03.05.2014 Aufrufe

Lesen - Oberhessischer Geschichtsverein Gießen eV

Lesen - Oberhessischer Geschichtsverein Gießen eV

Lesen - Oberhessischer Geschichtsverein Gießen eV

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

aus betrachtet - höchst vernünftig,<br />

also zweckrational, quasi aufgeklärt<br />

zu handeln vermochte. Die ganze<br />

Angelegenheit war aber keine Petitesse;<br />

das zeigt sich schon daran, dass<br />

Hassenpflug sie am Stück auf weit<br />

mehr Raum abhandelte als manchen<br />

Konflikt um den Landtag (S. 292-<br />

304). Trotzdem und zum anderen<br />

irritiert der Mangel an Selbstdistanz,<br />

an Selbstzweifel, letztlich auch der<br />

Mangel an Humor und Ironie. Hassenpflugs<br />

Persönlichkeit schien keine<br />

Zwischentöne, keine Ambivalenzen,<br />

auch keine Entwicklung zuzulassen.<br />

Hassenpflugs Erinnerungen sind somit,<br />

alles in allem betrachtet, keine<br />

Entdeckung, sie sind weder inhaltlich<br />

noch sprachlich ein Lesegenuss. Ohne<br />

Frage aber ist die Edition der „Denkwürdigkeiten“<br />

ein wichtiger Beitrag<br />

zur Geschichte des Konservatismus<br />

im 19. Jahrhundert - möglicherweise<br />

allerdings ein sehr decouvrierender:<br />

Der hier präsentierte Konservatismus<br />

bot jedenfalls keine überzeugende<br />

Zukunftsperspektive, die im Zeitalter<br />

von Industrie, Liberalismus und Nationalstaaten<br />

hätte Bestand haben<br />

können.<br />

Winfried Speitkamp, Gießen<br />

Arnd Friedrich, Irmtraut Sahmland,<br />

Christina Vanja (Hg.): An der<br />

Wende zur Moderne: die hessischen<br />

Hohen Hospitäler im 18. und 19.<br />

Jahrhundert. Festschrift zum 475.<br />

Stiftungsjahr (Historische Schriftenreihe<br />

des Landeswohlfahrtsverbandes<br />

Hessen. Quellen und Studien; 14).<br />

424 S., zahlr. Abb., Petersberg 2008.<br />

24,90 €<br />

Anlass für den vorliegenden Aufsatzband<br />

ist die 475-jährige Wiederkehr<br />

250<br />

der Stiftung der hessischen Hohen<br />

Hospitäler durch Philipp den Großmütigen<br />

1533. In den Blick genommen<br />

wird die Umbruchsituation um<br />

1800. Nach der Zerstörung von Gronau<br />

im Dreißigjährigen Krieg hatte<br />

sich damals die Zahl der Hohen Hospitäler<br />

auf drei reduziert. Während<br />

das zur Aufnahme von Männern bestimmte<br />

Hospital in Haina und die in<br />

Merxhausen beheimatete Institution<br />

für Frauen zu Hessen-Kassel<br />

gehörten, versorgte die in Hofheim<br />

bei Darmstadt im Großherzogtum<br />

Hessen gelegene Einrichtung zu<br />

dieser Zeit bereits Männer und Frauen<br />

gleichermaßen. Erhalten war noch die<br />

von Philipp dem Großmütigen verfügte<br />

Samtverwaltung durch die<br />

beiden hessischen Fürstenhäuser.<br />

Sichtbaren Ausdruck fand sie in der<br />

Person des Obervorstehers, der für<br />

alle Hospitäler zuständig war. Diese<br />

herausgehobenen Beamten werden<br />

von Gerhard Aumüller in den Blick<br />

genommen, der sich auch mit dem<br />

Küchenmeister-Amt befasst. Dieses<br />

war deshalb bedeutsam, weil das<br />

Aufgabenspektrum weit über die reine<br />

Nahrungsmittelherstellung hinausreichte,<br />

so dass der Finanzbedarf der<br />

Küchenmeister erheblichen Anteil an<br />

den Gesamtausgaben des jeweiligen<br />

Hospitals hatte. Das Ende des Obervorsteher-Amts<br />

kam 1810 mit der<br />

Aufhebung der Samtverwaltung für<br />

die Hohen Hospitäler. Diese stellte<br />

nämlich ein Souveränitätsproblem für<br />

Napoleons Bruder Jérôme dar, in<br />

dessen neu zusammengefügtem<br />

Königreich Westphalen Haina und<br />

Merxhausen beheimatet waren. Die<br />

Folgen des enormen Sparzwangs, der<br />

sich für diese Hospitäler in französischer<br />

Zeit durch den Verlust ihrer<br />

Privilegien einerseits und die Ver-<br />

MOHG 94 (2009)<br />

pflichtung die zahlreichen Steuern<br />

und Abgaben zu zahlen andererseits<br />

ergab, charakterisiert Irmtraut Sahmland<br />

durchaus als Modernisierungsschub,<br />

durch den sich die Hospitäler<br />

von exklusiven Fürsorgeeinrichtungen<br />

zu Elementen eines sozial- und gesundheitspolitischen<br />

Versorgungsverbunds<br />

wandelten.<br />

Modernisierungstendenzen lassen sich<br />

gegen Ende des 18. Jahrhunderts auch<br />

für den Bereich der Pflege fassen,<br />

finden sich um diese Zeit doch Hinweise<br />

auf eine medizinische Ausrichtung.<br />

Der geringe Sozialstatus der<br />

Pfleger und ihre bedrückenden<br />

Lebensumstände blieben allerdings<br />

bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts bestehen,<br />

wie Gerhard Aumüller nachweist.<br />

Während er sich einer ganzen<br />

Personengruppe widmet, stellt Arnd<br />

Friedrich exemplarisch den Hainaer<br />

Pfarrer Johann Heinrich Christian<br />

Bangs vor, der Kontakte zum Marburger<br />

Romantikerkreis unterhielt und<br />

sich erhebliche Verdienste um die<br />

Renovierung der Klosterkirche erwarb.<br />

Allerdings fehlte dem beim<br />

Wechsel nach Haina bereits über 65-<br />

jährigen offenbar die Kraft, um die bis<br />

dahin integrale Position des Pfarrers<br />

in der durch den Wandel vom christlich<br />

geprägten Armenhospital zu einer<br />

psychiatrischen Heilanstalt gekennzeichneten<br />

Umbruchphase zu halten.<br />

Ausdrücklich für diesen Wandel<br />

setzte sich Franz Amelung ein, der<br />

1821 als Arzt im Landeshospital in<br />

Hofheim angestellt wurde. Seine nur<br />

wenig erfolgreichen Bemühungen, bei<br />

der Regierung bauliche Veränderungen<br />

nach dem Vorbild der preußischen<br />

psychiatrischen Heilanstalten<br />

zu erreichen, schildert Salina Braun.<br />

Ihr Beitrag ist zugleich der einzige, in<br />

dem die hessen-darmstädtische Anstalt<br />

im Mittelpunkt steht, alle anderen<br />

beziehen sich mehr oder weniger<br />

ausschließlich auf Haina und/oder<br />

Merxhausen.<br />

Dies gilt auch für die im ersten Teil<br />

des Bandes unter der Überschrift<br />

„Medizinische Versorgung und Disziplin“<br />

zusammengefassten Aufsätze.<br />

In ihren Ausführungen zur Hospitalmedizin<br />

in Haina legt Irmtraut Sahmland<br />

dar, dass es hier um 1800 zahlreiche<br />

Ansätze gab, die Situation der<br />

Hospitalbewohner zu verbessern, dass<br />

Veränderungen tatsächlich aber nur<br />

sehr langsam herbeigeführt wurden.<br />

Dies lag nicht zuletzt daran, dass die<br />

Hohen Hospitäler als Fürsorge- und<br />

Pflegeanstalten für unheilbar Kranke<br />

konzipiert waren und nicht als Heilanstalten.<br />

Dementsprechend breit war<br />

das Krankheitsspektrum der Versorgten.<br />

So litten auch um 1800 viele<br />

Insassen an körperlichen Leiden,<br />

wenn auch der Anteil der Hospitaliten<br />

mit geistiger Behinderung oder psychischen<br />

Erkrankungen seit der Gründungsphase<br />

ständig zugenommen<br />

hatte. Die letztgenannte Gruppe fand<br />

besonderes Interesse in Reiseberichten<br />

der Aufklärungszeit, deren Verfasser<br />

- wie Christina Vanja zeigt -<br />

zwar für eine Verbesserung der Versorgung<br />

der Geisteskranken eintraten,<br />

gleichzeitig aber die von ihnen beobachteten<br />

Insassen eher als wilde Tiere<br />

denn als Menschen beschrieben. Besonders<br />

belastend für die Hainaer<br />

Hospitaliten war jedoch ein anderer<br />

Umstand, nämlich die 1786 verordnete<br />

Ablieferung ihrer Leichen an die<br />

Marburger Anatomie. Durch Suppliken<br />

versuchten die Betroffenen sich<br />

hiergegen zu wehren. Irmtraut Sahmland<br />

weist nach, dass dabei die Furcht<br />

bestimmend war, durch die öffentliche<br />

Sektion in der Anatomie, der auch<br />

MOHG 94 (2009) 251

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!