und Ausstatter Hansgünther<br />
Heyme, Intendant des Ludwigshafener Theaters, der am eigenen Haus<br />
Regina - zur Flucht entschlossen (© Pfalztheater)<br />
gerade erst Wagners „Ring“ inszeniert hat, ist sich dessen bewusst. Und<br />
so wendet er das moderne Konzept des „historic re-enactment“ (also des<br />
Nachspielens historischer Szenarien) auf eine Situation kurz nach dem 2.<br />
Weltkrieg an. Vorne auf einer kleinen Holzbank sitzt ein junger Knabe<br />
(Tabea Koch) und verfolgt gebannt die Geschichtslektion seines Geschichtslehrers,<br />
der ihm als Richard die Oper vorspielt – zusammen mit<br />
vielen anderen seriösen Studienräten im dunklen Anzug und ältlichen<br />
Lehrerfräuleins im hochgeschlossenen Kostüm. Dabei definieren sich die<br />
Akteure jeweils durch schwarze, rote und goldene Plastik-Überzüge als<br />
Arbeiter, Freischärler und Bauern. Schwarz, Rot und Gold, heute die deutsche<br />
Nationalflagge, waren damals die Farben der demokratischen Bewegung.<br />
(Auf dem Hambacher Schloss wird noch eine Originalfahne von der<br />
Kundgebung 1832 aufbewahrt.) Drei große Plastikbahnen in diesen Farben<br />
bestimmen auch die Hinterwand der sparsam ausgestatteten Bühne.<br />
<strong>Der</strong> Regieansatz erschließt sich erst nach einer Weile, und er passt auch<br />
nicht ganz. Denn als sein eigener Librettist hat der Komponist den Menschen<br />
„aufs Maul geschaut“ und viele seiner Szenen dem Alltag abgelauscht.<br />
Unter dem Verlust dieser Unmittelbarkeit leidet vor allem Daniel Ohlmann<br />
als Richard, dem man bei allem Engagement den jugendlichen Berufsaufsteiger<br />
und Liebhaber nicht abnimmt. Dass er bei den Spitzentönen<br />
seines Tenors immer wieder an Grenzen stößt, dürfte auch mit der Steifheit<br />
seiner Geschichtslehrer-Rolle zu tun haben. Leichter damit tun sich<br />
60 | DER NEUE MERKER 12/2013
Deutschland<br />
der von Ulrich Nolte gut einstudierte und gut geführte Chor mit Extrachor<br />
und Statisten. Unglücklich wirkt auch die Reginas Stilisierung per<br />
Kostüm zu einer Mischung aus Gretchen und Germania. Adelheid Fink<br />
spielt mit ihrem darstellerischen und sängerischen Charme tapfer gegen<br />
dieses doppelte Klischee an.<br />
Den übrigen Darstellern bleibt die Rolle hinter der Rolle erspart. <strong>Der</strong><br />
Bassist Christoph Stegemann gibt mit Würde den alternden Unternehmerpatriarchen.<br />
Daniel Kim als Kilian und Ludovica Bello geben mit<br />
frischen Stimmen ein charmantes Dienerpaar. Pfalztheater-Urgestein Geertje<br />
Nissen, die bei ihrem Barbara-Couplet das sprichwörtliche Hühnchen<br />
tatsächlich rupft, glänzt wieder als Charakterdarstellerin. Sehr eindrucksvoll,<br />
mit prägnant geführtem Bariton und darstellerischem Feuer,<br />
verleiht Daniel Henriks dem verzweifelten Stephan zunehmend dämonische<br />
Züge. Und wie Daniel Böhm als Wolfgang hinter dem Freiheitskämpfer<br />
den Zyniker aufblitzen lässt, hat darstellerische Klasse. Überzeugend<br />
finde ich die Regieidee, die Schulbank im Vordergrund durch ein<br />
schlichtes Holzkreuz zugleich als Altar erscheinen zu lassen. Denn in dieser<br />
Oper wird umso mehr gebetet, je gefährlicher die Situation sich zuspitzt.<br />
Da richtet sich dann der Blick zum Kreuz, aber zugleich zu dem daneben<br />
sitzenden Knaben als anwesendem Zeugen des Geschehens.<br />
In der Verlobungsfeier lässt Heyme die Tänzer einfrieren. Stattdessen wird<br />
zu Lortzings Tanzmusik ein kleiner Totentanz eingelegt, in dem ein Skelett<br />
einem kleinen Jungen in Uniform und einem kleinen Mädchen mit<br />
einer Puppe ein Schwert in die Hände gibt. Die von Éva Adorján konzipierte<br />
Tanzhandlung illustriert die Erziehung zum Militärischen im Deutschen<br />
Kaiserreich, aber auch die fatale Todessehnsucht der Deutschen, die<br />
sie bis in die Endphase des Zweiten Weltkriegs hinein trieb. Diese Einstellung<br />
wirft tatsächlich schon im Finale der Oper ihre Schatten voraus,<br />
wenn es in Stoltzes „Deutscher Hymne“ heißt: „Fließ hin, o Blut, fließ in<br />
den Sand, o süßer Tod fürs Vaterland.“ Zur Ehre des Komponisten sei gesagt,<br />
dass die Musik beim Eintritt dieser Zeilen vom strahlenden C-Dur<br />
in ein nachdenkliches c-moll kippt. <strong>Der</strong> Pazifist Lortzing war niemand,<br />
der über Tod und Schrecken hinwegkomponierte wie viele seiner Kollegen!<br />
Spätestens im 3. Akt weitet sich die Spieloper in Richtung Grand-Opéra<br />
aus. Die Macht, der Sog und die Durchschlagskraft der Chöre erinnern<br />
an Verdis „Nabucco“. Hätte die Revolution gesiegt, wäre „Regina“ wohl<br />
die deutsche Nationaloper geworden. So aber fristet ihr Komponist nur<br />
mehr ein Mauernblümchen-Dasein im Spielbetrieb der Opernhäuser.<br />
Unter seinem 2. Kapellmeister Rodrigo Tomillo, der die Aufführung von<br />
GMD Uwe Sandner übernommen hat, kostet das Orchester des Pfalztheaters<br />
die Nuancen der Partitur von Mozartischer Delikatesse bis zu<br />
düsterer romantischer Leidenschaft voll aus. Obwohl der Dirigent manchmal<br />
das Tempo leicht überzog und einige Spannungspausen zu wenig auskostete,<br />
gelang doch eine sehr eindrucksvolle Aufführung. Man geriet ins<br />
Staunen darüber, was Lortzing geleistet hat und noch hätte alles leisten<br />
können, wäre er nicht unter armseligen Umständen schon 1852 in Berlin<br />
gestorben. <br />
Andreas Hauff<br />
Düsseldorf: „BILLY BUDD“ – WA 8.11.<br />
Die Rheinoper hatte in der vergangenen Spielzeit einige herbe Kritik einzustecken,<br />
so dass man glücklich war, zum Britten-Jahr eine hervorragende<br />
Präsentation der aus dem Jahre 2011 stammenden Inszenierung von Immo<br />
Karaman im Bühnenbild und mit Kostümen Nicola Reicherts zu erleben.<br />
Dunkle Stahlwände, die leicht verschiebbar sind, beherrschen die Bühne<br />
und unterstützen den düsteren Charakter der Novelle von Melville. Nur<br />
sehr wenige bunte Lichter hellen die Szene auf. Besonders gelungen ist die<br />
Personenführung der zahlreichen Darsteller. Für jede – auch die kleinste<br />
Figur – ist eine Individualisierung zu erkennen, was bei 17 Männerrollen<br />
eine enorme Leistung ist. Allein anfechtbar ist die hinzugedachte Figur<br />
einer Krankenschwester, die Captain Vere in einem Pflegeheim betreut,<br />
und die auch in der rückblickend erzählten Handlung auf dem Schiff<br />
auftaucht. Vielleicht sollte dadurch die reine Männerriege der Darsteller<br />
durchbrochen werden, wirklich erkennbar wird der Sinn der Aktion nicht.<br />
Die Lichteffekte von Volker Weinhart sind ausgesprochen eindrucksvoll,<br />
da zum Beispiel der Nebel in dieser Oper eine besondere Rolle spielt.<br />
<strong>Der</strong> Dirigent Peter Hirsch hat offenbar eine besondere Beziehung zur<br />
Britten‘schen Tonsprache. Wie er einzelne Instrumente hervorhebt, sie aber<br />
auch wieder in den Orchesterklang einwebt, ist meisterhaft. Die Sängerführung<br />
ist höchst genau. Man hört das Düsseldorfer Orchester selten<br />
in einer so fabelhaften Form. Was an Farben und Instrumentalbrillanz zu<br />
Tage trat, begeisterte den Hörer. Selbst in den aufbrausenden Klangmassen<br />
blieb alles durchhörbar und schlank, so dass die Sänger nie forcieren<br />
mussten. Die gewaltigen Männerchöre, die für dieses Werk von entscheidender<br />
Bedeutung sind, sangen tonschön und dynamisch glänzend abgestimmt.<br />
Ein Bravo für den Chorleiter Gerhard Michalski.<br />
Lauri Vasar, ein schlanker Blondin, gab einen zunächst unbekümmerten<br />
Titelrollenträger. Erst als der einfache Bursche in für ihn unentwirrbare Situationen<br />
gerät, machen sich seine Schwächen – Stottern – bemerkbar. Sein<br />
Gesicht verzerrt sich und er wird zur geschundenen Kreatur, die vergeblich<br />
beim Kapitän Hilfe sucht. In der zunächst angstvollen Erwartung seiner<br />
Hinrichtung löst sich langsam seine Verkrampfung und er geht ruhig seinem<br />
Tod entgegen. Hier müssen auch schon härtere Gemüter schlucken, um<br />
die Tränen zurückzuhalten, zumal der Sänger diese Szene geradezu beängstigend<br />
intensiv gestaltet. Seine samten timbrierte lyrische Baritonstimme ist<br />
in allen Lagen gleich gut durchgebildet und besonders ausdrucksvoll. Eine<br />
solche absolute Spitzenleistung hört man selten.<br />
Raymond Very als Captain Vere zeigt eine gebrochene Figur. Dieser Intellektuelle<br />
passt kaum auf ein Kriegsschiff und zerbricht an der Ausweglosigkeit<br />
seiner Situation. Er möchte Billy retten, sein Pflichtgefühl gestattet es<br />
ihm aber nicht. Mit wenigen sparsamen Bewegungen vermag der Sänger<br />
dies ausgezeichnet darzustellen. Seine jugendliche Heldenstimme bewältigt<br />
die nicht einfach zu singende Partie glänzend. Sami Luttinen als John Claggart<br />
ist der Bösewicht im Jago‘schen Sinne schlechthin. In der Tat scheint<br />
er sich in einer Ordnung wie in der Hölle wohlzufühlen, was er in seiner<br />
Darstellung deutlich zum Ausdruck bringt. Seine düstere Bassstimme prädestiniert<br />
ihn geradezu für diese Rolle.<br />
Die Offiziere – Michael Druiett, Ashley Holland, Torben Jürgens –<br />
sind darstellerisch und stimmlich sehr zufriedenstellend. Unter den vielen<br />
Comprimari fallen die beiden Buffotenöre Cornel Frey und Florian<br />
Simson als Novize und Squeak durch ihre hellen Stimmen besonders auf,<br />
zumal sie den Leidensdruck der gequälten Matrosen hervorragend zum<br />
Ausdruck bringen. <strong>Der</strong> 77-jährige Carlos Krause gestaltet den alten Seebären<br />
Dansker, der Billy in seiner Todesstunde beisteht, höchst ergreifend<br />
und singt seine wenigen Sätze mit immer noch markantem Bass. Das restliche<br />
Herrenensemble, das durch keinen Ausfall gekennzeichnet ist, sei<br />
mit einem Pauschallob bedacht.<br />
Das Publikum dankte der überaus bewegenden Aufführung mit langem<br />
und starkem Beifall. <br />
Johann Schwarz<br />
Frankfurt:<br />
„DIDO AND AENEAS/<br />
HERZOG BLAUBARTS BURG“ – 16.11.<br />
Eine glanzvolle Wiederaufnahme von zwei konträren Werken bescherte<br />
die Oper Frankfurt seinem begeisterten Publikum und zwar „Dido and<br />
Aeneas“ (Henry Purcell) sowie dem knapp 2 ½ Jahrhunderte später komponierten<br />
Werk „Herzog Blaubarts Burg“ des ungarischen Meisters Bela<br />
Bartók. Vortrefflich setzte Barrie Kosky die Kurzopern in Szene, verstand<br />
es auf wunderbare Weise, sinnliche Lebensfreude mit dem tragischen Ende,<br />
dem Erstickungstod der Dido, zu verschmelzen – er steckte, mit Anklängen<br />
an die Shakespeare-Ära, bärtige Männer mit langen Haaren in Frauenkleider.<br />
Unter der temperamentvollen Leitung von Constantinos Carydis musizierte<br />
die kleine Besetzung des Opern- und Museumsorchester herzerfri-<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 61
Deutschland<br />
schend, klar, duftig und schuf somit die feine, zarte Instrumental-Atmosphäre<br />
für dieses antike Epos. Paula Murrihy (Dido) verfügt zwar über eine<br />
angenehme, höhensichere Stimme, doch vermisste ich die warme Mittellage,<br />
welche der desparaten Königin die tragische Tiefe verleiht. Kernige, baritonale<br />
Substanz schenkt hingegen Sebastian Geyer dem bestens interpretierten<br />
Aeneas. Keck, angenehm im Timbre bezaubert Kateryna Kasper als<br />
Belinda. Elizabeth Reiter (Second Woman) steht ihr in nichts nach. Köstlich<br />
im Spiel, vokal überzeugend die drei Counter-Tenöre Martin Wölfel,<br />
Dmitry Egorov, Roland Schneider als Sorceress, first and second Witch.<br />
Ebenso trefflich fügen sich Michael Porter (Spirit/Sailor) sowie die prächtig<br />
agierenden Mitglieder des Opernchores ins turbulente Geschehen.<br />
„Herzog Blaubarts Burg“:<br />
Szenen einer ungewöhnlichen Eheverbindung á la Strindberg vermittelt<br />
Kosky auf der beweglichen Scheibe der dunklen Bühne mit den schwarzen<br />
Kostümen (Katrin Lea Tag), alles schwarz, abgrundtief wie die Seelenzustände<br />
der Protagonisten, welche sich mit großer darstellerischer Intensität<br />
schier bis zur Selbstaufgabe zerfleischen. Diese optischen Eindrücke<br />
gingen regelrecht unter die Haut. Mit schönen baritonalen Couleurs und<br />
markanter Diktion singt Johannes Martin Kränzle den Blaubart. Mir<br />
fehlte bei seinem bewundernswerten Schöngesang lediglich die dämonische<br />
Hintergründigkeit. Expressiv, flackernd in dynamischen Fortebereichen<br />
bewegte sich der Mezzo von Claudia Mahnke, doch seien ihr bei<br />
dieser intensiv gestalteten Judith jene weniger klangvollen Töne verziehen.<br />
Maestro Carydis entfesselt mit dem nun vollzähligen Orchesterapparat<br />
und ausgeklügelter Klangfarben-Dramaturgie eine spannende Analyse der<br />
gestörten Geschlechterbeziehungen. In blendender Verfassung vermittelt<br />
Blaubart und Judith - Johannes Martin Kränzle mit Claudia Mahnke<br />
(© Wolfgang Runkel)<br />
das bestens disponierte Orchester die ausdrucksstarke Tiefenschärfe, jede<br />
Phase, jede motivische Regung dieser gewaltigen Partitur. Bravo! Ein großer,<br />
packender Opernabend wurde lauthals bejubelt.<br />
Auf weitere Aufgaben dieses vortrefflichen Dirigenten hier am Hause und<br />
ganz besonders der Wiederaufnahme von „Tristan und Isolde“ darf man<br />
mit Spannung entgegen sehen. <br />
Gerhard Hoffmann<br />
„Ezio“ (Gluck) – Pr. 10.11.<br />
Mit „Ezio“ von Christoph Willibald Gluck hat an der Frankfurter Oper<br />
eine frühe Oper des späteren Reformers und Schöpfers einiger Repertoiregängiger<br />
Werke Premiere. Das Dramma in musica, auf ein Libretto des<br />
Balance an der Kante - Max Emanuel Cencic (Valentiniano)<br />
(© Barbara Aumüller)<br />
großen Barockdichters Pietro Metastasio. erlebte 1750 in Prag seine Uraufführung.<br />
Natürlich war der Ezio (Aethius)-Stoff eine große Barocknummer,<br />
und auch Händel schrieb eine Oper mit diesem Sujet. Später<br />
kommt der Held in Verdis „Attila“ vor.<br />
Ezio kehrt nach siegreicher Schlacht gegen die Attilas Hunnen nach Rom<br />
zurück, und Kaiser Valentinian eröffnet ihm, dass er sich mit seiner Geliebten<br />
Fulvia vermählen will und bietet ihm seine Schwester Onoria als<br />
Gattin an. Gleichzeitig plant der Vertraute des Kaisers, Massimo, einen<br />
Anschlag auf denselben, da er seine Frau vergewaltigt hatte. Das Attentat<br />
auf den Kaiser schlägt aber fehl. Ezio, der zu seiner Liebe steht und Onoria<br />
ausgeschlagen hat, gerät in Verdacht und wird verhaftet. Auf Bitten<br />
Fulvias und Onorias lässt Valentiniano den Feldherrn wieder frei, ordnet<br />
aber seine heimliche Ermordung durch Varo an. Da inzwischen der beauftragte<br />
Kaisermörder seinen Mordanschlag gestanden hat, lenkt Onoria<br />
den Verdacht auf Massimo, worauf dieser aufsteht, um den Kaiser selber<br />
zu erstechen. Da taucht der lebende, von Varo nicht getötete Ezio auf<br />
und verhindert die Ermordung des Kaisers, der daraufhin ihn und sogar<br />
Massimo begnadigt. Er verzichtet auf Fulvia und bleibt in diesem „lieto<br />
fine“, wie auch seine Schwester Onoria, die Ezio ebenfalls liebte, allein.<br />
Die Oper zeichnet sich durch viele spannende Secco-Rezitative aus, die<br />
die Handlung immer kurz vorantreiben. Dazwischen befinden sich meist<br />
längere Arien, alle mit Wiederholung des ersten Teils, die oft sehr empfindsam<br />
dahinplätschern. Einige Juwelen befinden sich aber auch darunter,<br />
besonders wenn sie so erfrischend gespielt werden wie vom stark reduzierten<br />
Frankfurter Museumsorchester, das mit kaum Vibrato, aber<br />
umso größerer Verve unter dem Dirigent Christian Curnyn agiert, der<br />
schon einige Preise mit diversen Barockensembles eigeheimst hat.<br />
Beim Regieteam mit Vincent Boussard (Inszenierung), Kaspar Glarner<br />
(Bühnenbild), Christian Lacroix (Kostüme), Joachim Klein/Licht<br />
und Bibi Abel/Video haben sich die Ideen anscheinend gegenseitig etwas<br />
neutralisiert, so dass die großen Akzente in der szenischen Umsetzung<br />
fehlten. In einem zur Bühne etwas versetzten rechteckigen Raum,<br />
der aber meist nach rechts offen war, spielten sich die vielen Szenen ohne<br />
Innen-Interieur (mit Ausnahme einer kleinen weißen Bank) ab. Zu Beginn<br />
soll eine Videoprojektion mit vielen Stuka-Fliegern wohl die Hunnenschlacht<br />
nach heute holen, danach sieht man nur reduzierte Projektionen<br />
und Schattenspiele, und zweimal fährt ein ominöses Eisenteil von<br />
oben herab, das seine Schatten wirft. Durch verschiedene, manchmal ab-<br />
62 | DER NEUE MERKER 12/2013
Deutschland<br />
rupte Beleuchtungswechsel soll der Raum Atmosphäre bekommen. Eine<br />
solche wird aber eher durch die hochpompösen Barockroben der Damen<br />
erreicht, die sich von dem minimalistischen Raum spektakulär abheben.<br />
Die Hofwache Valentinianos wird durch die Statisterie verkörpert, die in<br />
„unisex“ schwarzen heutigen Gewändern, versetzt schreitend, Ezio einmal<br />
nach rechts, einmal nach links hinausgeleitet. <strong>Der</strong> Varo wird fast etwas<br />
ironisch von Simon Bode mit schlankem Tenor gezeichnet. Den Massimo<br />
gibt Beau Gibson mit wunderbar biegsamem, feinem Tenor, dem<br />
man auch bei seinen längsten Arien noch gern zuhört. Seine Mordintention<br />
wird bei seinem eher sanften Charakter nicht evident, da seine Frau<br />
auch gar nicht namentlich erwähnt wird. Die Onoria wird vom Frankfurter<br />
Neuzugang Sofia Fomina mit süßem, gut prononciertem Sopran<br />
gesungen. Leider ist sie aber nur mit kurzen Phrasen vertreten. Den Ezio<br />
singt Sonia Prina mit männlich timbriertem, sonorem Alt und beeindruckt<br />
in einigen Koloratur- gespickten Arien mit ihrem sehr flexiblen<br />
Organ. Obwohl von kleiner Statur, erreicht sie ihre Ziele mit konstanter<br />
Robustheit, wobei ihr stilisierter Brustpanzer die Herkunft ihrer voluminösen<br />
Töne betont.<br />
Den Valentiniano gibt Max Emanuel Cencic mit zuerst etwas blassem,<br />
dann sich stark belebendem hohem Countertenor. <strong>Der</strong> kleine, verschlagen<br />
aber auch schwächlich wirkende Kaiser, fast verhüllt in einem prächtig<br />
wallenden roten Mantel, beglaubigt das mit manchmal fast ironisch<br />
wirkenden, die phänomenale Bandbreite seines Counters betonenden<br />
Gesangsphrasen. Paula Murrihy ist die Fulvia und überzeugt hier wieder<br />
einmal mit samt-brokatenem Mezzo, der sich in die Gehörgänge geradezu<br />
einwindet. Bei ihrer stückbedingten eher passiven Grundhaltung<br />
wirkt ihr Gesang umso einnehmender, was die Figur zusätzlich interessant<br />
macht. <br />
Friedeon Rosén<br />
Mainz: „Rinaldo“ – Pr. 31.10.<br />
Beginnen möchte ich mit dem überzeugenden Bühnenbild von Stefan<br />
Heine. Auf dem Bühnenboden rotiert eine Spielfläche, die über weite<br />
Strecken im Gegenuhrzeigersinn bewegt wird. Beim genaueren Hinsehen<br />
handelt es sich um ein liegendes Zahnrad. Im hinteren Bereich läuft<br />
eine zweite Drehbühne, wo u. a. das Dienerpersonal (mit verknoteten Taschentüchern<br />
als Kopfbedeckung) in eingefrorenen Posen gezeigt wird.<br />
Außerdem beobachten sie hinter einem Durchgang das Geschehen oder<br />
transportieren ein altmodisches Sofa der 50er Jahre, einen Stuhl und auch<br />
einen Koffer hin und zurück, Requisiten, die im Regietheater eigentlich<br />
schon längst ausgedient haben sollten. Als Gegenstände dürfen auch einige<br />
aus der Mode gekommene Stehlampen mit aufgesetzter Kugelhaube<br />
„Karussell fahren“. Na ja! Ein Stock höher, gewissermaßen in der „Belle<br />
Etage“, befindet sich das Orchester, das von der Akustik her bestens platziert<br />
ist. Für Blechbläser werden nach Bedarf „Fenster“ geöffnet. Leisere<br />
Instrumente, wie eine solistische Blockflötengruppe oder das Duo von<br />
Theorbe und Kontrabass, haben je nach Bedarf „reservierte“ Plätze im<br />
vorderen Bühnenbereich. Eine große Projektionsfläche findet sich über<br />
dem Orchester. Dort wechseln sich unterschiedliche Bilder ab, zum Beispiel<br />
ineinander greifende Zahnräder, Uhrzeiger und Wolken. Alles ist<br />
in Bewegung. Zu Beginn während der Ouvertüre werden zu den hereinkommenden<br />
Sängerinnen und Sängern die Rollennamen eingeblendet,<br />
wie im Film. Eine glänzende Idee! Es hilft auch ein wenig bei der<br />
Frage: „Who is who?“, was speziell die Zuordnung von Geschlecht<br />
und Stimmfächern betrifft. „Rinaldo“ ist die letzte Mainzer Inszenierung<br />
von Tatjana Gürbaca. In positiver Erinnerung bleiben mir ihre Regieleistungen<br />
in „Lucia di Lammermoor“, „Werther“ und „Manon“. Mit ihrer<br />
aktuellen szenischen Einstudierung habe ich allerdings einige Probleme.<br />
Ein extrem hektischer, kontrapunktierender Aktionismus, der sich<br />
nicht immer auf das Libretto bezieht, prägt die Regie und verweist über<br />
weite Strecken die Musik, sowohl die instrumentale als auch die gesungene,<br />
in den Hintergrund.<br />
Einige Ideen haben mir allerdings auch besonders gut gefallen: Es gibt<br />
einen Ohrwurm in dieser ersten Oper, die Georg Friedrich Händel für<br />
London schrieb, da bleiben die Zeit und damit auch die Zahnräder stehen.<br />
„Nur“ Sängerin und Orchester verzaubern das Publikum. Dies erinnert<br />
mich an den großen Monolog der „Marschallin“, die über die Zeit<br />
sinniert. Äußerst gelungen ist auch der „Rollentausch“ von Armida zur<br />
Almirena. Hinter großen Schwanenfedern wird der Wechsel ermöglicht.<br />
Die blauen Kleider, welche beide Damen tragen, verstärken die romantische<br />
Stimmung. Auch das augenzwinkernde Happy End mit Discokugel<br />
und Seifenblasen überzeugt. Gänzlich daneben, überzogen und der Lächerlichkeit<br />
preisgegeben sind eine Gebetsstunde im Islam-Ritus und aus<br />
dem christlichen Bereich, innerhalb der Eucharistie, eine dreifache Segnung<br />
mit einem Schraubenschlüssel. Was soll das?<br />
Nun zum vokalen Bereich: Bis auf eine Ausnahme sind alle Sänger Mitglieder<br />
des Jungen Ensembles des Staatstheaters Mainz in Zusammenarbeit<br />
mit der Hochschule für Musik. Es stehen also an diesem Abend vorwiegend<br />
Studierende auf der Bühne! Die künstlerische Koordination des<br />
Jungen Ensembles liegt in den Händen von Prof. Claudia Eder. Gerade<br />
im Bereich der christlichen Kreuzritter gibt es die „Verwirrung“ in den<br />
Stimmfächern der Hauptdarsteller. In der Rolle des Heerführers Goffredo<br />
tritt als Gast der kanadische Countertenor Michael Taylor auf. Er meistert<br />
diese schwierige Partie souverän, ist auch schauspielerisch überzeugend.<br />
Um seine dienstlichen Aufgaben kümmert er sich wenig. Hobbies<br />
sind für ihn die Hauptsache. Seine Pflichten delegiert er an seinen Bruder<br />
Eustazio/Alin Deleanu, einem ausgezeichneten Altus aus Rumänien. Dieser<br />
stellt einen nervösen, recherchierenden Bücherwurm als „Arbeitstier“<br />
für seinen „Chef“ dar, begleitet dann auch noch seinen Bruder wie ein<br />
doppeltes Ich. Kein Wunder, dass Silke Willrett (Kostüme) beide häufig<br />
gleich anzieht, z.B. mit Golf- bzw. Tenniskleidung sowie Tropenhelmen,<br />
karierten Jacken und Schottenröcken für den beschwerlichen Aufstieg zu<br />
Almiras Burg. Die in Südkorea geborene Sopranistin Saem You/Almirena<br />
spielt mit Brille und weißem Kleid die „brave“, ruhige Tochter von Goffredo.<br />
Sie hat auch ohne hektische Regieanforderungen eine enorme Ausstrahlung,<br />
gepaart mit einer makellos angenehmen Stimme. Ihr Ohrwurm<br />
„Lascia ch’io pianga mia cruda sorte“ lässt alle Anwesenden den Atem anhalten.<br />
<strong>Der</strong> nachfolgende euphorische Applaus ist verdient. Jetzt wird es<br />
noch einmal kompliziert! Die dramatische Koloratursopranistin und Studentin<br />
Jina Oh aus Südkorea verkörpert den pubertierenden Rinaldo, der<br />
in schwarzer Kriegstracht und Schwert Jerusalem einnehmen soll. Warum<br />
er bzw. sie wie ein kleiner Bub über längere Zeit „Hoppe, hoppe Reiter“<br />
spielen soll, überzeugt mich nicht und es nervt auch! Gleichwohl: ihre /<br />
seine Stimme ist in dem äußerst niveauvollen Ensemble herausragend.<br />
Kommen wir zur gegnerischen Seite, den Besetzern von Jerusalem. Hier<br />
werden die Stimmfächer traditionell zugeordnet. <strong>Der</strong> sarazenische Herrscher<br />
der Feinde (Argante) wird von dem in Moskau aufgewachsenen,<br />
wohlklingenden Bariton Dmitriy Ryabchikov verkörpert. Seine einnehmende<br />
Stimme ist für alle geforderten Affekte ideal geeignet. Eine Spitzenleistung!<br />
Als Darsteller nimmt man ihm alles ab, auch in der Orgie gegen<br />
Ende des letzten Akts, wo er sich durchaus glaubhaft und züngelnd<br />
bisexuell auslebt. Mit seiner Geliebten, der Zauberin Armida, hat er sich<br />
ein Luxusweibchen auserkoren, das mit allen Wassern gewaschen ist. Sie<br />
wird mit teuren Kleidern, Paillettenhöschen, rotem Federschmuck usw.<br />
„trendy“ und verführerisch ausstaffiert. Den Hüftschwung einer „Carmen“<br />
hat sie neben anderem Verführungsritual auch noch drauf. Die schauspielerisch<br />
exzellente Rollenträgerin wird von der Koloratursopranistin Radoslova<br />
Vorgic aus Serbien verkörpert. Für die halsbrecherischen Koloraturen<br />
ist sie ideal besetzt. Beim Forcieren in den höchsten Tönen besteht<br />
jedoch (noch) die Gefahr eines stärkeren Vibratos. Als christlicher Magier<br />
agiert der deutsche Bass Florian Küppers. Er trägt eine dunkle Tracht<br />
mit Beffchen und Perücke und erinnert dadurch ein wenig im Habitus<br />
an van Bett aus Lortzings „Zar und Zimmermann“. Auch die weiteren<br />
kleinen Rollen sind bestens besetzt: Su-Jin Yang (Sopran) als Donna/Sirene<br />
und Uiji Kim/Sirene (Sopran), beide wieder aus Süd-Korea, sowie<br />
Frederik Bak/Araldo (Tenor).<br />
Die spielfreudige Statisterie des Staatstheaters Mainz unter der bewährten<br />
Leitung von Dieter Rößler ist bestens in das Bühnengeschehen inte-<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 63
Deutschland<br />
griert. Da man sich, wenn man will und kann, auch auf die instrumentale<br />
Musik konzentriert, sind viele Besonderheiten zu entdecken: die formalen<br />
Abweichungen in der Französischen Ouvertüre, vielfältige Charaktere,<br />
die der Suiten-Gattung entnommen sind, wie z.B. die schwungvolle<br />
Gigue, die verhaltene Sarabande oder als Sonderfall ein „Fandango“ in der<br />
5. Szene des 1. Akts „Furie terribile“, Satztechniken (Echoeffekte, mehrere<br />
Unisono-Passagen bei den Streichern), „Vogelgezwitscher“ (hohe Flöten)<br />
und Fanfaren, virtuoses Cembalo, Marsch, „Battaglia“ und Brüche<br />
in Arien durch plötzliche Taktwechsel. Das Philharmonische Staatsorchester<br />
Mainz hat mit seinem Leiter diese vielfältige Klangwelt Händels<br />
mit Präzision und Einfühlungsvermögen interpretiert. GMD Hermann<br />
Bäumer, der auch sehr sängerfreundlich dirigiert, bekommt mit seinen<br />
Musikern beim ersten Vorhang den stärksten Beifall. Das spricht auch aus<br />
vielerlei Gründen für das Publikum! <br />
Volker Funk<br />
Wussten Sie schon, dass Giuseppe Verdi auch den Schlager „Azzurro“ komponiert<br />
hatte? Eine gute Minute lang schallt Adriano Celentanos Stimme<br />
zu Beginn der 3. Szene aus dem Radio der Spelunke, in der Falstaff wenig<br />
später Spaghetti serviert werden. <strong>Der</strong> Wirt, eine dauerkiffende, ungepflegte<br />
grauhaarige Type in Flipflops, beginnt animiert von den Klängen<br />
zu tänzeln, eine Dame durchaus älteren Semesters vor mir signalisiert mit<br />
hin und her schwingendem Körper ähnliche Absichten. Habe ich mich<br />
vielleicht ins falsche Stück verirrt? Und war das hörbar erheiterte Publikum<br />
erleichtert, mit leichten Ohrwürmern anstatt mit der ach so schweren<br />
Oper konfrontiert zu werden?<br />
All das könnte jetzt sarkastisch klingen, wenn es nicht in Wirklichkeit traurig<br />
und fassungslos stimmte, wie wenig Respekt Hausregisseurin Andrea<br />
Moses gegenüber Kunstwerken zeigt, indem sie meint, Verdis genialem<br />
Alterswerk eine solche musikalische Entgleisung aufpfropfen zu müssen.<br />
Noch bedenklicher wird dies bei GMD Sylvain Cambreling, der einerseits<br />
nicht müde wird zu betonen, wie perfekt anspielungsreich und in<br />
sich geschlossen diese Partitur ist, sowohl in einem Artikel im Programmheft<br />
als auch bekräftigt in der musikalischen Wiedergabe mit dem feinst<br />
auf alle kleinen und schnellen Details reagierenden Staatsorchester Stuttgart,<br />
dann aber einen solch frechen Unsinn im Rahmen dieses Gesamtkunstwerks<br />
zulässt und verantwortet. Um nicht falsch verstanden zu werden:<br />
sein analytischer Zugriff bekommt den häufigen Stimmungswechseln<br />
und vielen Farbtupfern äußerst gut. Rhythmische Prägnanz herrscht in<br />
den sich oftmals überschlagenden Abläufen, in den virtuos gehandhabten<br />
Ensembles, zwischen all den vielen zitierenden und karikierenden Espressivo-Phasen<br />
stellt sich in kurzen Zusammenkünften des jungen Liebespaares<br />
sowie in der finalen Waldszene impressionistisch zartestes Schimmern<br />
und Flimmern sowie richtig wohltuendes melodisches Streicher-Blühen<br />
ein. Kurz: da wird alles im rechten Maß und in Balance zwischen Ernst<br />
und Komik, zwischen Lachen und Ironie gehalten.<br />
Bei der Regie sieht es bei aller handwerklichen Brillanz der Regisseurin etwas<br />
anders aus: mit Ruhe oder Stillstand, Momenten des Sinnierens und<br />
Reflektierens vermag sie wenig umzugehen, es herrscht der fast beständige<br />
Drang nach Tempo und Aktion. Dazu gehören auch die offenen Umbauten<br />
auf der wieder einmal schwarz verhangenen Bühne (und das bei einer<br />
Komödie!), wo schwarze Kapuzenmänner in Fords Diensten mit vielfältigen<br />
z. T. durchlässigen Wandverschiebungen eines braunen Sperrholz-<br />
Quaders mehr oder weniger einfache Szenen skizzieren. Ausnahme ist das<br />
Innere von Fords Wohnhaus, wo sich die Vorgänge auf gleich drei nach<br />
hinten ansteigenden Etagen überschlagen – verdoppelt durch einen Riesen-Deckenspiegel,<br />
der auch in der nächtlichen Spukszene dazu dient,<br />
den großen Baum (Hernes Eiche) aus einem (neben weiteren) tatsächlich<br />
vorhandenen Stamm und dem sich genau darauf spiegelnden Ensemble<br />
in grüner Blätter-Verkleidung als Illusion herbei zu zaubern (Bühne: Jan<br />
Pappelbaum). Soviel Märchenzauber war nach den vorherigen Szenen.<br />
die Moses in für sie wohl unumgänglicher Weise im Hier und Heute angesiedelt<br />
sind, gar nicht zu vermuten. Anna Eiermanns Kostüme sind<br />
mit wenigen Ausnahmen (Falstaff, Alice und Meg) geschmacklich ziemlich<br />
entgleist, als gelte es das möglichst Hässliche auszustellen.<br />
Im Großen und Ganzen ist alles genau am Text, an den Vorgaben entlang<br />
inszeniert, und gerade deshalb stellt sich die Frage, warum der optische<br />
Rahmen so betont heutig sein muss. Das Stück ist in seiner Konzeption<br />
so modern, in seiner thematischen Verknüpfung von Moral und<br />
Ehrenhaftigkeit so zeitlos, dass es für sich selber spricht und keiner Aktualisierung<br />
bedarf.<br />
Dass der köstliche Spaß, den sich die „lustigen Weiber“ da leisten, kaum<br />
ein Lachen, höchstens ein gelegentliches Lächeln erweckt, entzieht dem<br />
Werk einen wesentlichen Teil seiner Wirkung. Warum Falstaff am Ende<br />
der von ihm selbst angestimmten Fuge das ihm von einem Kind gereichte<br />
Stuttgart: „FALSTAFF“ – 22.11. (Pr. 20.10.) – Adriano<br />
Celentano in der Oper<br />
Aus der Themse gerettet - Sir John (Albert Dohmen)<br />
(© A.T. Schaefer)<br />
Sektglas ablehnt und seitwärts abgeht, hängt der doch eindeutigen, auch<br />
musikalisch komprimierten Bekenntnis-Vereinigung, dass alles Spaß auf<br />
Erden ist, ein Fragezeichen an, so als dürfte es um Gottes Willen kein<br />
Happy-End geben.<br />
Die vokale Besetzung stimmte überwiegend. Zwiespälte tun sich ausgerechnet<br />
bei der Titelgestalt auf. Es ist gut nachvollziehbar, dass der international<br />
renommierte Bassbariton Albert Dohmen zwischen seinen vielen<br />
Wagner-Einsätzen mal einen Ausflug in komische Gefilde machen<br />
wollte. Und so viel sei gesagt: sein Debut ist rein gesanglich betrachtet<br />
vollkommen gelungen. Mühelos schöpft er das geforderte umfangreiche<br />
Register aus, vermag zwischen Feinem und Vollmundigem hinreichend<br />
zu nuancieren, spielt einen leicht herunter gekommenen Mann im noch<br />
besten Alter, der sich seiner Wirkung durchaus bewusst ist und dennoch<br />
die Weiberverführungen nur als Umweg benutzt, um zu Geld zu gelangen,<br />
seinem leiblichen Genuss frönen und seine ebenso trinkfreudigen<br />
Diener unterhalten zu können. Einer, bei dem sich zunehmend mehr<br />
das Mitleid als das Vergnügen um seine Durchtriebenheit einstellt. Und<br />
dennoch geht ihm etwas Entscheidendes ab: die Natürlichkeit des Charakters,<br />
die aus dem italienischen Text sprechende Süffisanz der Pointen.<br />
Meist herrscht mehr gelernte Perfektion als ein selbstverständlicher Humor,<br />
aus dem der Witz entspringt.<br />
Perfekt und gelöst zugleich präsentierte sich der albanische Sänger Gezim<br />
Myshketa als schauspielerisch wendiger, Spaß und Eifersucht schillernd<br />
zum Ausdruck bringender und mit einem schlackenlosen, schönen,<br />
rundum glanzvoll und unforciert ansprechenden Bariton aufhorchen lassender<br />
Ford. Seine Gattin Alice kann ihm in Gestalt der apart damenhaften<br />
Simone Schneider mit breiter gewordenem, aber in der Höhe leuchtend<br />
voll gebliebenem Sopran sowie köstlichem Mimenspiel auf gleichem<br />
Niveau begegnen. Ungewohnt jung und auch vokal anders geartet als<br />
64 | DER NEUE MERKER 12/2013
Deutschland<br />
meist die Mrs. Quickly: Hilke Andersen im schwarzen Hosenkostüm<br />
mit hochgesteckten Haaren und riesiger Brille bietet viel Sexappeal und<br />
schmeichelt Falstaff mit betörend weicher Mittellage. Während sie in der<br />
Höhe richtig aufdrehen kann, bleibt das Tiefenregister eher schwach, es<br />
sei denn der Verzicht auf in dieser Partie gern gehörte üppige brustige Tiefen<br />
(„Reverenza“) war hier beabsichtigt, um Hörgewohnheiten zu überwinden.<br />
In Aufmerksamkeit heischender Mode und saftigem Mezzo-Einsatz<br />
stand Sophie Marilley als beständig Kaugummi kauende Meg Page<br />
mit Model-Figur und entsprechenden Bewegungsmöglichkeiten keineswegs<br />
im Damen-Quartett zurück, zu dem auch die neu ins Ensemble gekommene<br />
Rumänin Mirella Bunoaica als Nanetta gehört. Die hier als<br />
etwas aufmüpfiger Teenager gezeigte Tochter der Fords lässt einen angenehmen<br />
lyrischen Sopran hören, der sich in den langen Höhen warm und<br />
klar entfaltet. Gergely Nemeti macht neben ihr als Fenton eine eher unglückliche<br />
linkische Figur, kommt aber mit der für ihn inzwischen schon<br />
sehr leichten Partie trotz einer angekündigten Erkältung mit kultiviertem<br />
Tonfall und sauber gestützter Höhe bestens zurecht.<br />
Heinz Göhrig gehört zu den Sängern, die jedem festen Ensemble in unterschiedlichsten<br />
Partien zur Ehre gereichen. Im Falle des brav bürgerlichen<br />
Dr. Cajus in kariertem Anzug und mit sauberst getolltem Haar trifft<br />
er mit immer noch substanzreichem Tenormaterial den passend penetranten<br />
Tonfall des unliebsamen Wunsch-Bräutigams.<br />
Torsten Hofmann und Roland Bracht füllen die beiden Diener mit<br />
schmierigem Charaktertenor bzw. bedrohlich dunklem Bass als prägnant<br />
charakterisierte Gauner aus.<br />
<strong>Der</strong> Staatsopernchor Stuttgart mischt vor allem das Schlussbild mit ganz<br />
feinen sowie auch deftig zulangenden Tönen auf und darf bei der Rache<br />
an Falstaff, der hier tatsächlich mit Hirschgeweih und Lederhose mit Hufen<br />
auftritt, entsprechend beteiligt sein.<br />
Als zweiter Beitrag (nach „Nabucco“ zu Jahresbeginn) im Verdi-Jahr<br />
stimmte auch dieses Gesamtpaket vor allem szenisch nicht rundum glücklich,<br />
auch wenn die Publikumsaufnahme an diesem Repertoireabend sehr<br />
lebhaft und für einige Sänger auch verdient begeistert war. Udo Klebes<br />
„I LOMBARDI“ – 24.11.<br />
Die traditionsreichen Konzertchöre Stuttgarter Liederkranz luden in die<br />
Liederhalle und leisteten zum Verdi-Jahr einen gehaltvollen Beitrag mit<br />
„I Lombardi“, aus der frühen Schaffensperiode des italienischen Meisterkomponisten.<br />
Dieses Werk zu inszenieren legt oft szenisch-dramaturgische<br />
Probleme dar, welche man geschickt umging und die konzertante<br />
Aufführungspraxis wählte.<br />
Es geht um die eigenwillige verstrickte Story um Liebe, Verrat, Bruderzwist,<br />
Mord, Rache und Vergebung vor dem historischen Hintergrund<br />
des ersten Kreuzzuges, jenem umstrittenen, religiösen Fanatismus der<br />
christlichen Kirche.<br />
Für die Rolle der Giselda dieser Sopran- Extrempartie und Vorstufe der<br />
Abigaille war Adréana Kraschewski vorgesehen, aber die Dame sagte ab<br />
und als Retterin in der Not sprang Agnieszka Hauzer ein, die die Partie<br />
bereits vorab in Kielgesungen hatte. Mit voller dramatischer Wucht<br />
warf sich die junge polnische Sängerin ins Geschehen, beeindruckte mit<br />
fulminanter Stimmtechnik, bewältigte die vertrackten Oktavsprünge des<br />
Rondo-Finales Se vano é il pregare souverän. War zwar das herbe Timbre<br />
dieser Stimme meinem Gehör nicht immer gewogen, so schenkte diese<br />
Powerfrau dem Duett Teco io fuggo sowie der Soloarie In fondo all´alma<br />
mehr Wärme und vokale Farben. Mit weichem Mezzo gstaltete Carmen<br />
Mammoser die Sofia. Schönstimmig erklang der Sopran Christine Reber<br />
(Viclinda).<br />
Die Herrenriege führte ohne Zweifel mit der kultiviertesten Stimme des<br />
Abends Zurab Zurabishvili an. <strong>Der</strong> georgische Spinto-Tenor eroberte<br />
sich mit der leider viel zu kurzen Partie des Oronte ein weiteres Glanzlicht<br />
seines Verdi-Repertoires. Jung und frisch erklang das legato-fähige<br />
Material in unübertrefflicher Schönheit, ließ mit Stilgefühl herrliche Piani<br />
erklingen und überzeugte mit strahlendem Höhenglanz.<br />
Farblos in eigenwilliger Intonation absolvierte mit reifem Bassorgan Marcel<br />
Rosca die gewichtige Partie des Pagano. Leichtgewichtig, mit sprödem<br />
Tenor gab Robert Wörle dem Arvino wenig Profil. Rollendeckend<br />
fügten sich die Stimmen der Herren Thomas Wittig (Pirro, Acciano) sowie<br />
Jörg Aldag (Priore) in die musikalischen Abläufe.<br />
Berücksichtigt man die Tatsache, dass es sich bei der Chorvereinigung Liederkranz<br />
um keinen professionellen Opernchor handelt, so fallen die Leistungen<br />
der immensen Chorfrequenzen umso mehr ins Gewicht. Was dieser<br />
Gemeinschaft noch an trefflicher Diktion und Transparenz fehlen mochte,<br />
glichen die sehr engagierten Sänger mit bewundernswerter Klangqualität<br />
und Rhythmik, besonders während der schnellen Passagen, bestens aus.<br />
<strong>Der</strong> trockenen Beton-Akustik des Beethovensaals wirkte der Dirigent Ulrich<br />
Walddörfer mit weniger knalligen Forte-Effekten entgegen. Schwelgerisch<br />
vermittelten die sauber und viril aufspielenden Mitglieder des<br />
Staatsorchesters Stuttgart den Melodienreichtum der Partitur und der<br />
umsichtige Kapellmeister verstand sich zudem als sensibler Sängerbegleiter.<br />
Kleine Diskrepanzen zum Chorapparat waren allerdings nicht zu<br />
überhören. Wunderschön intonierte die Solovioline (Joachim Schall) das<br />
Preludio des Finale-Terzo und imposant absolvierte Georg Oberauer die<br />
Orgelbegleitung.<br />
Die begeisterte Zustimmung des Publikums würde mit der Wiederholung<br />
der Chorszene Gerusalem…Jerusalem belohnt. Gerhard Hoffmann<br />
Ulm: „OTELLO“ – Pr. 26.9.<br />
„Künstlerpech – ausgerechnet zum Saisonbeginn –“, so empfindet man, nachdem<br />
Intendant Andreas von Studnitz vor dem Vorhang tritt, um zu verkünden,<br />
dass der Sänger des Otello plötzlich erkrankt sei, der kurzfristig<br />
eingesprungene Tenor die Rolle von der Seitenbühne aus singe und Regisseur<br />
Matthias Kaiser die Rolle auf der Bühne mimen werde. Dass sich<br />
ein kleines Haus wie Ulm keine Doppelbesetzung leisten kann, ist verständlich<br />
und so ist das Publikum erfreut, dass die Premiere nicht ganz abgesetzt<br />
wird. Und mit einem triumphierenden „Esultate“ („Freut Euch“)<br />
in der Sturmszene gewinnt der von Köln angereiste Ray Wade das Publikum<br />
„im Sturm“. <strong>Der</strong> junge Texaner, in Statur und Teint zwar der klassische<br />
Otello, singt die Rolle jedoch mit weichem, modulationsfähigem,<br />
italienisch geschultem Spinto-Tenor, höhensicher auch in den berührenden<br />
Pianostellen wie im großen Liebesduett.<br />
Bei Operndirektor Matthias Kaiser kann man drauf vertrauen, dass seine<br />
Inszenierungen werkgerecht sind (was nicht werkgetreu heißen muss). So<br />
auch an diesem Abend. Eine mächtige, dreh- und verschiebbare Wippe<br />
(Bühnenbild Britta Lammers) ist das einzige Requisit auf der ausgeräumten<br />
Bühne, vielfältig einsetzbar im Auf und Ab der Leidenschaften. In der<br />
Sturmszene stellt sie im Hintergrund mittels geschickter Beleuchtung und<br />
im Sturm wehenden Vorhängen ein Schiff in Seenot dar, im weiteren Verlauf<br />
wird sie zum Laufsteg, zum Versteck für den lauschenden Otello und<br />
schließlich zum Bett der Desdemona. Bei den Kostümen dominieren Seemannsuniformen<br />
im Stile der Erstehungszeit der Oper, auf prachtvolle<br />
Gewänder aus der Zeit der venezianischen Seeherrschaft wird verzichtet<br />
(Kostüme Angela Schuett).<br />
Bei der Personenführung ist schon ein Handicap, dass der schmächtige<br />
Matthias Kaiser seine von ihm kreierte Figur durch den Ausfall des Otello<br />
selber spielen muss (auf schwäbisch eher ein „Otellole“). Aber die anderen<br />
Rollen sind hervorragend eingestellt, vor allem Kwang Keun Lee als<br />
Jago, der die intrigante Figur, das Urbild der menschlichen Schlechtigkeit,<br />
fast etwas zu eindimensional ausspielt, dazu mit seinem virilen Verdi-Bariton<br />
großartig singt. Sein vom Feuer umspieltes „Credo“, nicht weniger<br />
die vom Orchester mit chromatischer, teuflisch kriechender Melodie unterlegte<br />
Traumerzählung, sind gesangliche Höhepunkte.<br />
Oxana Arkaeva ist die bedauernswerte Desdemona, die von Akt zu Akt<br />
an stimmlichem Format gewinnt und vor allem die Todesahnung mit dem<br />
Lied von der Weide berührend gestaltet. Alexander Schröder ist der hell-<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 65
Deutschland<br />
stimmige Cassio, der in der Höhe etwas schwindeln muss. Hans Günther<br />
Dotzauer als Roderigo, Don Lee als venezianischer Botschafter, Joachim<br />
Pieczyk als Montano, vor allem aber I Chiao Shih als Jagos Gattin Emilia<br />
mit warmem weichem Alt, sind verlässliche Stützen in den Nebenrollen.<br />
Noch nicht in der Sturmszene, doch im weiteren Verlauf, gewinnt der<br />
Opernchor an Format. GMD Timo Handschuh dirigiert mit dem Philharmonischen<br />
Orchester einen packenden Verdi voll schmissiger Szenen,<br />
aber auch mit vielen gefühlvollen, manchmal düsteren, oft trauervoll zarten<br />
Stimmungen. Es dürfte sich lohnen, die Oper ein weiteres Mal, dann<br />
in der Originalbesetzung des Otello mit dem jungen neuseeländischen<br />
Tenor Andrew Sritheran zu erleben. <br />
Fridhardt Pascher<br />
Und die Musik ist eben ein Meisterwerk. Humperdinck ist einfallsreich,<br />
ein starker Melodiker und Instrumentator, die Philharmoniker unter Leitung<br />
von Daniel Montané spielen diese Musik weich und romantisch, die<br />
Ouvertüre mit ihren vielen Ohrwürmern in fast symphonischer Breite.<br />
Hervorragend die Spielfreude der bestens einstudierten Sänger, allem voran<br />
Maria Rosendorfsky als humor- und liebevoller Müllmann in seiner<br />
aufgeplusterten orangefarbenen Arbeitskleidung mit wunderschön<br />
lyrischem und klangreichem Sopran, ebenso die beiden großartig spielenden<br />
Kinder, Chia Shih als etwas pummeliger Hänsel mit stets verschmitztem<br />
Ausdruck und herrlich pastosem Mezzo, dagegen Edith Lorans<br />
als die ernstere Gretel mit hellem, etwas sprödem Sopran. Tomasz<br />
Kaluzny ist der Vater mit breitem Bariton, Frauke Willimcziks Sopran<br />
„HÄNSEL UND GRETEL“ – Pr. 7.11.<br />
Es ist gerade 120 Jahre her, dass Engelbert Humperdincks Märchenoper<br />
„Hänsel und Gretel“ am 23. Dezember 1893 in Weimar, dirigiert von keinem<br />
Geringeren als Richard Strauss, unter großem Jubel uraufgeführt<br />
wurde. Wie kann diese herrliche romantische Märchenoper heutzutage,<br />
im Zeichen des modernen „Regietheaters“ (dessen das Opernpublikum<br />
zunehmend überdrüssig wird) überhaupt auf die Bühne gebracht werden?<br />
Zugegeben, das Grimmsche Märchen hat, wie viele seiner Art, arg<br />
grausame Züge. Wie wär‘s also wie folgt: Hänsel und Gretel, schmutzig,<br />
faul und asozial, Vater Alkoholiker und gescheiterter Kleinunternehmer,<br />
Mutter bösartig und verbittert, Hexe ein im Wald hausender Lustmolch,<br />
der Kinder einfängt und verschwinden lässt, bis er von den Brandstiftern<br />
Hänsel und Gretel samt seinem Laden angezündet wird. Das wäre doch<br />
so richtig sozialkritisch! Und dass das nicht mit der Musik konform geht<br />
– nebensächlich.<br />
Keine Sorge, solche Auswüchse sind in Ulm unter Operndirektor und<br />
Dramaturg Matthias Kaiser nicht zu befürchten, obwohl die Inszenierung<br />
von Benjamin Künzel mit Mona Hapke (Bühne und Kostüme)<br />
und Klaus Welz (Licht) durchaus einen modernen Touch hat und weit<br />
von einer naiven, überzuckerten Märchenstunde entfernt ist.<br />
Hänsel und Gretel tollen vor einer bunten, etwas abgeschossenen Blumentapete<br />
herum, natürlich geht der Reistopf zu Bruch und sie werden<br />
ins Freie zum Beerenpflücken gejagt. Sie verlaufen sich aber nicht im romantischen<br />
deutschen Wald, sondern in einem großen Park, rasten auf<br />
einer breiten Bank vor einer funzeligen Straßenlaterne. Jetzt sollte eigentlich<br />
das Sandmännchen kommen, doch es erscheint ein freundlicher Müllmann,<br />
der mit den Kindern nach getaner Arbeit sein Vesper teilt, sie nach<br />
dem Abendsegen liebevoll in den Schlaf singt und beschützt. Eigentlich<br />
braucht man die 14 besungenen Schutzengel nicht, aber sie stehen halt im<br />
Libretto und so sehen die Kinder im Traum ihre Eltern gleich vierzehnfach.<br />
Letztere Idee kann allerdings nicht überzeugen. Dagegen ist schlüssig,<br />
dass die Hexe den schlafenden Kindern ein Lebkuchenhaus im Mülleimer<br />
versteckt, das diese dann entdecken: „O Himmel, welch ein Wunder<br />
ist geschehen!“ Die Kinder sind nicht die ersten, die sich aus dem Abfalleimer<br />
bedienen, der Müllmann hat es ja schon vorgemacht, als er eine leere<br />
Pfandflasche einsteckt. Jetzt nimmt die Inszenierung Fahrt auf, der Zwischenvorhang<br />
fällt, er gibt aber kein Hexenhaus frei, sondern eine dampfende,<br />
mit bunten Kontrolllampen blinkende Schokoladenfabrik, riesengroße<br />
Schokokugeln ausspuckend, aus denen (huch, wie eklig) noch die<br />
eine oder andere Kinderhand ragt. Zusatzenergie wird gewonnen durch<br />
Fahrradantrieb. Nachdem es gelingt, die Hexe in den Verbrennungsofen<br />
zu schubsen, treten die Kinder in die Pedale, bis durch Überspannung die<br />
ganze Anlage in die Luft fliegt, nicht ohne noch vorher die Hexe als giftige<br />
Kugel auszustoßen. Jetzt sollten eigentlich die gefangenen Kinder erlöst<br />
werden, doch stattdessen kriechen müde, staubige Arbeiter aus der Ruine,<br />
die Musik wird noch einmal besinnlich: „Wenn die Not aufs höchste steigt,<br />
Gott der Herr die Hand uns reicht“. Na ja, dem Ende zu kam auch der Regisseur<br />
in höchste Not. Trotz allem hat man den Eindruck, die Regie läuft<br />
nicht gegen die Musik. Und das kann nicht hoch genug gelobt werden.<br />
Knusperhaus mit Backofen: Hans-Günther Dotzauer (Hexe), Edith Lorans (Gretel),<br />
Chia Shih (Hänsel) (© Martin Kaufhold)<br />
ist klangschön, wenn auch nicht so ausladend. Den Vogel schießt wieder<br />
einmal das Ulmer Urgestein Hans-Günther Dotzauer ab, diesmal tollt<br />
er als gruselig geschminkte Hexe über die Bühne und produziert dabei<br />
auch noch hörenswerte Töne.<br />
Alles in allem gelingt den Ulmern eine interessante, humorvolle, ganz selten<br />
ins Klamaukhafte abdriftende Märchenoper. Am Ende viel Applaus,<br />
vor allem für den „Sand- und Müllmann“ dem es vorbehalten bleibt, am<br />
Schluss den Vorhang zu ziehen. <br />
Fridhardt Pascher<br />
Baden-Baden: JUAN DIEGO FLÒREZ – 9.11.<br />
Ein Fest für Rossini versprach das Festspielhaus mit dem prominenten<br />
Zugpferd Juan Diego Flórez. Lediglich den smarten Argentinier zu erleben,<br />
war die Fangemeinde aus nah und fern angereist, las teils nicht den<br />
„Beipackzettel“ und verstand somit das Programm mit der Damenverstärkung<br />
als regelrechte Mogelpackung. Zudem sang Flórez lediglich nur zwei<br />
Arien und holte sich zur Schonung der kostbaren Stimmbänder zu diversen<br />
Arien und Duetten noch zwei begleitende Solistinnen ins vokale Beiboot.<br />
Luftig, locker, instrumental nicht einwandfrei eröffnete die Philharmonie<br />
Baden-Baden unter Führung von Christopher Franklin den kontroversen<br />
Konzertabend mit der Ouvertüre zu „Torvaldo e Dorliska“, gefolgt<br />
von der Arie Dove son? Chi m´aita der weiblichen Titelheldin, in<br />
sehr unflexibler Stimmführung von Yolanda Auyanet dargeboten. Anna<br />
Bonitatibus, dem bereits renommierten italienischen Mezzo liegt dagegen<br />
Rossini in der Kehle. Facettenreich, ganz im Gestus des Komponisten,<br />
erklang ihre weiche, schöne Stimme mit der Arie Bell´alme generose<br />
aus „Elisabetta, regina d´Inghilterra“. Nach diesen Einleitungen kam endlich<br />
ER, eroberte mit Charme, koloraturreich und höhensicher die Herzen<br />
der Zuhörer. Und dennoch erschien mir das kostbare Material bei der<br />
66 | DER NEUE MERKER 12/2013
Deutschland<br />
Arie S´ella mi é ognor fedele aus „Ricciardo e Zoraide“ mit leichtem Patinaschimmer<br />
behaftet. Kräftig ließ Franklin zur Ouvertüre „Semiramide“<br />
auf die Pauke hauen und die Damen fanden sich zum temperamentvollen<br />
Duett Semiramide-Arsace desselben Werkes.<br />
Nach der Pause kam wieder die brave, unbedarfte Sopranstimme von Auyanet<br />
mit der Romanze der Matilde aus „Guillaume Tell“ zum Einsatz<br />
und beschloss auch völlig unspektakulär das Konzert mit dem Duett Arnold-Matilde.<br />
Zu laut, nicht fehlerfrei leistete das Orchester noch einen<br />
instrumentalen Beitrag mit der Ouvertüre zu „La Cenerentola“. Herrlich<br />
phrasiert, vollmundig im Timbre sang Anna Bonitatibus das Rondo-Finale<br />
Nacqui all´affanno e al pianto der Angelina und Juan Diego Flórez gesellte<br />
sich sodann zum glanzvol-virtuos interpretierten Duett Un soave non<br />
so che hinzu. Belcanto pur, mit tenoralem Schmelz bot zudem Flórez in<br />
der Ramiro-Arie Principe piu non sei als zweiten, umjubelten Soloauftritt.<br />
Die herzlichen Sympathiekundgebungen des Publikums belohnten die<br />
Gäste mit dem Terzett aus „Le Comté Ory“ und nahmen dem Abend<br />
den leicht bitteren Nachgeschmack mit den heftigen Unmuts-Diskussionen<br />
während der Pause. <br />
Gerhard Hoffmann<br />
Heidelberg: „TOSCA“ – 19.10.<br />
In der 1.Saisonpremiere führte Andrea Schwalbach, die hier schon 2012<br />
„<strong>Der</strong> 1000-jährige Posten oder <strong>Der</strong> Germanist“ inszeniert hatte, Regie.<br />
Die musikalische Leitung hat Yordan Kamdzhalov inne, der die Heidelberger<br />
Philharmoniker zu sehr elastischem, “veristischem”, aber nie plakativem<br />
Puccini-Spiel im tiefgefahrenen Orchestergraben inspirierte, so<br />
dass die Sänger auf der Bühne auch nie übertönt wurden.<br />
Andrea Schwalbach zeigt in kleinen Kammer-ähnlichen Räumen (Bühnenbilder:<br />
Nanette Zimmermann) besonders die psychologisch-affektiven Motive<br />
der Personen auf, besonders natürlich das Beziehungsgeflecht Tosca -<br />
Cavaradossi - Scarpia. Dabei wird Scarpia als grausamer Mensch, sogar als<br />
Lustmörder, dargestellt, der im 1. Akt, im kirchlichen Raum, die Marchesa<br />
Attavanti (super gespielt von Katrin Schyns), die Schwester des entflohenen<br />
politischen Häftlings Cesare Angelotti, wie ein Renaissancefürst auf offener<br />
Szene ersticht. Ihren Leichnam stellt er im 2.Akt gleichsam als Trophäe<br />
für die eifersüchtige Tosca aus, um diese sich womöglich dadurch gefügiger<br />
zu machen. Hier lässt er sich immer von einem jungen Mädchen (sehr gut<br />
gespielt von Lara Williams) beim Essen bedienen. Später mimt und singt<br />
das Mädchen auch den Hirten und tröstet Cavaradossi. Tosca singt in der<br />
Eifersuchtsszene nicht nur, dass der Maler Cavaradossi seiner „Maddalena“<br />
ihre schwarzen Augen malen soll, sondern sie legt selbst Hand an und übertuscht<br />
das rechte Auge schwarz. In der Tötungsszene sticht sie mehrmals nahezu<br />
hysterisch auf Scarpia ein und behält dann das Messer, das sie schon<br />
zuvor hatte, bei sich. Nachdem Cavaradossi von Sciarrone mit Kopfschus<br />
hingerichtet wurde, bedroht Tosca den Priester/vormals Mesner mit dem<br />
Messer, überlässt es diesem dann, um sich hineinzustürzen.<br />
Die Kirche Sant’Andrea della Valle ist mit Heiligenbildchen und Collagen<br />
bis zu modernen Popgrößen ausgestattet (Nora Johanna Gromer,<br />
auch Kostüme). Im Palazzo Farnese ist der vordere Raum mit dem Attavanti-Sarg<br />
links und dem Esstisch rechts durch eine große Bordwand abgeteilt,<br />
dahinter werden zu Beginn die Madrigale gesungen, später Cavaradossi<br />
gefoltert. Auf der Engelsburg gibt es eine hügelähnliche Erhöhung<br />
mit den Heiligenbildchen darauf und ein großes mit Glühlämpchen beleuchtetes<br />
kitschiges Kreuz, vorne ein Tisch, an dem Cavaradossi vergeblich<br />
den letzten Brief an Tosca schreibt. Wenn bei ihm Flickenjeans und<br />
T-Shirt als Künstler durchgehen, während Tosca ihre Auftritte in einem<br />
gelb-orangen Pluderhosen-Rock-Ensemble absolviert, erscheint Scarpia<br />
in Alltagskleidung als “Banalität des Bösen”, nur im Kirchenraum trägt<br />
er einen etwas militärisch anmutenden Mantel darüber.<br />
Die koreanische Tosca Hye-Sung Na ist das gesangliche Highlight der<br />
Aufführung. Mit schönem weichem, nie forciertem Sopran gelingt ihr<br />
eine eindrückliche Darstellung und mildert damit teilweise ihre gewaltsamen<br />
Handlungen. Gesanglich gelingen ihr aber am besten die dramatischen<br />
Szenen, in denen sie auftrumpft. Angus Wood/Cavaradossi zieht<br />
zuerst, was die stimmlichen Mittel anbelangt, gegenüber Tosca den Kürzeren,<br />
kann aber später seine hübsche, etwas eng geführte Kopfstimme<br />
in größerem Ausmaß entfalten. Später gelingt ihm eine schön gestaltete<br />
Sternenarie. Dem Scarpia James Homannn fehlt zumindest stimmlich<br />
das Dämonische und Heldenbaritonale. Seine schauspielerische Gestaltung<br />
ist dagegen beachtlich. Den Sciarrone und hier auch wohl Vater des<br />
Mädchens singt mit kurzen Einwürfen David Otto. Den Spoletta, ebenfalls<br />
Chortenor, Sang-Hoon Lee mit gut artikulierten Antworten. Cesare<br />
Angelotti robbt auf dem Kirchenboden und wird von Wilfried Staber mit<br />
kräftig zupackendem Bass gesungen. Ipca Ramanovic gibt einen pietätvollen<br />
Mesner, ganz unterwürfig dem Kirchenstaat ergeben, mit schleimig<br />
süßlichem Bariton. <br />
Friedeon Rosén<br />
Saarbrücken: „TOSCA“ – Pr. 24.11. –<br />
Ambitionierte Wiedereröffnung des Staatstheaters<br />
„Sieb´n Monat´war die Tante krank – jetzt spielt sie wieder, Gott sei<br />
Dank!“ Es war eine harte Probe, besonders für Opernfreunde, diese Modernisierung<br />
der Bühnentechnik des Staatstheaters. Die Ausweich-Spielstätten<br />
waren, gelinde gesagt, von unterschiedlicher Qualität und hatten<br />
mit Offenbachs zerzaustem Verschnitt der „Contes d´Hoffmann“ im Theaterzelt<br />
und seiner Un-Akustik ihren circensischen Tiefpunkt erreicht. Entsprechend<br />
groß war die Neugier des Publikums auf die erste Produktion<br />
im technisch für 15 Millionen Euro aufpolierten Haus. Die wurde schon<br />
vor Beginn im Foyer gebührend gefeiert: mit kleinen Häppchen, Souvenirs<br />
und dem Verkauf von T-Shirts zur Begrüßung. <strong>Der</strong> äußere Rahmen<br />
stimmte also auf eine Gala-Vorstellung ein.<br />
Hausherrin Dagmar Schlingmann hatte selbst die Regie übernommen.<br />
Bevor deren Qualitäten zum Tragen kamen, konnte sie nicht umhin, die<br />
nagel<strong>neue</strong> Technik des Hauses in voller Virtuosität vorführen zu lassen. Mit<br />
einer brillanten Sequenz bewegter Bilder als Video-Einspielung (Video:<br />
Beginn in Schönheit - Mario mit Floria (Alex Vicens, Victoria Yastrebova)<br />
(© Thomas M. Jank)<br />
Heiko Kalmbach) sollte zu Beginn das Ende der Tosca veranschaulicht<br />
werden, um die Geschichte aus deren Sicht vom Schluss her zu erzählen.<br />
Erreicht wurde damit nur, dass die filmische Bilderflut den musikdramatisch<br />
starken Anfang (Scarpia-Motiv) verpuffen ließ und dem Zuschauer<br />
den Zugang zur 1. Szene erschwerte. Ähnliche Einspielungen wiederholten<br />
sich noch mehrmals, immer mit demselben Effekt: Sie machten es den<br />
Akteuren schwer, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.<br />
Die guten Nachrichten zur Regie: Schlingmann beließ das Stück im historischen<br />
Kontext und verzichtete auf aktualisierende Mätzchen, wofür<br />
man nicht dankbar genug sein kann. Unterstützt wurde sie dabei durch<br />
die stimmungsvollen Bühnenbilder von Sabine Mader, das fantasievolle<br />
Licht-Design von Nicol Hungsberg und die praktikablen Kostüme von<br />
Inge Medert. Da nimmt man einige Spielereien mit der Drehbühne im<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 67
Deutschland<br />
1. und den allzu transparenten Wänden im 2. Akt gern in Kauf. (Ausnahme:<br />
Die geschwenkten schwarzen Fahnen beim feierlichen Tedeum<br />
in der Kirche waren deplatziert und machten die gespenstische Situation<br />
dieses 1. Aktschlusses zur Farce.)<br />
Das allgegenwärtige Übergewicht der Technik-Show machte es denen,<br />
die das Stück mit ihrer Hände und ihrer Stimme Arbeit zu tragen hatten,<br />
nicht gerade leichter. Am stärksten waren davon Orchester und Dirigent<br />
betroffen. Will Humburg führte dennoch mit gediegener Werkkenntnis<br />
und dirigentischer Umsicht das Saarländische Staatsorchester<br />
sicher durch schwelgerische Kantilenen wie durch veristische Exzesse und<br />
sorgte, komplettiert vom gewohnt sicher singenden Opernchor unter<br />
Jaume Miranda, für einen unfallfreien Verlauf und ausgewogene musikalische<br />
Proportionen. An manchen Stellen wäre aber etwas mehr agogische<br />
Intuition bei der Begleitung der Sänger hilfreich gewesen.<br />
Die Sängerbesetzung hätte kaum unterschiedlicher sein können. Weder<br />
die Regie noch die musikalische Leitung konnten aus der Mischung von<br />
hauseigenen Kräften und speziell für diese Produktion engagierten Sängern<br />
ein homogenes Ensemble schweißen.<br />
Von den vielen Stichwortträgern, die leicht zu besetzen sind, seien nur<br />
zwei umfangreichere Partien genannt: der solide Angelotti Hiroshi Matsui<br />
und der betuliche Mesner Markus Jaursch. Und die melancholische Hirtenmelodie,<br />
die das Morgengrauen des 3. Akts atmosphärisch anreichert,<br />
sollte, wie von Puccini gewünscht, von fern zu hören sein, Hier singt sie<br />
der Hirtenknabe, fern von seiner Herde, auf der Plattform der Engelsburg,<br />
auf der gleich danach die Exekution stattfindet. Wie kommt er hierher?<br />
Von den drei Protagonisten stammte immerhin einer aus dem hauseigenen<br />
Ensemble: <strong>Der</strong> isländische Charakterbariton Olafur Sigurdarson, noch<br />
in bester Erinnerung als Jago und als Mephisto, bringt das nötige erzene<br />
Volumen mit, das Scarpia braucht, um gegen die gepanzerten Klangballungen<br />
des Tedeums zu bestehen. Nur fehlt dem untersetzten Sänger optisch<br />
die nötige Mischung von aalglatter Eleganz und Dämonie, um auch<br />
im 2. Akt die zynische Figur glaubhaft zu machen.<br />
In der Titelpartie war die Russin Victoria Yastrebova zu erleben. In der<br />
Gestaltung eher zu konventionellen Gesten neigend, überzeugte sie doch<br />
durch musikalische Sensibilität ebenso wie durch den dynamisch differenzierten<br />
Einsatz ihres klangvollen Spinto-Soprans. Die hymnischen Aufschwünge,<br />
die Puccini ihr anbietet, wusste sie wirkungsvoll auszusingen.<br />
Besonders beeindruckend gelang ihr das in ihrem überzeugenden Gebet.<br />
Ihr Cavaradossi, der Spanier Alex Vicens, versuchte es ihr gleichzutun, besitzt<br />
aber weder die dafür erforderliche Stimmtechnik noch das für diese<br />
Partie unerlässliche edle Timbre. Er gab ihr seine trompetenhaften hohen<br />
Töne – und blieb ihr den Rest schuldig. Die Kantilenen in der Mittellage<br />
(also das meiste) klang eng und farblos. Doch das Publikum schien beschlossen<br />
zu haben, dass dies ein festlicher Abend zu sein hat, und bejubelte<br />
seine beiden Arien, zumal der sympathische Sänger lebendig spielte<br />
und gute Figur machte.<br />
Jetzt beginnt das geduldige Warten auf eine Produktion, bei der die <strong>neue</strong><br />
Bühnentechnik nicht nur effektvoll, sondern auch künstlerisch überzeugend<br />
eingesetzt wird. Johannes Schenke<br />
Weimar:<br />
„Die Entführung aus dem Serail“<br />
– 7.11.<br />
Nach der Vorstellung wurde ein Jugendlicher von seiner Mutter vom<br />
DNT abgeholt. „Das Stück hat aber lange gedauert!?“ „Ja, Über drei Stunden.“<br />
„Worum ging es eigentlich?“ „Um Liebe und Sex.“ Mehr bekam ich<br />
von diesem Dialog nicht mit, aber er bringt treffend das zum Ausdruck,<br />
was ich auch empfand. Das Stück zieht sich. Das liegt daran, dass die<br />
Regisseurin Elisabeth Stöppler sehr eigenwillig und eigenmächtig in<br />
die Vorlage eingreift, indem sie mit der Dramaturgin Martina Stütz<br />
eine Dialogfassung erstellte, die in ihrer Länge beinahe schon musikalischen<br />
Anteilen ebenbürtig ist. Nur hat sie nicht deren Qualität! U. a.<br />
werden Auszüge aus Briefen von Wolfgang an Constanze zitiert. Aber<br />
nicht nur das: Die Dialogfassung bedient sich genüsslich der schlüpfrigen<br />
und banalen Alltagssprache der Gegenwart. Verfremdungen gibt es<br />
auch im musikalischen Bereich. <strong>Der</strong> Reihe nach.<br />
Lange bevor es losgeht, gewahrt man auf der Bühne (Karoly Risz), deren<br />
einziges Requisit hohe Palastmauern sind, die in spitzem Winkel im<br />
Hintergrund aufeinander treffen, einen barfüßigen Mann. Ab und an<br />
knallt er gegen die Palastmauern, dann wiederum kauert er sich in den<br />
besagten Winkel, schließlich schaut er sinnierend in den Orchestergraben.<br />
Ist das Belmonte? Sucht er nach einem Weg, um in den Palast zu<br />
kommen? <strong>Der</strong> Chor betritt, aus dem Zuschauerraum kommend, in modernem<br />
Outfit die Bühne. Nun meldet sich der Mann zu Wort. Bevor<br />
der Maestro den Taktstock heben darf, hat der Mann, der sich als Bassa<br />
Selim entpuppt, einige Fragen an die Damen und Herren des Chores.<br />
„Glauben Sie an die Kraft der Liebe?“, „Möchten Sie Ihre Frau sein?“ Noch<br />
ehe die Musik zu ihrem Recht kommt, wird dieses und jenes in Bezug<br />
auf Liebe und Partnerschaft erfragt. Spätestens hier wird klar, dass die<br />
Regisseurin Mozarts Singspiel nutzt, um auf diese Fragen eine Antwort<br />
zu finden. Sie möchte ein zeitloses Kammerspiel entwickeln, in dessen<br />
Mittelpunkt eben diese Probleme stehen.<br />
Diejenigen, die Mozarts Singspiel nicht kennen, fanden das alles ziemlich<br />
cool. Wer seinen Mozart liebt, fragt sich, warum ausgerechnet die<br />
„Entführung“ für diese Polemik herhalten musste. Es mussten Dinge<br />
verändert werden, die es so in diesem Singspiel nicht gibt. Beispielsweise<br />
stehen im „Saufduett“ nicht nur Pedrillo und Osmin auf der Bühne,<br />
sondern auch Blonde und Belmonte. <strong>Der</strong> Einzige, der sich nicht am<br />
Gelage beteiligt, ist Osmin. Folglich verfällt er auch in keinen Rausch.<br />
Kurzerhand greift Belmonte zu einem Damenschuh, haut damit dem<br />
Aufseher eins über den Schädel, so dass dieser erst einmal handlungsunfähig<br />
ist und in die Knie geht. Um ihre Lesart durchzuboxen, ignoriert<br />
die Regisseurin eigentlich alles, was an Auftritten vorgegeben ist.<br />
Sie erfindet die Figurenkonstellationen neu. Und jeder hat das Recht,<br />
die Darbietungen des anderen zu kommentieren, sei es durch eindeutige<br />
obszöne Gesten und Bemerkungen oder individuelle Geräuschkulissen<br />
in Comic-Manier. Besonders derb darf sich Blonde geben. Frank<br />
Lichtenberg, der für die Kostüme verantwortlich zeichnet, steckte sie<br />
nicht umsonst in einen Kampfanzug. Auch die Musik bleibt nicht vor<br />
Eingriffen verschont. So sind Ausschnitte aus Klaviersonaten und -konzerten<br />
von Mozart zu hören. Auch Brahms meldet sich unfreiwillig zu<br />
Wort. Und im Verdi-Jahr darf sich Belmonte ein kräftiges „All‘armi“ abdrücken.<br />
Manrico lässt grüßen! Mitunter sind die Aktionen temporeich,<br />
mitunter treten sie auf der Stelle. Interessant ist der Schluss. Was fängt<br />
man mit der gewonnenen Freiheit an? Man lyncht erst einmal Osmin<br />
und bekundet, dass nichts so hässlich wie die Rache sei.<br />
Musikalisch bot die Aufführung ein recht unausgewogenes Niveau. Begeistern<br />
konnte lediglich Heike Porstein. In der vorausgegangenen Inszenierung<br />
war sie noch die Blonde. Ihr Sopran ist hörbar gereift und hat<br />
mit der schwierigen Tessitura der Konstanze keinerlei Probleme. Selbstbewusst<br />
singt sie trotz der Fesselspiele, die sie auf der Bühne zu ertragen<br />
hat, ihre „Martern-Arie“. Auch sonst nimmt sie mit ihrer klangschönen<br />
und –intensiven Stimme für sich ein. Ihr Spiel ist glaubhaft. Dass einiges<br />
nicht ganz nachvollziehbar ist, liegt sicher nicht an ihr. Völlig unterbelichtet<br />
ist die Beziehung zwischen ihr und Belmonte. <strong>Der</strong> versteckt sich<br />
in Frauenkleidern, schminkt sich und lungert wie ein Häufchen Elend<br />
über weite Strecken an der Wand. Warum ihn Konstanze, die bis dato<br />
eigentlich nur mit dem Bassa Kontakt hatte, aus diesem jammervollen<br />
Dasein befreit, indem sie ihn abschminkt und Männerkleidung reicht,<br />
bleibt unklar. Jaesig Lee gefällt mit schöner Stimmgebung, bleibt als<br />
Belmonte darstellerisch allerdings viel zu passiv.<br />
Steffi Lehmann kommt mit ihrem burschikosen Auftreten als Blonde<br />
beim jugendlichen Publikum gut an. Sie singt gefällig, wobei es in der<br />
Obertonreihe noch Reserven gibt. Jörn Eichler war der Pedrillo. Er<br />
wurde als indisponiert angesagt, so dass sich seine vokale Leistung einer<br />
sachlichen Einschätzung entzieht. Auch er muss in Frauenkleidern<br />
68 | DER NEUE MERKER 12/2013
Deutschland<br />
agieren und hat ab und an paar Lacher auf seiner Seite. <strong>Der</strong> Osmin ist<br />
alles andere als ein Haremswächter. Er ist es, der die Treue der Frauen<br />
in Frage stellt und damit der Handlung Impulse gibt. Sebastian Campione<br />
agiert schlau und verschlagen. Sein Bass besitzt beachtliche Fülle,<br />
flackert jedoch hin und wieder und müsste in der Tiefe noch fundierter<br />
klingen. Paul Enke ist als Bassa Selim die eigentliche Schlüsselfigur in<br />
diesem Kammerspiel. Sein Aktionsradius geht in dieser Lesart weit über<br />
das Original hinaus. Seine Bühnenpräsenz gefällt. Nur dann, wenn er<br />
sich gedankenversunken, grüblerisch gibt, lässt seine Artikulation mitunter<br />
etwas zu wünschen übrig.<br />
Stefan Klingele und die Staatskapelle Weimar verwehren musikalisch<br />
dem Werk angesichts der Lesart alle naiv-heiteren Niedlichkeiten. Das<br />
vermisst man auch nicht. Für Beseeltheit und Melancholie ist dagegen<br />
auch wenig Platz. Stattdessen gehen die Musiker recht forsch zur Sache<br />
und schlagen hier und da recht robuste Töne an, ohne dabei rau oder<br />
gar oberflächlich zu musizieren. <strong>Der</strong> Opernchor Weimar war mehr<br />
darstellerisch als gesanglich gefordert. Immerhin agierte er souverän.<br />
Ein langer Opernabend, der mehr Fragen aufgab als er beantworten<br />
konnte! <br />
Christoph Suhre<br />
Leverkusen: „LA CLEMENZA DI TITO“ von<br />
Gluck – (konzertant) – Bayer Kulturhaus 3.11. – Verzeihen und<br />
Vergessen<br />
In der Bayer Kultur Reihe „Opern aus den Archiven der Welt“ hatte<br />
man sich dieses Jahr den aus der Oberpfalz stammenden Christoph<br />
Willibald Gluck vorgenommen.<br />
Seine noch ganz in der Tradition der Opera seria verhaftete Version des<br />
Titus, einem ausführlichen dreiaktigen Intrigendrama mit gütlichem<br />
Ausgang, steht in Kontrast zu dem berühmteren, vom großen Meister<br />
aus Salzburg 1791 veröffentlichten Spätwerk. Mozart komponierte seine<br />
Oper nur zweiaktig. Sie kommt auf eine Spieldauer von 2 ½ Stunden.<br />
Einen ähnlichen Vergleich ermöglichte Bayer Kultur vor zwei Jahren,<br />
als sie „La finta giardiniera“ von Pasquale Anfossi mit riesigem Erfolg<br />
aufführte (s. „<strong>Merker</strong>“ 12/11).<br />
Gluck, der zurzeit schon reichlich Konjunktur hat – europaweite Vorstellungen<br />
seiner Kompositionen künden davon – wird sicherlich im<br />
nächsten Jahr aus Anlass seines 300. Geburtstages noch häufiger in den<br />
Spielplänen aufscheinen.<br />
Am 4.11.1752 wurde die Oper mit der Schilderung des Verzeihens und<br />
Vergessens eines gnädigen Herrschers in Neapel aufgeführt. <strong>Der</strong> fleißigste<br />
Librettist aller Zeiten, Metastasio, lieferte die Vorlage. <strong>Der</strong> Venezianer<br />
Antonio Caldara war derjenige, der am 4.11.1736 im Wiener Hoftheater<br />
das Werk als erster vorstellte. Das Muster war so beliebt, dass die<br />
Musikwissenschaft über 45 Vertonungen nachgewiesen hat.<br />
Da man der Nachwelt eine CD-Aufnahme überlassen will – sie erscheint<br />
bei SONY –, hatte man sich entschlossen, aus Authentizitätsgründen<br />
den ganzen Gluck zu präsentieren. Da verlangte man schon ein wenig<br />
Ausdauer vom Musikliebhaber.<br />
Diszipliniert und ohne störende Nebengeräusche – letztere wären jahreszeitlich<br />
bedingt durchaus vorstellbar – folgten die Freunde der Barockmusik<br />
dem Fortgang der Veranstaltung.<br />
Und diese Klänge, denen eine gewisse Symmetrie nicht abzusprechen ist,<br />
beschwingen im allgemeinen und besonderen. Leider bringen wir heute<br />
nicht mehr gern die Geduld auf, uns über längere Zeit den umfangreichen<br />
Originalen hinzugeben. Ich war an diesem Abend jedenfalls froh,<br />
an einer Weltersteinspielung teilgenommen zu haben. Denn die Dauer<br />
bezieht sich ja nicht nur auf die Länge einer Vorstellung, sondern gilt<br />
ebenfalls als Synonym für das Weiterbestehen einer Aufführung, in diesem<br />
Fall durch die Konservierung.<br />
Nach dem Motto „Fünf Personen und ein Kaiser“ folgt auch diese Oper<br />
dem hinlänglich bekannten Schema der Opera seria. Zwei Paare, Vitellia/Sesto<br />
und Servilia/Annio sind wechselnden Beziehungsstörungen ausgesetzt.<br />
Publio sorgt für die Sicherheit des Kaisers. In der Verehrung des<br />
Oberhauptes kennt er keine Grenzen. Anhand der Bedeutung der Handelnden<br />
wird ihnen aus insgesamt 23 Arien eine entsprechende Anzahl<br />
zugeteilt. Genügend viele Secco- und Accompagnato-Rezitative und<br />
überreichliche Szenen von Duett bis Ensemble runden das Angebot ab.<br />
Es bedarf einer Spieldauer von fast 4 ½ Stunden und eines starken Glaubens,<br />
um am Ende festzustellen, dass der gnädige Friedensengel – allen<br />
Intrigen zum Trotz – gottähnlich Absolution erteilt.<br />
Raffaells Milanesi als Sesto, ist eine bühnenbeherrschende Akteurin.<br />
Sie dominiert mit einer lebendigen Körpersprache und einer erfrischenden<br />
Spielfreudigkeit, die fehlendes Bühnenbild und Kostüm vergessen<br />
lassen. Und diese Stimme – Arena-stark wenn nötig, und feinfühlig in<br />
der Arie des Schulgeständnisses und dem Abschied von der Welt. Ein<br />
schauspielerisches Energiebündel.<br />
Vitellia ist die launische Tochter eines entthronten Kaisers. Sie wird von<br />
Sesto heiß und hörig geliebt, leidet aber unter der Nichtberücksichtigung<br />
durch Titus und will sich an Titus rächen. Laura Aikin war für<br />
die vorgesehene, leider erkrankte Simone Kermes verpflichtet worden.<br />
Sie stellte sich voll und ganz in den Dienst des Kollektivs. In ihrer Interpretation<br />
fehlte mir aber das energische Element. Mit gleichförmigem<br />
Ausdruck und kontrollierten Gesten absolvierte sie die anspruchsvolle<br />
Partie. Sie wirkte zu angespannt. Nur gegen Ende ging sie aus sich heraus<br />
und zeigte ansatzweise leidenschaftliche und dramatische Momente.<br />
Da löste sie sich auch etwas von der Textvorgabe. <strong>Der</strong> heftige innere<br />
Kampf bis zur Offenbarung der Absichten Vitellias blieb aber verborgen.<br />
Annio, der Freund des Sesto und Geliebte der Servilia, übt als ruhiger<br />
und ausgleichender Teil der Gemeinschaft Wohlverhalten, als Titus Servilia<br />
zur Gemahlin erwählt. Valer Sabadus, der so vielversprechend gestartete<br />
junge rumänische Countertenor, überzeugt mit reinen feinen<br />
Tönen aus einer anderen Welt. Beispielhaft zeigt er die Facetten des Rollenbildes<br />
und erfüllt mühelos die eindringlichen sowie rührend innigen<br />
Teile der Partie. Eine Meisterleistung.<br />
Servilia, die Schwester des Sesto, beweist Mut und Standfestigkeit, indem<br />
sie sich zu Annio bekennt und gegen Titus entscheidet. Arantza<br />
Ezenarro tritt geradezu aristokratisch auf und überzeugt mit dunklem,<br />
apartem Timbre. Beherzt und furchtlos kämpft sie für ihre Liebe.<br />
Mit großem Erfolg war sie vor kurzem an der Semperoper in Dresden zu<br />
hören, als sie in „King Arthur“ von Henry Purcell Luftgeist, Sirene und<br />
She verkörperte. Publius, Präfekt und Chef der kaiserlichen Leibwache,<br />
garantiert die Sicherheit des Kaisers Titus. Flavio Ferri-Benedetti setzt<br />
sich mit ganzer Kraft für die Belange des Kaisers ein und bringt das mit<br />
seinem Countertenor eindrucksvoll zur Geltung. Erfreulich sind sein<br />
Schauspieltalent und vor allem der mimische Ausdruck.<br />
Titus als ein Freund der Humanitas und als solcher eher Friedensapostel<br />
denn Römischer Kaiser, will von seinen Mitbürgern geliebt werden.<br />
Rainer Trost punktet mit der ganzen Erfahrung einer langen Karriere<br />
als Mozart-Tenor und singt zurückgenommen mit milden Tönen als Vergebender<br />
und begrenzt rachsüchtig bei Aufdeckung der Verschwörung.<br />
Das Ensemble l’arte del mondo überzeugt zum wiederholten Male<br />
durch eine hohe Spielfreude und Genauigkeit. <strong>Der</strong> ohne Taktstock beweglich<br />
und biegsam agierende Werner Ehrhardt ist ein fröhlicher Impulsgeber.<br />
Er atmet und „singt“ mit – man traut ihm zu, jederzeit einspringen<br />
zu können.<br />
Lobend zu erwähnen sind die geschickt inszenierten Zu- und Abgänge<br />
der Solisten, die für eine gewisse Spannung sorgen. <strong>Der</strong> Schluss erinnerte<br />
mich für einen Moment an die gut 60 Jahre später entstandene<br />
Freiheitsoper „Fidelio“. Die Lobpreisung galt diesmal aber nicht dem<br />
holden Weib, sondern der Milde des Monarchen.<br />
Es war von allen Beteiligten eine außergewöhnliche Energieleistung.<br />
Glücklich und erschöpft verabschiedeten sich die Ausführenden. Das<br />
Publikum machte sich mit einem Aufschrei Luft und überschüttete alle<br />
mit großem Jubel und Bravi. <br />
Gunnar Alexander Müller<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 69
Deutschland<br />
Hagen: „DON PASQUALE“ – Pr. 16.11.<br />
Die Sängerbesetzung war hingegen recht ambivalent. Ein Glücksfall<br />
war die Titelrollenbesetzung mit Rainer Zaun. Er ist ein umwerfender<br />
Komödiant, darstellerisch flexibel in jeder Position, singt auch mit<br />
dem Kopf nach unten verkehrtherum im Rollstuhl liegend und besitzt<br />
einen gesunden Bassbuffo sowie die notwendige Parlandotechnik.<br />
Das ist umso erstaunlicher, als er in Bayreuth jedes Jahr im Wagnerfach<br />
aktiv ist. Demgegenüber fielen alle anderen Protagonisten ab.<br />
Malatesta war Raymond Ayers, der viel zu viel Druck auf die Stimme<br />
gab, um fließend schöne Belcantolinien zu zeichnen. Auch neigt er<br />
zum Verschleifen des Textes. Er verfügt aber ähnlich wie Zaun über<br />
eine exzellente Parlandotechnik, was leider etwas unterging, weil die<br />
Regisseurin vor (!) beiden Protagonisten wegen eines an dieser Stelle<br />
verfehlten Effekts den Chor herumwuseln ließ. Norina war die junge<br />
Maria Klier, eine ungemein attraktive und spielfreudige Blondine,<br />
insofern also eine Idealbesetzung. Allerdings ist die Stimme zu klein.<br />
Was für vokale Möglichkeiten in der Partie stecken, haben prominente<br />
Rollenvertreterinnen wie Netrebko oder Machaidze vor Augen geführt.<br />
Klier kann die Partie zwar singen, die großen Melodiebögen und Aufschwünge<br />
aber nicht mit der wünschenswerten Leichtigkeit vermitteln.<br />
Bleibt noch der Ernesto des Kejia Xiong. Es ist schwer zu sagen,<br />
was man von diesem Sänger halten soll. Einerseits entwickelt er in der<br />
oberen Mittellage durchaus vielversprechenden Schmelz. Andererseits<br />
produziert die Stimme Nebengeräusche, und auch die Acuti strahlen<br />
nicht. Natürlich kann man von einem in seinen Ressourcen stark beschränkten<br />
Haus wie dem Theater Hagen nicht verlangen, für diese<br />
Partie einen Tenor vom Rang eines Flórez aufzubieten. Man wird ihr<br />
indes nur gerecht mit einem Tenor, der wenigstens über ausgeglichenes<br />
Material verfügt. Dass auch Xiong ausgezeichnet mitspielte, sei<br />
allerdings betont. Klaus Ulrich Groth<br />
Perfekte Donizetti-Buffa: Maria Klier (Norina), Rainer Zaun (Don P.),<br />
Reymond Ayers (Malatesta (© Kihle/Theater Hagen)<br />
Donizettis Opera buffa ist pseudointellektuellen Regiekonzepten kaum<br />
zugänglich. Das Stück spricht vielmehr für sich selbst. Umso mehr ist<br />
eine professionelle Personenführung gefragt. Das hat Regisseurin Annette<br />
Wolf gut erkannt. Ausstatterin Lena Brexendorff hat ihr ein Bühnenbild<br />
mit Puppenstubenambiente entwickelt. In diesem Rahmen<br />
präsentiert Wolf eine große Zahl von bemerkenswerten Einfällen. Das<br />
beginnt bereits während der Ouvertüre, denn dort sieht man Pasquale<br />
im Rollstuhl vor sich hindämmern. Sodann tritt Malatesta auf und untersucht<br />
seinen Dauerpatienten mit allerlei Kunstgriffen. U. a. pumpt er<br />
das Blutdruckmessgerät so lange auf, bis es kaputt ist. Zugleich vermittelt<br />
er die Idee einer Heirat mit seiner Schwester. Das führt dazu, dass<br />
Pasquale langsam, aber sicher aus seiner Lethargie erwacht und schließlich<br />
mit der Aussicht auf eine jugendliche Gespielin übermütig aus dem<br />
Rollstuhl springt und wie ein Wiesel über die Bühne sprintet. Dann wirft<br />
er seinen Neffen mit dem gleichen Elan und einem Tritt in den Hintern<br />
aus dem Haus und sich ein Paar Pillen aus einer blauen Packung<br />
(Viagra?) in verfrühter Vorfreude auf kommende sexuelle Genüsse ein.<br />
Norina wird als selbstbewusste Frau von heute charakterisiert, die genau<br />
weiß, wie sie ihre Reize einsetzen muss. Nach der Heirat deckt sie<br />
sich erst einmal mit teuren Accessoires ein (Louis Vuitton und Gucci<br />
lassen grüßen). Als Pasquale darüber einen Schock erleidet, versetzt<br />
sie ihn im Ohrfeigenduett durch gezielte Berührungen und Einsatz<br />
ihrer körperlichen Reize in „Stimmung“. Als das den Alten überfordert,<br />
macht sie sich kurzerhand von dannen.<br />
Ernesto ist eine arme Wurst im doppelten Sinne und bleibt das in<br />
dieser Produktion auch, denn das Ende ist gänzlich anders, als es im<br />
Libretto steht. Norina hat offen bar doch noch ihr Herz für Pasquale<br />
(und/oder sein Vermögen) entdeckt. Beide verschwinden mit roten<br />
Rosen ins Schlafzimmer.<br />
Wenn Kritik an der Regie zu üben ist, so daran, dass die Kostüme keine<br />
zeitliche Zuordnung ermöglichen. Neben Hauspersonal mit Puderperücken<br />
und dem wie in der Zeit eines Molière gekleideten Pasquale tritt<br />
Malatesta in zeitgenössischer Kleidung auf und setzt ein Blutdruckmessgerät<br />
ein. Das gab es zur Kompositionszeit natürlich noch nicht.<br />
Die musikalische Leitung lag in Händen von David Marlow. Anfänglich<br />
klang das Philharmonische Orchester noch ein wenig dünn und<br />
zumindest in der Ouver türe nicht ganz sattelfest. Das besserte sich aber<br />
im Laufe der Aufführung nach haltig und erlaubte Marlow, mit der gebotenen<br />
Verve zu musizieren. <strong>Der</strong> Chor war von Wolfgang Müller-<br />
Salow bestens einstudiert worden und hatte nachhaltige schauspielerische<br />
Aufgaben zu erfüllen.<br />
Bremen: „LA TRAVIATA“ – Pr. 24.11.<br />
Benedikt von Peter ist der Regisseur der <strong>neue</strong>n „Traviata“. Er wurde<br />
1977 in Köln geboren. In Bonn und Berlin studierte er Musikwissenschaft,<br />
Germanistik, Jura und Gesang. Er ist Mitbegründer der Produzentengemeinschaft<br />
„eviva la diva“. Nach einer Assistenzzeit an der<br />
Hamburgischen Staatsoper folgten erste Regiearbeiten wie z. B. „Eugen<br />
Onegin“, „Fidelio“, „Idomeneo“ und „Parsifal“. Hausregisseur am<br />
Theater Bremen wurde er in der Spielzeit 2012/13. Von Peter hat hier<br />
mit seiner außergewöhnlichen Lesart der Oper „Aufstieg und Fall der<br />
Stadt Mahagonny“ ganz <strong>neue</strong> Wege erkannt und vollzogen. Vor zwei<br />
Jahren hat er in Hannover eine ebenfalls viel beachtete „Traviata“-Inszenierung<br />
erarbeitet. Freimütig gibt er zu, dass Neuinszenierungen<br />
auf vorhergehende aufgebaut sein dürfen.<br />
Aber wie ist denn die Angabe des Regisseurs zu verstehen, dass nur<br />
eine einzige Person auf der Bühne singen und agieren darf? Wo befinden<br />
sich die anderen Mitwirkenden, Solisten und Chor? Diesbezüglich<br />
muss die zunächst schlimmste Antwort gegeben werden: Solisten<br />
und Chor sind im 2. Rang untergebracht, also völlig unsichtbar für<br />
die Zuschauer. Beinahe bewegungslos, gekleidet in schwarze Roben<br />
(Kostüme: Geraldine Arnold), singen sie dort ihre Passagen. Alle bekannten<br />
Beweggründe für eine hervorragende Akustik in einem Theater<br />
wurden somit außer Acht gelassen. Die hinteren Parkettreihen<br />
waren am schlimmsten betroffen. Das Orchester befindet sich auf der<br />
Hinterbühne. Vorn, auf dem gehobenen Orchestergraben, findet die<br />
eigentliche Inszenierung statt. Hier ist das Terrain der einsamen Frau.<br />
Für ihre Dienste muss sie selbst ihre Requisiten heranschleppen: Stuhl,<br />
Tisch, Fenster, Schminktisch. Sie verwandelt sich mit einem pinkfarbenen<br />
Tüll-Unterkleid in das von der Pariser Männerwelt so heiß begehrte<br />
Frauenbild.<br />
Aber eine Annäherung gibt es in dieser Inszenierung niemals, nicht<br />
einmal den geringsten Körperkontakt. Die Violetta Valéry bleibt allein<br />
und isoliert, verzweifelnd an der Liebe. Sie widmet sich selbst unendlich<br />
viel Aufmerksamkeit, auf ihr Rollenspiel. Wie so oft, werden die<br />
70 | DER NEUE MERKER 12/2013
Deutschland<br />
ersten Sitzreihen ins Spiel einbezogen. Die gewagteste Einlage: als Violetta,<br />
auf Händen und Füßen bis Reihe fünf, hautnah am erstaunten<br />
(oder empörten) Publikum auf den Sitzlehnen balancierte, und wieder<br />
zurück. Ein Unfallrisiko war unschwer zu erkennen. Dass die Sängerin<br />
ihren Gesangspart während des Balanceaktes abliefern musste, war<br />
für Herrn von Peter selbstverständlich. Hier muss die Gesamtleistung<br />
der großartigen Patricia Andress, die schon viele tragende Rollen ihres<br />
Faches in Bremen verkörpert hat, gewürdigt werden. Sie gestaltet<br />
ihre Rolle unendlich intensiv und schraubt ihren Sopran in jeder Phase<br />
zur Höchstleistung. Mit Sicherheit steckt in dem hiermit Erreichten<br />
eine besonders intensive Probenarbeit. Ihre Sehnsucht nach Liebe, ihr<br />
Verzicht auf den geliebten Alfred, ihr Dahinsterben an der Schwindsucht:<br />
das alles so glaubhaft darzustellen, sind ihre Qualitäten. Somit<br />
war der auf sie niederprasselnde Applaus in jedem Punkt gerechtfertigt.<br />
Clemens Heil am Pult war ein äußerst klug agierender musikalischer<br />
Leiter. Ihm fiel die schwierige Aufgabe zu, die Adressaten seiner Impulse<br />
beinahe im Kreis bedienen zu müssen. Die Bremer Philharmoniker<br />
zeigten, dass dieser ihnen Verdi recht gut ins Programm passt.<br />
Den kräftig und ausdrucksstark singenden Chor des Theater Bremen<br />
hat Daniel Mayr hervorragend einstudiert.<br />
Hyojong Kim rutscht immer weiter in umfangreichere Rollen hinein<br />
und hat einen grandiosen Alfredo gesungen. Sehr voluminös und tragend<br />
war die Stimme von KS Loren Lang als Giorgio Germont. Seit<br />
seinem Scarpia führt der Künstler gern sein gewachsenes Stimmvolumen<br />
vor. Die Sänger der kleinen Rollen fügten sich gleichermaßen in<br />
diese etwas andere Darstellungsweise ein, waren doch für sie „Regie“<br />
und „Inszenierung“ weniger bedeutend.<br />
Die Frage, ob trotz der beinahe leeren Bühne für den Zuschauer überhaupt<br />
eine Erfüllung zu spüren ist, beantwortet sich eindeutig mit ja.<br />
So intensiv, so glaubhaft und einfach, so gekonnt ist die Regieleistung<br />
des Herrn von Peter, der wiederum gezeigt hat, wie hoch die Messlatten<br />
für eine hervorragende Operninszenierung gesteckt werden können.<br />
Selten hat der Applaus in diesem Theater glatte 10 Minuten gedauert.<br />
<br />
Hermann Habitz<br />
letzten Liebesmahle“ aus „Parsifal“ und „Wach auf!“ aus den „Meistersingern“.<br />
Gewaltig und mit zwei zusätzlichen „Aida“-Fanfaren das Thema<br />
angebend, wurde der berühmte und beliebte Triumphmarsch dargeboten.<br />
Mit Wagners „Ertöne, Siegesweise“ aus Lohengrin“, dem Finale des<br />
1. Aktes mit den Solisten Robert Lichtenberger als Lohengrin und Lusine<br />
Ghazaryan als Elsa endete für die inzwischen ergriffenen Zuschauer<br />
der offizielle Teil dieser „regielosen“ Darbietung.<br />
Doch eine Ankündigung des Intendanten Michael Börgerding, der nach<br />
jeweils zwei Musikstücken kurze, aber treffende Erklärungen abgegeben<br />
hatte, versetzte die Zuschauer noch einmal in Jubel. Verdis „Va, pensiero“,<br />
der berühmte Gefangenenchor aus „Nabucco“, erklang in großartiger<br />
Darbietung. Das Publikum wurde danach aufgefordert, das Haus zu verlassen<br />
und auf dem Theater-Vorplatz, ausgestattet mit Text und Teelichtern,<br />
den Chor selbst zu singen, was dann auch mit großer Begeisterung,<br />
mehrsprachig natürlich, befolgt wurde. Eine tolle Idee, und ein Erlebnis,<br />
das einer „echten“ Opernaufführung in jeder Weise das Wasser reichen<br />
kann. Ähnliche Darbietungen dürfen folgen! Hermann Habitz<br />
Bremerhaven:<br />
„<strong>Der</strong> BARBIER VON SEVILLA“ – Pr. 2.11.<br />
„CHORKONZERT WAGNER VERDI“ - 1.11.<br />
Zu Beginn der Spielzeit und noch rechtzeitig im Wagner/Verdi-Jahr dürfen<br />
Chor und Extrachor des Theater Bremen so richtig loslegen. Unter<br />
dem agilen Chordirektor Daniel Mayr, der gleichzeitig auch als 2. Kapellmeister<br />
seine Arbeit am Theater verrichtet, hat man auf Wagners Seite<br />
im Gegensatz zu Verdi eine nicht überreiche Auswahl zur Verfügung, zumal<br />
von den 10 Opern mit „Bayreuth-Weihe“ „nur“ sechs Werke mit<br />
großem Chor ausgestattet, neben dem kurzen Herrenchor im „Tristan“ .<br />
Da ist die Auswahl bei Verdi doch wesentlich größer. Ein Fachmann wie<br />
Daniel Mayr weiß natürlich, wie ein solcher Abend beginnen sollte. Also<br />
sorgt er mit der Anfangsszene aus „Otello“ für Spannung bereits zu Beginn<br />
des Abends. Natürlich ging dies nicht ohne die Begrüßung des Feldherrn:<br />
Sangmin Jeon schleuderte kraftvoll und sicher sein „Esultate“ in<br />
den Raum. Da konnte man ganz nebenbei feststellen, dass der Bremer<br />
Chor einen potentiellen Otello birgt - zumindest was die Stimme anbelangt.<br />
Nach dem „Patria opressa“ aus „Macbeth“ erklangen aus dem „Troubadour“<br />
der „Zigeunerchor“ und die Arie der Azucena, großartig vorgetragen<br />
von Irina Ostrovskaia.<br />
<strong>Der</strong> Wagner-Reigen begann mit „Gesegnet soll sie schreiten“ aus „Lohengrin“<br />
und „Steuermann! Lass die Wacht“ aus dem „Holländer“. Ein<br />
weiterer Chor-Solist war, sauber artikulierend, aber vielleicht ein wenig<br />
zu schwach, Sungkuk Chang als Steuermann. Übrigens: wer weiterhin<br />
Lust auf den „Holländer“ hat, kann diesen in der laufenden Spielzeit noch<br />
mehrfach genießen.<br />
Nach der Pause folgten weitere Perlen der Opernchor-Produktionen. Daniel<br />
Mayr als Dirigent seiner großen Chor-Elite war stets in Höchstform.<br />
Drei der großartigsten Passagen erklangen: das Vorspiel zu „Tristan“, „Zum<br />
Rossinis „Barbier“ macht die Runde und ist nun im Stadttheater Bremerhaven<br />
angekommen. Christian von Götz, der auch für die Kulissen<br />
zuständige Regisseur, hat die Oper nicht nach üblichem Klischee abspielen<br />
lassen. Zu Beginn lässt er eine Truppe junger Musikfans auffahren,<br />
die den 100. Todestag des ehemals berühmtesten Musikschöpfers, übermütig<br />
in Szene setzen wird. Dabei handelt es sich um keinen anderen als<br />
Gioacchino Rossini. Dieser galt als der schnellste Komponist zwischen<br />
Bologna und Paris und hat diese Oper in nur 13 Tagen komponiert. Wir<br />
befinden uns im Jahr 1968, im südlichen Europa, und träumen vom Ge-<br />
Ein moderner Thespis-Karren für den „Barbiere“<br />
(© Stadttheater Bremerhaven)<br />
nerationenkampf, vom Sieg über die Alten, von weiblicher Emanzipation<br />
und schließlich von der freien Liebe.<br />
Die Oper spielt zunächst auf einer Wiese und macht das Publikum mit<br />
den chaotischen Figuren vertraut. Lediglich bühnenbreite primitiv bemalte<br />
Vorhänge, die fleißig verschoben werden, bilden die eigentliche Abwechslung<br />
für das Geschehen. Dabei erweist sich von Götz als hervorragender<br />
Ideengeber, der mit seinen oftmals witzig agierenden Figuren köstlich umgehen<br />
kann. Schon der Auftritt des Titelhelden, der seine Prachtarie an<br />
einem pendelnden Seil hängend beginnt, lässt auf weitere Gags hoffen.<br />
Und diese stellen sich Punkt für Punkt ein. Dabei ist jederzeit festzustellen,<br />
dass die Mitwirkenden niemals zu komödiantischer Clownerie ge-<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 71
Deutschland<br />
trieben werden. Vielmehr bietet die Überzeugungskraft des Regisseurs die<br />
Gewähr dafür. Da jongliert Graf Almaviva, der zeitweise auch den Namen<br />
Lindoro trägt, kunstvoll zu seinem Ständchen auf einer Leiter, und Basilio<br />
zeigt mit permanentem Griff zum Joint seine Abhängigkeit in punkto<br />
Rauschmittel. Marcellina, die Haushälterin des Dr. Bartolo, hat ebenfalls<br />
diesen Hang zum weißen Pulver. Rosina, das heiß umworbene Mündel<br />
des Mediziners, wird vom Regisseur eindeutig zum Liebhaben gezeichnet.<br />
Gelungen sind auch die Annäherungsversuche des Grafen, indem dieser<br />
die Tipps von Freund Figaro als Soldat bzw. Betrunkener verwertet.<br />
Die Opernfreunde kamen in jeder Beziehung auf ihre Kosten. Es standen<br />
wieder einmal für alle Rollen Sänger/Innen zur Verfügung, die ihre<br />
Partien mit größter Spielfreude darstellten. Mit Filippo Bettoschi gab es<br />
einen Titelhelden, dessen Auftrittsarie bereits viel versprach und der die<br />
weiteren Momente mit starkem Bariton gekonnt ausstattete. Spielfreudig<br />
und „wie für die Rolle gemacht“, gestaltete James Elliot den Grafen<br />
Almaviva. Er konnte mit der bereits erwähnten Akrobatik jederzeit überzeugen,<br />
musste die Höhen seiner Partie jedoch mit Vorsicht angehen. Mit<br />
der Wahl seiner Auserwählten traf er bei Svetlana Smolentseva genau ins<br />
Schwarze, denn diese war genau das Persönchen, welches in die Rolle der<br />
Rosina passte. Höhenprobleme hatte Uwe Schenker-Primus als Dr. Bartolo<br />
dagegen überhaupt nicht. Vielmehr strahlte sein Prachtbariton unentwegt.<br />
Hier war ein echter Komödiant im Spiel. Gleiches ist von Leo<br />
Yeun-Ku Chu als Basilio zu berichten, der nicht nur großartig seine Verleumdungsarie<br />
gestaltete, sondern auch den Rest seiner Partie überzeugend<br />
zu Gehör brachte. Franziska Krötenheerdt schien ihre Rolle als Marzellina<br />
irgendwie aufgewertet zu haben, so intensiv kam ihre Gestaltung herüber<br />
– liebestoll – vorläufig – ohne Erfolg. Die weiteren kleineren Rollen<br />
teilten sich Daniel Dimitrov (Fiorello), Vladimir Marinov (Ambrogio),<br />
Giorgi Darbaidze (Ein Offizier) und Lukas Baranowski (Ein Notar).<br />
Katja Schröpfer hatte die Aufgabe, zu dieser „schrägen“ Inszenierung<br />
die passenden Kostüme vorzuweisen. Und wahrhaftig: es ist ihr gelungen.<br />
Ihre Auswahl traf genau das Empfinden, welches von der Bühne und<br />
dem Agieren der Künstler ausging.<br />
Von Jens Olaf Buhrow sehr gut eingestimmt, klang der Herrenchor des<br />
Stadttheaters Bremerhaven. Sowohl akustisch als auch optisch war er ein<br />
Vergnügen. Am Pult stand Stefan Veselka, der mit rasanten Tempi Rossinis<br />
Meisterwerk zu Gehör brachte. Regisseur Christian von Götz hat mit<br />
seiner Arbeit deutlich gemacht, wie man auch ohne Übersteuern ein hervorragendes<br />
Konzept darbieten kann. Ein toller Abend! Hermann Habitz<br />
„HÄNSEL UND GRETEL“ – Pr. 17.11.<br />
Engelbert Humperdinck (1854 -1921) hatte zunächst ein Architekturstudium<br />
begonnen, ehe er sich ernsthaft der Musik zuwandte. Nach Köln<br />
und München begann eine Zusammenarbeit mit Richard Wagner als Assistent<br />
in Bayreuth. Schon früh begann er mit dem Komponieren. Seine<br />
Richtung auf diesem Gebiet waren Märchenopern wie „Die Königskinder“<br />
oder „Dornröschen“. Nach der Komischen Oper „Heirat wider Willen“<br />
verlegte er sich auch auf Schauspielmusiken. Aber keines seiner Werke<br />
wurde zu einem solchen Treffer wie die Märchenoper „Hänsel und Gretel“,<br />
die er im Jahre 1891 vollendete. Als Auslöser dafür muss seine Schwester<br />
Adelheid genannt werden, die sich früh damit beschäftigte, zu Kindergeburtstagen<br />
Märchen der Gebrüder Grimm zu Schauspielen umzuarbeiten.<br />
Und Bruder Engelbert reizten diese „Spielchen“ zum Vertonen.<br />
Die Uraufführung in Weimar übernahm zwei Jahre später kein Geringerer<br />
als Richard Strauss. <strong>Der</strong> Erfolg der Oper war überwältigend. Das<br />
kinderfreundliche Werk wurde bald in viele Sprachen übersetzt. Die Zusammenarbeit<br />
mit Richard Wagner ist an vielen Stellen herauszuhören,<br />
wenn auch in nur geringem Ausmaß. Die Oper wurde zu einer beliebten<br />
Einstiegsoper für Theaterneulinge neben „Zauberflöte“ und „Freischütz“.<br />
In Bremerhaven hat man den Einstieg in die Welt der Oper den Neulingen<br />
noch mehr erleichtert. Man hat das Stück nicht nur auf eine Stunde<br />
gekürzt, sondern auch mehrere Rollen total gestrichen: die Eltern, Sandmännchen<br />
und Taumännchen. Es blieben also nur Hänsel, Gretel und<br />
die Hexe. Dadurch gingen bekannte und beliebte Gesangsstücke verloren,<br />
aber Paradestücke wie „Ein Männlein steht im Walde“, „Abendsegen“<br />
und der „Hexenritt“ blieben. Regisseur Sebastian Glathe hat die<br />
Musiker auf die Bühne platziert. Die knappe Ausstattung besorgte Stefanie<br />
Stuhldreier. <strong>Der</strong> erhöhte Orchesterboden ist die Fläche für die Akteure.<br />
Gleich zu Beginn lässt der Regisseur die beiden Titelhelden vom<br />
Zuschauerraum aus auf die Bühne springen. Als sie merken, dass sie sich<br />
unweigerlich verlaufen haben im Wald der Geigen, Bratschen, Celli und<br />
Kontrabässe, legen sie sich zum Schlafen nieder. Zeit für die Hexe, ihr<br />
grell geschmücktes und mit Honigkuchen bedecktes Riesenzelt, also ihr<br />
Hexenhaus, aufzubauen und die Kinder anzulocken und zu überlisten.<br />
Wie bekannt, gelingt ihr dies nicht. Mit vereinten Kräften schaffen sie es,<br />
die Hexe in den Ofen zu schieben. Die Bleibe der Hexe bricht mit Getöse<br />
und Qualm zusammen.<br />
Dies alles geschah in der genannten Zeit, ohne weitere Kulissen. Die Begeisterung<br />
der Zuschauer, wovon die jüngsten kaum zwei Jahre zählten,<br />
war besonders beim Schlussapplaus zu spüren. Und begeistert schienen<br />
auch die Sänger/Innen in ihren Rollen zu sein: Svetlana Smolentseva als<br />
tollpatschiger jungenhafter Hänsel, Franziska Krötenheerdt als ängstliche<br />
zarte Gretel und Thomas Burger als verführerische Hexe.<br />
Wenn es sich auch nur um eine gekürzte Darbietung handelt, ist doch das,<br />
was Humperdinck fordert, genug an gesanglicher Aufgabe. Während die<br />
Kinder total normal gekleidet herumtoben, hat man der Hexe eine grell<br />
lockende Garderobe geschneidert, die einerseits das Fürchten lehrt, andererseits<br />
aber den Kindern als starkes Lockmittel dienen sollte.<br />
Hartmut Brüsch dirigierte das Städtische Orchester Bremerhaven sehr<br />
flott, ließ aber trotz gekürzter Fassung die weichen Töne nicht aus. Es darf<br />
die Frage gestellt werden, wie viel Komposition bzw. wie viel Handlung<br />
das jüngste Publikum verarbeiten konnte. Angesichts oftmals mangelnder<br />
Verständigung bei Damenstimmen (vorsichtig ausgedrückt) wird es<br />
jeweils nicht sehr viel gewesen sein. Man darf hoffen, dass notwendige<br />
Erklärungen der Eltern in ausreichendem Maße folgten. Auf jeden Fall<br />
ist dieser Einstieg in das Medium Oper sehr gelungen. Ähnliches sollte<br />
auch in den nächsten Spielzeiten in Angriff genommen werden. <br />
<br />
Hermann Habitz<br />
CD / RICHARD WAGNER IN ZÜRICH - CD SONY<br />
mit ausführlichem Booklet<br />
In Erinnerung an Wagners erste Festspiele in Zürich 1853, der Keimzelle der<br />
Bayreuther Festspiele sozusagen, wurde in der akustisch fabelhaften und architektonisch<br />
wunderschönen Tonhalle Zürich ein Wagner-Konzert gegeben. David<br />
Zinman, der seit 1995/96 die Geschicke des Tonhalle-Orchesters als Chief<br />
Conductor leitet, hat sich nach seinen Erfolgen der Gesamteinspielungen der<br />
Sinfonien von Beethoven, Brahms, Schumann und der Sinfonischen Dichtungen<br />
von Richard Strauss nun als Wagner-Dirigent „ge-outet“. Als Chefdirigent<br />
des Tonhalle Orchesters hat er das Konzertpodium nur äußerst selten gegen den<br />
Orchestergraben im Opernhaus Zürich vertauscht. Schon gar nicht mit Wagner.<br />
Und doch eignet seiner Wagner-Interpretation, insofern man sie an dieser<br />
Live-Aufzeichnung festmachen kann, auf eine Richtung, die etwa durch Arturo<br />
Toscanini oder Otto Klemperer für Wagner eingeschlagen wurde. Da ist<br />
wohl die klangliche Ballung, aber in der Balance immer transparent und in allen<br />
Instrumentengruppen erkennbar, ohne ins Bombastische abzukippen. Die<br />
„Holländer“-Ouvertüre hat Rasanz, aber auch der Lyrik des Senta-Themas wird<br />
nachempfunden. Erstaunlicherweise dirigiert Zinman hier die Harfen-Fassung,<br />
die Wagner wohl in dieser Form in Zürich noch nicht dirigiert haben dürfte.<br />
Egil Silins singt sodann einen markigen Holländer-Monolog, gut in der stimmlichen<br />
Attacke, ohne grob zu werden, und in der wohl dosierten Diktion. <strong>Der</strong><br />
Walküren-Ritt – ohne Singstimmen – war ja auch schon bei Toscanini aus dem<br />
Zusammenhang gelöst und ohne Gesang aufgeführt worden – ist schon fast mit<br />
schneidigem amerikanischen Temperament (immer noch besser als deutsches<br />
Schlachtgetümmel) zu hören. „Rheingold“ und „Walküre“ waren ja in den Jahren<br />
1849-1858 in Zürich entstanden, so gab’s auch das Finale von „Rheingold“,<br />
mit Egil Silins als jugendlich-heldisch wirkendem Gott und zum Abschluss des<br />
live aufgezeichneten Konzerts auch Wotans Abschied und Feuerzauber mit einem<br />
in der ganzen Ausdrucks-Skala überzeugenden Egil Silins. Auch Morgendämmerung<br />
und Siegfrieds Rheinfahrt beeindrucken durch Ernsthaftigkeit des<br />
Ausdrucks. Wunderschön spielt das Tonhalle-Orchester mit Brillanz und Akkuratesse,<br />
ganz dem Maestro folgend, ohne Mätzchen und ohne zusätzliche Drücker.<br />
Ein Zeugnis aktuellen Wagner-Verständnisses. John H. Mueller<br />
72 | DER NEUE MERKER 12/2013
Europa<br />
Zürich: „FAUST“ – Premiere 3.11.<br />
Alles nur Gaukelei…<br />
Seit Götz Friedrichs auch nicht in allen Belangen geglückter Inszenierung,<br />
die schon einige Jahre zurückliegt und in letzter Zeit nicht mehr gespielt<br />
wurde, nun eine Neuinszenierung. Jan Philip Gloger, der in Bayreuth<br />
ja den „Holländer“ inszenierte, überrascht in Zürich mit einer fast traditionellen<br />
Lesart. Allerdings versetzt er Faust nicht in die sprichwörtliche<br />
Studierstube, sondern man seht ihn zu Beginn als Bürger des ausgehenden<br />
19. Jhs. mit seiner Frau bei Tische sitzen, während sie am andern Ende<br />
des Tisches in der Bibel liest, Bald kommen auch die 3 Kinderchen, um<br />
sich zu verabschieden und zur Schule zu gehen. (Haben Sie gewusst, dass<br />
Dr. Faust Familienvater war? Na, so was!) Seine Frau begleitet sie hinaus,<br />
Faust ist wieder allein – und jammert. Bald erscheint auch Mephisto, der<br />
sich an die Stelle von Faust zugeknöpfter Frau gesetzt hat und verspricht<br />
ihm das, was er nicht hat: Genuss, Jugend, ungezähmtes Leben. Wenn<br />
das Leading Team (Bühnenbild: Ben Baur, Kostüme: Karin Jud, Lichtgestaltung:<br />
Franck Evin) nun diese Repräsentationsoper der Franzosen in<br />
die Zeit des 2. Kaiserreiches mit seiner bigotten Bürgerlichkeit und ausuferndem<br />
Hedonismus versetzt, so trifft er den Nerv des Werkes eigentlich<br />
recht gut. Da Gloger aber alles auf eine „Bühne auf der Bühne“ versetzt,<br />
lässt er Mephisto zum Zauberer, Magier, Gaukler werden, wodurch<br />
die ganze Geschichte zur reinen Bühnenshow verkommt. Unverständlich<br />
auch die Szene im Dom, wo ein Christus in der Manier von Achternbusch<br />
die reuige Marguérite bedrängt; die Figur wird nicht erklärt,<br />
auch nicht als verkleideter Mephisto. Am Schluss, nachdem Marguérite<br />
tatsächlich aufs Schafott gezerrt worden ist, stehen Frau und Kinderchen<br />
wieder da, und Faust kann in den Schoß seiner Family zurückkehren. Ist<br />
doch schön, nicht wahr?<br />
Pavel Breslik versucht sich redlich an der Partie des Faust, singt auch in<br />
der Mittellage kultiviert und ein beeindruckend gutes Französisch, während<br />
ihm die Höhe arg zu schaffen macht. So schwindelt er sich mit nicht<br />
ganz gekonnter Voix mixte durch. Auch darstellerisch wirkt er steif und<br />
vermag die Wandlung zum Genussmenschen nicht rüberzubringen. Da<br />
mag vielleicht auch an dem zappeligen Mephisto liegen, der aber in Kyle<br />
Ketelsen einen voluminösen Bass findet, aber darstellerisch viel zu harmlos<br />
wirkt. Vor diesem Mephisto muss sich kein Mensch fürchten. Es ist<br />
ja eh Alles nur Show.<br />
Die Ballettszenen werden meist in lockerer Atmosphäre dargeboten, es<br />
wird eifrig so getan, als würde kopuliert, aber es bleibt alles hübsch und<br />
schön brav. Die Marguérite von Amanda Majewski ist ein verklemmtes<br />
Wesen mit einem von heftigem Vibrato durchzitterten und in der Höhe<br />
schrillen Sopran, der auch über kein besonders eindrucksvolles Timbre verfügt.<br />
Merkwürdig, dass sich gerade Faust in dieses Wesen verlieben sollte.<br />
Irène Friedli als Marthe Schwerdtlein übertreibt schamlos – vermutlich<br />
von der Regie gewollt –, sang aber gut. Leider nicht überzeugen konnte<br />
der Valentin von Elliot Madore, der zwar über einen angenehmen Bariton<br />
verfügt, aber weder die strahlende Höhe noch über die tiefen Töne<br />
hat, die diese Parte doch auch verlangen. Darstellerisch war der sympathische<br />
Bursche ansprechend. Ein Gewinn war aber Anna Stéphany als<br />
Siebel, die uns schon als Cherubino begeistert hat und nun hier gesanglich<br />
Höhepunkte setzen konnte. Die Stimme verfügt über Farben, hat<br />
Flexibilität, eine schöne Höhe, ihr Spiel ist angenehm und völlig natürlich,<br />
was für eine Hosenrolle nicht unbedingt selbstverständlich ist. Gut<br />
Erik Anstine als Wagner. <strong>Der</strong> Chor, einstudiert von Ernst Raffelsberger,<br />
übte sich vor allem in undifferenziertem Lautsingen, war aber stimmlich<br />
gut und ausgewogen.<br />
<strong>Der</strong> Dirigent Patrick Lange führte die klangschön aufspielende Philharmonia<br />
Zürich manchmal etwas gar gemächlich und zuweilen langweilig<br />
durch das Werk Gounods, das aber unbedingt einer energetischen Auffrischung<br />
bedürfte. Die oft banale Musik sollte doch etwas sophistischer<br />
interpretiert werden. Das würde der Inszenierung nur gut tun.<br />
Alles in allem – ein passabler Abend. Alles nett, aber so war es doch wohl<br />
nicht gemeint, oder? <br />
John H. Mueller<br />
„OTELLO“ – 16.10.<br />
Erstmals in der Intendanz Homoki wurde die desaströse Inszenierung von<br />
Graham Vick wiederaufgenommen, was nur mit dem Verdi-Gedenkjahr<br />
sowie einer erstklassigen Besetzung zu erklären ist. Wobei gar nicht so sehr<br />
die Verlegung der Handlung in einen Wüstenkrieg irritierte, als vielmehr<br />
der Umstand, dass der Regisseur einige Male brutal gegen die Musik verstieß.<br />
Als lediglich ein Beispiel dafür sei die Liebesmelodie im 1. Akt und<br />
deren Reprise im letzten erwähnt, zu welcher Otello und Desdemona<br />
voneinander entfernt und ohne gemeinsamen Bezug agieren mussten.<br />
Immerhin kam diesmal Zürich wenigstens in den Genuss des Otello von<br />
Peter Seiffert. 2011 war er ja v. a. wegen Meinungsverschiedenheiten mit<br />
dem Dirigenten Daniele Gatti aus der Produktion ausgestiegen, wodurch<br />
einige Monate später die Wiener Staatsoper das Erlebnis seines Rollendebüts<br />
hatte. Dass Seiffert sich weder in der Zürcher Szenerie noch in seiner<br />
Kostümierung wohl fühlte, war unschwer zu erkennen, doch befand er<br />
sich in vorzüglicher stimmlicher Disposition, sodass er eine seinem künstlerischen<br />
Rang entsprechende Leistung bot. Er dürfte heute ein führender<br />
Vertreter dieser Partie sein, was sich einerseits auf seinen schonungslosen,<br />
alle Höhen vom C über H bis zum B voll auskostenden Gesang<br />
und andererseits auf seine beispiellose Intensität zurückführen lässt. Dieser<br />
Effizienz haben die wenigen anderen prominenten Vertreter der Partie<br />
nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen, doch möchte ich bei dieser Feststellung<br />
ausdrücklich Gregory Kunde ausklammern, der phantastisch sein<br />
soll, dessen Otello ich aber bisher noch nicht kenne. Jedenfalls sind mir im<br />
Lauf dieser Vorstellung wieder einmal die bedauernden Gedanken gekommen,<br />
welch herrlicher Siegfried Peter Seiffert vermutlich wäre bzw. dass er ebenso<br />
etwa als Chénier, Calaf, Samson oder Don José im italienischen und französischen<br />
Fach ideale Rollenverkörperungen bieten könnte.<br />
Die junge Maria Agresta debütierte am Opernhaus und war selbst in dem<br />
wüsten Ambiente eine ganz ausgezeichnete Desdemona. Sie ist unter den<br />
italienischen Sopranistinnen eigentlich kein Versprechen mehr, sondern bereits<br />
Erfüllung, die von Verdi über Puccini bis Donizetti (Lucia!) eigentlich<br />
keine Fachgrenzen kennt. Auch Iago war in der Person von Željko Lučić<br />
großartig besetzt. <strong>Der</strong> Serbe agierte geschmeidiger, ja verführerischer als<br />
viele seiner Kollegen, und sang dementsprechend eher weich, aber in allen<br />
Lagen voll tönend.<br />
Ansonsten sind v. a. der in der Premierenserie noch als Roderigo eingesetzte<br />
Benjamin Bernheim als hervorragender Cassio sowie Judith Schmid als<br />
trotz angestrengter Töne am Schluss des 4. Aktes („Otello uccise Desdemona!“)<br />
sehr gute Emilia zu nennen, während Dmitry Ivanchey (Roderigo),<br />
Dimitri Pkhaladze (Lodovico) und Tomasz Slawinski (Montano)<br />
nicht störten, allerdings farblos blieben.<br />
Die Chöre sangen gut, und der für Paolo Carignani in die ganze Aufführungsserie<br />
eingesprungene Friedemann Layer war ein grundsolider, alles<br />
tadellos in Händen haltender musikalischer Leiter. Die Philharmonia<br />
Zürich leistete sehr gute Arbeit. <br />
Gerhard Ottinger<br />
CECILIA BARTOLI - Konzert Tonhalle 8.11. -<br />
Incomparabile Cecilia<br />
Man muss sie einfach gern haben, diese absolut erstaunliche Erscheinung<br />
im heutigen Opern- und Konzertleben, wo doch alles so geschniegelt und<br />
Main-Stream-artig vonstatten geht. Sie geht ihren eigenen Weg, macht<br />
ihre speziellen, ganz auf sie zugeschnittenen Programme und überrascht<br />
auf der Bühne mit einer Norma, die ihr niemand zugetraut hätte. Dass<br />
Cecilia Bartoli sich natürlich die Dinge zurechtlegen muss, das ist eine<br />
alte Primadonnen-Weisheit. Erfolg hatte man/frau dann, wenn dieses Abweichen<br />
überzeugend war, auch eine künstlerische Aussage hat. Um eine<br />
solche braucht man sich bei Cecilia Bartoli, die sich nun schon mehr als<br />
zwei Jahrzehnte auf der Szene zu behaupten weiss, nicht zu sorgen. Alles,<br />
was sich die Bartoli vornimmt, erfüllt sie mit Sinn und Engagement,<br />
auch wenn sie dabei manchmal den Hörgewohnheiten zuwider läuft. Wir<br />
wissen es, ihre Stimme ist nicht groß, hat aber ein spezifisches Timbre,<br />
eine „geläufige Gurgel“ und vor allem: Cecilia hat ein Charisma, dem sich<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 73
Europa<br />
Cecilia Bartoli - temperamentvoll wie immer<br />
(© Uli Weber/Decca)<br />
niemand entziehen kann. Schon bei ihrem Auftritt zieht sie das Publikum<br />
in ihren Bann. (Sie hatte diesmal einen eleganten Hosenanzug mit<br />
einem Rüschenhemd à la Mozart an und das sonst offen getragene Haar<br />
zu einem Rossschwanz gebändigt.)<br />
Vom Kammerorchester Basel unter dem rührigen Muhai Tang begleitet,<br />
sang sie gleich zu Beginn die durch Maria Stader seinerzeit populär<br />
gewordene Mozart-Kantate „Exsultate, jubilate“ – ein herrliches, zündendes<br />
Werk. Dass Cecilia Bartoli als indisponiert angekündigt wurde, hörte man<br />
kaum, allerdings ging sie die Motette vorsichtig, wohl aber engagiert an.<br />
In der Höhe – immerhin geht’s bis zum hohen C‘ – etwas zurückhaltend,<br />
- „rollte“ sie ihre Koloraturen und überzeugte mit einem in perfektestem<br />
Legato gesungenen Mittelteil „Fulget amica dies“. Beim „Alleluja“ trumpfte<br />
sie dann auf. Nach dem<br />
Allegro-Satz aus der<br />
Haydn-Sinfonie in c-<br />
Moll dann ganz herrlich<br />
„Parto, parto“ aus Mozarts<br />
„La clemenza di Tito“ mit<br />
Solo-Klarinette (aus dem<br />
Orchester besetzt – sehr<br />
gut!), war sie dann in ihrem<br />
Element, wohlgemerkt<br />
auch in ihrem angestammten<br />
Fach. Hier<br />
stimmte einfach alles.<br />
Hier kam alles zu allem,<br />
um mit Ariadne zu sprechen.<br />
Dem tschechischen<br />
Mozart namens Josef Mislivecek<br />
widmete Cecilia<br />
Bartoli die Arie „Se mai<br />
senti“ aus dessen Oper „La<br />
clemenza di Tito“, nachdem<br />
man mit der Ouvertüre<br />
zu „Medonte“ auf<br />
den tschechischen Meister<br />
eingestimmt war. Vor der Pause dann noch die Arie des Genio aus<br />
Haydns Orfeo-Version, die in der sich nun freigesungenen Sängerin eine<br />
fulminante Interpretatin fand.<br />
Nach der Pause zur Einstimmung wieder ein Satz aus einem Haydn-Werk,<br />
diesmal das Adagio aus der Sinfonie D-Dur, sang dann Cecilia Bartoli noch<br />
die lyrische Arie „Deh, per questo istante“, wiederum aus Mozarts „Titus“.<br />
Zwischen Werken der sogenannten Kleinmeister Vanhal und Kraus, die<br />
aber durchaus ernst zu nehmende Musik geschrieben haben, sang Cecilia<br />
Bartoli die Konzertarie „Ch’io mi scordi di te“ (die Mozart für die Wiener<br />
Aufführung des „Idomeneo“ nachkomponiert hatte) – ein wunderschönes<br />
Stück Musik – und dann zum Abschluss die große „Berenice“-Kantate<br />
von Haydn, wo die Künstlerin nochmal alle Vorzüge ausspielen konnte.<br />
Zur dieser grßsen Szene (Text Metastasio) trug dann la Bartoli ein historisch<br />
angelehntes, schulterfreies Kleid. Als Zugabe gab’s ein unvergleichliches<br />
„Voi, che sapete“ des Cherubino, jener Rolle, mit der sich die ganz<br />
junge Sängerin seinerzeit beim Zürcher Publikum vorgestellt und dieses<br />
sogleich im Sturm erobert hatte. Mit der Wiederholung von Mozarts<br />
„Alleluja“ bewies die Sängerin einmal mehr, dass sie ihresgleichen sucht.<br />
<br />
John H. Mueller<br />
Basel: „VOTRE FAUST“<br />
(Variable Oper von Henri Pousseur – Pr. 8.11.)<br />
Die einzige Oper des erst 2009 verstorbenen belgischen Komponisten<br />
Henri Pousseur ist in der Musikwelt noch so gut wie unbekannt. Die<br />
Schweizer Erstaufführung (in Koproduktion mit der Berliner Gruppe<br />
„Work in Progress“) der 1969 in Mailand uraufgeführten Oper wurde<br />
deshalb mit Spannung erwartet.<br />
Das bekannte Faust-Motiv wurde dabei vom französischen Librettisten<br />
Michel Butor neu interpretiert: <strong>Der</strong> junge Komponist Henri – die Namensgleichheit<br />
mit Pousseur kommt sicher nicht von ungefähr – erhält von<br />
einem Theaterdirektor den Auftrag, eine Oper zu komponieren. Einzige<br />
Bedingung: Ein Faust muss es sein. Dabei wird er von den beiden Damen<br />
Maggy und Greta (eine Dualform der Faust-Figur Margarete) naturgemäß<br />
eher behindert als unterstützt. <strong>Der</strong> mephistophelische Theaterdirektor<br />
fährt mit großem Geschütz auf, um Faust, resp. Henri zu verführen: Ein<br />
Jahrmarkt füllt die mit farbigen Glühbirnen behängte Bühne, 4 Musikkapellen<br />
aus Frankreich (Männer in Röcken mit Bérets), Deutschland,<br />
Italien und England (mit Pilzfrisuren à la Beatles) spielen munter drauflos.<br />
Dabei ist der Blick auf die Theaterkulisse freigegeben, inklusive aller<br />
Kabel, Rohre und Aufhängevorrichtungen, was durchaus reizvoll ist.<br />
Auf diesen Jahrmarkt wird in der Pause auch das Publikum gebeten. Hühnersuppe<br />
und Getränke werden ausgegeben, und die Holz-Eier, die jeder<br />
Zuschauer am Eingang bekommen hat, sollen im Sack Maggy oder im<br />
Sack Greta landen. Das Publikum kann nämlich mitbestimmen, durch die<br />
Eier-Abstimmung hat man der Geschichte bereits eine Richtung gegeben.<br />
Nach der Pause können die Zuschauer zusätzlich durch abfällige lautstarke<br />
Äußerungen eine Szene abklemmen, oder durch Zischlaute die abfälligen<br />
Laute übertönen und die Szene weiterspielen lassen. 5 verschiedene<br />
Endfassungen gibt es, und das Ensemble musste sie alle proben. Ein Riesenaufwand,<br />
wofür vor allem dem Dirigenten Gerhardt Müller-Goldboom<br />
Respekt zu zollen ist.<br />
Bei so viel Aktion und Interaktion (Regie: Aliénor Dauchez) sollte man<br />
einen spannenden Abend erwarten, doch dem ist nicht so. Da mögen<br />
auf der Bühne Professoren lautstark ihre Theorien erklären, Schausteller<br />
ihre Shows anpreisen, Moderatoren zungenfertig durch die Abstimmung<br />
führen, Installationstafeln aufleuchten, eine Luftkissenwippe die<br />
Geliebten durchschütteln und (lebende) Hühner herumflattern. Zwischen<br />
den Protagonisten passiert jedoch recht wenig. Die Szenen ähneln<br />
Baukastenelementen, die Bühne einem Setzkasten, bei dem bald das eine,<br />
bald das andere Kästchen erleuchtet wird. Dass die Szenenfolgen selbstgewählt<br />
sind, macht sie nicht weniger willkürlich und bald scheinbar unzusammenhängend.<br />
Mit den Protagonisten mag sich niemand identifizieren, zu abgehoben,<br />
zu unsympathisch, zu distanziert wirken sie. Henri (Franz Rogowski)<br />
wird als lispelnder Nerd dargestellt, der ellenlange monotone Monologe<br />
über Musiktheorie hält. <strong>Der</strong> Theaterdirektor (Peter von Strombeck) ist<br />
ein schmieriger Agent, und ob Maggy oder Greta (beide: Julia Reznik)<br />
gerade auf der Bühne steht, ist nicht nur häufig unklar, sondern dem<br />
Zuschauer bald einerlei. Emotionen kommen da nicht hoch. Man stimmt<br />
ab und stimmt ab und landet am Schluss irgendwo in der Mitte zwischen<br />
der künstlerischen Freiheit und der Abhängigkeit vom Sponsor, zwischen<br />
der ewigen Liebe und dem ewigen Werk. Wie war noch mal der gewählte<br />
Schluss? Eigentlich ist dem Zuschauer nach drei Stunden alles egal.<br />
Das mag auch an der Musik liegen. Zum einen tritt diese für eine Oper<br />
recht spärlich auf, zum andern ist die von Pousseur favorisierte 12-Ton-<br />
Musik nicht unbedingt leicht zu ertragen. Atonaler Funk-Jazz? Schräger<br />
elektronischer Serialismus? Die Musikrichtung kann man nicht wirklich<br />
benennen. Will man auch nicht.<br />
Die Oper soll schockieren und protestieren. Aber wogegen eigentlich? Das<br />
Bildungsbürgertum? Den Opernbetrieb? Die Abhängigkeit der Kunst von<br />
Kommerz? Oder gegen das Faustmotiv à la Gounod, Goethe, Mann, das<br />
hier ganz schön selbstironisch verwendet wird? Irgendwie wirkt das alles<br />
nicht mehr zeitgemäß. Publikumseinbezug ist auch nichts Neues, gelebte<br />
Demokratie für die Schweiz ein alter Hut. Einzig die lebendigen Hühner<br />
und Ziegen für die schwarze Messe schockieren. Aber auch nur die Tierschützer.<br />
<br />
Alice Matheson<br />
74 | DER NEUE MERKER 12/2013
Europa<br />
„ANSCHLAG“ von Wertmüller/Bärfuss (Musiktheater) –<br />
10.11.<br />
Die Koproduktion des Lucerne Festival mit dem Theater Basel im Rahmen<br />
der Journées Contemporaines war eine Auftragsarbeit für das Lucerne<br />
Festival. Es gilt deutlich die Devise „prima le parole“, und Lukas<br />
Bärfuss ließ sich für sein Libretto – ein Zyklus von 12 Liedern – von Jean-<br />
Jacques Rousseau inspirieren. Allerdings nicht von dessen philosophischen<br />
Höhenflügen, sondern den minutiösen Klagen über seine Harnleiterverengung.<br />
Thema ist die eigene Hinfälligkeit als Spiegel des Verfalls<br />
der Gesellschaft, der Vergleich von Krankheitssymptomen und Gesellschaftsproblemen<br />
– ob die faule Stelle nun aus dem Körper oder der Gesellschaft<br />
geschnitten werden muss, ist da irrelevant. Ziel ist immer der<br />
Kampf gegen den Verfall, den Tod, schlussendlich: die Zeit. Denn die<br />
Zeit ist ja schließlich ein „Anschlag auf das Leben“.<br />
Dabei ist eine klare Spiegelachse in der Mitte der 6 Lieder zu erkennen:<br />
Während Linda Lovelace sich in „It really took time“ über die beste Atemtechnik<br />
bei einer Fellatio auslässt, wird in „Für immer erlöst“ die richtige<br />
Atmung nach der hinduistischen Baghavad Gitā erklärt. Die grausame<br />
Ermordung und Enthauptung der Marie-Louise von Savoyen-Carignan<br />
alias Prinzessin von Lamballe am Septembermassaker im Verlauf der französischen<br />
Revolution findet ihre logische Entsprechung in der grausamen<br />
„Sektio“ an lebendigen Tieren. Die kleine Erzählung „L‘écoulement“ über<br />
die Heilung einer eiternden Wunde nach dem Revolutionär und Arzt Jean<br />
Paul Marat wird einer Äußerung vom Anhänger von Robespierre, Louis<br />
Antoine de Saint-Just, gegenübergestellt, der in „Sans doute“ beweist, dass<br />
es noch nicht an der Zeit ist, etwas bestimmtes Gutes zu tun, da es dafür<br />
erst eines großen allgemeinen Übels (bei Saint-Just eben der Wunde)<br />
bedürfe. Bärfuss schöpft seine Texte aus dem Umkreis der französischen<br />
Revolution, stellt den Körper der Gesellschaft gegenüber, vergleicht den<br />
sittlichen Verfall mit dem körperlichen. Die Texte berühren, manche sind<br />
schreiend komisch („It really took time“), manche schockieren („Sektio“).<br />
Dem Komponisten Michael Wertmüller bleibt da bei jedem Satz die<br />
Entscheidungsfreiheit, diesen zu untermauern oder den Text durch die<br />
Musik zu torpedieren, kaputtzumachen, abzuklemmen. Ein Anschlag ist<br />
für den Komponisten naturgemäß nicht in erster Linie ein Angriff auf<br />
die Zeit, sondern der Berührungsmoment zwischen Musiker und Instrument.<br />
Doch mit diesem Anschlag produziert ein Musiker Musik und damit<br />
Neues, Innovation oder Neuinterpretation, und reiht sich damit wieder<br />
in den Kampf gegen die Zeit und den Verfall ein. Im Gegensatz zum<br />
Libretto ist bei Wertmüller eine klare Steigerung gegen Schluss festzustellen.<br />
Singen die 3 Soprane (Anne-May Krüger, Clara Meloni und Ruth<br />
Rosenfeld) die „Ballade vom Tod der Fürstin von Lamballe“ noch opernhaft<br />
(wenn auch etwas kreischend), wird der staccato-artige Sprechgesang<br />
in der „Sektio“ (Sprecher: Karl-Heinz Brandt) mehr zum Instrument als<br />
zur Lesung, in der „Vollendung“ und im „Big Chill“ ist der Text dann<br />
ganz nebensächlich. Funk-Jazz ist die Devise, ein klassisches Streichquartett<br />
liegt im Wettstreit mit dem „Hammond-Avantcore-Trio“ von Steamboat<br />
Switzerland. Dass Wertmüller auch Schlagzeuger ist, wird schon zu<br />
Beginn durch die militärischen Trommelwirbel klar und bleibt auch der<br />
musikalische rote Faden.<br />
Das Projekt kann man als einigermaßen geglückt klassifizieren, die Texte<br />
sind spannend, die Verschmelzung zwischen Musik und Text interessant,<br />
die Gegenüberstellung zwischen alter und <strong>neue</strong>r Musik innovativ. Ärgerlich<br />
ist da lediglich, dass man die Hälfte der Texte akustisch schlicht<br />
nicht versteht (vor allem wenn die drei Soprane gleichzeitig singen). Einige<br />
Texte sollte man außerdem deutlich kürzen (der Text der „Lamballe-<br />
Ballade“ ist doch stark redundant).<br />
Es ist aber bezeichnend, dass das Publikum erleichtert aufatmet, wenn das<br />
altmodische Streichquartett ein ruhiges, einigermaßen melodisches Intermezzo<br />
hinlegt. Mit schrillen Sopranstimmen unterlegte funkige Rhythmen<br />
sind eben nicht jedermanns Sache. Bongotrommeln, Splitterkanonen,<br />
Opernarien, Jazz, Funk: Dirigent Titus Engel behält bei dieser<br />
fulminanten Mischung aller Stilrichtungen und Instrumenten-Äras souverän<br />
die Übersicht. Die Inszenierung (Marie-Thérèse Jossen, Georges<br />
Delnon) ist zurückhaltend, aber leider auch nicht viel spannender als<br />
eine Orchesterfassung.<br />
Fazit: Wer es schafft, sich vorher die Texte zu verschaffen, erlebt einen interessanten<br />
Abend. <br />
Alice Matheson<br />
Biel: „Das Rheingold“ (halbszenisch) –<br />
Kongresshaus 23.11.<br />
Ein modernes Opernprojekt (© Priska Kelterer)<br />
Seit Dieter Kägi Intendant und Musikdirektor das „Theater Orchester<br />
Biel Solothurn“ (auch TOBS genannt) leitet, fanden immer wieder ereignisreiche<br />
Aufführungen statt, die weit über die Kantonsgrenzen hinaus<br />
für Aufsehen sorgten. Für dieses aufwändige Projekt gelang es der Spielleitung,<br />
international gefragte Sänger nach Biel zu holen, einige von Ihnen,<br />
deren Karriere einst hier am Opernstudio begonnen hatte; Jordanka<br />
Milkowa, Vitalij Kowaljow und Marion Ammann. Und noch etwas ist<br />
für die doch eher provinzielle Industriestadt ebenso erstaunlich wie bewundernswert;<br />
das TOBS wird sich dem Weltendrama um Macht, Verrat<br />
und Gier nun jährlich mit einer Produktion widmen.<br />
Es lohnte sich, das Musikdrama ohne Bühnenbild und Orchestergraben<br />
aufzuführen. Denn, was sonst im Graben sich versteckt, konnte frei und<br />
offen voll zur Geltung kommen. Das Orchester und die Darsteller standen<br />
im Mittelpunk. Es wurde ein Hörgenuss der besonderen Art auf allerhöchstem<br />
Niveau geboten. umrahmt mit einer Videoproduktion<br />
Die musikalische Leitung übernahm der Wiener Hans Urbanek. Dem<br />
Bieler Publikum war er bestens bekannt, da er von 2002 bis 2005 als<br />
künstlerischer Leiter und Chefdirigent für die Konzerte der Orchestergesellschaft<br />
Biel verantwortlich war. Und jetzt arbeitete er intensiv und erfolgreich<br />
mit dem Sinfonie Orchester Biel zusammen. <strong>Der</strong> volltönende<br />
Orchesterklang und die satte Farbigkeit sprachen für sich. Das Klangbild<br />
war pointiert, transparent und flüssig. Umso bewundernswerter für ein<br />
Orchester, das nicht oft mit den monumentalen epischen Werken von<br />
Wagner betraut wurde.<br />
Sehr überzeugend war die gesamte Besetzung. Groß und mächtig die<br />
Stimme von Jo Pohlheim, der als Alberich mit seinem Fluch viel in Bewegung<br />
setzte. Er imponiert vor allem mit der fabelhaften Diktion, dem<br />
intensiven, ausgelassenen Spiel und einer sonoren Stimme. In den Mittel-<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 75
Europa<br />
punkt selbst setzte sich Wotan Vitalij Kowaljow als Hüter der Macht mit<br />
kräftigem Bariton, aber schwer verständlichem Deutsch. Die unglaublich<br />
schön timbrierte Stimme ist gut fokussiert, nur schade, dass er die Partie<br />
noch nicht ganz auswendig konnte. Die launische und berechnende<br />
Fricka war hervorragend besetzt mit Tanja Ariane Baumgartner. Sie bestach<br />
durch prägnanten Ausdruck und starken Gesang. Marion Ammann<br />
als Freia wartete mit jugendfrischem Sopran auf und überzeugte in ihrer<br />
Erscheinung, blond und groß gewachsen.<br />
Ausgezeichnet präsentierten sich Fasolt Martin Snell und Fafner Martin<br />
Blasius mit ebenmäßigem Schöngesang. Grandios in Stimme, Ausdruck<br />
und Erscheinung die Erda von Jordanka Milkova. Mehrere Kritiker renommierter<br />
Fachzeitschriften schätzen sie als eine der besten Nachwuchskünstlerinnen<br />
ein und prophezeien ihr eine große Karriere.<br />
<strong>Der</strong> Bayreuth-geprüfte Loge des Niederländers Arnold Bezuyen kam<br />
als imposanter Charaktertenor daher, mit viel ironischem Witz, gekonntem<br />
Spiel, schönem Timbre, empfindsamen lyrischen Tönen und perfekter<br />
Diktion.<br />
Das Götterquartett komplettierten John Uhlenhopp als Froh mit einem<br />
etwas zu großen Vibrato und der Bariton Robin Adams als cholerischer<br />
Donner, der mit stimmlicher Rauheit immer wieder dazwischenfuhr. Andreas<br />
Jäggi bot als Mime mit strahlkräftigem Tenor eine verspielte, aber<br />
genaue Charakterisierung, darstellerisch wie stimmlich. Die Rheintöchter<br />
waren ebenfalls gut besetzt, die neckische Woglinde Ljupka Rac, die<br />
verführerische Wellgunde Christine Buffle und die schöne Flosshilde Susannah<br />
Haberfeld boten solide Leistungen.<br />
Stolz darf man verkünden: Dieses „Rheingold“ war orchestral und stimmlich<br />
fulminant. Freuen wir uns auf die komplette Tetralogie und treffen<br />
uns wieder in einem Jahr bei der „Walküre“ in Biel… Marcello Paolino<br />
Genf: „Die Walküre“ –<br />
Grand Théâtre de Genève, 7.11.<br />
Wotan straft seine liebste Tochter Brünnhilde, indem er sie verbannt und<br />
ihr ein Schicksal als Hausfrau, als Mensch, beschert. Wehr- und willenlos<br />
soll sie auf dem Berggipfel schlafen, bis ein Mann sie nimmt. Brünnhilde<br />
ist das Bauernopfer in einem System voller Abhängigkeiten und Intrigen.<br />
Getrieben vom Kampf ums eigene Überleben, ist eine freie Entscheidung<br />
nicht mehr möglich. Durch die Ausgrenzung Brünnhildes kann Wotan<br />
den Schaden von sich abwenden, um die Götter zu schützen. Ohne<br />
Zweifel ist der 3. Akt wohl der sensibelste und innigste Teil des gesamten<br />
„Ring“-Zyklus. Die Trennung ist rational nicht zu verstehen. Aber man<br />
kann begreifen, dass er ihr doch noch Schutz gewährt und sie doch nicht<br />
ganz schutzlos preisgeben will. Auf ihren Wunsch umgibt sie ein Feuerwall,<br />
nur ein tapferer Mann wird ihn durchschreiten, nur einer, der Wotans<br />
Speer nicht fürchtet.<br />
Hundings Haus bestand aus einer riesigen Baumwurzel, in die der Schutz<br />
suchende Siegmund wie ein unbeholfener Bär hineintappste, von seiner<br />
Zwillingsschwester Sieglinde liebevoll aufgenommen, verpflegt und von<br />
dem wenig erfreuten Hausherrn als Gast geduldet. Günther Groissböck<br />
spielte Hunding brutal und unzugänglich. Mit wunderbarem Klang beherrschte<br />
er seine verängstigte Frau total. So kann man sich häusliche<br />
Gewalt vorstellen, wenn er sie an den Haaren packte, demütigte, erniedrigte<br />
und sie das Messer zückte, um ihn am liebsten zu töten. Die stattliche<br />
Michaela Kaune wirkte ihrem schmächtigen Bruder gegenüber wie<br />
eine Hünin und gab der domestizierten Sieglinde mit ihrem kraftvollen,<br />
sicher geführten Sopran und wundervollen Pianis feinen Ausdruck. <strong>Der</strong><br />
Tenor Will Hartmann vermochte als verliebter Siegmund nicht ganz zu<br />
gefallen, geriet stimmlich an seine Grenzen und überzeugte in seiner Sorge<br />
um die bräutliche Schwester nicht wirklich.<br />
Jürgen Rose reduzierte die Handlung auf kleinstem Raum in einer unendlich<br />
grenzenlos wirkenden Weite. Das vermochte zu beeindrucken.<br />
Walküre-Finale 1.Akt: Michaela Kaune (Sieglinde) und<br />
Will Hartmann (Siegmund) (© GTG/Carole Parodi)<br />
Fricka Elena Zhidkova stellte nicht die Idealbesetzung einer beherrschten<br />
Fricka dar, man nahm ihr die überlegene Hüterin der Familie nicht<br />
ab und gesanglich war sie eher spröde und eindimensional. <strong>Der</strong> 3. Akt, in<br />
dem Dieter Dorn den „Walkürenritt“ auf einer kleinen Plattform spielen<br />
ließ, auf der die Töchter die toten Helden bargen, die verstoßene Brünnhilde<br />
vergebens Wotan um Mitleid für die schwangere Sieglinde anflehte<br />
und in echter Verzweiflung kniefällig ersuchte, die unerhörte Strafe wenigstens<br />
etwas zu mildern, wurde berührend und wirkungsvoll umgesetzt.<br />
Im Finale wirkte Wotan Tom Fox nicht nur etwas zu steif, sondern nuschelte<br />
ausdrucksschwach und mit seinen Stimmresten textunverständlich<br />
in sich hinein. Petra Lang war zweifelslos die Sensation des Abends,<br />
die mit viel Expressivität und Wohllaut, mit hervorragend sicher geführter<br />
Stimme der Brünnhilde überzeugende Gestalt gab.<br />
Zu großer Form lief auch das Orchestre de la Suisse Romande auf. Unter<br />
der profunden Leitung von Ingo Metzmacher glänzte das Orchester.<br />
Mit Dynamik, Flexibilität und innigen Farben sorgte er für anhaltende<br />
Spannung und gab der poetischen Gesamtwirkung viel Raum. Nicht die<br />
lauten Töne und anhaltenden Bögen waren gefragt, sondern das Reduzieren<br />
der Musik auf das Wesentliche, sich anpassend an das kammerhafte<br />
des Bühnenbildes, um somit eine Symbiose zu bilden, die sehr einleuchtend<br />
und gefällig war.<br />
Das Publikum war begeistert und bejubelte frenetisch die Protagonisten<br />
und die gesamte Regie. <br />
Marcello Paolino<br />
76 | DER NEUE MERKER 12/2013
Europa<br />
„<strong>Der</strong> fliegende Holländer“ im Bâtiment<br />
des Forces Motrices (BFM), altes Wasserkraftwerk – 2.11.<br />
<strong>Der</strong> „Cercle Romand de Richard Wagner“ besteht dieses Jahr schon<br />
seit 37 Jahren und wäre das nicht schon eine große Feier wert, gelingt<br />
es dem Verein, für den 200. Geburtstag des Komponisten auch<br />
noch ein Festival hervor zu zaubern, welches national und international<br />
große Beachtung findet. Das Wagner Geneva Festival widmet<br />
sich vom 26.9. bis 5.11. der Musik, Literatur, Theater, Skulptur, Tanz<br />
und Film rund um Richard Wagner. Das Kernstück dieses Konzeptes<br />
ist die Aufführung des „Holländers“ in der Urfassung, die Wagner in<br />
Paris 1840 geschrieben hat, am Stück ohne Pause.<br />
In Genf konzentriert sich das Team Alexander Schulin (Inszenierung),<br />
Bettina Meyer (Bühne), Bettina Walter (Kostüme), Bert Zander (Video)<br />
und Rainer Küng (Licht) in einfacher, aber stimmungsstarker<br />
Ausstattung ohne Phantomschiff auf die Figuren.<br />
Senta spielt eine verträumte, fast naive Frau, die eine Marionette des<br />
Holländers in Händen trägt und von einem Helden träumt, den sie<br />
sehnlichst erwartet. Bis zum bitteren Ende tief enttäuscht, entledigt<br />
sie sich ihres Traumes, in dem sie die Holländer-Marionette wegwirft<br />
und aus dem Rahmen der vergangenen Welt entflieht. Die Bühne ist<br />
einfach gestaltet, das Einheitsbild ist karg, vier Wände, vier Zugänge<br />
für Solisten, ein großer Rahmen, der die spießbürgerliche Welt darstellt,<br />
und den bildfüllenden Chor. Videoprojektionen mit Stürmen,<br />
Meereswellen und aufblitzenden Gesichtern beleben das Bild.<br />
Das ist ein gutes Konzept, vor allem, wenn ein Sängerteam am Werk<br />
ist, das den Figuren szenisch wie musikalisch großartige Bühnenpräsenz<br />
verschafft. Alfred Walker als Bariton von dunkler Dämonie für den<br />
Holländer, Ingela Brimberg als Traumbesetzung am Wagner-Himmel<br />
mit imponierender Intensität für eine energiegeladene Senta. Eric Cutler<br />
mit packender Tenorleidenschaft. Die radikalste Ablehnung erfährt<br />
der Holländer bei Erik, Sentas Verlobtem. Nicht einmal sein strahlender<br />
Tenor hilft, Senta von ihrer Besessenheit abzubringen. Dimitry<br />
Ivashchenko überzeugt mit kernigem Bass als patzig jovialer Daland.<br />
Eigens für dieses Festival wurde das Orchestre du Wagner Geneva gegründet,<br />
bestehend aus den Studenten der Hochschule für Musik Genf<br />
(HEM-Genève), der Hochschule für Musik Lausanne (HEMU) und<br />
dem Nationalen Konservatorium für Musik und Tanz Paris (CNSMD-<br />
Paris) Die umfangreichen Chorpartien wurden vom Choeur du Grand<br />
Théâtre de Genève Einstudierung Ching-Lien Wu, musikalisch kraftvoll<br />
und zugleich höchst differenziert gestaltet. Szenisch bringen sie<br />
sich mit bemerkenswerter Beweglichkeit und ausdrucksvoller Präsenz<br />
in die Inszenierung ein.<br />
<strong>Der</strong> Ukrainer und hoffnungsvolle Nachwuchskünstler Kirill Karabits<br />
bot ein aufregendes Dirigat. Schon die allerersten Klänge schlagen mit<br />
voller Wucht ein und nehmen das Publikum mit auf eine Reise, der<br />
man sich während der nächsten gut zweieinhalb Stunden nur schwer<br />
entziehen kann. <br />
Marcello Paolino<br />
Milano: „AIDA” – Teatro alla Scala 5.11.<br />
Über den unsäglichen Kitsch dieser von Franco Zeffirelli als Regisseur<br />
und Bühnenbildner (Kostüme: Maurizio Millenotti) erarbeiten<br />
Produktion, deren Wiederaufnahme von Marco Gandini betreut<br />
wurde, wurde schon bei der Premiere von 2006 und der Wiederaufnahme<br />
von 2009 berichtet (s. „<strong>Merker</strong>“ 201 bzw. 232/233). Nichts<br />
hat sich geändert an den die Bühne bevölkernden Massen, wobei der<br />
fehlende Platz vor allem beim Auftritt der äthiopischen Gefangenen<br />
zu lächerlichen Ergebnissen führte (und dass ein paar „echte“ Farbige<br />
neben einem auf dunkel geschminkten Amonasro zu sehen waren, trug<br />
wenig zu größerer Ernsthaftigkeit bei).<br />
Das große Plus dieser Aufführung war die musikalische Leitung durch<br />
Gianandrea Noseda, der Verdis Musik die rechte Hitzigkeit verlieh und<br />
den Triumphakt mit souveränen Pinselstrichen zeichnete. Gleichzeitig<br />
erwies er sich auch als exzellenter Sachwalter der lyrischen Momente –<br />
das Orchester folgte ihm mit hörbarer Überzeugung. Auch der Chor<br />
unter seinem Leiter Bruno Casoni zeigte sich mit differenzierter Subtilität<br />
in Höchstform. (Da wäre allerdings die Maske gefordert, denn<br />
die wenig geschminkten Alltagsgesichter störten in all dem Prunk und<br />
Protz noch mehr als sonst).<br />
Bei den Solisten zeigte (die auch erschlankte) Hui He in der Titelrolle,<br />
dass sie sich nicht nur mit ihrer schönen Stimme und einer<br />
guten Technik begnügt, sondern weiter an sich gearbeitet hat und mit<br />
raffiniertem, berührendem Legato zu beeindrucken vermag. Endlich<br />
wieder eine in jeder Hinsicht überzeugende äthiopische Sklavin! Ihr<br />
Radamès Marco Berti erntete beim Schlussvorhang ein paar Buhs, die<br />
gerechtfertigt waren, denn nur zu brüllen, ist für diese Rolle ja keine<br />
Lösung. Auch den irregeführten ägyptischen Feldherrn kann man nuanciert<br />
singen! Enttäuschend Nadia Krasteva, der für die Amneris die<br />
profunde Tiefe fehlte; die Höhen waren zwar sicher, aber die ganze<br />
Leistung durch eine wenig überzeugende szenische Darbietung mit<br />
zu vielen stereotypen Gesten beeinträchtigt. Statt der angekündigten<br />
Ambrogio Maestri bzw. Želko Lučić sang Alberto Mastromarino mit<br />
den verschiedensten Stimmfarben einen hohlen Amonasro mit Dauerblick<br />
auf den Dirigenten. Imposant klang der König von Alexander<br />
Tsymbalyuk, zumindest solide der Ramphis von Marco Spotti.<br />
Sae Kyung Rim war eine klarstimmige Sacerdotessa, Jaeheui Kwon<br />
der sichere, aber nicht sehr idiomatische Bote.<br />
Mit Ausnahme des Jubels für Hui He und Noseda versandete der Beifall<br />
rasch.<br />
Am 18.11. gab Juan Diego Flórez einen hinreißenden Abend<br />
mit einem unusuell, aber raffiniert zusammengestellten Programm.<br />
Nach zwei Arien aus Händels „Semele“, die gar nicht so nach Aufwärmen<br />
klangen und schon die Koloraturen und Triller funkeln ließen,<br />
kamen drei Rossini-Stücke aus des Komponisten „Péchés de vieillesse“,<br />
wobei die Bolero-Version von „Mi lagnerò tacendo“ und das „Addio ai<br />
viennesi“ besonders doppelbödig klangen. Wunderbar elegisch mit feinstem<br />
Piano Bellinis „La Ricordanza“, gefolgt von „Popoli dell’Egitto“<br />
aus Meyerbeers „Il crociato in Egitto“. Diese dreiteilige Arie verlangt<br />
alles: heroische Attacke ebenso wie Verzierungen. Das glanzvoll dargebotene<br />
Stück beschloss den ersten Teil. Zweiten gab es zunächst drei<br />
Arien aus verschiedenen Zarzuelas, eine schöner als die andere, gefolgt<br />
von Raouls großer Arie aus Meyerbeers „Hugenotten“, eine wahre<br />
Lektion in Belcanto. Den Abschluss bildete „Come uno spirto angelico“<br />
aus Donizettis „Roberto Devereux“, wo der Tenor <strong>neue</strong>rlich nachwies,<br />
dass seine Stimme voller, lyrischer geworden ist, ohne die fulminanten<br />
Höhen verloren zu haben.<br />
Das vor Begeisterung rasende Publikum wurde mit sechs (!) Zugaben<br />
beschenkt: „Au mont d’Ida“ aus Offenbachs „Schöner Helena“, mit<br />
köstlichem Esprit vorgetragen; die italienische Version von „Ach so<br />
fromm“ aus Flotows „Martha“; Ennio Morricones berühmtes „Amapola“;<br />
„Je veux encore entendre“ aus Verdis „Jérusalem“; das Schlussrondo<br />
aus dem „Barbier“ und schließlich „La donna è mobile“. Ein Programm,<br />
das schon allein fast ein ganzes Konzert umfasst.<br />
<strong>Der</strong> bewährte Vincenzo Scalera am Klavier erwies sich auch diesmal<br />
als nicht nur verlässlicher, sondern auch stimulierender Begleiter.<br />
Ein absolut erinnerungswürdiger Abend voll künstlerischer Großzügigkeit.<br />
<br />
Eva Pleus<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 77
Europa<br />
Paris:<br />
„Written on Skin“ von George Benjamin<br />
– Opéra Comique – 16.11. –<br />
Triumphzug einer <strong>neue</strong>n Oper<br />
Solch einen Erfolg haben wir noch nie für eine gegenwärtige Oper erlebt.<br />
Bei der Uraufführung von Written on Skin am 7. Juli 2012 in Aix-en-Provence<br />
schrieb die sonst für ihre kritische Berichterstattung bekannte Zeitung<br />
Le Monde eine Rezension mit dem Titel: „Die beste Oper seit zwanzig<br />
Jahren?“. <strong>Der</strong> Titel war natürlich eine Untertreibung, denn der Rezensent<br />
stellte die Frage, ob es nicht die beste Oper seit 90 Jahren sei, genau, seit<br />
Alban Bergs Wozzeck 1922. Die Uraufführung in Aix war eine Sensation,<br />
die „durch die Welt ging“ und die Produktion wurde in kürzester Zeit in<br />
Europa und Amerika nachgespielt und mit Preisen überhäuft („Prix de la<br />
critique musicale“ in Frankreich, „Uraufführung des Jahres“ für Opernwelt<br />
etc). Über London und Amsterdam gelangte sie im Juni zu den Festwochen<br />
in Wien, wo die Doyenne der <strong>Merker</strong>-Rezensenten, Frau Inge M.<br />
Scherer (I.M.S.), eine ausführliche Kritik schrieb (siehe <strong>Merker</strong> 7/2013).<br />
So brauche ich das Werk und den Komponisten nicht mehr vorzustellen.<br />
Die Produktion reiste weiter über München nach Paris, wo alles angefangen<br />
hat. Denn für die Pariser Oper schrieb George Benjamin 2006 sein<br />
erstes Werk, Into the Little Hill, ein halbstündiges Monodram zu dem Rattenfänger<br />
von Hameln (das 2008 in Wien gastierte). Auch in Paris erlebte<br />
Written on Skin einen sensationellen Erfolg. Schon Wochen im Voraus waren<br />
alle Plätze in der Opéra Comique ausverkauft – dabei liest man doch<br />
überall, dass es für zeitgenössische Musik kaum Publikum gäbe. Und an<br />
der Première waren schon alle (nicht gerade billigen) Programmhefte für<br />
alle Vorstellungen ausverkauft, da jeder das besondere Libretto von Martin<br />
Crimp noch einmal in Ruhe lesen wollte.<br />
Die Produktion hat seit der Uraufführung nichts an Intensität eingebüßt.<br />
Im Gegensatz zu Wien dirigierte der Komponist wieder selber und verstand<br />
es, den 61 Musikern des Orchestre Philharmonique de Radio France ein<br />
Gespür für seinen ganz eigenen Ton zu geben. <strong>Der</strong> klingt manchmal ganz<br />
unwirklich – wenn zum Beispiel Glasharmonika und Mandoline zusammenspielen<br />
–, ist aber nie artifiziell (keine Elektronik, keine Verstärkung).<br />
So kommt auch die wunderbare Inszenierung von Katie Mitchell in der<br />
Ausstattung von Vicki Mortimer ohne elektronische Effekte aus (es geht<br />
also auch ohne Video), von ihrer Stilsicherheit ganz zu schweigen. Denn<br />
Katie Mitchell erzählt uns eine Geschichte, in der Gewalt und Sexualität<br />
eine große Rolle spielen, ohne dabei ihre Darsteller auf der Bühne auszuziehen<br />
oder mit Blutkonserven werfen zu lassen. Das wäre alles in dieser<br />
Feinheit nicht möglich gewesen ohne die wirklich herausragenden Qualitäten<br />
der kanadischen Sopranistin Barbara Hannigan, einer „Sängerin<br />
aus einem anderen Planeten“ (so Le Figaro), die wegen ihrer Leistung in<br />
dieser Rolle durch die 50 Kritiker von Opernwelt zur „Sängerin des Jahres“<br />
gewählt wurde. An der Opéra Comique sang auch wieder Christopher<br />
Purves die männliche Hauptrolle des gewalttätigen Gatten, der seine Frau<br />
in die Arme des jungen Künstlers treibt, der in Aix-en-Provence durch<br />
Bejun Mehta gesungen wurde. Metha war leider für die vielen folgenden<br />
Gastspiele nicht verfügbar und wurde in Wien und Paris durch Iestyn<br />
Davies ersetzt, der sicher schön gesungen hat, aber nicht über die<br />
gleiche Ausstrahlung verfügt. Denn Metha sieht Purves auch noch verblüffend<br />
ähnlich, was eine Vater-Sohn-Dimension in die Konstellation<br />
von Mann-Frau-Liebhaber brachte. Bei Davies konnte man nicht so gut<br />
nachvollziehen, warum dieser blasse Mann solche Gefühle bei den anderen<br />
auslöst. Aber das ist Klagen auf hohem Niveau und wäre auch wirklich<br />
der einzige Abstrich, den man eventuell machen könnte.<br />
Wir wünschen, dass dieser Erfolg anderen Intendanten den Mut geben<br />
wird, um <strong>neue</strong> Opern in Auftrag zu geben, und freuen uns schon auf das<br />
nächste Werk des Duos Benjamin/Crimp, das man in zwei/drei Jahren erwarten<br />
kann. George Benjamin ist jetzt 53 Jahre alt. Das ist jung für einen<br />
Opernkomponisten, denn Jean-Philippe Rameau war 50, als er seine<br />
erste Oper schrieb – und wurde danach einer der größten Opernkomponisten<br />
Frankreichs. <br />
Waldemar Kamer<br />
„Roméo et Juliette“ (Berlioz) – Salle Pleyel –<br />
17. 1I. --<br />
Wiederentdeckung einer sehr selten gespielten „Oper“<br />
Moderner Opern-Triumph<br />
(Barbara Hennigan als Ehefrau, Jestyn Davis als Künstler)<br />
Die ursprünglich durch den österreichischen Komponisten und Klavierbauer<br />
Ignaz Josef Pleyel erbaute Salle Pleyel kann sich seit 1827 rühmen,<br />
der größte Konzertsaal von Paris zu sein. Denn in dem heutigen Saal<br />
konnten 1927 3.000 Zuschauer sitzen – heute „nur“ noch genau 1983.<br />
Jede Woche gibt es dort spannende Konzerte, aber nicht unbedingt für<br />
die <strong>Merker</strong>, denn in der Salle Pleyel wird zurzeit wenig Oper gespielt. Das<br />
war anders, als noch Daniel Barenboim das Orchestre de Paris leitete, das<br />
hier seinen Stammsitz hat, und wird sicher auch in Zukunft wieder anders<br />
werden. Denn zurzeit gehört die Salle Pleyel zu der Cité de la Musique<br />
– in Erwartung der sich noch immer im Bau befindenden Philharmonie<br />
de Paris. So werden die „großen symphonischen Konzerte“, für die die<br />
beiden Säle der Cité zu klein sind, in der Salle Pleyel gegeben. Vieles ist<br />
„Mainstream“, wie die Tourneen der internationalen Orchester, die überall<br />
das gleiche Programm spielen. Manches ist sehr besonders. So arbeitet<br />
Valery Gergiev mit seinen zwei Orchestern, dem London Symphony<br />
Orchestra und dem Orchester des Mariinsky, an einem Berlioz- und einen<br />
Schostakowitsch-Zyklus und scheut dabei keine seltenen, schwierigen<br />
oder völlig unbekannten Werke. Drei Wochen, nachdem Gergiev Les<br />
Troyens in Wien mit dem Mariinsky gegeben hat (siehe <strong>Merker</strong> 1I/2013),<br />
dirigierte er andere Werke von Berlioz in Paris, aber jetzt mit dem London<br />
Symphony Orchestra. Gergiev gab sich diesmal große Mühe, denn<br />
sein letzter Berlioz-Abend in Paris, im Mai, ist in übler Erinnerung geblieben<br />
(siehe <strong>Merker</strong> 6/2013). Seine Symphonie fantastique war dagegen so<br />
gut, dass sogar die vornehmen Herren der Berlioz-Gesellschaft meinten,<br />
sie hätten die Marche au supplice (den berühmten vorletzten Satz) noch<br />
nie so gehört. Die Musik flimmerte und schimmerte, als ob Elfen tanzen<br />
würden. Nichts war schwer und plötzlich machte die sehr eigenwillige Gestik<br />
Gergievs, ein undefinierbares Zittern mit einem Zahnstocher, wirklich<br />
Sinn. Die einzige „Oper“ im Programm, Roméo et Juliette, ist eigentlich<br />
keine Oper. Berlioz schrieb dazu: „auch wenn die Stimmen eine große<br />
Rolle haben, ist es weder eine Konzert-Oper, noch eine Kantate, sondern eine<br />
‚Symphonie mit Chören’“. Er schrieb schließlich 1847 „symphonie dramatique“<br />
auf die Partitur und gab verschiedene Strichmöglichkeiten an, womit<br />
man das Werk auch ohne Sänger spielen kann. Die ursprüngliche Fassung<br />
der Uraufführung am 24. November 1839, das Opus 17, wird nur<br />
sehr selten gespielt, weil Berlioz in seinem jugendlichen Übermut ein Or-<br />
78 | DER NEUE MERKER 12/2013
Europa<br />
chester von 100 Musikern vorschrieb, mit schwer transportierbaren „echten<br />
Kirchenglocken“, 101 Choristen und drei „großen Sängern“. Doch<br />
die drei Sänger singen alle zusammen gerade mal eine ¼ Stunde, ganz am<br />
Anfang und ganz am Ende. Die eigentliche Liebesgeschichte, auch das<br />
berühmte Liebesduo auf dem Balkon, wird 1½ Stunden lang ausschließlich<br />
durch das Orchester erzählt, man könnte schon sagen „gesungen“.<br />
So kannten wir Roméo et Juliette nur als Orchester-Konzert ohne Sänger.<br />
Das Stück beginnt mit einem „Prolog“ eines Mezzosoprans, der uns die<br />
Vorgeschichte erzählt, und endet mit einem „Finale“, in dem ein Bass-Bariton<br />
berichtet, was danach noch alles passiert ist. Diese Rollen wurden<br />
schlicht atemberaubend gut gesungen durch Olga Borodina und Evgeny<br />
Nikitin. Jetzt verstand man erst, warum die Uraufführung im kleinen Saal<br />
des Pariser Conservatoire einen so großen Eindruck auf Richard Wagner<br />
gemacht hat: das sind zwei „unendliche Melodien“. Wagner schrieb<br />
in sein Tagebuch: „das ist die Melodie des neunzehnten Jahrhunderts“ und<br />
27 Jahre später schickte er Berlioz eine der ersten Exemplare der Tristan-<br />
Partitur mit der Widmung: „der dankbare Autor von Tristan und Isolde,<br />
dem großen Autor von Roméo et Juliette“. Waldemar Kamer<br />
„Elektra“ – Opéra National de Paris – 24.11. – Ein expressiver<br />
„Stummfilm mit Orchester“<br />
(wie in Carsens Jenůfa). Alle Kostüme von Vazul Matusz sind schwarz,<br />
eine Art Einheitstunika. Alle sind barfuss. Nur Orest – er kommt von<br />
außen – trägt Schuhe und nur Ägist und Klytämnestra sind in Weiß. Sie<br />
wird im schillernden Abendkleid auf einem weißen Bett getragen, im gleichen<br />
Kreis wie kurz davor die nackte Leiche des Agamemnon. Wie für<br />
den Sacre du Printemps von Pina Bausch, wird die archaische Geschichte<br />
mit Kreisen erzählt, in der sehr gut ausgearbeiteten Choreographie von<br />
Philippe Giraudeau – vielleicht das Hervorragendste dieser Inszenierung.<br />
Und wie alle großen Regisseure braucht Robert Carsen weder modernste<br />
Technik noch tausend kleine Firlefanzen: außer dem Beil gibt es<br />
keine einzige Requisite.<br />
Philippe Jordan steigt mit dem Orchestre de l’Opéra National de Paris<br />
voll in dieses raue Konzept ein und spielt eine packende „Elektra“, die einem<br />
wirklich unter die Haut geht. So hat Strauss die Oper auch orchestriert:<br />
das Kraftzentrum kommt aus dem Graben. Doch bei zu viel Kraft<br />
hört man die Sänger nicht mehr und mutiert die Oper zu einem „Stummfilm<br />
mit Orchesterbegleitung“ – wie vor drei Jahren bei den Salzburger Festspielen.<br />
Wie damals mit Daniele Gatti & den Wiener Philharmonikern,<br />
konnte ich diesmal die Sänger einfach nicht hören. Und wenn man sogar<br />
Waltraud Meier auf der ersten Reihe des ersten Balkons – eigentlich der<br />
sängerfreundlichste Platz in der Opéra Bastille – nicht hören kann, dann<br />
liegt es nicht an ihr, sondern an der Akustik, an der Balance mit dem riesigen<br />
Orchester. Es ist in diesem Kontext müßig, darüber zu spekulieren,<br />
warum Irène Theorin an diesem Abend nicht die Elektra sang – die Oper<br />
verweigerte jeglichen Kommentar zu den verschiedensten Gerüchten, die<br />
schon im Vorfeld kursierten. Auch zu ihrer Einspringerin Caroline Whisnant<br />
können wir nur sagen, dass sie ihre Rolle offensichtlich beherrschte.<br />
Aber auch wenn sie mit einer so erfahrenen Sängerin wie Ricarda Merbeth<br />
(Chrysothemis) vor dem Portal stand, kamen ihre Stimmen nicht<br />
über den Graben. <strong>Der</strong> Einzige, dem das gelang, war Evgeny Nikitin als<br />
Orest, der den Rächer auch fulminant gespielt hat und den größten Applaus<br />
bekam. So wurde auch dieser „Stummfilm mit Orchester“ ein wirklich<br />
packender Abend. <br />
Waldemar Kamer<br />
Nizza: „DER FREISCHÜTZ“ – Opéra de Nice – Pr.<br />
17.11. – Auf der Höllentreppe…<br />
Waltraud Meyer als Klytemnästra (beide © Charles Duprat)<br />
Manchmal sitzt man im Saal, sieht auf die Bühne, aber sieht in Gedanken<br />
einen anderen Ort – und hat den Eindruck, dass auch die Sänger in Gedanken<br />
dort sind. Elf Tage nach dem Begräbnis von Patrice Chéreau, an<br />
dem sie zwei Wesendonck-Lieder gesungen hat, war Waltraud Meier wieder<br />
Klytemnästra – nun aber ohne ihren „Lieblingsregisseur“. Die Elektra<br />
von Chéreau wurde diesen Sommer in Aix-en-Provence durch Kritik<br />
und Publikum einstimmig als ein „ganz großer Wurf“ bejubelt und ausführlich<br />
durch Klaus Billand besprochen („Grandiose Chéreau-Inszenierung“<br />
im <strong>Merker</strong> 8+9/2013). Es war also nicht leicht, sich auf eine <strong>neue</strong><br />
Interpretation des Stückes einzulassen.<br />
Doch die Inszenierung von Robert Carsen ist so radikal anders und so gelungen,<br />
dass sie einen wirklich zu fesseln wusste. Gegensätzlicher könnte<br />
man kaum an das Stück herangehen. Chéreau in feinster Psychologie:<br />
jede Figur kommt zu ihrem Recht, niemand ist nur „gut“ oder, vor allem<br />
„nur böse“. Bei Carsen dagegen radikales Schwarz/Weiß, kaum individuelle<br />
Psychologie, sondern ein archaisches Todes-Ritual, dem sich niemand<br />
entziehen kann.<br />
<strong>Der</strong> dunkle Burghof von Michael Levine ist umgeben von fensterlosen<br />
Steinmauern, ohne Tür und ohne Hoffnung, in dem alle Protagonisten<br />
eingesperrt sind. Nur braune, schwere Erde, unter der eine Leiche liegt<br />
Auf dem geschlossenen Vorhang ist eine Inschrift zu lesen – zwei Zeilen<br />
aus dem Text des Eremiten, auf Französisch. Im Deutschen heißt der Text<br />
„Ist’s recht, auf einer Kugel Lauf/zwei edler Herzen Glück zu setzen?“ den<br />
unteren Rand der Bühne ziert eine Art Stillleben von Kanonen, Kriegsgerät<br />
und Gerippen. Wenn sich der Vorhang hebt, sieht man eine riesige<br />
Treppe, die sich über die ganze Bühnenbreite erstreckt (Inszenierung<br />
und Beleuchtung: Guy Montavon, Bühnenbild: Peter Sykora). Liebe<br />
und Tod also als Hauptmotiv, auf der Treppe des Lebens bewegen sich<br />
die Menschen ihrem Schicksal gemäß auf und ab. Manche bewegen sich<br />
nur im oberen Drittel oder steigen zu lichten Höhen empor, andere steigen<br />
immer tiefer hinab bis zum „Höllenschlund“, der „Wolfsschlucht“,<br />
dem Reich des Bösen.<br />
Die Oper spielt nach dem Ende des 30-jährigen Krieges. Man glaubt an<br />
den Teufel, an Geister, Gespenster, an Hexerei, der Tod ist immer nahe<br />
– und die Angst. Die Romantik hat all dies zu ihrem Thema gemacht, in<br />
Deutschland, in England, in ganz Europa. Als Carl Maria von Weber zusammen<br />
mit seinem Textbuchautor Johann Friedrich Kind nach einem<br />
Sujet für eine <strong>neue</strong> Oper suchte, fanden sie 1810 die kürzlich erschiene<br />
Sammlung von Spukgeschichten unter dem Titel „Gespensterbuch“ von<br />
August Apel und Friedrich Schulze, deren erste Geschichte „<strong>Der</strong> Freischütz“<br />
ihnen als Opernstoff geeignet schien. In enger Zusammenarbeit<br />
mit Weber schrieb Kind das Libretto. Am 18.6.1821 wurde der „Freischütz“<br />
im Königlichen Schauspielhaus in Berlin mit großem Erfolg uraufgeführt<br />
und gilt seither als d i e deutsche romantische Oper schlechthin.<br />
Was wir aber sahen und hörten, war – französisch, obwohl in der heutigen<br />
Zeit jede Opernproduktion in Originalsprache dem Publikum dargeboten<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 79
Europa<br />
wird. Wir hörten die französische Fassung (oder „Bearbeitung“) durch<br />
den französischen Komponisten Hector Berlioz. Eine geplante französische<br />
Aufführung des „Freischütz“ in der Grand Opéra de Paris drohte<br />
1841 daran zu scheitern, dass die Oper mit ihren gesprochenen Dialogen<br />
zwischen den Gesangstexten im französischen Sinn eine „Opéra comique“<br />
ist, die Konventionen der „Grand Opéra“ dagegen fordern, dass jedes<br />
Wort der „tragédie lyrique“ gesungen wird, wie Hector Berlioz in seinen<br />
„Mémoires“ schreibt. Daher habe er den Auftrag angenommen, zusammen<br />
mit Emilien Pacini, der eine <strong>neue</strong> Übersetzung erstellte, eine Neufassung<br />
der Oper zu machen, wobei er alle gesprochenen Dialoge durch<br />
neu komponierte Rezitative ersetzte. Ein weiterer Grund für seine Mitarbeit<br />
war seine Wut über die Verstümmelung und Verfälschung der von<br />
Castil-Blaze erstellten und 1824 am Pariser Théatre de l’Odéon aufgeführten;<br />
französischen Bearbeitung des Freischütz unter dem irreführenden<br />
Titel „Robin de Bois“, die zuerst vom Publikum ausgebuht wurde,<br />
„<strong>Der</strong> Freischütz“ auf der Freitreppe (© Opéra de Nice/Jaussein)<br />
dann aber als „komische“ Oper einen riesigen Erfolg hatte. Außer den Rezitativen<br />
forderte die Tradition der „Grand Opéra“ auch ein Ballett – dafür<br />
diente Webers „Aufforderung zum Tanz“, die von Hector Berlioz arrangiert<br />
und orchestriert wurde.<br />
<strong>Der</strong> „Freischütz“ muss die Lieblingsoper meiner Eltern gewesen sein, denn<br />
ich erinnere mich heute an alle Texte und Melodien, ich bin sozusagen<br />
mit dem Wald, den mein Vater so liebte und in den er mich immer wieder<br />
führte, und mit der Oper, die den Wald verherrlicht, aufgewachsen.<br />
So saß ich etwas ratlos vor der großen, mit einer Art Moosteppich bedeckten<br />
Treppe, die mein geliebter „Wald“ sein sollte, und alle mir so vertrauten<br />
Arientexte hörten sich auf Französisch ganz anders an, es fehlte der<br />
„Schwung“, der Rhythmus der deutschen Verse, die „Natürlichkeit“. Das<br />
wie immer hervorragend spielende Orchestre philharmonique unter seinem<br />
Chef Philippe Auguin, der sich bemühte, die jeweils auf einem anderen<br />
entfernten Punkt der Treppe agierenden Sänger im Auge zu behalten,<br />
taten ihr Bestes. <strong>Der</strong> riesige Chor der Opéra de Nice, wieder hervorragend<br />
einstudiert von Giulio Magnanini), war malerisch über die Länge<br />
und Breite der Treppe verteilt, man sah jeden einzelnen Sänger, sie sangen<br />
sehr exakt und trugen blau-grüne Jägerkleidung, manche Lederhosen<br />
(Kostüme: Pierre Albert). In der Mitte wurde der „Meisterschütze“ Kilian<br />
(der Bassist Richard Rittelmann) gefeiert. Inzwischen erschien der etwas<br />
füllige Max, dargestellt von Bernhard Berchtold, in der linken obersten<br />
Ecke der Treppe, in einen langen blaugrünen Mantel gekleidet. (Da ist er<br />
noch einer von den „Guten“). Langsam steigt er die Treppe herab, in der<br />
Mitte angelangt, wird er von seinen Kumpanen ausgespottet. <strong>Der</strong> Förster<br />
Kuno (Stephen Bronk) erklärt ihm, dass er ihm seine ihm versprochene<br />
Tochter Agathe nicht zur Frau geben könne, wenn er am nächsten<br />
Tag beim „Probeschuss“ nicht trifft. So bewegt sich der verzweifelte<br />
Max immer weiter abwärts auf der Treppe, bis er auch von seinem Jägergefährten<br />
Kaspar (hier „Gaspard“ – dargestellt vom in Nizza geborenen<br />
und am Conservatoire de Nice ausgebildeten Franck Ferrari, dem Liebling<br />
des Publikums); verspottet wird, auf der Treppe fällt und von der Fußspitze<br />
des bösen Kaspar noch ein paar Stufen weiter nach unten befördert<br />
wird, sodass er sich schon im Bereich des „Bösen“ befindet und der Versuchung<br />
erliegt, eine ihm von Kaspar geliehene „Freikugel“ zu probieren,<br />
mit der er einen Adler erlegt. Diesen bringt er in der nächsten Szene seiner<br />
Braut Agathe (Claudia Sorokina), die ihn bereits sehnlich erwartet,<br />
zusammen mit ihrer Kusine Ännchen (Hélène Corre, ausgebildet in Paris<br />
und Wien, die zu Recht schon einen gewissen Bekanntheitsgrad hat<br />
und demnächst wieder in Nizza in „Semele“zu sehen sein wird). Für die<br />
Szenen im Forsthaus wurde eine Art von aus Latten gebautem Vogelhaus<br />
vor die Treppe gehängt, in dem die Mädchen an einem Tisch sitzen, aber<br />
jederzeit nach links oder rechts auf die Treppe treten können. Gesanglich<br />
stellen diese Partien den Höhepunkt der Oper dar. Die beiden Sängerinnen<br />
meistern mit Leichtigkeit alle Schwierigkeiten, auch die Szenen mit<br />
Max sind harmonisch ausgewogen.<br />
Eine große Enttäuschung war für mich die Wolfsschlucht. Über die ganze<br />
Treppe verteilte Fackelträger vor dunklem Hintergrund, sodass man nur<br />
die flackernden Lichter sah, hatte beim ersten Anblick schon etwas Unheimliches.<br />
Als dann die Lichter verlöschten, war der Zauber vorbei. Das<br />
Gewitter war mager, ein paar Blitze, ein bisschen Donner, auch die Musik<br />
schien uninspiriert, das „Gruseln“ wollte sich nicht einstellen. Das „Bleigießen“<br />
am Fuße der Treppe erinnerte mich an Silvester, nur gab es da<br />
mehr Krach. Am Ende hatte Max vier Freikugeln und Kaspar drei, die er<br />
schleunigst verschießen musste, damit Max, der zwei Kugeln bereits verschossen<br />
hatte, für den Preis-Schuss nur mehr die siebte, die Teufelskugel<br />
übrig hatte. – In der 3. Szene des 3. Aktes füllt sich die Treppe wieder.<br />
Die Jäger sitzen in mehreren Reihen nebeneinander auf der Treppe, halten<br />
ein Bierkrügel in der Hand und bewegen es im Takt des Liedes „Was<br />
gleicht wohl auf Erden dem Jägervergnügen“ hin und her und zum Mund<br />
– so stellen sich die Franzosen die Deutschen beim Biertrinken vor (das<br />
Stück wurde auch zum 60. Jubiläum der „Jumelage“ Nizza-Nürnberg<br />
auf den Spielplan gesetzt!) Da kann man nur wegschauen. Dann kommt<br />
mehr oder weniger stückgemäß der Fürst Ottokar (Lionel Lhote) und<br />
der Probeschuss, bei dem zuerst Agathe auf die Treppe sinkt, dann sieht<br />
man Kaspar auf der Treppe, der im Sterben noch eine Weile singt und den<br />
Himmel verflucht, worauf Agathe wieder aufsteht, Max seine Verfehlung<br />
beichtet und der Eremit (Thomas Dear) von ganz oben die Treppe herabsteigt<br />
und alles zum Guten wendet.<br />
<strong>Der</strong> Applaus ist nicht überwältigend. Edith Mrazek-Sommer<br />
Monte-Carlo: „DAS RHEINGOLD“ – Pr. 19.11.<br />
In einer an Feierlichkeit kaum zu überbietenden Gala im Forum Grimaldi<br />
am Strand von Monte-Carlo fand zu Ehren seiner Durchlaucht<br />
Fürst Albert II. von Monaco am Monegassischen Nationalfeiertag die<br />
Premiere des „Rheingold“ der Opéra de Monte-Carlo statt. Fürst Albert<br />
II. erlebte sie mit seiner Frau Charlene und seiner Schwester Caroline<br />
von Hannover in der Fürstenloge.<br />
<strong>Der</strong> Generaldirektor der Opéra de Monte-Carlo, Jean-Louis Grinda, inszenierte<br />
selbst und hielt sich eng an Wagners Regieanweisungen, womit<br />
er in den von Rudy Sabougni bisweilen sehr subtil und imaginativ wirkenden<br />
Bühnenbildern ebenso fantasievolle wie einnehmende Momente<br />
erreichte. Hier ging es einmal nicht um einen <strong>neue</strong>n Deutungsversuch,<br />
bzw. einen Neudeutungsversuch. Das Regieteam wollte ganz offensichtlich<br />
die Geschichte erzählen. Dabei sollte man auch bedenken, dass das<br />
monegassische Publikum nicht allzu oft mit „Ring“-Inszenierungen in Berührung<br />
kommt, wenn es zu diesem Zweck nicht weite Reisen auf sich<br />
80 | DER NEUE MERKER 12/2013
Europa<br />
nehmen will – abgesehen vom nahen Nizza, welches vor Jahren einmal<br />
eine „Walküre“ aus Toulouse zeigte.<br />
Die dramaturgisch in diesem „Rheingold“ besonders effektvoll eingesetzte<br />
Lichtregie von Laurant Castaingt trug erheblich zur allgemein<br />
ansprechenden Optik bei. Schon zu den ersten Takten des Es-Dur Vorspiels<br />
wurde man von einem magischen, sich langsam nach oben öffnenden<br />
Lichtbogen verzaubert, der die Rheinszene in lichtem Grün mit den<br />
auf- und abschwebenden Rheintöchtern freigab, als fände das alles wirklich<br />
unter Wasser statt. Das war zwar konventionell, aber mit den modernen<br />
Mitteln der heutigen Theatertechnik raffiniert und ungemein suggestiv<br />
gemacht. Ähnliches Flair strahlte auch die Szene auf Bergeshöhen<br />
aus, zu der man mit geschickter theatralischer Suggestion aus dem Wasser<br />
regelrecht in höchste Höhen hinaufgeführt wurde und die schließlich<br />
auf der Wasseroberfläche des Rheins spielt („Falsch und feig, was dort oben<br />
sich freut…“). Hinter einem rechteckigen Gerüst, wohl noch die Bauphase<br />
der Burg andeutend, gewahrte man schemenhaft eine riesige Burg, ohne<br />
dass dies auch nur ansatzweise kitschig wirkte. Im Finale wurde ein riesiger<br />
Stahlbogen herunter gelassen, auf dem die Götter gemächlich – und<br />
man glaubt es kaum – auch in den Regenbogenfarben gen Walhall schreiten.<br />
Dazu bemühte Grinda immer wieder den ebenso alten wie bewährten<br />
Bühnennebel… Reizvoll war auch, wie über der Szene – „Das Rheingold“<br />
spielt sich ja bekanntlich an einem einzigen Tag ab – langsam aber<br />
sicher die Sonne aufgeht.<br />
Das durchwegs gefällige Bühnenbild mit seinen zeitweise faszinierenden<br />
Verwandlungen bei ständig offenem Vorhang hätte dramaturgisch allerdings<br />
weitaus intensiver gewirkt, wenn Grinda mehr Wert auf eine intensivere<br />
Personenregie gelegt hätte. Hier haperte es. Bisweilen musste man<br />
gar Rampensingen ertragen. Sicher ließe sich hiermit das Geschehen auf<br />
der Bühne noch erheblich intensivieren. Zuviel Statik schadet sogar auch<br />
dem an sich äußerst lebhaften „Rheingold“. Das übertriebene Gegacker der<br />
Rheintöchter war jedenfalls keine Alternative. Auch die Goldgewinnung<br />
Alberichs lief zu unspektakulär ab – es fehlte einfach der letzte Biss! Und<br />
seine Verwandlungskünste hielten sich auch in engen Grenzen. Dafür waren<br />
die eleganten und akzentuiert auf Noblesse gestylten sowie absolut geschmacksicheren<br />
Kostüme von Jorge Jara ein Blickpunkt der Produktion.<br />
Egils Silins sang einen klangvollen Wotan, und es scheint, als habe sein<br />
edler Bassbariton bei weiterhin sehr guter Höhe etwas an Tiefe gewonnen.<br />
Sicher zählt er mittlerweile zu den besten Rollenvertretern des Wotan<br />
und Wanderer. Aber auch bei ihm hätte etwas mehr Engagement im<br />
Spiel gut getan. Andreas Conrad sang mit seinem kernigen, sicher geführten<br />
Tenor einen agilen Loge. Rodolphe Briand war ein ausgezeichneter<br />
Mime mit Charakterfach-Qualität und bester Diktion. Ganz hervorragend<br />
sang Elzbieta Ardam die Erda mit dramatischem Aplomb und bester<br />
Diktion – eine wirklich große Stimme! Sogar der Froh war mit William<br />
Joyner einmal bestens besetzt. Und die Weimarer Sieglinde sowie<br />
Salome von Monte-Carlo und Genf, Nicola Beller Carbone, war ganz<br />
sicher eine Luxusbesetzung für die Freia. Auch der Fafner von Stehen<br />
Humes konnte mit seinem hellen Bass gefallen. <strong>Der</strong> Donner von Trevor<br />
Scheunemann blieb unauffällig. Die drei Rheintöchter Eleonore Marguerre<br />
(Woglinde), Linda Sommerhage (Wellgunde) und Stine Maria<br />
Fischer (Flosshilde) sangen zwar etwas hell, aber dennoch ansprechend.<br />
Auf der Schattenseite des Sängerensembles standen die Fricka von Natascha<br />
Petrinsky, früher immer eine gute Flosshilde, hier aber mit einem<br />
unüberhörbaren Vibrato. Peter Sidhom war ein immer wieder zu stark<br />
deklamierender Alberich, konnte sich aber im 3. Bild vokal besser präsentieren.<br />
Zum Ende seines Fluches auf den Ring ließ Grinda ihn sich<br />
in ultimativer Verzweiflung das Gesicht aufschneiden – ein dramatischer<br />
Abgang, der jedoch nicht ganz in die allgemeine Ästhetik passte. <strong>Der</strong> Fasolt<br />
von Frode Olsen, seines Zeichens immerhin einmal Wotan, klang<br />
rau und farblos, bei zu wenig Resonanz.<br />
Gianluigi Gelmetti konnte mit dem Philharmonischen Orchester von<br />
Monte-Carlo, welches über keine große Wagner-Erfahrung verfügt, ein<br />
beachtliches musikalisches Ergebnis erzielen. Es entstand im weiten Graben<br />
des Grimaldi-Forums ein weitgehend homogenes und in den entsprechenden<br />
Szenen auch subtiles Klangbild. Es ist zu hoffen, dass der <strong>neue</strong><br />
monegassische „Ring“ weiter geführt wird. <br />
Klaus Billand<br />
Valencia: „DIE WALKÜRE”/„LA TRAVIATA”<br />
Palau de les Arts Reina Sofia 9. u. 10.11.<br />
Hinreißendes Bild in der Tiefe des Rheins mit den Töchtern<br />
(© Opéra de Monte-Carlo)<br />
Walküre-Finale 1.Akt (Siegmund: Nikolai Schukoff, Sieglinde: Jennifer Wilson)<br />
Das von der Finanzkrise stark gebeutelte Opernhaus der spanischen Metropole<br />
setzte zur Eröffnung der diesjährigen Saison, um dem Gedenkjahr<br />
für Verdi und Wagner gerecht zu werden, für den deutschen Komponisten<br />
das populärste Werk der von 2007 bis 2009 erarbeiteten Tetralogie<br />
und für den Italiener die die populäre „Trilogie“ beschließende Oper an,<br />
letztere als Übernahme aus Amsterdam, basierend auf der Originalproduktion<br />
der Salzburger Festspiele.<br />
Die Produktion der Wagner-Oper in der Auslegung der Fura dels Baus<br />
unter Leitung von Carlus Padrissa (s. Besprechung „<strong>Merker</strong>“ 6/2007)<br />
wurde von Allex Aguilera sorgfältig betreut und machte in ihren Bildern<br />
von Hundings roher Behausung über die auf Kränen auf- und niederschwebenden<br />
Götter und Walküren bis zu einem poetisch gelösten Feuerzauber,<br />
bei dem Fackeln von Hand zu Hand gehen, wieder großen Eindruck.<br />
Am allermeisten beeindruckte aber das Orquestra de la Comunitat Valenciana,<br />
das in seinem nicht einmal zehnjährigen Bestehen zu einem<br />
Klangkörper allerersten Ranges geworden ist, der es verdient hat, von Zubin<br />
Mehta nach der Vorstellung auf die Bühne geholt zu werden. Man<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 81
Europa<br />
merkt es dem 77-jährigen Maestro an, welche Liebe er für dieses Orchester<br />
hegt, und gemeinsam zauberten sie eine Musikwelt, wie man sie sich<br />
schöner kaum vorstellen kann. Es standen allerdings auch die geeigneten<br />
Sänger zur Verfügung, um dem Werk den großen Atem einzuhauchen:<br />
Nikolai Schukoff hat nicht die Stimmfülle eines Melchior, aber genügend<br />
Material für beeindruckende Wälserufe und vor allem auch hohe Intelligenz<br />
als Interpret. Sein Siegmund war ganz der sich von seinem Dasein als<br />
„Wehwalt“ befreiende, in der Liebe zu Sieglinde über sich hinauswachsende<br />
Jüngling. Mit Heidi Melton hatte er eine wiederum recht füllige junge<br />
Amerikanerin zur Seite, deren Jubelstimme ideal für die Rolle war und<br />
Großer Jubel für alle und ein Triumph für Mehta und das Orchester.<br />
<strong>Der</strong> unermüdliche Maestro stand auch tags darauf am Pult der bekannten<br />
Produktion von Willy Decker, die hier von der Assistentin des Regisseurs,<br />
Meisje Barbara Hummel, betreut wurde. Die Salzburger Produktion, salopp<br />
als „die mit der Uhr“ bezeichnet, darf als bekannt vorausgesetzt werden,<br />
war sie doch nicht nur im Fernsehen mit der Netrebko, sondern auch<br />
in einer Übertragung aus der Met mit Natalie Dessay im Kino zu sehen.<br />
Für mich ist sie eine der überzeugendsten der letzten Jahre.<br />
Die Titelrolle wurde von der Bulgarin Sonya Yoncheva verkörpert, die<br />
2010 Plácido Domingos Operalia-Bewerb gewonnen und sehr bald eine<br />
internationale Karriere gestartet hatte (vor diesen Vorstellungen war sie<br />
„Lucia“ an der Opéra Bastille). Die Stimme wird technisch sicher und sauber<br />
geführt und hat für Violetta sowohl die Koloratur, als auch das nötige<br />
Gewicht für die lyrischen Stellen; das Timbre könnte eine Spur persönlicher<br />
sein. In der Darstellung ließ sie Netrebko nicht vermissen, denn sie<br />
brachte sowohl die lebenshungrige Halbweltdame als auch die kindlich<br />
Verliebte wie die Todgeweihte schauspielerisch überzeugend zum Ausdruck.<br />
Ihr Alfredo Ivan Magrì überzeugte mit sicherem Höhenstrahl,<br />
aber man hätte sich eine raffiniertere Phrasierung mit mehr Pianosingen<br />
und eine spontanere Darstellung gewünscht. Als Besitzer einer wahrhaft<br />
bedeutenden Baritonstimme erwies sich der junge Simone Piazzola, der<br />
sich auch als technisch versiert und mit großer Präzision singend zeigte.<br />
Allerdings muss er noch lernen, dass man heute bei Applaus nach einer<br />
Arie sich nicht flugs beim Publikum bedankt, und auch beim Schlussvorhang<br />
sollte er sich mehr Kontrolle auferlegen. Cristina Alunno ergänzte als<br />
mitleidige Annina; Maria Kosenkova (Flora), Javier Franco (Douphol)<br />
und Maurizio Lo Piccolo (D’Obigny) hatten bei dieser auf die Personen<br />
als anonyme Masse setzenden Regie keine große Chance, sich zu profilieren.<br />
Die hatte und nützte Luigi Roni als Dr. Grenvil/Tod; unangenehm<br />
fiel hingegen der Tenor von Mario Cerdá (Gaston) auf.<br />
Auch hier leistete das Orquestra de la Comunitat Valenciana unter Zubin<br />
Mehta wieder Großes, unterstützt vom wie immer ausgezeichneten<br />
Cor de la Generalitat Valenciana unter Francesc Perales. Gelobt sei auch<br />
das Ballet de la Generalitat, das die intelligente, fast furchterregende Choreographie<br />
von Athol John Farmer bestens umsetzte.<br />
Viel Jubel und Applaus auch an diesem Abend. <br />
Eva Pleus<br />
Kommt einem bekannt vor, die Dekoration ist von der Salzburger Willy-<br />
Decker-Inszenierung der gefeierten Traviata (© Tato Bareza)<br />
für die Zukunft noch einiges verspricht. Einen furchterregenden Hunding<br />
sang mit schwarzem Bass Stephen Milling. In Thomas Johannes Mayer<br />
fand sich ein interessanter, leicht aufbrausender Wotan, der weniger göttlich<br />
war als viele seiner Vorgänger, aber gerade deshalb berührte. Als authentischer<br />
Bariton tat er sich ein wenig schwer mit den Tiefen der Rolle,<br />
doch war seine Leistung insgesamt exzellent. Seine Fricka wurde von Elisabeth<br />
Kulman mit nicht ausladendem, aber gut tragendem Mezzo und<br />
einer schönen Dosis Ironie gesungen. Jennifer Wilson wiederholte ihre<br />
gesanglich untadelige Brünnhilde, der man etwas mehr Beweglichkeit gewünscht<br />
hätte (darin fand sie durch die scheußlichen Kostüme von Chu<br />
Uroz allerdings keine Unterstützung). Die Walküren Eugenia Bethencourt,<br />
Bernadette Flaitz, Julia Borchert, Pilar Vázquez, Julia Rutigliano,<br />
Patrizia Scivoletto, Nadine Weissmann und Gemma Coma-Alabert<br />
seien für ihr vokales und szenisches Engagement bedankt.<br />
Bilbao: „RIGOLETTO“ –<br />
Palacio Euskalduna Jauregia, 28.10.<br />
Es ist eigentlich erstaunlich, dass das, was das große Barcelona nicht zuwege<br />
brachte, das kleinere Bilbao schaffte: nämlich im Rahmen der 62. Spielzeit<br />
der Asociación Bilbaina de Amigos de la Ópera (ABAO) einen szenischen<br />
„Rigoletto“ auf die Bühne zu stellen. Wobei allerdings in diesem<br />
Zusammenhang fairerweise zu erwähnen ist, dass im Baskenland in einer<br />
Saison wesentlich weniger Vorstellungen geboten werden als in Katalonien.<br />
Leider war die Inszenierung Emilio Sagi, dem Direktor des Teatro Arriaga<br />
in Bilbao total misslungen, und erinnerte (auch) in ihrer Szenerie<br />
(Ricardo Sánchez Cuerda) fatal an die 1989 in Wien herausgekommene,<br />
verunglückte „Forza“-Inszenierung von Giancarlo del Monaco. Somit hässlich,<br />
unromantisch sowie unbequem für die Sänger und fast keine logisch<br />
aufgebaute, emotional glaubhafte Personenführung (Leiterin der Wiederaufnahme<br />
dieser Coproduktion mit dem Teatro Nacional São Carlos de<br />
Lisboa und Choreografie: Nuria Castejón). Die Kostüme von Miguel<br />
Crespí waren von unterschiedlicher optischer Qualität.<br />
Da der ursprünglich engagierte Daniel Oren auf vertragsbrüchige Weise<br />
einem Engagement in Japan den Vorzug gab, kam Miguel Ángel Gómez<br />
Martínez zum Zug, dessen Interpretation sicherlich mehr Zugkraft und<br />
Schlüssigkeit besaß, als jene von Oren gehabt hätte. Außerdem dirigierte<br />
er sehr sängerfreundlich und ließ alle Effekte bereitwillig zu. Das Bilbao<br />
Orkestra Sinfonikoa bot eine gediegene Leistung.<br />
Ismael Jordi verkörperte einen eleganten Duca. Man kann über das Timbre<br />
seines Tenors geteilter Meinung sein, aber wie er die Partie sang und<br />
auch in dem szenischen Torso verkörperte, das war schon erstklassig. Elena<br />
82 | DER NEUE MERKER 12/2013
Europa<br />
Mosuc debütierte in Bilbao und errang mit ihrer schönen und warmstimmigen<br />
Gilda einen großen Erfolg. Und dann agierte da noch Leo Nucci,<br />
welcher den Rigoletto in dieser Stadt (doch auf einer anderen Bühne) bereits<br />
1984 gesungen hatte, und der im April 2014 in Wien den 500.(!)<br />
Rigoletto seiner Karriere singen wird. Er war in großer Form angetreten<br />
und ließ mit langem Atem und wunderbar modulierten Phrasen Verdi<br />
ganz zu seinem Recht kommen. Dass seine acuti sensationell kamen und<br />
er als Charakter berührte, machte das Glück vollkommen.<br />
Felipe Bou, dessen Wien-Debüt 2008 als Don Basilio keinerlei Folgen<br />
nach sich zog, sang einen großartigen, markigen Sparafucile, wie man ihn<br />
heute kaum mehr zu hören bekommt. Statt der bei einem Sturz verletzten<br />
María José Montiel wurde die Maddalena von Iryna Zhytynska verkörpert.<br />
Die junge Ukrainerin verpatzte stimmlich nichts, blieb aber eher<br />
farblos. Mehr vermochte sie mit ihrem sexy Gehabe und ihren schönen<br />
Beinen als mit ihrem Gesang zu gefallen.<br />
<strong>Der</strong> Rest (Eduardo Ituarte als Borsa, José Antonio García als Monterone,<br />
Javier Galán als Marullo etc.) war einerseits nicht besonders, störte<br />
andererseits allerdings nicht, und der von Boris Dujin geleitete Coro de<br />
Ópera de Bilbao sang solide.<br />
Obwohl das Publikum von Bilbao bekanntermaßen applausfaul ist, war<br />
der Jubel nach den Aktenden doch sehr stark und zog nach dem 2. Akt<br />
sogar ein bis der „vendetta“ nach sich! <br />
Gerhard Ottinger<br />
Amsterdam: „GÖTTERDÄMMERUNG“ –<br />
WA 17.11.<br />
Mit der WA der „Götterdämmerung“ in Amsterdam aus dem Jahre 1998<br />
bewies Regisseur Pierre Audi einmal mehr, welch fantasievolles und spannungsgeladenes<br />
Wagner-Musiktheater man mit technisch neuartigen Mitteln<br />
machen kann, wenn sie sich in den Dienst der Werkaussage stellen<br />
und kein Eigenleben entwickeln, wie beispielsweise bei Peter Hall in<br />
London oder der mittlerweile schon leidig gewordenen<br />
machine von Robert Lepage an der<br />
Met. Mit der Einbettung des Orchesters in das<br />
Geschehen auf einer riesigen Ring-Bühne aus<br />
Holz und einer monumentalen Ausgestaltung<br />
des Bühnenraumes bis in höchste Höhen und<br />
Weiten, sowie den stilvoll asiatisch angehauchten<br />
Kostümen erreicht diese Produktion eine optische<br />
Dimension und Wirkung, die auch heute<br />
noch ihresgleichen suchen. Das Regiekonzept<br />
von Audi und seinem Dramaturgen Klaus Bertisch,<br />
dem Bühnenbildner George Tsypin (der<br />
2003 auch den gelungenen „ossetischen“ „Ring“<br />
in St. Petersburg ausstattete), mit den Kostümen<br />
der (bereits verstorbenen) Kostümbildnerin Eiko<br />
Ishioka und ihres Kollegen Robby Duiveman,<br />
dem Lichtdesign von Wolfgang Goebbel und<br />
Cor van den Brink sowie den Videos von Maarten<br />
van der Put konnte das Amsterdamer Publikum<br />
auch nach so langer Zeit an diesem Abend<br />
wieder begeistern.<br />
erzielen, wenn das Regieteam nicht eine ausgezeichnete Personenregie entwickelt<br />
hätte. Wie schon in der „Walküre“ im vergangenen April wirkt sie<br />
auch in der „Götterdämmerung“ nach 15 Jahren noch völlig frisch. Audi<br />
zitiert bei allem zeitlosen und klar konturierten Design mit einem relativ<br />
hohen Abstraktionsgrad immer wieder den Wagnerschen Mythos, ohne<br />
den jeder „Ring“ eigentlich blass bleiben muss.<br />
Schon der Prolog mit den Nornen hat mythische Dimensionen, die eben<br />
auch am besten zur hier erklingenden Musik passen. Sie tragen ein großes<br />
Auge auf dem Rücken, sehen also, wie Wagner es schreibt, in die Vergangenheit.<br />
Ein riesiger Balken schwebt über der Szene wie ein drohendes Damoklesschwert.<br />
Später wird er mit einigen anderen als Teil der Gibichungenhalle<br />
spektakulär Feuer fangen. Die Gibichungenszene findet durch<br />
die Bewegung der Figuren auf dem Bühnen-Ring bisweilen nahe am Parkettpublikum<br />
statt. Auch die Rheintöchter werden später hier – ebenso<br />
wie immer wieder Hagen mit seinem beängstigend wirkenden Speer aus<br />
Aluminium – direkt vor das Publikum treten. Das schafft dramaturgisch,<br />
aber auch vokal, große Direktheit im Erleben des Geschehens und damit<br />
– trotz einer gewissen Bombastik der Produktion – intime Nähe. Dieser<br />
„Ring“ ist gewissermaßen mitten unter uns und geht uns folgerichtig alle<br />
an. Mythisch verbrämt läuft auch die Nachtszene zwischen Hagen und<br />
Alberich im 2. Aufzug ab, der schließlich im Boden versinkt. Die Mannen<br />
wirken mit ihren Masken und irdenen Farben wie die große Terracotta-Armee<br />
des ersten chinesischen Kaisers Qín Shihuángdì bei der alten<br />
Kaiserstadt Xi´an. Sogar ihre versteinerte Choreografie legte diese Assoziation<br />
nahe. Hinsichtlich ihrer Funktion in der „Götterdämmerung“<br />
machte das durchaus Sinn und harmonierte bestens mit der asiatischen<br />
Ästhetik der Kostüme. Berührend gestalten Audi und sein Team Siegfrieds<br />
Sterbeszene, in der Brünnhilde in tiefem Schwarz zu ihm tritt und<br />
nach seinem Tod zum Trauermarsch selbst verzweifelt zusammenbricht.<br />
Nachdem sie in einem wallenden roten Tuch den symbolischen Feuertod<br />
erlitten hat, nehmen die Rheintöchter den Ring zurück und versenken<br />
Dieser „Ring“ spielt auf einer riesigen Holzscheibe,<br />
die stark zum Parkett hin geneigt ist und<br />
nicht nur eine interessante Choreografie (Amir<br />
Hosseinpour) sondern auch effektvolle Auf- und Abgänge ermöglicht.<br />
Das Orchester und der Dirigent sind allzeit sichtbar und werden so zum<br />
integralen Bestandteil der Produktion. Sie stören in keiner Weise den dramaturgischen<br />
Ablauf um sie herum. Es wirkt optisch wie musikalisch in<br />
der Tat wie das vom Komponisten gewünschte Gesamtkunstwerk. Regiekonzept,<br />
Bühnenbild, Kostüme und Choreografie, sowie die immer wieder<br />
faszinierend Stimmungen und Situationen intensivierende Lichtregie<br />
würden aber nicht die schon allein theatralisch beeindruckende Wirkung<br />
Die Götterdämmerung-Inszene (© Marco Borggreve)<br />
Hagen im Bühnenboden. Oben zertrümmert eine riesige Lanze die Bühnendecke<br />
und lässt Walhall explodieren. Ein eindrucksvolles Untergangsspektakel<br />
läuft ab, an dessen Ende das Rheingold in seinen aus Maschinenelementen<br />
bestehenden Einzelteilen wieder am Bühnenhintergrund<br />
erscheint. Das Spiel kann von Neuem beginnen.<br />
Auch vokal war diese Amsterdamer „Götterdämmerung“ ein wahres Erlebnis.<br />
Die <strong>neue</strong> Bayreuther Brünnhilde, Catherine Foster, präsentierte<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 83
Europa<br />
sich in Topform und war stimmlich wie darstellerisch ungemein präsent.<br />
Fast meinte man, sie sei vokal nach Bayreuth noch dramatischer geworden.<br />
Immer wieder berührte sie auch darstellerisch mit ihrer natürlichen,<br />
niemals übertriebenen Mimik. Stephen Gould als Siegfried befindet sich<br />
momentan ganz offenbar auf der Höhe seiner Wagnerschen Gesangskunst.<br />
<strong>Der</strong> Rezensent hat ihn noch nie in dieser Qualität gehört, und zwar in jeder<br />
Hinsicht: Heldentenoraler Glanz, Höhensicherheit, stimmlicher Ausdruck,<br />
Diktion und Phrasierung, aber auch feines Legato, wo erforderlich –<br />
und dazu noch ein enormes Maß an Emotionalität in der Darstellung, die<br />
stets das Menschliche in den Vordergrund stellt. Das war schlicht derzeitige<br />
Weltklasse. Offenbar arbeitet Gould seit einiger Zeit mit einem <strong>neue</strong>n Vocal<br />
Coach zusammen. Man kann sich nur freuen, diesen Siegfried momentan<br />
erleben zu können und auf seinen Tristan 2015 in Bayreuth gespannt sein.<br />
Daneben war Alejandro Marco-Buhrmester wie gewohnt ein stimmlich<br />
exzellenter Gunther mit lyrischem und stets gesangsbetontem Timbre. Er<br />
spielte auch die ganze Tragik dieser undankbaren Rolle aus. Astrid Weber<br />
als Gutrune konnte hingegen nur mit ihrer klangvollen Mittellage überzeugen,<br />
in der Höhe neigte ihr Sopran zu einigen Schärfen. Kurt Rydl<br />
war ein immer noch imposanter Hagen, wenngleich man aus rein gesanglicher<br />
Perspektive mittlerweile doch erhebliche Abstriche machen muss.<br />
Aber Rydl liegt der Hagen, er ist ihm im wahrsten Sinne des Wortes auf<br />
den Bauch geschrieben, denn dessen Blöße war hier den ganzen Abend zu<br />
sehen. Und er spielte gekonnt seine ganze Routine bei dieser so lange Jahre<br />
gesungenen Partie aus. Auch wenn Rydls profunder Bass oft zur Deklamation<br />
tendiert, ist er mit seiner schieren vokalen Kraft nahezu omnipotent<br />
und Angst einflößend – der notwendige und passende Gegenpol zu einem<br />
an diesem Abend zu erlebenden starken Siegfried. Werner Van Mechelen<br />
sang einen eindrucksvollen Alberich mit bester Höhe, perfekter Wortdeutlichkeit<br />
und intensiver Darstellung. Michaela Schuster gab wieder einmal<br />
die Waltraute mit viel Engagement, aber nicht immer ganz sitzenden Spitzentönen.<br />
Das Nornen-Terzett aus Nicole Piccolomini (Erste Norn), Barbara<br />
Senator (Zweite Norn) und Astrid Weber (Dritte Norn) sang überzeugend.<br />
Die nicht nur durch ihre nixenhaft erotisch anziehenden Kostüme<br />
attraktiv wirkenden Rheintöchter wurden von Machteld Baumans (Woglinde),<br />
Barbara Senator (Wellgunde) und Bettina Ranch (Flosshilde) mit<br />
klangvollen und kräftigen Stimmen gesungen. <strong>Der</strong> von Eberhard Friedrich<br />
(ja, dem Bayreuther Chordirektor!) einstudierte Chor der Niederländischen<br />
Oper agierte mit großer Intensität auf höchstem vokalen Nivau.<br />
Hartmut Haenchen stellte mit dem Niederländischen Philharmonischen Orchester<br />
einmal mehr unter Beweis, dass er zu den profiliertesten Wagner-Dirigenten<br />
unserer Tage gehört. Er dokumentierte seine große Affinität für Wagners<br />
Musik und leitete das Orchester mit viel Verve und Impetus. Dies war eine<br />
musikalische Darbietung von Festspielniveau. Alles stimmte, die Dynamik, die<br />
Rücksicht auf die SängerInnen und die Harmonie zwischen Musik und dem<br />
Bühnengeschehen, was umso nachvollziehbar gelang, als beide gewissermaßen<br />
auf Augenhöhe nebeneinander agierten. Und die Blechbläser waren, nicht zuletzt<br />
mit perfekten Hornrufen im 3. Aufzug, in Topform – sicher auch Ausdruck<br />
des allgemein feststellbaren hohen Begeisterungsgrades aller Musiker dieses<br />
hervorragenden Klangkörpers. Es war ein Fest – ein Fest der Sinne…! Die<br />
Niederländische Oper hat mit diesem sehenswerten „Ring“ dem Bayreuther<br />
Meister in seinem Jubiläumsjahr standesgemäß die Ehre erwiesen. Klaus Billand<br />
London:<br />
English National Opera: “THE MAGIC FLUTE” – 7.11.<br />
Simon McBurney, director of Complicite, an innovative theatre company<br />
of a distinguished 30 years activity, launched this production last<br />
year in the Netherlands with success. Something must have been lost in<br />
its London appearance, providing an un-magical and colourless evening.<br />
The acting area, designer Michael Levine, is mostly a suspended platform,<br />
the scenery either drawn or modelled in a booth to the left of the<br />
stage and projected onto the acting area, the Speaker (Sprecher) nearly<br />
invisible behind the gauzes, although the water trial was nicely achieved<br />
by flying the two singers behind a water projection, video by Finn Ross.<br />
Costumes by Nicky Gillibrand did little to enliven the scene, a drab grey<br />
for the chorus, and little colour elsewhere. Lots of dialogue, in translation<br />
by Stephen Jeffreys neither poetic nor colloquial, amplified from a booth<br />
to the right against a sound-track of birdsong for Papageno and imposing<br />
crashes of the temple doors, proved a complete mis-match for the live<br />
natural and modest sound from most of the singers, sound design Gareth<br />
Fry. The whole was rendered difficult for conductor Gergely Madaras<br />
by having the orchestra raised to near stage level, with the ensuing<br />
problems of orchestral balance and caring for the voices. The flute and<br />
bells were handed down to be played when appropriate in the orchestra.<br />
Ben Johnson gave a solidly sung Tamino, his Pamina Devon Guthrie light<br />
of voice but rising well enough to her key moments. The usually admirable<br />
Roland Wood found little fun in Papageno, until joined by Mary Bevan’s<br />
sparky Papagena. Cornelia Gotz had the spitzentone for the Queen,<br />
but little lower down the stave (she suffered most with the comparison of<br />
her amplified dialogue). James Creswell was wary of his lower tones, Steven<br />
Page’s Speaker hampered by the production and Brian Galliford an<br />
unpleasing Monostatos in all respects. The Ladies in army fatigues were<br />
squally, the Boys, here emaciated little old men, excellent. Stephen Mead<br />
Istanbul:<br />
Das Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra<br />
spielt Wagner – 7.11.<br />
Das war ein ganz besonderer Tag bzw. Abend in der Geschichte der Wagner-Rezeption<br />
in der Türkei: Zum ersten Mal überhaupt wurden Auszüge<br />
aus seinem „Ring des Nibelungen“ konzertant mit Singstimmen in einem<br />
öffentlichen Konzert gegeben, und zwar vom renommierten Borusan<br />
Istanbul Philharmonic Orchestra in Istanbul. Das von dem in der<br />
Erdöl- und Autoindustrie tätigen privaten türkischen Konzern Borusan<br />
im Rahmen seines Borusan Culture and Arts Programms finanzierte Orchester<br />
feiert in diesem Jahr sein 15jähriges Bestehen. Es steht unter der<br />
Leitung des Künstlerischen Direktors und Chefdirigenten Sascha Goetzel<br />
und gab vor 15 Jahren sein erstes Konzert im Yildice Palace Arsenal<br />
unter der Leitung von Gürer Aykal, der heute sein Ehrendirigent ist.<br />
Aykal, überwiegend in den USA musikalisch tätig, leitete auch dieses erste<br />
ausschließlich Wagners „Ring“ gewidmete Konzert mit zwei Solisten der<br />
Staatsoper Istanbul im modernen, fast 2.000 Plätze und sehr gut besetzten<br />
Anadolu Auditorium von Istanbul. Natürlich stand dieses Konzert<br />
im Zusammenhang mit Wagners 200. Geburtstag. Gürer Aykal ließ in einem<br />
Interview im Rahmen der Proben jedoch erkennen, dass er ein großer<br />
Verehrer der Wagnerschen Musik ist und es ihm ein ganz besonderes Anliegen<br />
war, diese in der Türkei noch nie öffentlich aufgeführten Auszüge<br />
aus dem „Ring“ einmal einem größeren Publikum vorzustellen, und zwar<br />
in chronologischer Reihenfolge von „Rheingold“ bis „Götterdämmerung“.<br />
So kam es zu einer ganz und gar ungewöhnlichen Rollenverteilung insbesondere<br />
für Ünüsan Kuloglu, einem in der Türkei und auch in Westeuropa<br />
tätigen Heldentenor, den der Rezensent bereits 2012 im anatolischen<br />
Aspendos als Tannhäuser in einer Peter Lehmann Produktion und diesen<br />
Sommer beim Meisterkurs von Petra Lang in Bayreuth erleben konnte,<br />
sowie dem Bassisten Tunkay Kurtoglu. Beide bestritten den vokalen Teil.<br />
So sang Kuloglu zunächst den Loge mit „Immer ist Undank Loges<br />
Lohn…“, dann Siegmund mit den Wälse-Rufen, um darauf mit „Winterstürme<br />
wichen dem Wonnemond“ und der Schwertgewinnung „Siegmund<br />
heiß ich und Siegmund bin ich…“ zu begeistern. Nach der Pause<br />
ging es für ihn mit dem „Siegfried“-Mime (!) in der Wissenswette weiter,<br />
gefolgt von „Nothung, Nothung! Neidliches Schwert!“ und den Schmiedeliedern<br />
„Hoho! Hoho! Hohei! Schmiede, mein Hammer, ein hartes<br />
Schwert!“. Kuloglu kam schließlich mit „Brünnhilde, heilige Braut“ ans<br />
Ende dieses „Ring“-Tenor Parforce-Ritts, der wohl seinesgleichen sucht…<br />
84 | DER NEUE MERKER 12/2013
Europa<br />
Tunkay Kurtoglu begann mit dem Wotan-Monolog. Abendlich strahlt der<br />
Sonne Auge“ und sang daraufhin Wotans Abschied. Nach der Pause gab<br />
er den Wanderer in der komplett gesungenen Wissenswette und schlüpfte<br />
schließlich in die Rolle des Hagen mit dessen Wacht.<br />
Den Loge singt Kuloglu mit viel tenoralem Schmelz und Farbe – gut gelingen<br />
die langen Bögen der Erzählung. Kräftig und dramatisch ertönen seine<br />
Wälse-Rufe, während er bei den „Winterstürmen“ die ganze Emotionalität<br />
und Lyrik dieses Liebeslieds entfaltet. Stets merkt man bei Kuloglu, der auch<br />
sehr gut deutsch spricht, dass er weiß, was er singt. Obwohl der Mime kaum<br />
seine Lage ist, beeindruckt, wie sehr er in der Wissenswette seine Wandlungsfähigkeit<br />
vom strahlenden Helden zum hadernden kleinlichen Zwerg unter<br />
Beweis stellt. Lediglich zu Beginn verfällt er hier in etwas zu starkes Deklamieren,<br />
sicher dem speziellen Ausdruck des Mime geschuldet. Kuloglu bringt aber<br />
starke schauspielerische Elemente in den Vortrag ein. „Nothung! Nothung!<br />
Neidliches Schwert!“ gelingt dann wieder sehr expressiv mit blendender heldentenoraler<br />
Höhe, und bei den Schmiedeliedern zeigt er viel Lebhaftigkeit<br />
im stimmlichen und spielerischen Ausdruck. Das Finale mit Siegfrieds Tod<br />
gerät Kuloglu berührend und wird mit seiner gefühlvollen, lyrisch timbrierten<br />
Phrasierung zu einem der Höhepunkte des Abends.<br />
Tunkay Kurtoglu, den der Rezensent noch im vergangenen Juli beim Istanbul<br />
Opernfestival am Tokapi als Osmin in der „Entführung“ erleben konnte,<br />
singt den Wotan mit einer vornehmlich gesanglichen Note mit seinem farbigen<br />
Bassbariton, mit dem der Sänger bestens intoniert und phrasiert. Was<br />
eventuell hier und da an Dramatik im stimmlichen Ausdruck fehlt, wird<br />
überzeugend durch die gesangliche Linienführung mit großer Wärme im<br />
Stimmklang wettgemacht. Dazu kommt auch viel Würde im Vortrag, die<br />
Kurtoglu besonders als Wanderer zugutekommt, wo er die geforderten langen<br />
Bögen klangvoll und souverän intoniert. Es ergibt sich damit ein auch<br />
dramaturgisch überzeugender Kontrast zwischen seinem Wanderer und dem<br />
Mime von Kuloglu in der Wissenswette. Als Hagen kann Kurtoglu schließlich<br />
seine profunde und dennoch klanglich stets überzeugende Tiefe ausloten<br />
und der düsteren Wacht emotionale Facetten abgewinnen. Beide Sänger<br />
haben ganz offenbar ein riesiges Potenzial für Wagner-Gesang.<br />
Gürer Aykal führte die Qualitäten des Borusan Istanbul Philharmonic<br />
Orchestra auch noch in zwei rein konzertanten Stücken vor, und zwar mit<br />
„Siegfrieds Rheinfahrt“ und dem Trauermarsch aus der „Götterdämmerung“.<br />
Wie gut das Ensemble diese Orchesterzwischenstücke spielte, wenn<br />
man von einigen kleineren Unebenheiten einmal absehen will, ist umso verwunderlicher,<br />
als man für das ganze Konzert lediglich drei Probentage hatte!<br />
Leider konnte man keine Wagnertuben bekommen, was der Begeisterung<br />
der ganz überwiegend sehr jungen Musiker aber keinen Abbruch tat. Was<br />
Aykal dieses Konzert bedeutete, offenbarte er in einem kurzen Moment des<br />
Innehaltens, in dem er sich zum überraschten Publikum wandte und sagte:<br />
„Ich danke Ihnen, dass Sie heute Abend hier sind und diese Musik hören. Das<br />
ist sehr wichtig für uns!“ Wer die Lage der Oper in der Türkei kennt, wusste<br />
wie das gemeint war… Ein denkwürdiges Konzert! Klaus Billand<br />
Interview mit Maestro Gürer Aykal,<br />
Ehrendirigent des Borusan Istanbul Philharmonic<br />
Orchestra – 6.11.<br />
Anlässlich meiner Einladung zu diesem Konzert führte ich ein Interview<br />
mit seinem Ehrendirigent Gürer Aykal. Das renommierte Orchester feiert<br />
in diesem Jahr sein 15jähriges Bestehen. Es gab vor 15 Jahren sein erstes<br />
Konzert im Yildice Palace Arsenal unter der Leitung von Aykal, der dem<br />
Ensemble seither auf engste Weise verbunden ist und in dieser Zeit viele<br />
junge Musiker gefördert hat. (Siehe auch die Rezension in diesem Heft).<br />
Die Idee des Interviews war es, mit Maestro Aykal über die derzeitige Situation<br />
der Oper in der Türkei zu sprechen. Man muss das auch vor dem<br />
Hintergrund sehen, dass die vor Leben nur so sprudelnde, fast 15 Millionen-Metropole<br />
Istanbul lediglich ein kleines altes Musiktheater aus dem<br />
Jahre 1927, im Jahre 2007 als Opernhaus wiedereröffnet, auf der asiatischen<br />
Seite Üsküdar im Stadtteil Kadikoy besitzt, das Kadikoy Süreyya<br />
Opernhaus. Es hat gerade einmal 570 Plätze, führt aber von Oktober bis<br />
Mai ein recht interessantes Programm auf. Das große Istanbuler Opernhaus<br />
der Istanbul Staatsoper und Staatsballett mit über 1.300 Plätzen<br />
liegt seit Jahren als Bauruine in der Nähe des Taksim-Platzes. Es gibt offenbar<br />
keine konkrete staatliche Initiative oder Unterstützung, das Haus<br />
wieder herzustellen und damit ein der Größe der Stadt entsprechendes<br />
Opernhaus zu realisieren.<br />
So wird das Interview mit Gürer Aykal schnell zu einem Plädoyer für die<br />
Förderung der Oper in der Türkei. Er holt hierfür zu einem hochinteressanten<br />
historischen Diskurs aus. Als Mustafa Kemal, Staatsgründer der<br />
heutigen Türkei, der 1934 vom türkischen Parlament den Nachnamen<br />
Atatürk (Vater der Türken) erhielt, im Jahre 1913 an der osmanischen<br />
Botschaft in Bulgarien als Militärattaché akkreditiert war, erlebte er an<br />
der Nationaloper von Sofia zum ersten Mal eine Oper. Er soll so beeindruckt<br />
von der Qualität der Aufführung gewesen sein, dass er verstanden<br />
haben will, warum die Türkei die Schlacht am Balkan verloren habe. Er<br />
plante für den Fall der Gründung der Türkischen Republik, die bekanntlich<br />
im Oktober 1923 erfolgte, eine unmittelbar sich anschließende Revolution<br />
der Kunst in der Türkei. Bereits im Jahre 1924 verlegte Mustafa<br />
Kemal das bestehende Orchester vom Serail/Topkapi in Istanbul nach Ankara<br />
mit der Verpflichtung, ab nun für die Öffentlichkeit Konzerte zu veranstalten.<br />
Er nannte das Orchester in „Präsidiales Symphonieorchester“<br />
um, um ihm so größere Aufmerksamkeit und Bedeutung zu verleihen.<br />
Dann gründete Mustafa Kemal eine Schule für die Ausbildung von Musiklehrern.<br />
Dazu kamen auch bekannte deutsche Musiker ins Land, im<br />
Wesentlichen vor 1936, unter anderen auch Wilhelm Furtwängler. Sie<br />
zogen andere Musiker nach, wie Paul Hindemith oder Carl Ebert, der<br />
1939 kam und in leitender Position an der Gründung des Konservatoriums<br />
und der Oper in Ankara beteiligt war. All das spielte sich nun in Ankara,<br />
der Hauptstadt und dem politischen Zentrum des Landes, ab. Mit<br />
dem Brustton der Überzeugung meint Gürer Aykal: „If a nation does not<br />
have any relation to art the main vessel is corrupted!“<br />
In derselben Zeit bat Mustafa Kemal alle Musiker, die daran Interesse hatten,<br />
nach Anatolien zu gehen und die Volksmusik aufzunehmen und sie<br />
mit den modernsten Mitteln der Kompositionstechnik niederzuschreiben.<br />
Komponisten wie A. A. Saygun, U. C. Erkin und sogar Bela Bartók<br />
gingen auf diese Wiese nach Anatolien. Ziel war es, der Welt das Potenzial<br />
der türkischen Folklore bekannt zu machen. Im Zuge dieser von<br />
Kemal eingeleiteten Revolution der Kunst beauftragte er A. A. Saygun,<br />
die erste türkische Oper zu komponieren. Er lud den Schah von Persien<br />
zur Uraufführung ein, auch um die guten Beziehungen zwischen Persien<br />
und der Türkei zu dokumentieren. Da war am 18. Juni 1934. <strong>Der</strong> Schah<br />
war äußerst beeindruckt, zumal sie in Persien keine Oper hatten. Kemal<br />
Mustafa soll ihm daraufhin sinngemäß gesagt haben: „<strong>Der</strong> Unterschied<br />
von einem Land zum anderen liegt in seiner Sensibilität für Musik, welche<br />
es zu einem entwickelten Land macht – (im emotionalen Sinne).“ Atatürk<br />
ließ in der Folge türkische Musik komponieren und forderte die Leute auf,<br />
auch die traditionelle Musik weiter zu entwickeln, sich dabei aber nicht<br />
zu wiederholen. Das brachte ihm offenbar auch Sympathieverluste ein.<br />
„Nach Atatürks Tod im Jahre 1938 versuchten einige seiner Gegner, die<br />
Kunstrevolution sofort zurück zu drehen“, kommentiert Gürer Aykal mit<br />
einem Gesichtsausdruck größter Besorgnis und fügt hinzu, dass heute eine<br />
Auffassung bestehe, dass Oper, Ballett und andere Theaterformen nicht<br />
zur Lebensweise der Türkei passen. „All the art people try to fight back and<br />
many people help them in this. Let us recall that Atatürk gave voting rights<br />
to women before Finland and Switzerland. We have to work towards this<br />
direction to join the European Union – via music.” Gürer Aykal sieht sich<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 85
Europa<br />
ganz offen als Vorkämpfer für die kulturelle und völkerverbindende Rolle<br />
der klassischen Musik in der Türkei. Dies wurde auch mit seinem Kommentar<br />
zum Publikum während des Wagner-Konzerts des Borusan Istanbul<br />
Philharmonic Orchestra im Anadolu Auditorium tags darauf deutlich…<br />
Dieses Orchester hat laut Aykal aber ein treues und zahlreiches Publikum,<br />
nicht zuletzt wegen seiner hohen musikalischen Qualität und der<br />
interessanten Programme. In der Saison 2013-2014 wird man von Oktober<br />
2013 bis Mai 2014 insgesamt 13 Konzerte geben und im Dezember<br />
2013 ein Beethoven-Festival – unter anderen mit Rudolf Buchbinder,<br />
der alle Klavier-Sonaten spielen wird. In der Konzertreihe kamen bzw.<br />
kommen Größen wie Roberto Alagna, Murray Perahia, Alexander Gavrylyuk,<br />
Markus Schirmer et al. sowie der Salzburg Bach Chor nach Istanbul.<br />
Allgemein gibt es in der Türkei sechs Opern-Ensembles, die derzeit<br />
im Schnitt jede Woche etwa drei Opern und ein Ballett aufführen, i. e.<br />
Ankara, Antalya, Istanbul, Izmir, Mersin und Samsun.<br />
(Das Interview wurde auf Englisch und teilweise Türkisch mit Dolmetschung<br />
geführt). <br />
Klaus Billand<br />
Kiew: „MADAMA BUTTERFLY“ – Taras Shevchenko<br />
Ukraine National Opera Kiew 1.11.<br />
Die Geburtsstunde der Kiewer Oper war das Jahr 1867. Das alte hölzerne<br />
Opernhaus brannte jedoch schon 1896 ab und so wurde in den Jahren 1898<br />
bis 1901 ein <strong>neue</strong>s steinernes Stadttheater nach den Plänen des deutsch-baltischen<br />
Baumeisters Viktor Schröter (1839-1901) in einer Mischung aus<br />
Barock und Neuromantik und einer prächtig verzierten Fassade im Stil der<br />
Neorenaissance errichtet. 1897 erhielt Schröters Arbeit in einem internationalen<br />
Wettbewerb den 1. Preis. Seit 1939 trägt das Opernhaus den Namen<br />
des bedeutendsten ukrainischen Lyrikers, Taras Shevchenko (1814-1861),<br />
dessen Büste über dem Eingang angebracht ist. 1988 wurde das Theater renoviert<br />
und nun finden bis zu 1650 Besucher auf fünf Rängen Platz.<br />
Von den Eintrittspreisen kann man hier zu Lande nur träumen. Die teuerste<br />
Karte kostet 200 Griwna (etwa 21 Euro), die billigste 10 Griwna<br />
(etwa 1,10 Euro). Das reich bebilderte Programmheft 10 Griwna. Allerdings<br />
sind die Namen der Mitwirkenden nur in ukrainischer Sprache<br />
angeführt, weshalb ich gleich vorweg Abbitte für etwaige Fehler in der<br />
Transkription leisten möchte. Dafür findet sich aber eine englische Inhaltangabe<br />
für ausländische, des Werkes unkundige Besucher. Und oberhalb<br />
der Bühne rechts werden ukrainische Übertitel eingeblendet. Gespielt<br />
wurde die dreiaktige Fassung in italienischer Sprache. Beginn ist um 19<br />
Uhr. Und die letzten Besucher betreten noch etwa 25 Minuten nach Beginn<br />
der Vorstellung ungeniert den Zuschauerraum.<br />
Mir wurde erklärt, dass viele Besucher aus den Vororten kommen würden und<br />
im Stau steckten. Außerdem würde ein Arbeitgeber sie wegen eines Theaterbesuches<br />
nicht früher entlassen. Ich wollte dieses Problem nicht weiter vertiefen.<br />
Andere Länder, andere Sitten. Überraschend aber die Begeisterungsfähigkeit<br />
des Publikums. Da wurde bereits nach dem Liebesduett „Vogliatemi bene,<br />
un bene piccolino“ im 1.Akt heftig applaudiert und Bravo gerufen. Und auch<br />
die Arie „Un bel di vedremo“, die den Höhepunkt des 2. Aktes bildet, und in<br />
der sich Butterfly die lang ersehnte Rückkehr ihres Ehemannes ausmalt, rief<br />
einen Begeisterungssturm hervor und ließ so manches Auge feucht werden.<br />
Puccini ist nicht umsonst ein Meister tränenreicher Melodien.<br />
Im Programmheft findet sich leider keinerlei Hinweis, aus welchem Jahr<br />
die vorliegende Inszenierung stammt. Das Bühnenbild ist japanisch historisierend<br />
mit einem Pavillon zur rechten und einer kleinen stegartigen<br />
Brücke zur Linken. Als Regisseurin scheint Irina Molostowa auf.<br />
Aus dem Orchestergraben drang ein schwelgerischer Puccini-Sound, der,<br />
mit reichlichem Schmelz versehen, die Zuschauer und den Rezensenten<br />
begeisterte. Verantwortlich für diesen in musikalischer Hinsicht gelungenen<br />
Abend war entweder Oleg Rjabow oder Olexander Barwinsky -<br />
das Programmheft nennt zwei Dirigenten, die offenbar alternierend die<br />
musikalische Leitung haben,<br />
Mag man auch bekritteln, dass die Chorsänger japanisch gekleidet, aber keineswegs<br />
solcherart geschminkt waren, so gebührt dem Chorleiter Lew Wenediktow<br />
doch großes Lob für die gute Einstudierung. Natürlich werden Puristen<br />
an der italienischen Aussprache hie und da mäkeln, wenn aber an der Wiener<br />
Volksoper deutsch gesungen wird, ergeht es uns Muttersprachlern ähnlich.<br />
Das Programmheft nennt alle Künstler, die in den jeweiligen Rollen besetzt<br />
werden, und – dankenswerter Weise werden die Protagonisten des<br />
jeweiligen Abends mit einem Haken angekreuzt. Da ich die Künstler<br />
nicht kenne, muss ich mich in meinem Bericht auf die Richtigkeit der<br />
Angaben verlassen.<br />
In Tetjana Charausowa stand eine äußerst dramatische Cho-Cho-San,<br />
Geishamädchen im Haus von Marineoffizier Pinkerton in Nagasaki, auf<br />
der Bühne. Berührend einfühlsam gestaltete sie den Wandel von der naiven<br />
Geisha, die an einen Aufstieg durch die Ehe mit dem Amerikaner<br />
glaubt, bis zur bitteren Erkenntnis, dass er bereits mit einer anderen verheiratet<br />
ist und nur deshalb zurückgekehrte, um ihr beider Kind in eine<br />
gesicherte Heimat nach Amerika zu bringen. Mit ihrem wohl timbrierten<br />
Sopran gelangen ihr sowohl die zärtlich-lyrischen Phrasen als auch<br />
die dramatischen Ausbrüche. Brava! Auch die Suzuki von Natalja Kisla<br />
gefiel mit warmem Mezzosopran als aufopfernde und mitfühlende Dienerin,<br />
ebenso Ljudmila Zigan als zickige Kate Pinkerton.<br />
Weniger gefielen die Männer: Bei Andrij Romanenko als Pinkerton hatte<br />
man den Eindruck eher einen Kapitän als einen einfachen Marineleutnant<br />
der „Abraham Lincoln“ vor sich zu haben. Sein Gesang ließ zu Beginn auch<br />
keinerlei Italianità bemerken. Zu hart und schlampig wurden manche Worte<br />
ausgesprochen. Im 3. Akt steigerte er sich aber überraschender Weise, sang<br />
wie ausgewechselt und erhielt dafür auch verdienten Szenenapplaus. Konsul<br />
Sharpless wurde rollengerecht von Dmitro Grischin dargeboten. An seiner<br />
flapsigen italienischen Aussprache sollte aber auch Ruslan Tanskij als<br />
Heiratsvermittler Goro arbeiten. Darstellerisch machte er aber mit seiner<br />
Komik einiges wett. Prinz Yamadori war mit Wjatscheslaw Bassir sowohl<br />
im Auftreten als auch im Aussehen und Gesang äußerst würdevoll besetzt.<br />
Wahrlich furchterregend verfluchte Sergij Skubak als Onkel Bonze seine<br />
Nichte wegen ihres Übertritts zum christlichen Glauben. Die kleine Rolle<br />
des kaiserlichen Kommissärs erfüllte Igor Mokrenko zufriedenstellend.<br />
Auffallend an dieser Inszenierung war für mich vor allem das Finale: Als<br />
sich Butterfly mit ihrer Todesarie „Con onor muore“ hinter einem Paravent<br />
tötet und diesen umreißend schließlich tot nach vorne fällt, eilt ihr<br />
Sohn, nach dem dreimaligen „Butterfly-Ruf“ von Pinkerton, schutzsuchend<br />
in die Arme seines Vaters, den er ja eigentlich persönlich noch<br />
gar nicht kennt. Von wem die Kostüme und das Bühnenbild stammen,<br />
konnte dem ukrainischen Programmheft leider nicht entnommen werden.<br />
Ausgiebiger Applaus beendete einen gelungenen Opernabend in einem<br />
architektonisch wunderschönen Theatergebäude. Harald Lacina<br />
„CARMEN“ – 2.11. (Pr. 28.12.2001)<br />
Es ist Samstag 19 Uhr und diesmal ist das Haus fast bis auf den letzten<br />
Sitzplatz ausverkauft. Niemand kam zu spät. Das Orchester wurde diesmal<br />
von einer blonden attraktiven Dirigentin mit so viel Elan geleitet, dass ich<br />
sie zunächst für eine Französin hielt. Doch ein Blick ins Programmheft belehrte<br />
mich eines Besseren. Alla Kulbaba riss das Publikum zu solchen Begeisterungsstürmen<br />
hin, dass bereits nach dem schnellen 1. Teil der Ouvertüre<br />
applaudiert wurde. Ich saß in der ersten Reihe und konnte beobachten,<br />
dass die Dirigentin auch den Text mit den Lippen formte. <strong>Der</strong> französische<br />
Text war Letztendes aber auch die Crux des Abends. Offenbar gibt es<br />
keinen Sprachcoach an der Kiewer Oper und so wurde das französische<br />
„u“ nicht wie ein deutsches „ü“, sondern stets wie ein „ou“ ausgesprochen.<br />
Den besten Eindruck hinterließ für mich der glockenhelle Sopran der Micaëla<br />
von Tetjana Ganina. Sie könnte mit ihrer ausdrucksstarken, gut geführten<br />
Stimme jederzeit auf den großen Bühnen der Welt Furore machen.<br />
Es war eine Überraschung, ein solches Talent in Kiew zu erleben. Brava!<br />
Tetjana Piminowa erinnerte mit ihrer dunklen Stimme und im Aussehen<br />
ein wenig an Agnes Baltsa in ihrer Paraderolle als Carmen. Sie bewies auch<br />
ein großes tänzerisches Talent und bewegte sich mit wiegenden Schritten<br />
über die Bühne, wenn sie Don José umgarnte oder für ihn bei Lillas Pastia<br />
tanzte. Die Kastagnetten zu diesem Tanz wurden allerdings von einem<br />
86 | DER NEUE MERKER 12/2013
Europa<br />
Orchestermusiker gespielt. Prächtig anzuhören und anzusehen waren auch<br />
Switlana Godlewska als Frasquita und Lesja Aleksejewa als Mercédes.<br />
<strong>Der</strong> Don José von Oleg Filipenko hatte leider mehrmals Textprobleme<br />
und ließ im Lillas Pastia Bild sogar eine ganze Zeile aus. Die Stimme<br />
wurde in der Höhe auch immer verquollener und heiser, sodass er im<br />
3. Akt als indisponiert entschuldigt wurde und stattdessen Sergiu Skotscheljas<br />
als rasend eifersüchtiger abgehalfteter Sergeant einsprang und<br />
die Vorstellung rettete.<br />
Das Quintett von Carmen, Mercédes, Frasquita, Dancaïre und Remendado<br />
wurde auch besonders heftig mit Beifall akklamiert. Zu diesem Erfolg trugen<br />
neben den erwähnten Zigeunerinnen noch die beiden Schmuggler Oleksandr<br />
Bojko als Dancaïre mit behäbigem Bariton und Juri Awramtschuk<br />
als Remendado mit tenoralem Glanz nicht unwesentlich bei. Igor Jewdokimenko<br />
war ein schneidiger Torero mit schmetterndem Bariton. Kein Wunder,<br />
dass sich die rassige Carmen durch sein schneidiges Auftreten angezogen<br />
fühlte. Wasily Kolibabjuk stattete seinen Leutnant Zuniga mit einem<br />
profunden, durchdringenden Bass aus und Michailo Kirischew ergänzte<br />
das Ensemble als Sergeant Moralès mit solidem Bariton.<br />
Alle Sänger boten ihre jeweiligen Rollen mit Emphase dar. Von einem derart<br />
schwungvoll aus dem Orchestergraben erklingenden Bizet ließen sich<br />
die Künstler hörbar mitreißen.<br />
Als Regisseur nennt das Programmheft Dmitro Gnatjuk, der mit seiner<br />
stringenten Personenführung spanisches Flair lebendig werden ließ,<br />
wozu die prächtigen Kostüme von Ganna Schatjewa einen nicht unwesentlichen<br />
Anteil hatten.<br />
Zum großen Erfolg dieses Abends trug aber auch der von Anatolij Sementschuk<br />
bestens einstudierte Chor der Zigarettenarbeiterinnen bei.<br />
Ansprechend waren auch die Bühnenbilder. So sieht man im 1. Akt im<br />
Hintergrund den Hafen des Guadalquivir von Sevilla. Die Schenke von Lillas<br />
Pastia ist eine typische andalusische Taverne. Das Lager der Schmuggler<br />
in einer gebirgigen Felsschlucht wirkte dann äußerst düster und bedrohlich<br />
und der Platz vor der Arena ließ Letztere im Hintergrund nur vermuten.<br />
Nach dem Austausch des Don José-Sängers war der Abend gerettet und<br />
der Applaus verteilte sich ziemlich gleichmäßig auf alle Beteiligten. Bravorufe<br />
erhielten vor allem die Titelheldin und die Sängerin der Micaëla<br />
sowie die Dirigentin für ihre großartige Leistung. Harald Lacina<br />
MET IM KINO: Glanzlose „TOSCA“ – 9.11.<br />
Wenn das Publikum vor dem 3. Akt „Tosca“ zu flüchten beginnt, dann wird<br />
klar: Auch an der Met wird fallweise mit Wasser gekocht. Es beginnt bei der<br />
Inszenierung durch Luc Bondy (Bühne: Richard Peduzzi/Kostüme: Milena<br />
Canonero) – das Premierenpublikum buhte vehement. Geblieben ist<br />
die Kargheit einer norddeutschen Ziegelbau-Kirche, die sich im 2. Akt in<br />
ein Hinterhof-Bordell verwandelt. Nur die Engelsburg erzeugt so etwas wie<br />
Puccini-Stimmung. Aber auch der Dirigent des Abends, Riccardo Frizza,<br />
trägt samt dem Orchester der Metropolitan Opera Mitschuld am glanzlosen<br />
Output dieser Übertragung aus dem Lincoln-Center. Da auch die<br />
Sängerin der Titelpartie überfordert wirkte, verstärkte sich dieser Gesamteindruck.<br />
Patricia Racette hat eine typische US-Lokal-Karriere hinter sich.<br />
Seit Mitte der 90er-Jahre ist sie als Mimi und Alice, als Musetta oder als<br />
Butterfly an allen wichtigen amerikanischen Häusern erfolgreich engagiert.<br />
Bei der Tosca stößt sie an ihre vokalen wie schauspielerischen Grenzen. Bei<br />
den Ausbrüchen beginnt die Stimme zu „schlagen“, das Gebet wird zum<br />
„Hindernislauf“ und die Fernsehkameras entlarven eine seltsame Gleichgültigkeit<br />
gegenüber den Folter-Schreien. Auch das Verhältnis zu Scarpia<br />
ist eindimensional. Dabei sollte es auch zwischen diesen beiden „knistern“<br />
– blanke Ablehnung ist zu wenig. Allerdings ist der großgewachsene Georgier<br />
Georg Gagnidze in dieser Inszenierung ein echtes Scheusal. Brutal,<br />
sadistisch, aber auch eindimensional ist sein Scarpia.<br />
Die Lichtgestalt der Vorstellung war Roberto Alagna als Cavaradossi, der<br />
sich in Höchstform befand. Schon die erste Arie zündete, die „Vittoria!“-<br />
Rufe waren hochdramatisch und im 3. Akt konnte er seine Lyrik voll entfalten.<br />
Da in diesem 3. Akt Patricia Racette auch akustisch freier und gelöster<br />
wirkte, könnte man fast meinen: „Ende gut, alles gut“. Erwähnt<br />
werden sollen übrigens noch Richard Berstein als stimmschöner Cesare<br />
Angelotti. John Del Carlo ist ein zu wenig komischer Mesner, Edoardo<br />
Valdes ein prägnanter Spoletta.<br />
Bei der nächsten Übertragung mit „Falstaff“ wird James Levine (mit Rollstuhl)<br />
ans Pult des Met-Orchesters zurückkehren. Er fehlt wirklich – nicht<br />
nur bei dieser glanzlosen „Tosca“. Peter Dusek<br />
BUCH / Oliver Hilmes: LUDWIG II. –<br />
<strong>Der</strong> unzeitgemäße König. Verlag Siedler 2013<br />
Wer dieser Neupublikation eine brisante Neuigkeit über den mysteriösen Tod des<br />
Bayernkönigs zu entnehmen hofft, der muss enttäuscht werden. Denn da gibt’s<br />
nichts Neues zu berichten. Das Ende des Königs fällt bei den rund 400 Seiten<br />
auch etwas sparsam aus. Dagegen nicht der Weg zum tragischen Ende des Bayern-Königs.<br />
Oliver Hilmes, der uns schon viele gutare Biographien (etwa Alma<br />
Mahler, Cosima Wagner) beschert hat, konnte in bisher unzugänglichen Archiven<br />
stöbern und bisher ungesichtetes Material sichten. Egal, was nun wirklich<br />
entdeckt und was bekannt war und was auch bereits in verschiedenen Büchern<br />
von andern Autoren über den Bayernkönig publiziert wurde - Hilmes hat ein<br />
spannendes, gut lesbares Buch geschrieben.<br />
Neben vielen gut recherchierten und verwerteten Fakten schreckt Hilmes auch<br />
nicht davor zurück, Informationsmanki mit seiner eloquenten Fabulierkunst<br />
aufzufüllen. Wenn er etwa schreibt, der Minister hätte beim Lesen eines Briefes<br />
die Stirne gerunzelt, dann ist das einfach herbeifabuliert. Auch lässt sich Hilmes<br />
zu in dieser Form wohl kaum stattgefundenen Dialogszenen hinreißen. Das<br />
hat aber die Wirkung, dass Legenden manchmal wahrer sind als Tatsachen, wie<br />
wir zu wissen glauben. Mit Fingerspitzengefühl schlüsselt Hilmes das Phänomen<br />
Ludwig psychologisch in faszinierender Weise auf. Manchmal verfällt er in<br />
den Plauderton, spinnt manche Hofintrige genüsslich weiter und erreicht so den<br />
steten Fluss eines Lebensromans. Als Roman mit Fakten, wird man wohl dieses<br />
Buch bezeichnen müssen. So kann es gewesen sein und doch auch wieder nicht.<br />
Die Gewichtung der Faktenlage geht mitunter ins Anekdotische, in Hoftratsch,<br />
den Hilmes verschiedenen Hofberichten entnehmen konnte.<br />
Faszinierend zu konstatieren ist, wie sehr der preußische Reichskanzler Otto von<br />
Bismarck in die ganze Geschichte Ludwigs involviert war. Bismarck, ein schlauer<br />
Fuchs, genoss das Vertrauen des Bayernkönigs, konnte ihm so manche Wahrheit<br />
nahebringen, verstand es aber auch, ihm zu schmeicheln. Als es darum ging, dass<br />
Preußen die Kaiserkrone angetragen werden sollte, war es nur einer geschickten<br />
Manipulation Bismarcks zu verdanken, dass er Ludwig dazu bringen konnte,<br />
dies zu tun. Bismarck kannte die Verschwendungssucht des Königs, die in hohe<br />
Ausgaben und letztlich in einen Schuldenberg riesigen Ausmaßes mündete,<br />
und konnte den König dahin lenken, auf die Kaiserkrone für sich zu verzichten<br />
und sie dem preußischen Herrscher anzutragen. Das Mittel dazu hieß „Welfenfonds“,<br />
ein geheimer Fonds von nicht ganz koscherer Herkunft, den Preußen für<br />
Sonderfälle bereithielt. So erhielt der König über 6 Millionen Gulden über die<br />
Zeit seit der Reichsgründung ausbezahlt. Dabei legt Hilmes Wert auf die Feststellung,<br />
dass Ludwig nicht den Staat Bayern, sondern sich selbst im Rahmen<br />
seiner Privatschatulle, der sogenannten Zivilliste, verschuldete. Schließlich war<br />
König Ludwig nicht mehr als der Repräsentant einer konstitutionellen, parlamentarischen<br />
Monarchie, als der offizielle Etat schon längst von der Privatschatulle<br />
des König getrennt war. Als Ludwig immer mehr in die Schuldenspirale<br />
geriet und sein mehr als sonderbares Verhalten die Runde machte – entlassene<br />
Diener und andere Hofschranzen berichteten gerne in der Stadt von den Extravaganzen<br />
des unsichtbaren Königs - , sahen sich die Politiker veranlasst, diesen<br />
„Verleumdungen“ letztlich durch die Absetzung des Königs ein Ende zu setzen,<br />
da er als nicht mehr tragbar erschien. <strong>Der</strong> Arzt Dr. von Gudden, der ironischerweise<br />
von Ludwig selbst für die Pflege seines verwirrten Bruders Otto engagiert<br />
worden war, war nun das Instrument der Politiker, über Ludwig ein Gefälligkeits-Gutachten<br />
auszustellen, damit der König entmündigt und nach Schloss<br />
Berg gebracht werden konnte. Dr. van Gudden war einer der Mitbegründer der<br />
Psychiatrischen Klinik Burghölzli in Zürich, eine der modernsten Kliniken zu<br />
dieser Zeit. Dass er ein Gutachten von Ludwig verfasste, ohne den König je untersucht<br />
zu haben, wirft ein mehr als sonderbares Licht auf das ganze Verfahren<br />
um die Entmündigung und Absetzung des Königs.<br />
Hilmes zieht das doch letzlich erfreuliche Fazit, dass Richard Wagner ohne des Königs<br />
immerwährende Hilfe wohl kaum zu dieser Vollendung in seinem Werk und<br />
den Bayreuther Festspielen gelangt wäre. Und dies auch trotz der Entzweiung der<br />
beiden Freunde wegen der leidigen Affäre um die noch mit Bülow verehelichte Cosima.<br />
Auch sind die Königsschlösser zu den ertragreichsten Touristenattraktionen<br />
Bayerns geworden - übrigens gleich nach dem Tod des Königs 1886 wurden sie für<br />
die Öffentlichkeit zugänglich gemacht – und haben dem Freistaat einen wahren Goldesel<br />
beschert. Kein Wunder, dass König Ludwig II. schon wegen seiner stattlichen<br />
Erscheinung, er war 1,91 m groß und sah in seinen jüngeren Jahren blendend aus,<br />
immer noch einen Sonderstatus genießt. John H. Mueller<br />
DER NEUE MERKER 12/2013| 87
Buch/CD<br />
CD / WAGNER AT THE MET<br />
(Box mit 25 dics und 9 Opern) SONY 2013<br />
Die Metropolitan Opera New York erlebte nach dem berühmten „Golden Age“, als<br />
noch Caruso und Rose Ponselle dort auftraten, eine zweite große Epoche in den 30er,<br />
40er Jahren des 20. Jhs. Da wurde die Met ab 1933 zu einem Refugium für vertriebene<br />
und emigrierte Künstler. Doch die Met kam so zu einer Phalanx großer Sänger, die sich<br />
vor allem als Wagner-Interpreten in Europa einen Namen gemacht hatten oder sich<br />
anließen, einen solchen als Wagner-Sänger an der Met zu erwerben. Kirsten Flagstad<br />
hatte in Europa (inkl. Bayreuth) kein besonderes Aufsehen erregt und wollte eigentlich<br />
ihre Karriere beenden. Doch Alexander Kipnis (auf dieser Box leider nicht vertreten!),<br />
ebenfalls ein emigrierter Gurnemanz, Hagen und Hunding von Rang, hatte mir<br />
ihr in Norwegen im „Tristan“ gesungen und sie an die Met empfohlen. Das Vorsingen<br />
fand in der Schweiz in einem von schweren Samtvorhängen dekorierten Hotelzimmer<br />
statt. Dass ihr Debüt zu einer Sensation geriet, wobei die kommentierende Geraldine<br />
Farrar die Flagstad als „A Star is born“ bezeichnete, war eine Überraschung für alle.<br />
Schnell wurde die Flagstad mit Lauritz Melchior zum „Wagner Duo of the Century“.<br />
Davon zeugt die – meines Wissens - bisher unveröffentlichte Aufnahme der „Tristan“-<br />
Aufführung vom 16. April 1938. Diese Met-Matineen, d.h. Aufführungen an Sonntag-Nachmittagen,<br />
wurden von der Petrolfirma Texaco über die Radiostationen in<br />
ganz Amerika verbreitet und trugen so wesentlich zur Popularisierung der Kunstform<br />
Oper bei. Dieser „Tristan“ – es existiert eine ganze Reihe von „Tristan“-Aufnahmen<br />
aus der Met mit Flagstad und Melchior – ist nun ein Zeugnis der beiden Sänger im<br />
absoluten Zenit ihrer stimmlichen Möglichkeiten. Höhenprobleme, die in den späten<br />
Aufnahmen der Flagstad auf LP mitunter festzustellen sind, gibt es hier nicht.<br />
Mit einer Leichtigkeit in der Klanggebung, die in einem silbernen Strahl auf Samt<br />
gebettet ertönt, präsentiert sich die Sängerin hier als ganz große Isolde. Melchior ist<br />
auch ein „tower of strength“, wie die Amerikaner sagen würden, und die Fiebervisionen<br />
des 3. Aktes (allerdings gekürzt) bergen für ihn keinerlei Hindernisse. Artur<br />
Bodanzky war damals der musikalische Leiter des „German Wing“, also für die<br />
deutsche Oper zuständig, und dirigiert einen erstaunlich schlanken, schnellen, aber<br />
nicht überhasteten Wagner. Karin Branzell als volltönende Brangäne und der Bariton<br />
Julius Huehn, der uns auch als hervorragender Wotan noch begegnen wird,<br />
und Emanuel List runden ein fabelhaftes Wagner-Ensemble ab.<br />
Eine herrliche „Walküre“ hören wir mit Marjorie Lawrence als Sieglinde und Melchior<br />
als Siegmund mit ewig langen „Wälse-Rufen“, wiederum Flagstad als tadellose<br />
Brünnhilde und Julius Huehn als jugendlicher, fast modern anmutender Wotan.<br />
Erich Leinsdorf, damals um die dreißig, wirft sich mit Elan in die „Walküre“<br />
und sollte einer der ersten Dirigenten sein, der Wagner an der Met ohne wesentliche<br />
Kürzungen aufführte. Marjorie Lawrence begegnen wir wieder in einer „Götterdämmerung“,<br />
dirigiert von Bodanzky, in der die sportliche Reiterin auf Grane<br />
in die Flammen ritt. Eine Sensation! Tragisch, dass gerade diese Künstlerin am Polio<br />
erkrankte und nur unter Aufbieten all ihrer Kräfte und Energie wieder auftreten<br />
konnte. So wurden Opern für sie eingerichtet, in denen sie sitzend oder liegend singen<br />
konnte: Kundry, Isolde, Venus. Ihrer schlanken, jubelnden Stimme zu lauschen,<br />
ist ein Ereignis. Die Höhen kommen ganz leicht und die Mittellage ist farbig und<br />
warm timbriert. Hören wir auch mal das hohe C‘ von Siegfried im 3. Akt (Jagdszene),<br />
das wohl keiner außer Melchiorso treffsicher und glanzvoll abliefern konnte. Ludwig<br />
Hofmann ist ein gar nicht so finsterer Hagen und Friedrich Schorr, sonst der<br />
Wotan, eine Luxusbesetzung für den Gunther. Das waren noch Zeiten!<br />
Eine weitere Hochdramatische hören wir in Margareth Harshaw, die hier aber „lediglich“<br />
als Elisabeth und „Rheingold“-Fricka zugegen ist, uns aber durch ihre klare Stimme<br />
und technische Überlegenheit in ihren Bann zieht. Erstaunlich bei all den englisch-sprachigen<br />
Sängern (u.a. auch Julius Huehn, Marjorie Lawrence, die ganz junge Astrid Varnay)<br />
ist deren perfekte deutsche Aussprache. Leider fehlt in dieser Box eine Aufnahme<br />
mit der fabelhaften Helen Traubel, die unbedingt in diese repräsentative Sammlung<br />
hinein gehört hatte. Schade, vielleicht gibt’s mal eine spezielle Traubel-Edition.<br />
Die Verbindung zur nächsten Generation, also zu den frühen 50er Jahren, ist hier<br />
auch hergestellt. Das beginnt schon mit einem „Lohengrin“ von 1943, als die 25-jährige<br />
Astrid Varnay die Elsa neben Melchiors Lohengrin war. Sie sang auch, noch<br />
kurz vor ihrem Debüt in Bayreuth, im Dezember 1950 die Senta neben Hans Hotters<br />
Holländer, den Fritz Reiner dirigierte. Nicht zu vergessen: der Heldentenor<br />
Set Svanholm als Erik! In den „Meistersingern von 1953, wiederum unter Reiner,<br />
treffen wir dann auf die junge Victoria de los Angeles, wunderbar lyrisch und aufstrahlend<br />
bei „O Sachs, mein Freund“, mit dem sehr menschlich anrührenden Paul<br />
Schöffler als Sachs und dem seinerzeit am meisten engagierten Stolzing von Hans<br />
Hopf, den wir heute wohl als zu schwer in der Stimme für dieses Fach empfinden,<br />
nachdem wir Windgassen, Kollo und Vogt im Ohr haben. –<br />
So gibt es in jeder dieser 9 Live-Mitschnitte, die hier aus Platzgründen nicht alle besprochen<br />
werden können, immer wieder tolle Entdeckungen zu machen, aber auch festzustellen, dass<br />
auch in den „Golden Age of Wagnerian Singing“ ab und an mit Wasser gekocht wurde.<br />
Die historisch klingenden Aufnahmen wurden von SONY weitgehend entzerrt<br />
und technisch auf den bestmöglichen Stand gebracht. Das Ohr gewöhnt sich nach<br />
ein paar Minuten an den eingeschränkten Klang, Die Box hält als Belohnung<br />
immer wieder kleine Wunder des Wagner-Gesanges bereit! - Nicht nur für Fans<br />
historischen Opernaufnahmen zu empfehlen!<br />
John H. Mueller<br />
Buch / Berlakovich T. (ed.): Welcome, Fanny!<br />
Fanny Elßler in America – Fanny Elßler auf der Spitze<br />
um die Welt. A Viennese dances around the world.<br />
(Hg 2013 im Eigenverlag; ISBN 978-<br />
3-200-03255-2; 140 Seiten, reich bebildert).<br />
Gemeinsam mit Co-Autorin Ursula<br />
Szynkariuk veröffentlicht Toni Berlakovich<br />
anlässlich des 200. Geburtstags<br />
von Fanny Elßler ein er<strong>neue</strong>rtes<br />
und erweitertes Büchlein über die<br />
weltberühmte österreichische Tänzerin<br />
der Romantik. Da derzeit auch<br />
die 175 Jahre der diplomatischen Beziehungen<br />
Österreich – USA zelebriert<br />
werden, behandelt dieses Buch<br />
schwerpunktmäßig (mit englischer<br />
Übersetzung der Beiträge) vor allem<br />
das tänzerische Wirken von Fanny<br />
Elßler und ihre Bedeutung für die damalige<br />
Gesellschaft in Amerika. Informativ<br />
für an Ballettgeschichte Interessierten.<br />
<br />
Ira Werbowsky<br />
Kontakt:<br />
Bestellungen, Berichte, Anfragen an:<br />
Chefredakteurin Dr. Sieglinde Pfabigan, A-1210 Wien, Peitlgasse 7/3/4,<br />
Tel=Fax : +43/1-27-86-836, Online-Fax : +43/1-25330334705<br />
E-Mail: sieglinde.pfabigan@chello.at, Foto-Adresse: merkerfotos@gmail.com<br />
Im Bedarfsfall: ewald@fichtinger.com, Texte im Bedarfsfalle auch an: Regina<br />
Koller: <strong>Merker</strong>.koller@airwave.at, Tel: 0680/1404468.<br />
Telephonkontakt in Abwesenheit der Chefredakteurin:<br />
Dr. Hans Peter Nowak: Tel.+43/1/332-0838<br />
Mitteilungen für das Beiblatt:<br />
Anton Cupak, 1120 Wien, Zeleborgasse 20, Tel. +43/1/813-62-85, Fax. 813-62-854,<br />
E-mail: info@der-<strong>neue</strong>-merker.at, Neue Internet-Adresse: www.der-<strong>neue</strong>-merker.eu<br />
Kontakt für Deutschland:<br />
Udo Klebes, D-72760 Reutlingen, Freiligrathstr. 19,Tel. 07121/38-12-50,<br />
Fax.38-12-51 (privat), Dienstlich: Mo-Fr. 14-18 Uhr: 0711/602-601,<br />
Fax. 640-82-05, E-mail: u.klebes@web.de<br />
Kontakt für die Schweiz:<br />
Christian J.Huber, CH-8049 Zürich, Limmattalstr.257., Tel.=Fax: +41/44/341-45-67,<br />
E-Mail: christian.huber@swissonline.ch<br />
Mitgliedsbeitrag:<br />
Österreich: € 51,--, Schweiz: CHF 115,--, sonst. Europa: € 64,--,<br />
außereurop. Länder € 67,-- (10 Einzelhefte u. Festspieldoppelheft)<br />
Einzelheft: Österreich € 5,80, Schweiz CHF, 11,50, sonst. Europa: € 6,40<br />
Festspieldoppelheft: Österreich € 7,40, Schweiz CHF 16,--, sonst. Europa € 8,80<br />
Bankverbindungen:<br />
Österreich: <strong>Merker</strong>-Verein, Verein zur Publikation einer Opernzeitschrift,<br />
UniCredit-Bank Austria AG, BLZ 12000, Kto.Nr.: 094238029/00.<br />
Deutschland: <strong>Merker</strong>-Verein. Landesbank Baden-Württemberg,<br />
BLZ 600 501 01, Kto-Nr.292 1558.<br />
Schweiz: Christian J. Huber, PSK-No.87-601 394-2.<br />
Geldüberweisungen aus anderen Ländern über die internationale<br />
Bankverbindung: IBAN-AT06 1100 0094 2380 2900 / BIC=BKAUATWW<br />
Impressum:<br />
Herausgeber, Medieninhaber, Versand: <strong>Merker</strong>-Verein, Verein zur Publikation<br />
einer Opernzeitschrift, A-1210 Wien, Peitlgasse 7/3/4<br />
Offenlegung lt. Mediengesetz:<br />
Unabhängiges Mitteilungsblatt des <strong>Merker</strong>-Vereins. Berichte aus dem<br />
internationalen Operngeschehen (Kritik; Essays, Interviews, Spielpläne).<br />
Die Zeitschrift erscheint monatlich. Für namentlich gezeichnete Beiträge ist der<br />
Verfasser verantwortlich. Bestellung jederzeit möglich.<br />
Kündigungsfrist: 3 Monate. ISSN 1017-5202.<br />
Druck: Druckerei Piacek, 1100 Wien, Favoritner Gewerbering 19<br />
88 | DER NEUE MERKER 12/2013
Elīna Garanča:<br />
„WIRKLICH WICHTIG SIND DIE SCHUHE“ -<br />
Aufgezeichnet von Ida Metzger und Peter Dusek<br />
212 Seiten, Ecowin Verlag, 2013<br />
Früher schrieb man Memoiren, wenn man alt war. Heute tun es – vor<br />
allem in der Welt der Schauspieler, Sänger, Medienleute – bereits junge<br />
Leute, die wie Elīna Garanča das Beste noch vor sich haben (zumindest ist<br />
sie selbst davon überzeugt). Aber zugegeben, von der Karriere der 37-Jährigen<br />
gibt es bereits genug zu berichten, um ein Buch zu füllen. Ida Metzger<br />
und Peter Dusek haben aufgezeichnet, was es zu erzählen gibt.<br />
Die titelgebenden Schuhe sind für die Karriere vielleicht nicht ganz so<br />
wichtig, obwohl es eine einsichtige Anekdote darüber gibt. Wichtiger war<br />
wohl, dass die kleine Elīna Garanča aus Riga schon von Geburt an in<br />
Richtung Kultur geprägt wurde: Das erste Kapitel nennt sich „Zwischen<br />
Kuhstall und Musiksalon“, und da war der Musiksalon der Eltern schon<br />
um einiges prägender. Dass die Großeltern am Land lebten und Elina am<br />
Bauernhof den Kühen („Sie waren mein erstes Publikum“) vorspielte und<br />
vorsang, ist ihr deshalb so wichtig, weil sie stolz auf ihre lettische Herkunft<br />
ist – Tochter eines Volkes, das immer singt und tanzt, wie es heißt. Und sie<br />
möchte, dass ihre Kinder (Tochter Nr. 2 wird derzeit noch erwartet) etwas<br />
über die Welt wissen, aus der ihre Mutter herkommt. Papa Karel Mark<br />
Chichon, der in Gibraltar geboren wurde, ist eine spanisch-englische Mischung,<br />
wie es scheint. Nun, Elīna Garanča tut sich – das Leben eines<br />
Opernstars ist international – in vielen Welten und Sprachen um: Lettisch,<br />
Russisch, Deutsch, Spanisch, Englisch. Nur mit dem Französischen<br />
steht sie auf Kriegsfuss, obwohl sie doch eine berühmte Carmen ist…<br />
Die Jugend der am 16. September 1976 in Riga Geborenen war nicht<br />
leicht, denn noch war das Baltikum Teil der Sowjetunion, man lebte unter<br />
teils elenden Bedingungen, die prägten: „Diese Überlebensnot von damals<br />
gibt mir heute eine gewisse Gelassenheit, über kleine Probleme zerbreche ich<br />
mir nicht den Kopf. Unsere Generation hat gelernt: Arbeite und du wirst<br />
belohnt.“<br />
<strong>Der</strong> Weg in die Karriere war holprig, weil Elīna Garanča zwar als kleines<br />
Mädchen erklärt hatte, sie wolle Sängerin werden wie die Mama – aber als<br />
sie älter wurde, keineswegs mehr von dieser Idee besessen war. Tatsächlich<br />
wusste sie in ihrer Jugend eine zeitlang gar nicht, was sie wirklich wollte.<br />
Schauspielerin wurde nichts, Kulturmanagement auch nicht, Musikpädagogin<br />
ebenso wenig. Und die Stimme? Viele Discos und viele Zigaretten<br />
schienen da ihr Zerstörungswerk getan zu haben. Nun, um eine lange Geschichte<br />
kurz zu machen: Sie nahm doch Gesangsunterricht. Und merkte,<br />
dass ohne harte Arbeit nichts geht. Das machte ihr Mama-Gesangslehrerin<br />
auch klar.<br />
Ihre erste große Reise führte Elīna Garanča 1998 nach Wien, um dort<br />
mit ihrer rumänischen Gesangslehrerin zu arbeiten. Vielleicht stand sie<br />
am Galerie-Stehplatz neben Leuten, die ihr heute begeistert zujubeln. Sie<br />
nahm am Hans-Gabor-Gesangwettbewerb teil und wurde von Christine<br />
Mielitz nach Meiningen engagiert.<br />
Von da an kann man jeden einzelnen Auftritt der Elīna Garanča, von ersten<br />
Konzerten und ihrem Debut 1999 als Dritte Dame in Meiningen im<br />
Anhang nachlesen – Vorstellung für Vorstellung bis zum 18. August 2013,<br />
das Verdi-Requiem unter Muti in Salzburg. (Es hätte eigentlich genügt,<br />
die jeweiligen Blöcke einer Rolle zusammen zu fassen, aber immerhin haben<br />
die Herausgeber in Bienenfleiß ja auch, soweit möglich, die einzelnen<br />
Partner der Garanča angeführt.)<br />
Elīna Garanča brachte sich selbst Deutsch bei und sang sozusagen – viel zu<br />
jung, wie sie selbst wusste – auf Anhieb den Octavian. Von da an erzählt<br />
sie von Rolle zu Rolle, wie sie sich der jeweiligen Figur und den stimmlichen<br />
Anforderungen nähert. (Dass es auch noch Inhaltsangaben zu den<br />
Opern gibt, ist eigentlich nicht wirklich nötig.)<br />
Von Meiningen ging es über Frankfurt nach Wien. Das Kapitel Ioan Holender<br />
packt das Buch vorsichtig an (sie nennt ihn immerhin den „ebenso<br />
launischen wie mächtigen Operndirektor“) – man weiß, dass die beiden<br />
sich nicht auf die Dauer gut verstanden haben. Aber er gab ihr die Chance<br />
an der Wiener Staatsoper, und sie arbeitete sich hoch, von Nebenrollen<br />
(Debut als Lola in der „Cavalleria“, derzeit strebt sie für die zweite Karrierehälfte<br />
die Santuzza an) zur „Werther“-Premiere.<br />
Und auch parallel lief es dann Schlag auf Schlag: Salzburger Festspiele, Paris,<br />
Aix, Berlin, Baden-Baden…Vieles sei im Opernleben das, was sie „die<br />
Kunst des richtigen Zeitpunkts“ nennt. Etwa die zeitweise „Paarung“ mit<br />
Anna Netrebko, die dunkle Russin und die blonde Lettin, die sich so gut<br />
vermarkten ließen, nicht nur in der „Anna Bolena“ und den „Capuleti“,<br />
auch in vielen spektakulären Groß-Konzerten. Von einer privaten Freundschaft<br />
zwischen den beiden kann hingegen nicht die Rede sein.<br />
Elīna Garanča sang an der Met (debutierte als Cenerentola, obwohl Rossini<br />
ein Komponist ist, den sie nicht besonders mag), sie sang in München,<br />
in Covent Garden, nur an der Scala hat es bisher nur für Konzerte gereicht.<br />
Seit einem knappen Jahrzehnt gibt es den Dirigenten Karel Mark<br />
Chichon in ihrem Leben, den sie 2006 geheiratet hat. Offensichtlich stolz<br />
ist die Garanča auf die jährlichen Konzerte in Stift Göttweig, die sie mit<br />
ihrem Mann initiiert hat. Man versucht, zusammen zu arbeiten, erzwingt<br />
es aber nicht. Seit man eine Familie ist, hat sich der Alltag zweier reisender<br />
Künstler mit Kleinkind zu einer logistischen Herausforderung erster Ordnung<br />
verkompliziert.<br />
Sie ist eine Karriereplanerin, man sah es an ihrer Carmen, die sie 2007<br />
in Riga „ausprobierte“ und dann faktisch in jedem großen Opernhaus der<br />
Welt sang, wobei es ihr Spaß machte, in jeder Inszenierung anders auszusehen<br />
und auch zu spielen. Die erste vorgesehene Wiener „Carmen“ 2010<br />
hat Elīna Garanča „streichen müssen“ (ohne genauere Gründe anzugeben),<br />
Holender war erbost, nicht zum ersten Mal (schließlich ließ sie Ende<br />
Dezember 2008 einen Wiener „Barbier“ sausen, um am nächsten Tag ein<br />
Fernseh-Silvesterkonzert in Baden-Baden zu singen, was sie mit Krankheit<br />
entschuldigt…nicht alle Erklärungen wirken gänzlich glaubhaft). Sie sang<br />
die Carmen in Wien dann erst in der Direktion Meyer und überraschte das<br />
Publikum als kühle Blonde, der man die leidenschaftliche Zigeunerin nicht<br />
so recht abnahm…<br />
Elīna Garanča hat, als ihre Karriere gar zu stürmisch zu werden drohte,<br />
die Bremse gezogen. Brachte im September 2011 ihre Tochter Katie zur<br />
Welt, die sie von jeder Publicity fernhält. Das zweite Kind wird Ende 2013<br />
erwartet – und dann hat die Garanča einen Karriere-Schwenk ins Hochdramatische<br />
vor. Santuzza, Eboli (die sie mit Eleganz spielen möchte) und<br />
Amneris sind die Rollen, die sie sich vornimmt, obwohl sie meint, dann<br />
wahrscheinlich nur noch bis Mitte 50 singen zu können. Nun, das sind<br />
dann auch noch fast zwei Jahrzehnte – das füllt dann sicher einen nächsten<br />
Memoirenband.<br />
Dieser liest sich gut, gibt den Lebenslauf chronologisch wieder, hält aber<br />
immer wieder auch inne, um grundsätzlichen Überlegungen Platz einzuräumen.<br />
Sie erzählt beispielsweise (nicht als Erste), wie einsam das Leben<br />
eines Opernstars wochenlang in fremden Städten sein kann (im Gegensatz<br />
zu vielen Kollegen hegt sie keine Vorliebe für New York). Sie berichtet auch<br />
von künstlerischen Selbstzweifeln.<br />
Und sie legt großen Wert darauf, nicht als „Star“, sondern als ganz normale<br />
Frau zu erscheinen, die ein ganz normales Leben führt, wenn sie nicht auf<br />
der Bühne steht, die dann ins Fitness-Center geht und sich beispielsweise<br />
über ihren „grünen Daumen“ freut. Die erdverbundene „lettische Seele“ des<br />
„intellektuellen Bauernmädchens“ (Selbstdefinition) steht am Anfang und<br />
am Ende des Buchs, an dessen Nachspann man dann nur ein Personenregister<br />
schmerzlich vermisst. <br />
Renate Wagner<br />
So wird auch die Pause in der Wiener<br />
Staatsoper zu einem Genuss.<br />
Einfach online gustieren und vorbestellen.<br />
Pünktlich zu Beginn der Pause erwartet Sie<br />
Ihr kulinarischer Genuss.<br />
T +43 1 512 20 86, staatsoper@gerstner.at,<br />
A MEMBER OF<br />
www.gerstner.at<br />
www.gerstner.at
DER NEUE MERKER, Verwaltung u. Redaktion: Peitlgasse 7/3/4, A-1210 Wien