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22 Runenmagie Runenmagie 23<br />
D<br />
ie Runenreihe neigt sich ihrem Ende<br />
entgegen. In dieser Ausgabe der Damháin<br />
<strong>Alla</strong> wird es um Formen der magischen<br />
Anwendung von Runen gehen – dabei beschränken<br />
wir uns nicht nur auf praktische<br />
moderne Runenmagie, sondern beschäftigen<br />
uns auch mit den historischen Zeugnissen<br />
und Quellen, insofern diese uns Auskunft<br />
über Praktiken runischer Magie geben können.<br />
Sprechen wir heutzutage von Runenmagie,<br />
so kann es dabei natürlich nicht um eine<br />
Form historisch oder ethnologisch authentischer<br />
Magie gehen So beliebt das Wort „Rekonstruktionismus“<br />
in der neopaganen Szene<br />
auch sein mag, rekonstruieren kann man<br />
doch immer nur das, was durch Quellen zumindest<br />
annähernd belegt ist. Doch eben<br />
diese geben nicht gerade viel her - man denke<br />
nur an die ausufernde Diskussion um das<br />
Für und Wider des modernen Seydr. Zwar<br />
sind uns aus der Edda, den Sagas und auch<br />
aus archäologischen Befunden zahlreiche<br />
Zaubersprüche überliefert, doch fehlt uns oft<br />
der magisch-rituelle Kontext. Auch Vergleiche<br />
mit finno-ugrischen, slawischen und baltischen<br />
Stammesgesellschaften können in<br />
diesem Bereich nur Anhaltspunkte liefern,<br />
selten konkrete Antworten. Dies trifft auf die<br />
Runenmagie im Besonderen zu; der historische<br />
Umgang mit den Runen in der magischen<br />
Praxis bleibt uns größtenteils ein Rätsel.<br />
Wenn ich in diesem Artikel also einige<br />
Beispiele moderner Runenmagie aufzähle,<br />
so handelt es sich dabei zweifelsohne um<br />
Formen moderner Magie, die mit ihren historischen<br />
Vorbildern höchstwahrscheinlich<br />
nur noch einige wenige Berührungspunkte<br />
aufweisen.<br />
Will man die historische Bedeutung runischer<br />
Zauberei dennoch zu verstehen versuchen,<br />
muss man sich ganz allgemein über<br />
die magische Bedeutung von Schriftzeichen<br />
im Klaren sein. Galt schon das gesprochene<br />
Wort selbst als wirkmächtig, so war es das<br />
für die Ewigkeit festgehaltene Wort – also<br />
die Schrift – umso mehr. In allen frühen Kulturen<br />
galt die Schrift als magisch. In Stein<br />
gehauene Inschriften sollten die Geister der<br />
Toten davon abhalten, in die Welt der Lebenden<br />
zurückzukehren und beschriebene<br />
und vergrabene Fluchtäfelchen dienten dazu,<br />
die Wünsche und Gebete des Senders wahr<br />
werden zu lassen. Der weltbekannte Codex<br />
Hammurapi ist mehr als eine Gesetzessammlung;<br />
er ist eine Geste der Herrschaftsbekräftigung<br />
und -erneuerung, der eine tiefe magische<br />
Macht innewohnt. Doch nicht nur Mesopotamien,<br />
sondern auch Ägypten führt uns<br />
die Macht des manifesten Wortes vor Augen:<br />
Wollte man die Macht eines Pharaos postum<br />
vernichten, so zerschlug man die Namenskartuschen<br />
an den von ihm in Auftrag gegebenen<br />
Bauwerken.<br />
Die älteste verbürgte Runeninschrift ist jene<br />
auf der Fibel von Meldorf und datiert ins erste<br />
Jahrhundert nach Christus 1 . Die Kunst des<br />
Runenschneidens war nicht vielen bekannt.<br />
Man kann davon ausgehen, dass sie in<br />
Schreibschulen tradiert oder vom Vater an<br />
den Sohn weitergegeben wurde. Schon allein<br />
aus diesem Grund war sie ein Gegenstand<br />
der Ehrfurcht und des Staunens für das einfache<br />
Volk. Segen und Flüche, die schon<br />
ausgesprochen sehr stark sein konnten, entfalteten<br />
eine noch viel größere Wirkung, sobald<br />
sie von einem Runenmeister, dem ekilar,<br />
in einen Stab eingeritzt oder eingebrannt<br />
bzw. in Stein gehauen wurden und dadurch<br />
fast unbegrenzte Zeit wirken konnten. Mit<br />
welcher Ehrfurcht dabei vorgegangen wurde,<br />
zeigt uns zum Beispiel die norwegische Eggjum-Inschrift,<br />
aus der hervorgeht, dass Runen<br />
nur bei Nacht eingehauen wurden und<br />
1<br />
Runenmagie-Techniken<br />
Düwel: Runenkunde, S. 23<br />
dass man dabei kein Eisen gebrauchte. 2 Oft<br />
entschuldigen sich die Schreiber runischer<br />
Inschriften im Rahmen der Inschrift gar für<br />
ihre mangelten Handfertigkeiten. Das Wort<br />
rúna lässt zudem vermuten, dass die Zeichen<br />
ursprünglich für die Aufzeichnung gemurmelter<br />
(geraunter) Zaubersprüche verwendet<br />
wurden und nicht etwa für laute vorgetragene<br />
Anrufungen, wie man sie heute zum Beispiel<br />
immer wieder im Hammerritual erlebt (das<br />
nichtsdestotrotz sehr wirkungsvoll sein kann<br />
und auch von mir genutzt wird). Diesem Runenritzen<br />
– sowohl dem Ritzen von Zaubersprüchen<br />
als auch dem einzelner Zauberrunen<br />
– kam in der nordischen Magie scheinbar<br />
eine herausragende Rolle zu und die<br />
Anwendungsbereiche waren vielfältig. Das<br />
sigrdrifumal (Lied von Sigrdrifa) der Älteren<br />
Edda gibt Auskunft: Siegrunen konnten vor<br />
der Schlacht auf die Schwerter und die<br />
Schildinnenseiten geritzt werden; Seerunen<br />
schützen – auf Rudern und Standarte angebracht<br />
– das Schiff vor schwerer See, eine<br />
mit Runen bedeckte Neidstange 3 sollte als<br />
Grenzmarkierungen Feinde aus dem Land<br />
fernhalten; Wiedergänger sollten daran gehindert<br />
werden dem Grab zu entsteigen und<br />
Grabräuber daran sich an der Ruhestätte zu<br />
vergreifen.<br />
Man darf sicherlich vermuten, dass die entsprechenden<br />
Zauberformeln während der<br />
Ritzung halblaut gemurmelt wurden. Dabei<br />
waren es nicht nur ganze Zaubersprüche und<br />
Mahnungen, die auf Holz und Stein gebannt<br />
wurden, sondern natürlich auch Einzelrunen,<br />
2<br />
nis solu sot uk ni sakse sain skorin – De Vries,<br />
Altgermanische Religionsgeschichte, Band I, S. 309.<br />
3<br />
Auf der Neidstange stak oft ein Pferdekopf – bei<br />
Germanen und Slawen ein Abwehrzauber gegen böse<br />
Geister.<br />
denen eine besondere Bedeutung zukam –<br />
man spricht von Begriffsrunen. Das dem so<br />
war, bezeugen zahlreiche vermeintlich „sinnlose“<br />
Runeninschriften, wie zum Beispiel die<br />
auf dem Lanzenschaft von Kragehul (gagaginu)<br />
oder jene auf dem Knochenstück von<br />
Lindholm (aaaaaaaaRRRnnnnbmutttalu) 4 ;<br />
oft taucht auch einfach das gesamte Futhark<br />
auf. Dies zeigt uns, dass nicht nur den Inschriften,<br />
sondern schon den bloßen Symbolen<br />
magische Kraft innewohnte. Mit der magischen<br />
Bedeutung dieser Begriffsrunen haben<br />
wir uns bereits in der zweiten Ausgabe<br />
der DA befasst; hier nur einige Beispiele, die<br />
uns die fünfte bis zwölfte Strophe des<br />
sigrdrifumal liefert: Teiwaz, die Rune des<br />
Tyr, ritzte man für den Sieg, Laguz zum<br />
Schutz vor Vergiftung und Naudhiz gegen<br />
Hexen und andere gefährliche Frauen.<br />
Runen wirken zudem unabhängig vom Gegenstand,<br />
an welchen sie geheftet wurden. So<br />
schabt Egil in der gleichnamigen Saga die<br />
für einen Krankheitszauber verantwortlichen<br />
Runen nicht nur vom Trägerknochen, sondern<br />
wirft die Knochenspäne anschließend<br />
ins Feuer, um die Runen auch wirklich zu<br />
vernichten. Andererseits glaubte man, sich<br />
die Kraft der Zauberzeichen aneignen zu<br />
können, wenn man die beim Runenschnitzen<br />
in Holz oder Knochen anfallenden Späne in<br />
Met oder Äl warf und anschließend trank –<br />
man spricht von Äl- oder Bierrunen, die oft<br />
Verwendung fanden, um Weisheit oder Redekunst<br />
zu erlangen. Der dem Alkohol geschuldete<br />
Rausch galt den Germanen, wie<br />
auch anderen Völkerstämmen, als Zustand<br />
göttlicher Inspiration, als heilige Ekstase, solang<br />
er sich in Grenzen hielt. Wohl auch<br />
deshalb nutzte man ihn als Träger für die A-<br />
sche oder die Späne abgeschabter Runen. Ei-<br />
4<br />
Die Bedeutung der Inschrift von Lindholm könnte sich<br />
durch folgenden isländischen Zauber gegen schadhafte<br />
Frauen erschließen: „Ich ritze dir 8 Asen (a), 9 Nöte (n),<br />
13 Thursen.( þ)“ Das abschließende alu bedeutet „tabu“<br />
bzw. „Schutz“. Siehe Krause, Was man in Runen ritzte, S.<br />
32 und De Vries, Altgermanische Religionsgeschichte,<br />
Band I, S. 373