neurologisch - Ãsterreichische Gesellschaft für Neurologie
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P.b.b. 07Z037411M, Benachrichtigungspostamt 1070 Wien, ISSN 2223-0629<br />
<strong>neurologisch</strong><br />
Fachmagazin für <strong>Neurologie</strong> AUSGABE 3/11<br />
Offizielles Organ<br />
der Österreichischen<br />
<strong>Gesellschaft</strong> für<br />
<strong>Neurologie</strong><br />
Schwerpunkt<br />
Multiple Sklerose<br />
MedMedia<br />
Verlags Ges.m.b.H.<br />
Kongresshighlights<br />
MDS, ESC, ICAD,<br />
Jahrestagung der Liga<br />
gegen Epilepsie<br />
<strong>Neurologie</strong> in Österreich<br />
Erste Verlaufsstudie zur optischen<br />
Kohärenztomographie bei MS<br />
Für die Praxis<br />
Neuropathischer Schmerz<br />
und dessen Erfassung
Editorial<br />
Sehr geehrte Frau Kollegin,<br />
sehr geehrter Herr Kollege!<br />
Der Sommer ist kaum vorbei, und der Alltag<br />
hat uns schon wieder fest im Griff. Nichts<br />
mehr zu spüren von Urlaub und Erholung.<br />
Die europäische Finanzkrise schickt ihre Ausläufer<br />
auch bis in das österreichische Gesundheitswesen<br />
– leise, aber doch. Sparen<br />
ist angesagt. Die Vorschläge dazu werden<br />
aus den Schubladen geholt, und die Meinungen<br />
gehen wie immer auseinander. Gut,<br />
dass wir noch immer ruhig weiterarbeiten.<br />
Das neue Heft unserer Zeitschrift <strong>neurologisch</strong><br />
bietet Ihnen wieder die bewährte Informationsvielfalt.<br />
Das Schwerpunktthema<br />
„Multiple Sklerose“ beschäftigt sich mit As -<br />
pekten der symptomatischen Therapie, der<br />
<strong>neurologisch</strong>en Rehabilitation und den sozialmedizinischen<br />
Konsequenzen. Prof. Enzinger<br />
gibt einen Überblick zur Neuroplastizität<br />
und zeigt, welche Bedeutung die funktionelle<br />
Bildgebung für die Forschung in diesem<br />
Bereich hat. Die motorischen Probleme Spas -<br />
tik, Fatigue und Einschränkung der Gehfähigkeit<br />
werden von Prof. Leutmezer behandelt,<br />
die Möglichkeiten der motorischen Rehabilitation<br />
von Prof. Asenbaum-Nan. Zu<br />
wenig Aufmerksamkeit wird oft den kognitiven<br />
und emotionalen Störungen geschenkt,<br />
die Kommunikation mit MS-PatientInnen ist<br />
ein zentraler Punkt. Die entsprechenden Beiträge<br />
von Dr. Zebenholzer, Dr. Pusswald und<br />
Mag. Mildner sowie von Prof. Fuchs sind informativ<br />
und lesenswert. Prof. Berger liefert<br />
einen Überblick über ein weiteres wichtiges,<br />
aber oft vernachlässigtes Gebiet: Blasen- und<br />
Sexualfunktionsstörungen bei MS. Die Mitarbeiterinnen<br />
der MS-<strong>Gesellschaft</strong> Wien<br />
geben einen Einblick in ihre Tätigkeit und die<br />
sozialmedizinischen Konsequenzen der MS.<br />
Daneben gibt es wie immer Kongressberichte,<br />
diesmal z. B. über den Movement Disorders<br />
Congress in Toronto und die International<br />
Conference on Alzheimer’s Disease<br />
(ICAD) in Paris.<br />
Praxisthemen sind der neuropathische<br />
Schmerz und dessen Erfassung sowie die<br />
SniffPD-Studie, eine Praxisstudie zur Riechstörung<br />
bei Parkinson-Patienten. Hinzu kommen<br />
aktuelle Berichte über diverse <strong>neurologisch</strong>e<br />
Themen, die einen fokussierten Einblick<br />
in Forschung und Praxis ermöglichen.<br />
Ihre besondere Aufmerksamkeit möchte ich<br />
auf die Änderung der Ärztinnen-/Ärzte-Ausbildungsordnung<br />
(wirksam mit 1. 7. 2011)<br />
lenken, welche die Kriterien für die Ausbildung<br />
im Additivfach Geriatrie festlegt. Übergangsbestimmungen<br />
wurden speziell für<br />
KollegInnen, die das ÖÄK-Diplom Geriatrie<br />
besitzen, geschaffen. Bitte informieren Sie<br />
sich über die nunmehr geltenden Kriterien<br />
bzw. die exakten Bedingungen der Übergangsbestimmungen.<br />
Ich wünsche Ihnen wie immer viel Freude<br />
bei der Lektüre von <strong>neurologisch</strong>!<br />
Mit kollegialen Grüßen<br />
Ihr<br />
Univ.-Prof. Dr. Eduard Auff<br />
Univ.-Prof. Dr. Eduard Auff<br />
Vorstand der Universitätsklinik für<br />
<strong>Neurologie</strong>, Medizinische Universität Wien,<br />
Präsident der ÖGN<br />
Wollen Sie mit uns<br />
in Kontakt treten?<br />
Leserbriefe erwünscht:<br />
<strong>neurologisch</strong>@medmedia.at oder<br />
Seidengasse 9/Top1.1,<br />
1070 Wien<br />
Chefredaktion<br />
<strong>neurologisch</strong><br />
Priv.-Doz. Dr. Regina Katzenschlager<br />
SMZ Ost, Wien<br />
Univ.-Prof. Dr. Bruno Mamoli<br />
Generalsekretär der ÖGN<br />
FOTO: MEDCOMMUNICATIONS<br />
3
Wissenschaftlicher<br />
Beirat<br />
Bewegungsstörungen<br />
Univ.-Prof. Dr. Eduard Auff, Wien<br />
Priv.-Doz. Dr. Regina Katzenschlager, Wien<br />
Univ.-Prof. Dr. Werner Poewe, Innsbruck<br />
Epilepsie<br />
Univ.-Prof. DI Dr. Christoph Baumgartner, Wien<br />
Priv.-Doz. Dr. Michael Feichtinger, Graz<br />
Prim. Univ.-Prof. Dr. Eugen Trinka, Salzburg<br />
Schlafstörungen<br />
Univ.-Prof. Dr. Birgit Högl, Innsbruck<br />
Univ.-Prof. DDr. Josef Zeitlhofer, Wien<br />
Neurorehabilitation<br />
Univ.-Prof. Dr. Eduard Auff, Wien<br />
Prim. Univ.-Prof. Dr. Heinrich Binder, Wien<br />
Univ.-Prof. Dr. Leopold Saltuari, Hochzirl<br />
Schlaganfall<br />
Prim. Univ.-Prof. Dr. Franz Aichner, Linz<br />
Prim. Univ.-Prof. Dr. Michael Brainin, Tulln<br />
Prim. Univ.-Prof. Dr. Wilfried Lang, Wien<br />
Schmerz<br />
Dr. Gerhard Franz, Telfs<br />
Prim. Priv.-Doz. Dr. Christian Lampl, Linz<br />
Prim. Priv.-Doz. Dr. Nenad Mitrovic, Vöcklabruck<br />
Neuromuskuläre Erkrankungen<br />
Prim. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Grisold, Wien<br />
Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Löscher, Innsbruck<br />
Univ.-Prof. Dr. Stefan Quasthoff, Graz<br />
Multiple Sklerose<br />
Univ.-Prof. Dr. Thomas Berger, Innsbruck<br />
Univ.-Prof. Dr. Franz Fazekas, Graz<br />
Univ.-Prof. Dr. Karl Vass, Wien<br />
Demenz<br />
Univ.-Prof. Dr. Thomas Benke, Innsbruck<br />
Univ.-Prof. Dr. Peter Dal-Bianco, Wien<br />
Univ.-Prof. Dr. Reinhold Schmidt, Graz<br />
Autonome Störungen<br />
DI Dr. Heinz Lahrmann, Wien<br />
Dr. Walter Struhal, Linz<br />
Univ.-Prof. Dr. Gregor Wenning, Innsbruck<br />
Neurogeriatrie<br />
Prim. Univ.-Prof. Dr. Bernhard Iglseder, Salzburg<br />
Prim. Univ.-Prof. Dr. Gerhard Ransmayr, Linz<br />
Prim. Univ.-Doz. Dr. Josef Spatt, Wien<br />
Neurochirurgie<br />
Univ.-Prof. Dr. Engelbert Knosp, Wien<br />
Prim. Univ.-Doz. Dr. Manfred Mühlbauer, Wien<br />
Prim. Doz. Dr. Gabriele Wurm, Linz<br />
Neuroimaging<br />
Univ.-Prof. MSc DDr. Susanne Asenbaum-Nan, Wien<br />
Assoz. Prof. Dr. Christian Enzinger, Graz<br />
Prim. Univ.-Prof. Dr. Peter Kapeller, Villach<br />
Leitmotiv der<br />
aktuellen Ausgabe <strong>neurologisch</strong><br />
Die 1975 in Wien geborene Künstlerin Nora Hofbauer studierte nach einer fotographischen<br />
Ausbildung an der Graphischen Lehr- & Versuchsanstalt seit 2006 in Wien an der Akademie<br />
der bildenden Künste Grafik. Ihre Arbeiten präsentierte sie u. a. heuer gemeinsam mit Gunter<br />
Damisch und seiner Klasse in der Ausstellung „Wem die Stunde schlägt“ in St. Pölten.<br />
Vorliegende Arbeit: „Ohne Titel“, 2011<br />
Technik: Monotypie, nachbearbeitet<br />
„In meiner Arbeit beschäftige ich mich mit den Möglichkeiten von Systemen zur Selbstregu -<br />
lation. Sie bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Widerstand, Resilienz und Resignation<br />
oder Toleranz, dem einfachen Ertragen von Unterdrückung,<br />
Begrenzung, Zwang und Restriktion. Bei der multiplen Sklerose,<br />
deren Krankheitsbild sich durch eine Abwehrreaktion<br />
des eigenen Immunsystems manifestiert, interessiert mich<br />
eben dieser Aspekt des Angriffs, des Übergriffs, der Fehlleistung<br />
des Immunsystems, also des eigentlich für Schutz<br />
und Widerstand Verantwortlichen.“<br />
Nora Hofbauer<br />
Impressum<br />
Herausgeber: Österreichische <strong>Gesellschaft</strong> für <strong>Neurologie</strong>, Univ.-Prof. Dr. Eduard Auff, Präsident der ÖGN. Chefredaktion: Univ.-Prof. Dr. Bruno<br />
Mamoli, Priv.-Doz. Dr. Regina Katzenschlager. Medieninhaber und Verlag: MEDMEDIA Verlag und Mediaservice Ges.m.b.H, Seidengasse 9/Top 1.1, 1070 Wien, Tel.: 01/407 31 11-0,<br />
E-Mail: office@medmedia.at. Verlagsleitung: Mag. Gabriele Jerlich. Redaktion: Maria Uhl. Lektorat: onlinelektorat@aon.at. Layout/DTP: Martin Grill. Projektbetreuung: Natascha<br />
Fial. Coverbild: Nora Hofbauer. Print: „agensketterl“ Druckerei GmbH, Mauerbach. Bezugsbedingungen: Die Zeitschrift ist zum Einzelpreis von 9,50 Euro plus MwSt. zu beziehen.<br />
Druckauflage: 8.150 Stück im 1. Halbjahr 2011, geprüft von der Österreichischen Auflagenkontrolle. Grundsätze und Ziele von <strong>neurologisch</strong>: Kontinuierliche medizinische Fortbildung<br />
für Neuro logen, Psychi ater und Allgemeinmediziner. Allgemeine Hinweise: Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die persönliche und/oder wissenschaftliche Meinung<br />
des jeweiligen Autors wieder und fallen somit in den persönlichen Verantwortungsbereich des Verfassers. Angaben über Dosierungen, Applikationsformen und Indikationen von<br />
pharmazeutischen Spezialitäten müssen vom jeweiligen Anwender auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Trotz sorgfältiger Prüfung übernehmen Medieninhaber<br />
und Herausgeber keinerlei Haftung für drucktechnische und inhaltliche Fehler. Ausgewählte Artikel dieser Ausgabe finden Sie auch unter www.medmedia.at<br />
zum Download. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in<br />
irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer<br />
Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt, verwertet oder verbreitet werden.<br />
4
Inhalt 3/2011<br />
GESELLSCHAFTSNACHRICHTEN<br />
6 Neuigkeiten aus der ÖGN<br />
121 Veranstaltungskalender<br />
SCHWERPUNKT: MULTIPLE SKLEROSE<br />
11 Vorwort<br />
K. Vass, Wien<br />
12 Neuroplastizität bei multipler Sklerose<br />
C. Enzinger, Graz<br />
18 Kommunikation mit MS-Patientinnen<br />
und -Patienten<br />
S. Fuchs, Graz<br />
22 Kognition und multiple Sklerose<br />
G. Pusswald, C. Mildner, Wien<br />
25 Emotionale Störungen<br />
und multiple Sklerose<br />
K. Zebenholzer, Wien<br />
28 (Motorische) Rehabilitation<br />
bei multipler Sklerose<br />
S. Asenbaum-Nan, Wien<br />
32 Spastik, Fatigue und Gehfähigkeit<br />
G. Zulehner, F. Leutmezer, Wien<br />
35 Blasen- und Sexualfunktionsstörungen<br />
bei multipler Sklerose<br />
T. Berger, Innsbruck<br />
40 Sozialmedizinische Konsequenzen<br />
der multiplen Sklerose<br />
K. Schlechter, L. Bauer-Bohle, Wien<br />
NEUROLOGIE IN ÖSTERREICH<br />
52 Anmerkungen zum „publication bias“<br />
F. Aboul-Enein, Wien<br />
54 Hochauflösende SD-OCT bei MS –<br />
erste Verlaufsstudie über 2 Jahre<br />
F. Aboul-Enein, Wien<br />
KONGRESS-HIGHLIGHTS<br />
63 15 th International Congress of Parkinson’s<br />
Disease and Movement Disorders 2011<br />
K. Wenzel, P. Schwingenschuh, Graz<br />
66 20 th European Stroke Conference 2011<br />
T. Gattringer, Graz<br />
69 International Conference<br />
on Alzheimer’s Disease<br />
E. Sieczkowski, P. Dal-Bianco, Wien<br />
72 Gemeinsame Jahrestagung der Deutschen,<br />
Schweizerischen und Österreichischen Liga<br />
gegen Epilepsie<br />
I. Unterberger, Innsbruck; B. Plecko, Graz<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
80 Neuropathischer Schmerz<br />
und dessen Erfassung<br />
S. Quasthoff, Graz<br />
NEUROLOGIE AKTUELL<br />
86 Bewegungsstörungen<br />
D. Volc, A. Wuschitz, Wien, W. Schimetta, Linz<br />
94 Schlafstörungen<br />
B. Frauscher, B. Högl, Innsbruck<br />
95 Schlaganfall<br />
H.-P. Haring, Linz<br />
96 Schmerz<br />
C. Lampl, Linz<br />
98 Neuromuskuläre Erkrankungen<br />
J. Wanschitz, Innsbruck; B. Calabek, Wien<br />
100 Multiple Sklerose<br />
F. Aboul-Enein, Wien<br />
105 Demenz<br />
K. Jellinger, Wien<br />
108 Autonome Störungen<br />
J. Casanova-Mollá, J. Valls-Solé, Barcelona<br />
110 Neurogeriatrie<br />
G. Ransmayr, Linz<br />
111 Neuroonkologie<br />
W. Grisold, Wien<br />
112 Neurochirurgie<br />
M. Mühlbauer, Wien<br />
114 Neuroimaging<br />
F. Payer, Graz<br />
117 Pharma-News<br />
5
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
ÖGN-News<br />
UEMS<br />
Die UEMS (European Union of Medical Specialists) repräsentiert die<br />
nationalen Verbände der medizinischen Fachrichtungen in der Europäischen<br />
Union und ihren assoziierten Ländern. Die UEMS entwi -<br />
ckelt Standards und Richtlinien in der postgraduellen Ausbildung,<br />
der ärztlichen Fortbildung und für die berufliche Weiterentwicklung<br />
und Qualitätssicherung in der Facharztpraxis. Ziel ist es, die sichere<br />
medizinische Versorgung in ganz Europa zu gewährleisten. Derzeit<br />
werden Kernpunkte der Facharztausbildung zum Facharzt für <strong>Neurologie</strong><br />
ausgearbeitet. Österreich ist in der UEMS durch Univ.-Prof.<br />
Dr. Wolfgang Grisold und durch Dr. Michael Ackerl als Nachfolger<br />
von Prim. Dr. Wolfgang Soukop in der „Working-Organisation“ vertreten.<br />
Die letzte Sitzung fand im Rahmen der EFNS in Budapest<br />
statt.<br />
Strategische Entwicklungen im<br />
stationären/niedergelassenen Bereich<br />
Analog zum Fragebogen des intramuralen Bereiches sollen Informationen<br />
über die Tätigkeit der niedergelassenen FachärztInnen für<br />
<strong>Neurologie</strong> sowie der niedergelassenen FachärztInnen für <strong>Neurologie</strong><br />
& Psychiatrie und Psychiatrie & <strong>Neurologie</strong> eingeholt werden. Der<br />
Zeitaufwand zum Ausfüllen des Fragebogens wird etwa 5–10 Minuten<br />
betragen. Die Fragebögen können anonym ausgefüllt werden. In<br />
diesem Zusammenhang ersucht die ÖGN um Mitarbeit.<br />
Facharztprüfung<br />
Die Prüfungsfragen werden während der nächsten Monate neu<br />
erstellt bzw. überarbeitet und ergänzt.<br />
Dachverband onkologisch tätiger Fachgesellschaften<br />
Im Rahmen der Sitzung vom 29. 06. 2011 wurde die ÖGN als Mitglied<br />
im Dachverband onkologisch tätiger Fachgesellschaften aufgenommen.<br />
Univ.-Prof. Dr. Bruno Mamoli wird als Vertreter der ÖGN an<br />
den Sitzungen teilnehmen.<br />
Fördermitglieder<br />
Die Firma Ratiopharm Arzneimittel VertriebsGmbH wurde als Fördermitglied<br />
neu aufgenommen.<br />
Mobilitäts-/Forschungsstipendium<br />
Der Antrag von Dr. Valeriu Culea (Landeskrankenhaus St. Pölten) um<br />
ein ÖGN-Mobilitätsstipendium wurde angenommen.<br />
6
Zusammengestellt von:<br />
Priv.-Doz. Dr. Regina Katzenschlager<br />
und Univ.-Prof. Dr. Bruno Mamoli<br />
Wichtiges aus der Österreichischen<br />
Ärztekammer und den Bundesministerien<br />
Bundesgesetzblatt (12. August 2011)<br />
259. Verordnung: Änderung der Ärztinnen-/Ärzte-Ausbildungsordnung 2006 (ÄAO 2006)<br />
(2. Novelle der ÄAO 2006)<br />
Additivfach Geriatrie<br />
Das Additivfach Geriatrie umfasst die kurative, palliative, präventive und rehabilitative Betreuung von Patientinnen/Patienten auf dem Gebiet<br />
der <strong>Neurologie</strong>, die insbesondere ein höheres biologisches Alter, meist mehrere eingeschränkte Organfunktionen und/oder Erkrankungen,<br />
funktionelle Defizite und somit eine erhöhte Vulnerabilität aufweisen, unter besonderer Berücksichtigung der somatischen, psychischen und<br />
soziokulturellen Aspekte sowie des multidimensionalen geriatrischen Assessments inklusive Nahtstellenmanagement.<br />
Mindestdauer der Ausbildung und Ausbildungsfächer<br />
1. Zwei Jahre Geriatrie unter besonderer Berücksichtigung der Akutgeriatrie und Remobilisation, wobei eine Ausbildung in der Dauer von<br />
höchstens sechs Monaten im Sonderfach <strong>Neurologie</strong> mit geriatrischem Schwerpunkt anrechenbar ist, sofern eine einschlägige Tätigkeit<br />
mit geriatrischen Patientinnen/Patienten nachgewiesen ist<br />
2. Drei oder vier Monate Psychiatrie, wobei eine einschlägige Tätigkeit mit geriatrischen Patientinnen/Patienten nachzuweisen ist<br />
3. Drei oder vier Monate Innere Medizin, wobei eine einschlägige Tätigkeit mit geriatrischen Patientinnen/Patienten nachzuweisen ist<br />
4. Drei oder vier Monate Physikalische Medizin und Allgemeine Rehabilitation einschließlich der Remobilisation und Nachsorge, wobei<br />
eine einschlägige Tätigkeit mit geriatrischen Patientinnen/Patienten nachzuweisen ist<br />
5. Drei Monate in einem Sonderfach nach Wahl, wobei eine einschlägige Tätigkeit mit geriatrischen Patientinnen/Patienten nachzuweisen<br />
ist, mit Ausnahme des Sonderfaches <strong>Neurologie</strong>, sofern in den Ausbildungsfächern 2., 3. und 4. nicht jeweils vier Monate absolviert<br />
worden sind.<br />
2. Novelle ÄAO – Additivfach Geriatrie<br />
Übergangsbestimmungen – praktische Abwicklung<br />
Die 2. Novelle der Ärztinnen-/Ärzte-Ausbildungsordnung wurde am<br />
12. August 2011 mit BGBI. Nr. II 259/2011 veröffentlicht und damit<br />
die rechtliche Grundlage (rückwirkend mit 1. Juli 2011) für die Ausbildung<br />
im Additivfach Geriatrie geschaffen. Das Additivfach Geriatrie<br />
ist Fachärztinnen/Fachärzten der Sonderfächer Innere Medizin,<br />
<strong>Neurologie</strong>, Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin und Physikalische<br />
Medizin und Allgemeine Rehabilitation sowie den Ärztinnen/Ärzten<br />
für Allgemeinmedizin zugänglich.<br />
Nach § 32 Abs. 2 dieser Novelle sind Personen, die bis zum Ablauf<br />
des 31. Dezember 2012 nachweislich eine zumindest dreijährige<br />
Tätigkeit gemäß der Definition des Aufgabengebietes im Teilgebiet<br />
Geriatrie, wie in den jeweiligen Anlagen zu dieser Verordnung<br />
angeführt, zurückgelegt und ein Diplom „Geriatrie“ der Österreichischen<br />
Ärztekammer oder nachweislich gleichwertige Fortbildungsinhalte<br />
erworben haben, nach Eintragung in die Ärzteliste zur<br />
Führung der auf das betreffende Additivfach hinweisenden Zusatzbezeichnung<br />
berechtigt (Übergangsbestimmung).<br />
Der Bildungsausschuss hat auf Empfehlung des Referates für Geriatrie<br />
folgende Voraussetzungen für den Erwerb des Additivfacharztdiplomes<br />
Geriatrie nach den Übergangsbestimmungen festgelegt:<br />
I. Ausbildung Diplom oder Gleichwertigkeit<br />
ÖÄK-Diplom Geriatrie oder eine als gleichwertig anerkannte inländische<br />
oder ausländische Fortbildung<br />
II. Ärztliche Tätigkeit<br />
Regelmäßige ärztliche Tätigkeit und Betreuung von geriatrischen<br />
Patientinnen<br />
a) in Pflege- oder Seniorenheimen (stationär aufgenommen) oder<br />
Einrichtungen, die der Behandlung oder Pflege und Betreuung<br />
von Personen in höherem Alter dienen, die an Erkrankungen<br />
leiden, bei denen die Kriterien „geriatrische/r Patientln“ zutrifft,<br />
oder<br />
b) an einer Akutgeriatrie oder Rehabilitation oder an einer Krankenhausabteilung,<br />
die im nennenswerten Ausmaß ältere PatientInnen<br />
mit Erkrankungen des akutgeriatrischen Formenkreises<br />
behandelt.<br />
u<br />
7
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
Im Sinne des § 4 der Kooperationsvereinbarung zwischen den LÄK<br />
und der ÖÄK wird folgende Verwaltungspraxis bzgl. der Ausstellung<br />
des Additivfacharztdiplomes Geriatrie nach den Übergangsbestimmungen<br />
festgelegt:<br />
1. Der Antrag auf Ausstellung des Additivfacharztdiplomes Geriatrie<br />
ist anhand des in der LÄK aufliegenden Antragsformulars<br />
und der erforderlichen Nachweise über die in Punkt II erwähnten<br />
ärztlichen Tätigkeiten bei der zuständigen LÄK einzubringen.<br />
Die LÄK prüft, ob der Antragsteller das ÖÄK-Diplom<br />
Geriatrie besitzt, und vermerkt dies auf der zweiten Seite des<br />
Antragsformulars.<br />
2. Die LÄK übermittelt den Antrag und die Tätigkeitsnachweise<br />
ohne Abgabe einer Stellungnahme ausschließlich per E-Mail an<br />
die ÖÄK (post@aerztekammer.at). Sollten ergänzende Nach -<br />
weise für die Beurteilung des Antrages notwendig sein, werden<br />
diese direkt beim Antragsteller eingeholt. Aus diesem Grund<br />
muss am Antragsformular die E-Mail-Adresse der Ärztin/des<br />
Arztes vermerkt sein.<br />
3. Die Stellungnahme der vom Referat für Geriatrie eingesetzten<br />
Kommission dient als Grundlage für die Meinungsbildung der<br />
Ausbildungskommission auf Zuerkennung des Additivfaches<br />
Geriatrie.<br />
4. Entsprechend der Verwaltungspraxis wird das Additivfacharztdiplom<br />
über die LÄK der Ärztin/dem Arzt zugestellt. Im negativen<br />
Fall ergeht eine bescheidmäßige Erledigung durch die Aus -<br />
bildungskommission auf Basis der von der Kommission des<br />
Referates für Geriatrie abgegebenen Stellungnahme.<br />
Quelle: ÖÄK-Rundschreiben<br />
EANO NeuroOncology Magazine jetzt online<br />
Die Europäische <strong>Gesellschaft</strong> für Neuroonkologie (EANO, www.eano.eu) freut sich, auf ein neues OPEN<br />
ACESS Journal auf ihrer Website aufmerksam machen zu können. Das Journal ist frei zugänglich und hat<br />
vor allem die Aufgabe, Übersichten, edukative Artikel und auch „Society News“ zu publizieren. Die Artikel<br />
können frei heruntergeladen werden (www.kup.at/journals/eano/index.html).<br />
Das Journal wird als edukativer Beitrag von der EANO finanziert, als Verlag konnten wir Krause und Pachernegg<br />
gewinnen. Im Journal sind keine Werbeeinschaltungen. Herausgeber sind Prof. Riccardo Soffietti und<br />
Prof. Wolfgang Grisold, Doz. Stefan Oberndorfer betreut die Sektion der Fallpublikationen.<br />
Wir möchten auch auf die attraktive Mitgliedschaft hinweisen: Neben ermäßigten Anmeldegebühren für<br />
die Kongresse kann auf der EANO-Website, auch auf das US-amerikanische Journal „Neuro Oncology“ frei<br />
zugegriffen werden (Impact Factor 4,8).<br />
Der nächste Kongress der EANO findet 2016 in September in Marseille statt.<br />
<strong>neurologisch</strong><br />
Aktuelle wissenschaftliche Arbeiten aus Österreich<br />
Sehr geehrte Kolleginnen, sehr geehrte Kollegen,<br />
In der Fachzeitschrift <strong>neurologisch</strong> der Österreichischen <strong>Gesellschaft</strong> für <strong>Neurologie</strong> werden in der Rubrik „<strong>Neurologie</strong> aus<br />
Österreich“ bereits veröffentlichte wissenschaftliche Arbeiten österreichischer NeurologInnen in Kurzfassung vorgestellt.<br />
Wenn Sie eine deutsche Kurzfassung einer aktuellen, bereits publizierten oder in Druck befindlichen Studie, die Sie durchgeführt<br />
oder an der Sie mitgearbeitet haben, in <strong>neurologisch</strong> veröffentlichen wollen, ersuchen wir Sie um eine kurze Mitteilung an<br />
E-Mail: <strong>neurologisch</strong>@medmedia.at oder<br />
MedMedia Verlag, Natascha Fial, 1070 Wien, Seidengasse 9/Top 1.1<br />
Wir freuen uns auf Ihre Einsendung!<br />
Priv.-Doz. Dr. Regina Katzenschlager<br />
Chefredaktion <strong>neurologisch</strong><br />
Univ.-Prof. Dr. Bruno Mamoli<br />
8
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
Multiple Sklerose<br />
Stellenwert der symptomatischen<br />
Therapien, der <strong>neurologisch</strong>en Rehabilitation<br />
und sozialmedizinische Konsequenzen<br />
W<br />
Wir haben viel über die pathophysiologischen<br />
Abläufe, die zur multiplen Sklerose (MS) führen,<br />
gelernt. Seit Mitte der 1990er Jahre<br />
konnten die neu eingeführten immunmodulatorischen<br />
Medikamente vielen MS-Betroffenen<br />
erstmals berechtigte Hoffnung auf eine<br />
Stabilisierung der Erkrankung auch im Langzeitverlauf<br />
machen. Seit Neuestem wird ja<br />
nicht mehr nur von „Freedom of Disease“<br />
als Therapieziel gesprochen, sondern sogar<br />
von Verbesserung. Trotzdem ist eine Heilung<br />
der MS weiterhin nicht möglich, und trotz<br />
aller Bemühungen leiden viele Betroffene im<br />
Verlauf der Erkrankung an bleibenden Einschränkungen.<br />
Das Erkennen dieser Folgen<br />
der MS und deren gezielte Behandlung ist<br />
trotz aller Erfolge der kausalen Therapien ein<br />
ganz wichtiger Punkt in der Langzeitbetreuung<br />
unserer PatientInnen geblieben. Die vorliegende<br />
Sammlung von Beiträgen ist diesen<br />
Problemen gewidmet, die sich als Folgen der<br />
multiplen Sklerose ergeben.<br />
Der MS-Schwerpunkt wird durch einen Beitrag<br />
von Christian Enzinger, Medizinische<br />
Universität Graz, eingeleitet, der die neuesten<br />
Daten zur Neuroplastizität bei MS zusammenfasst.<br />
Diese Ergebnisse können als<br />
Grundlage für ein besseres Verständnis der<br />
Effekte der <strong>neurologisch</strong>en Rehabilitation dienen.<br />
Symptome der MS können nur erkannt werden,<br />
wenn die Kommunikation zwischen betroffenen<br />
PatientInnen und behandelnden<br />
ÄrztInnen funktioniert. Richtige Kommunikation<br />
ist gerade bei einer chronischen Erkrankung,<br />
die sowohl bei Betroffenen als durchaus<br />
auch bei den BehandlerInnen zu Ängsten<br />
führen kann, nicht einfach. Der Artikel von<br />
Siegrid Fuchs, Medizinische Universität Graz,<br />
versucht Anregungen zur einer Verbesserung<br />
der ärztlichen Kommunikation mit MS-Betroffenen<br />
zu geben.<br />
Die multiple Sklerose führt häufig auch zu<br />
neuropsychologischen Problemen. Oft sind<br />
kognitive Einschränkungen über lange Zeit<br />
sehr subtil und werden häufig von den Betroffenen<br />
und den behandelnden ÄrztInnen<br />
nicht richtig erkannt. Gisela Pusswald, Medizinische<br />
Universität Wien, und Christa Mildner,<br />
Kaiser-Franz-Josef-Spital Wien, geben<br />
einen kurzen Abriss der wichtigsten kognitiven<br />
Einschränkungen, deren neuropsychologischer<br />
Diagnostik und der Behandlungsmöglichkeiten.<br />
Karin Zebenholzer, Medizinische Universität<br />
Wien, fasst in ihrem Beitrag die durch MS<br />
entstehenden affektiven Probleme zusammen,<br />
wobei sie auch auf mögliche Zusammenhänge<br />
zwischen Emotion, Wahrnehmung<br />
von Emotion und Kognition eingeht.<br />
Zwei Beiträge sind der Behandlung motorischer<br />
Einschränkungen bei MS gewidmet: Susanne<br />
Asenbaum-Nan, Medizinische Universität<br />
Wien, stellt die Eckpunkte der multimodalen<br />
<strong>neurologisch</strong>en Rehabilitation dar,<br />
deren Fokus – bedingt durch die sehr häufigen<br />
motorischen Einschränkungen – naturgemäß<br />
primär, aber nicht ausschließlich auf<br />
der Physiotherapie liegt.<br />
Univ.-Prof. Dr. Karl Vass<br />
Universitätsklinik für<br />
<strong>Neurologie</strong>, Medizinische<br />
Universität Wien<br />
Gudrun Zulehner und Fritz Leutmezer, beide<br />
Medizinische Universität Wien, geben eine<br />
Übersicht über die Möglichkeiten der medikamentösen<br />
Behandlung der durch MS entstehenden<br />
motorischen Probleme und der Fatigue.<br />
Thomas Berger, Medizinische Universität Innsbruck,<br />
widmet sich in seinem Beitrag den<br />
Blasen- und Sexualfunktionsstörungen.<br />
Schließlich gehen Katharina Schlechter und<br />
Lucia Bauer-Bohle, beide MS <strong>Gesellschaft</strong><br />
Wien, auf die sozialmedizinischen Konsequenzen<br />
der MS ein. Sie zeigen, dass die Sozialarbeit<br />
für MS-Betroffene auch im Zeitalter<br />
krankheitsmodifizierender Therapien nicht an<br />
Bedeutung verloren hat und dass ExpertInnen,<br />
die professionelle, krankheitsspezifische<br />
Beratungstätigkeiten leisten können, auch in<br />
dem sehr gut funktionierenden österreichischen<br />
Sozialsystem von großer Bedeutung<br />
sind.<br />
n<br />
11
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
Neuroplastizität bei multipler Sklerose<br />
Galt das Dogma der fehlenden Regenerations- und Reparaturkapazität von Neuronen lange Zeit als<br />
unumstößlich, unterstreichen neueste Befunde aus der bildgebenden <strong>neurologisch</strong>en Forschung nun die<br />
Bedeutung der Neuroplastizität bei MS.<br />
Assoz.-Prof. Dr.<br />
Christian Enzinger<br />
Universitätsklinik<br />
für <strong>Neurologie</strong>,<br />
Medizinische<br />
Universität Graz<br />
Mechanismen der Schädigung<br />
und Reparatur im ZNS<br />
Mechanismen, die generell bei Schädigungsund<br />
Reparaturprozessen im Zentralnerven -<br />
system (ZNS) bedeutend sind, betreffen Nekrose,<br />
Apoptose, molekulare Faktoren (Schädigung<br />
durch freie Radikale, Ca 2+ -Einstrom,<br />
Mangel an trophischen Faktoren, DNA-Schädigung),<br />
Axotomie, Makrogliazellantwort<br />
(Astrozytenreaktion, Oligodendrozyten-Vorläuferzellen,<br />
extrazelluläre Matrix), metabolische<br />
Faktoren wie Exzitotoxizität und oxidativen<br />
Stress 1 .<br />
Bei autoimmunologisch bedingter ZNS-Schädigung<br />
können folgende Komponenten betroffen<br />
sein: Gliazellen, Neuronen, Endothelzellen.<br />
Bei inflammatorisch-demyelinisierenden<br />
Prozessen wie bei der multiplen Sklerose<br />
(MS) stellen beim klassisch schubförmig-remittierenden<br />
Verlauf inflammatorisch-demyelinisierende<br />
Läsionen das pathologische Substrat<br />
für akute oder subakute <strong>neurologisch</strong>e<br />
fokale Defizite dar 1 .<br />
Inflammation, Demyelinisierung und perivaskulär<br />
umschriebenes Ödem tragen dabei zum<br />
Leitungsblock bei. Im Kontext der Neuroplas -<br />
tizität scheint hier einerseits bedeutsam, dass<br />
zumindest in Anfangsstadien der Erkrankung<br />
das Potenzial zur Remyelinisierung hoch und<br />
die Gewebsschädigung (etwa im Gegensatz<br />
zum ischämischen Insult) oftmals inkomplett<br />
ist, und andererseits, dass substanzielle Heterogenität<br />
in der klinischen Expression der<br />
Erkrankung auch bei morphologisch ausgeprägten<br />
krankheitsbezogenen Veränderungen<br />
bestehen kann (Abb. 1).<br />
Allerdings wird das Studium der Neuroplastizität<br />
durch die Komplexität der Erkrankung<br />
erschwert. Zahlreiche Befunde aus der bildgebenden<br />
Forschung und Histopathologie<br />
deuten darauf hin, dass nahezu alle zerebralen<br />
Kompartimente in den Erkrankungsprozess<br />
involviert sein können, wobei spezifische<br />
Faserverbindungen des Marklagers hierfür<br />
besonders suszeptibel sind.<br />
Der primär T-Zell-getriggerte immunologische<br />
Prozess führt zu Schädigung von Oligodendrozyten<br />
und Myelin. In frühen Erkrankungsphasen<br />
kann die Funktion der Markscheiden<br />
alleine durch den raumfordernden Effekt des<br />
Ödems beeinträchtigt sein. Mit der Restitution<br />
der Blut-Hirn-Schranke kann eine Erholung<br />
der Oligodendrozyten eintreten und die<br />
saltatorische Erregungsleitung durch myelinisierte<br />
Fasern wieder in Gang gebracht werden.<br />
In der Ausrichtung der pathologischen<br />
Immunkaskade scheinen Komplementaktivierung,<br />
Opsonierung für Mikroglia und Makrophagen<br />
und Antikörper gegen Myelinoberflächenkomponenten<br />
eine wesentliche Rolle<br />
zu spielen. Im Verlauf wird zusätzliche Schädigung<br />
durch unspezifische „Bystander“-<br />
Mechanismen wie zytotoxische Zytokine, Enzyme,<br />
Sauerstoffradikale und Proteasen<br />
wahrscheinlicher. Schlussendlich wird die geschädigte<br />
Myelinscheide durch Mikroglia entfernt.<br />
Dies ermöglicht die Einwanderung, Hypertrophie<br />
und Proliferation von Astrozyten,<br />
welche schließlich die charakteristischen namengebenden<br />
sklerotischen oligodendro -<br />
penischen demyelinisierten Plaques bilden.<br />
Axonale Schädigung fixiert schließlich den<br />
<strong>neurologisch</strong>en Schaden 1 . Der prinzipiell stadienhafte<br />
Ablauf dieser Prozesse mit Verschiebung<br />
in Richtung Neurodegeneration im<br />
Erkrankungsverlauf erscheint bedeutsam für<br />
die Interpretation von Studien zur Neuroplas -<br />
tizität mit Vergleich der Befunde aus verschiedenen<br />
Phänotypen der Erkrankung. Aufgrund<br />
der rezidivierenden akut entzündlichen<br />
Attacken auf die Integrität des ZNS, des zumindest<br />
in Anfangsstadien vorhandenen<br />
Potenzials zur vollständigen klinischen Restitution<br />
und des Umstands, dass vorwiegend<br />
Gehirne im frühen Erwachsenenalter ohne<br />
anderweitige Vorschädigung betroffen sind,<br />
stellt die MS eine interessante Modeller -<br />
krankung zur Erforschung der neuronalen<br />
Plastizität dar. Als den Komplexitätsgrad steigernde<br />
Bedingungen sind hierbei jedoch der<br />
multifokale Erkrankungsprozess, parallele degenerative<br />
Prozesse, konkomitante pathologische<br />
Veränderungen des Myelons, Kortex<br />
und diffus im Marklager, mit vermutlich<br />
interindividuell und in verschiedenen Sta -<br />
dien unterschiedlich starker Ausprägung, zu<br />
nennen.<br />
Das Konzept der Neuroplastizität –<br />
Abschied von Cajals Dogma<br />
Bis in die 1990er Jahre übten NeurologInnen<br />
ihre Profession primär unter dem Aspekt einer<br />
Doktrin aus, die der prominente Histologe<br />
Ramón y Cajal im späten 19. und frühen 20.<br />
Jahrhundert nachhaltig etablierte. Im Kern<br />
besagte Cajals Dogma, dass Schäden am ZNS<br />
prinzipiell irreparabel seien. „Mit Abschluss<br />
der Entwicklung des ZNS versiegen die Quellen<br />
für Wachstum und Regeneration von Axonen<br />
und Dendriten unwiederbringlich. Im Er-<br />
12
wachsenengehirn sind alle Faserverbindungen<br />
fixiert und unabänderlich: Alles kann absterben,<br />
nichts aber regenerieren“ (Cajal<br />
1928, „Degeneration and Regeneration of<br />
the Nervous System“ 3 ).<br />
Seither hat ein veritabler Paradigmenwechsel<br />
eingesetzt. Die nunmehr in den Neurowissenschaften<br />
vorherrschende Ansicht einer<br />
enormen Fähigkeit auch des adulten Gehirns<br />
zur Adaption und plastischen Veränderung<br />
als Reaktion auf Schädigung wurde wesentlich<br />
durch bildgebende Techniken geprägt.<br />
So konnte anhand der MRT gezeigt werden,<br />
dass ein Training komplexer motorischer Vorgänge<br />
wie Klavierspielen 4 oder Jonglieren 5<br />
nicht nur die Art und Weise ändern, wie sich<br />
das Gehirn funktionell organisiert, sondern<br />
sogar die Bildung neuer Nervenzellverbände<br />
stimulieren kann. Im therapeutischen Bereich<br />
konnten beim Schlaganfall analoge Hinweise<br />
für neuronale Plastizität, induziert durch aufgabenspezifisches,<br />
repetitives Training, als<br />
Grundlage für Rehabilitationserfolg erbracht<br />
werden 6 . Wie so häufig in der Medizin wird<br />
durch technische Weiterentwicklungen der<br />
objektive Nachweis von schon länger postulierten<br />
Konzepten möglich: Funktionelle Reorganisation<br />
durch Training wurde bereits<br />
1936 von Otfried Förster, einem Professor für<br />
<strong>Neurologie</strong> und Neurochirurgie in Breslau, angenommen<br />
3 .<br />
Im Rahmen des angesprochenen Paradigmenwechsels<br />
wird mit Erweiterung der technischen<br />
Möglichkeiten zum Studium derartiger<br />
Prozesse nun der Begriff „Plastizität“ in<br />
den Neurowissenschaften geradezu inflationär<br />
verwendet. Tatsächlich lässt sich in der<br />
Literatur hierfür keine einheitliche Begriffsdefinition<br />
identifizieren. Eine allgemein gültige<br />
und hinreichend präzise erachtete Definition<br />
geht auf Jacques Paillard zurück (ursprünglich<br />
publiziert 1976, modifiziert von Will et al. 7 ).<br />
In diesem Sinn wird der Terminus „Plastizität“<br />
dann verwendet, wenn eine Erfahrung – ungeachtet<br />
ihrer Natur – in andauernden funktionellen<br />
Modifikationen und Veränderungen<br />
der strukturellen Charakteristika eines Sys -<br />
tems resultiert, unabhängig vom analytischen<br />
Niveau, auf dem diese Veränderungen nachgewiesen<br />
werden.<br />
Diese Definition bildet einen theoretischen<br />
Rahmen, in dem verschiedene Formen der<br />
Abb. 1: Klinisch-radiologisches Paradoxon<br />
Axiale FLAIR-Bilder von MS-Betroffenen mit benigner MS (A) verglichen mit sekundär progredienten MS-PatientInnen<br />
mit hohem Behinderungsgrad (B). Beide Gruppen zeigen sowohl ausgeprägte fokale Gewebsveränderungen als auch<br />
zerebrale Atrophie. Neben anderen Faktoren könnten neuroplastische Prozesse in Gruppe A die klinische Expression<br />
der Pathologie limitieren Quelle: Strasser-Fuchs et al., 2008 2<br />
Plastizität unterschieden werden können: Plas -<br />
tizität während der Entwicklung (prä- oder<br />
postnatal unter Umwelteinflüssen), adaptive<br />
Plastizität (in jungen, adulten oder alten Organismen<br />
unter Lernbedingungen) und restorative<br />
Plastizität (in jungen, adulten oder<br />
alten Individuen mit Hirnschädigung) mit Modifikationen,<br />
die durch die Natur der Läsion<br />
und/oder das Vikariationspotenzial alleine<br />
nicht erklärt werden können 7 .<br />
Techniken zum Studium<br />
der Neuroplastizität – die fMRT<br />
Aus oben genannter Definition lässt sich ableiten,<br />
dass prinzipiell verschiedenste Techniken<br />
zum Studium der Neuroplastizität eingesetzt<br />
werden können – auf der zellulären bis<br />
zur neuronalen Systemebene. In den letztgenannten<br />
Bereich dringt die funktionelle Magnetresonanztomographie<br />
(fMRT) ein. In klinischen<br />
Kohorten wird meist die BOLD-fMRT<br />
(„blood oxygenation level dependent“) eingesetzt,<br />
die geringe Änderungen der magnetischen<br />
Suszeptibilität erfasst, die durch eine<br />
Verschiebung der Ratio zwischen Oxy- zu<br />
Desoxyhämoglobin in aktivierten Hirnarealen<br />
auftritt. Diese Aktivierungen können über<br />
hochaufgelöste strukturelle MRT-Scans anatomisch<br />
zugeordnet werden (siehe auch<br />
fmri.easy via www.oegfmrt.org 8 ).<br />
Das BOLD-Signal resultiert aus drei Komponenten:<br />
Oxygenierung, Blutvolumen und<br />
Blutfluss 9 . Die fMRT misst damit nur indirekt<br />
die Aktivität von Neuronen. Jüngste Forschungsergebnisse<br />
deuten darauf hin, dass<br />
das fMRT-Signal – unabhängig von lokaler<br />
neuronaler Aktivität – auch antizipatorische<br />
hämodynamische Signale in Vorbereitung des<br />
Gehirns auf einen Task oder Erwartung eines<br />
Stimulus widerspiegeln könnte 10 . Dies wird<br />
allerdings kontrovers diskutiert 11 .<br />
Die fMRT hat sich zweifelsfrei als führende<br />
Methode zum Mapping von Hirnfunktionen<br />
etabliert. Abbildung 2 illustriert, warum: So<br />
können etwa die an der Planung, Durchführung<br />
und Überwachung einer Bewegung beteiligten<br />
zentralen Module in einem simplen<br />
fMRT-Experiment dargestellt werden.<br />
Strukturelle Grundlagen<br />
der Neuroplastizität<br />
Beispiel der anatomischen Konnektivität<br />
im sensomotorischen System: In Weiterführung<br />
der konzeptuellen Begriffsdefinition<br />
der neuronalen Plastizität nach Paillard müssen<br />
für effiziente funktionelle Neuverschaltungen<br />
des Gehirns im Kontext von Hirnschädigung<br />
auch strukturelle Verbindungen<br />
zwischen modularen Bestandteilen eines neuronalen<br />
Netzwerkes bestehen. Dass die Konnektivität<br />
im sensomotorischen System tatsächlich<br />
reichhaltig ist, ist aus dem Prima -<br />
tenmodell bekannt und wurde durch<br />
nichtinvasive Techniken auch beim Menschen<br />
nachgewiesen 12 (Abb. 3).<br />
Auf dieser Basis erscheint vorstellbar, dass u<br />
13
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
Abb. 2: Motorische Funktion<br />
Die Abbildung illustriert die Hauptstrukturen und -pfade, die in der Planung, Durchführung und Modulation einer<br />
motorischen Aktion involviert sind (SMA: supplementär motorische Area; PMC prämotor. Kortex, MS1 primär sensomotorischer<br />
Kortex, M1 primär motorischer Kortex, S1 primärer sensorischer Kortex, SII sekundär sensorischer Kortex;<br />
adaptiert nach Behan & Barker in Fawcett, Rosser, Dunnett 2002 1 Das Insert demonstriert die Darstellbarkeit sämt -<br />
licher beteiligter supraspinaler Module bei repetitiven Handbewegungen mittels fMRT (FE für neuronale Plastizität<br />
und Reparatur, Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong> Graz).<br />
(z. T. multifokale und inkomplette) Schädigungen<br />
verschiedener Hübe und Knoten bei<br />
MS restorative Plastizität mit verstärkter kompensatorischer<br />
Aktivierung vitaler Pfade induzieren<br />
könnten.<br />
Evidenz für zerebrale Reorganisation<br />
im motorischen System bei MS<br />
Befunde zur Plastizität im motorischen Sys -<br />
tem sind aufgrund der guten Kenntnis der<br />
zugrunde liegenden Neuroanatomie relativ<br />
gut interpretierbar. Bei MS gelten die nachfolgend<br />
genannten Befunde durch mehrfache<br />
Studien unabhängiger Arbeitsgruppen in<br />
verschiedenen Kollektiven mittlerweile als<br />
weitgehend gesichert 13 .<br />
MS-PatientInnen zeigen ausgeprägtere bihemisphärische<br />
Aktivierungen bei Bewegungen<br />
der oberen Extremität, vereinbar mit einer verstärkten<br />
Rekrutierung ipsilateraler motorischer<br />
Regionen im Sinne einer Demaskierung ungekreuzter<br />
Anteile der Pyramidenbahn oder<br />
auch interhemisphärischer Disinhibierung.<br />
Das Ausmaß der verstärkten ipsilateralen Aktivierung<br />
verstärkt sich mit zunehmender T2-<br />
Läsionslast und scheint damit zumindest zum<br />
Teil eine Reaktion auf Gewebsschädigung<br />
darzustellen. Zudem verschieben sich bei MS<br />
die Koordinaten der Aktivierungsmaxima bei<br />
Bewegungen im Vergleich zu Kontrollen, vereinbar<br />
mit der lokalen Redistribution der Aktivierung<br />
von Pyramidenzellen.<br />
Sofern aus vereinzelten Beobachtungen von<br />
MS-PatientInnen mit akutem Schub mit Beeinträchtigung<br />
der motorischen Funktion extrapolierbar,<br />
können diese Aktivierungsänderungen<br />
dynamisch sein: Über eine Phase verstärkter<br />
(kompensatorischer) Aktivierung<br />
primärer und sekundär somatosensorischer<br />
Areale beider Hemisphären entwickelt sich<br />
bei jenen Individuen, die funktionelle Wiederherstellung<br />
aufweisen, über die Zeit wieder<br />
ein „physiologischeres“ Aktivierungsmus -<br />
ter, das dennoch von gesunden Kontrollen<br />
abweicht.<br />
Diese Fähigkeit zu neuronaler Plastizität<br />
scheint im Verlauf der Erkrankung – im Einklang<br />
mit der Zunahme motorischer Behinderung<br />
– allmählich zu erschöpfen und<br />
schließlich maladaptiv zu werden. Darauf<br />
deuten Ergebnisse einer großen fMRT-Studie,<br />
in der MS-Betroffene mit verschiedenen klinischen<br />
Phänotypen (jedoch ohne Beeinträchtigung<br />
der für die Generierung des Experiments<br />
herangezogenen dominanten<br />
Hand) vergleichend untersucht wurden 14 . Es<br />
zeigten sich unterschiedliche Muster der bewegungsassoziierten<br />
kortikalen Reorganisa -<br />
tion, abhängig vom Erkrankungsstadium.<br />
Während in früheren Stadien der MS vorwiegend<br />
Hirnregionen, die typischerweise in<br />
motorischen Aufgaben involviert sind, rekrutiert<br />
wurden, zeigten sich in fortgeschritteneren<br />
Stadien schon bilaterale Aktivierungen<br />
motorischer Regionen. Später im Erkrankungsverlauf<br />
allerdings wurden bei einfachen<br />
Handbewegungen bei MS-Betroffenen bereits<br />
Hirnregionen aktiviert, die gesunde Individuen<br />
lediglich für die Bewältigung neuer<br />
oder komplexer Aufgaben heranziehen.<br />
Evidenz für zerebrale Reorganisation<br />
in kognitiven Domänen bei MS<br />
Ob ähnlich plastische Mechanismen auch in<br />
kognitiven Bereichen auftreten, war bislang<br />
nicht systematisch untersucht. Wenngleich<br />
die Bedeutung kognitiver Defizite bei MS zunehmend<br />
gewürdigt wird, handelt es sich<br />
hierbei aus Sicht der Plastizitätsforschung<br />
aufgrund der komplexeren beteiligten Netzwerke,<br />
des vermutlichen Impacts von diffuser<br />
Gewebsschädigung sowie der Varianz in der<br />
kognitiven Leistungen (auch bei Gesunden)<br />
um ein methodisch schwieriger zu studierendes<br />
Phänomen.<br />
Unlängst konnte jedoch in einer fMRT-Studie<br />
gezeigt werden, dass bei MS – durchaus analog<br />
zum motorischen System – in verschiedenen<br />
Krankheitsstadien unterschiedliche<br />
funktionelle Reorganisation auch in kognitiven<br />
Bereichen existiert 15 . In einem „Go-Nogo“-Paradigma,<br />
das auch Untersuchungsteilnehmer<br />
mit kognitiven Beeinträchtigungen<br />
absolvieren konnten, bestand die Aufgabe<br />
darin, bei Präsentation eines Zielobjekts im<br />
Scanner (z. B. Kreuz) eine Taste zu drücken<br />
und diesen Impuls bei anderen Objekten<br />
(z. B. Rechteck) zu unterdrücken. Im Verlauf<br />
des Experiments wechselte diese Vorgabe,<br />
was zur Änderung der Strategie zwang. Untersucht<br />
wurden PatientInnen nach einem klinisch<br />
isolierten Syndrom (CIS), mit schubförmig-remittierender<br />
(RR-)MS und sekundär<br />
progredienter (SP-)MS und alters- und geschlechtsangepasste<br />
Kontrollen.<br />
PatientInnen zeigten schlechtere Leistung<br />
hinsichtlich Gedächtnis, Aufmerksamkeit,<br />
Konzentration und Informationsverarbeitung.<br />
14
Abb. 3: Anatomische Verbindungen zwischen somatosensorischem Kortex<br />
(Brodmann-Areale [BA] 1, 2, 3 und 5) und primär motorischem Kortex [BA4]<br />
Kontrollen (Abb. 4). Im Vergleich zu CIS-PatientInnen<br />
und Kontrollen zeigten RRMS-<br />
PatientInnen zusätzliche Aktivierung im<br />
Praecuneus, parietal und im rechten Gyrus<br />
fusiformis und rekrutierten zudem den Hippocampus<br />
bei zunehmender Komplexität.<br />
SPMS-Patientinnen zeigten funktionell weit<br />
reichende Störungen, mit Aktivierung zahlreicher<br />
Areale außerhalb des bei Gesunden<br />
charakterisierten Netzwerks.<br />
Anhand dieser Untersuchung konnten demzufolge<br />
adaptive Änderungen neuronaler Aktivierung<br />
mit Progression der MS in kognitiven<br />
Domänen gezeigt werden, mit zumindest<br />
anfänglich kompensatorischer Natur.<br />
Es besteht hochgradige Konnektivität. Der Thalamus agiert hierbei als Relais-Station für peripheren somatosensorischen<br />
Input Richtung Kortex. Thalamokortikale Verbindungen sind grau („taktile“ Inputs hellgrau, „tiefe“ Inputs dunkelgrau),<br />
kortikokortikale Verbindungen schwarz dargestellt. Quelle: Hummel & Cohen 2005 12<br />
Dies war primär durch SPMS-PatientInnen bedingt.<br />
Die fMRT-Aufgabe war mit Aktivierung<br />
eines weit reichenden funktionellen Netzwerks<br />
assoziiert, das bilaterale mesiale, dorsolateral<br />
frontale, parietale und insuläre Kortexabschnitte<br />
sowie die Basalganglien und<br />
das Cerebellum involvierte. Die Aufgabe im<br />
Scanner konnte von allen PatientInnen bewältigt<br />
werden. Dennoch zeigten sich zunehmende<br />
Abweichungen vom Aktivierungsmuster<br />
der Kontrollen mit Progression der Erkrankung.<br />
PatientInnen benötigten bereits bei leichteren<br />
Aufgaben mehr neuronale Ressourcen als<br />
Abb. 4: Funktionelle Reorganisation in kognitiven Domänen bei MS<br />
Zerebrale Aktivierungsmuster bei Bewältigung eines Inhibitions-/Disinhibitonsparadigmas (Go-No-go-Task). PatientInnen<br />
(untere Reihe) rekrutieren bereits bei Absolvierung leichter Durchgänge mehr Ressourcen als Kontrollen (obere<br />
Reihe) bei leichteren Durchgängen. Aktivierte Regionen sind abhängig von der Stärke der statistischen Signifikanz rotgelb<br />
dargestellt, deaktivierte Regionen bei Patienten blau. Quelle: Loitfelder et al., 2011 15<br />
Das Konzept der<br />
kognitiven Reserve<br />
Einen andere Zielsetzung als jene der Erfassung<br />
adaptiver funktioneller Reorganisation<br />
mit Rekrutierung neuer Hirnareale zur Limitation<br />
von Defiziten bei MS verfolgte eine<br />
weitere fMRT-Studie 16 , die sich primär der<br />
Fragestellung widmete, ob und inwieweit Änderungen<br />
in der funktionellen Interaktion<br />
zwischen Hirnarealen, die auch normalerweise<br />
bei bestimmten Aufgaben rekrutiert werden,<br />
als alternativer adaptiver Mechanismus<br />
im Kontext von MS-Pathologie zum Tragen<br />
kommen.<br />
Hierfür wurde eine fMRT-Version einer „Nback“-Aufgabe<br />
zum Studium des Arbeitsgedächtnisses<br />
bei PatientInnen mit früher MS<br />
implementiert 16 . Anhand funktioneller Konnektivitätsanalysen<br />
wurde auf entsprechende<br />
Unterschiede zu Kontrollen getestet. Interessanterweise<br />
unterschieden sich die beiden<br />
Gruppen nicht hinsichtlich Verhaltensperformanz<br />
oder zerebraler Aktivierungsmuster. Als<br />
Hauptbefund zeigte sich jedoch bei MS-PatientInnen<br />
im Vergleich zu Kontrollen eine<br />
substanziell geringere Zunahme an Hirnaktivierung<br />
mit zunehmender Komplexität der<br />
Aufgabe. Gesunde zeigten korrelierende Aktivierungen<br />
zwischen dem rechten dorsolateralen<br />
präfrontalen Kortex und superior<br />
frontalen/anterior cingulären Arealen. PatientInnen<br />
hingegen zeigten korrelierende Aktivierungen<br />
zwischen rechts- und linkshemisphäriellen<br />
präfrontalen Kortizes – ein Muster,<br />
das bei gesunden Kontrollen nicht zu<br />
beobachten war.<br />
u<br />
15
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
Zusammengefasst deutet dies darauf hin,<br />
dass in Frühstadien der MS zwar noch ähnliche<br />
Hirnareale zur Bewältigung einer kognitiven<br />
Aufgabe herangezogen werden, allerdings<br />
bereits subtile Unterschiede im Sinne<br />
einer reduzierten funktionelle Reserve für<br />
komplexere kognitive Prozesse bestehen<br />
dürften. Therapeutische Verstärkung der Kohärenz<br />
der Interaktionen zwischen Hirnregionen,<br />
Rekrutierung alternativer Areale oder<br />
Verwendung komplementärer kognitiver<br />
Strategien erscheinen demnach grundlegend<br />
als zukünftig denkbare Mechanismen zur Reduktion<br />
der Ausprägung kognitiver Beeinträchtigungen<br />
bei MS.<br />
Ein neuer Schwerpunkt der Kognitionsforschung<br />
bei MS bezieht sich folglich auch tatsächlich<br />
auf das Konzept der „kognitiven Reserve“,<br />
welche die nachteiligen Effekte von<br />
MS-Pathologie auf Kognition modulieren<br />
könnte und – wie auch beispielsweise bei<br />
Demenzen – die Dissoziation zwischen Ausmaß<br />
der Hirnschädigung und klinischem Bild<br />
erklären helfen soll.<br />
Hintergrund dieser Überlegungen ist der Umstand,<br />
dass hohe interindividuelle Variabilität<br />
im Muster und Schweregrad kognitiver Defizite<br />
zwischen MS-PatientInnen besteht 17 . Es<br />
verdichtet sich die Evidenz, dass individuelle<br />
Faktoren wie etwa Ausbildungsgrad oder<br />
Ähnliches Betroffene differenziell vor kognitivem<br />
Abbau schützen könnten. So erlitten<br />
z. B. in einer Studie MS-Betroffene mit über<br />
14-jähriger Ausbildungszeit im Längsschnitt<br />
keinen kognitiven Abbau (gemessen anhand<br />
des „Symbol Digit Modalities Test“) im Gegensatz<br />
zu PatientInnen mit einer Ausbildungszeit<br />
unter 14 Jahren. Es bestehen auch<br />
Hinweise, dass über die kognitive Reserve<br />
partiell der negative Effekt zerebraler Atrophie<br />
ausgeglichen werden könnte 17 .<br />
Herausforderungen für<br />
die zukünftige Forschung<br />
Brückenschlag zur klinischen Anwendung:<br />
Fasst man nun die zitierten Befunde zusammen,<br />
so haben Forschungsergebnisse zur<br />
Neuroplastizität bei MS anhand der fMRT in<br />
der letzten Dekade eine bislang ungeahnte<br />
Fähigkeit auch des adulten Gehirns, adaptiv<br />
mit Schädigungen umzugehen, zu Tage gebracht<br />
und Einblicke in beteiligte Mechanismen<br />
ermöglicht. Dies steht im Einklang mit<br />
der klinischen Erfahrung aus der Neurorehabilitation<br />
<strong>neurologisch</strong>er Erkrankungen, dass<br />
erstaunliche Fortschritte auch noch längere<br />
Zeit nach Schädigung des ZNS erzielt werden<br />
können. Allerdings bleibt die funktionelle Restitution<br />
oftmals inkomplett, mit individueller<br />
Variation und schlechter Vorhersehbarkeit im<br />
Ansprechen auf rehabilitative Interventionen.<br />
Auf dem Gebiet der MS konkurrieren und<br />
interagieren in diesem Zusammenhang sehr<br />
wahrscheinlich verschiedenste pathologische<br />
Prozesse, wie etwa fokale Marklagerschädigungen<br />
unterschiedlichen Destruktionsgrades,<br />
diffuse inflammatorische Prozesse, Leitungsunterbrechungen<br />
zu/von und in zentralen<br />
Relaisstationen, kortikale und spinale<br />
Pathologie, globale zerebrale und regional<br />
verstärkte Atrophie oder auch Medikamenteneffekte.<br />
Während einige dieser Prozesse<br />
in schubförmigen Attacken die Integrität des<br />
ZNS bedrohen, ist es wahrscheinlich, dass andere<br />
Prozesse (subklinisch) progredient zu<br />
RESÜMEE<br />
Einblicke aus der fMRT<br />
zur Neuroplastizität bei MS<br />
• Konvergierende Evidenz für kortikale<br />
Reorganisation mit Fortschreiten des<br />
Erkrankungsprozesses bei MS.<br />
• Diese ist bereits vor Manifestation<br />
klinisch fassbarer Defizite oder<br />
psychometrisch erfassbarer<br />
Dysfunktion vorhanden und dürfte<br />
daher in früheren Erkrankungsstadien<br />
zumindest teilweise adaptiv sein.<br />
• Mit Fortschreiten der MS-Pathologie<br />
scheint die funktionelle „zerebrale<br />
Reserve“ zunehmend zu erschöpfen.<br />
• Aufgabenspezifisches Training dürfte<br />
Neuroplastizität bis zu einem<br />
gewissen Ausmaß induzieren, eine<br />
positive Beeinflussung der zerebralen<br />
Reserve im kognitiven Bereich durch<br />
intellektuelle Stimulierung scheint<br />
möglich.<br />
• Die Dynamik der Erkrankung<br />
erschwert das Design und die<br />
Interpretierbarkeit longitudinaler<br />
(Trainings-)Studien bei MS.<br />
nachhaltiger kumulativer Schädigung von zerebralen<br />
Ressourcen führen.<br />
Eine Herausforderung für die zukünftige Plastizitätsforschung<br />
auf dem Gebiet der MS<br />
wird es daher sein, den differenziellen Beitrag<br />
dieser Prozesse zu erfassen bzw. partiell methodisch<br />
zu isolieren. Hilfreich dabei sollte<br />
die hervorragende Eigenschaft der fMRT sein,<br />
Prozesse auf neuronaler Systemebene zu visualisieren<br />
und zu quantifizieren – und damit<br />
Informationen bereitzustellen, welche die klinische<br />
Beobachtung, Skalen und Scores auf<br />
Verhaltensebene oder psychometrische Verfahren<br />
alleine niemals bieten können. Leider<br />
erschwert die dynamische Natur der Erkrankung<br />
die Interpretation und das Design longitudinaler<br />
fMRT-Studien, die jedoch zwingend<br />
nötig wären, um wechselnde Muster<br />
funktionell-adaptiver Veränderungen oder<br />
Effekte spezifischer medikamentöser oder anderwärtiger<br />
Interventionen auf die Funktion<br />
des ZNS zu erfassen.<br />
Im Gegensatz zum Schlaganfall (wo Impact<br />
und Lokalisation der zur Klinik veranlassenden<br />
Läsion besser charakterisierbar sind und<br />
ein einzeitiges Ereignis definiert werden kann)<br />
existieren bislang auf dem Gebiet der MS<br />
keine Studien, die das Ansprechen funktioneller<br />
Netzwerke auf beispielsweise gezieltes<br />
motorisches Training untersuchten. In einer<br />
Gruppe von MS-Betroffenen mit milden motorischen<br />
Beeinträchtigungen der rechten<br />
oberen Extremität konnte allerdings mittels<br />
fMRT im Vergleich zu Kontrollen bereits nach<br />
30-minütigem motorischen Training eine<br />
herab gesetzte Fähigkeit zur Optimierung des<br />
motorischen Netzwerks nach Training beobachtet<br />
werden 18 . Im Gegensatz dazu reduzierte<br />
sich bei Gesunden die Aktivierung im<br />
primären Sensorimotorkortex und parietalen<br />
Assoziationskortex, als Zeichen für gesteigerte<br />
neuronale Effizienz.<br />
Im kognitiven Bereich wiederum deuten erste<br />
Ergebnisse anhand eines ereignisbezogenen<br />
fMRI-Paradigmas mit „Stroop-Interferenz“<br />
darauf hin, dass MS-PatientInnen nach spezifischer<br />
Rehabilitation (im Gegensatz zu<br />
nicht trainierten PatientInnen) vermehrt den<br />
präfrontalen und zingulären Kortex zu rekrutieren<br />
vermögen 19 . Da diesen Hirnarealen<br />
eine bedeutende Rolle bei Prozessen der Entscheidungsfindung<br />
und Informationsverar-<br />
16
eitung zugeschrieben wird, bietet sich als<br />
Interpretation ein trainingsinduzierter, adaptiver,<br />
kompensatorischer Mechanismus an.<br />
Wenngleich diese präliminären Beobachtungen<br />
noch durch weitere Studien bestätigt<br />
werden müssen, geben sie dennoch Hoffnung<br />
auf einen sinnvollen Einsatz der Methode<br />
zum Erreichen eines verbesserten Verständnisses<br />
der funktionellen Korrelate kognitiver<br />
Verbesserung nach Training.<br />
Aufgrund der limitierten Datenlage sind bislang<br />
evidenzbasierte Aussagen zum Effekt<br />
derartiger Strategien nicht möglich. Nichtsdestotrotz<br />
erscheint es auch jetzt schon gerechtfertigt,<br />
MS-PatientInnen – die genannten<br />
Befunde zu den neuroplastischen Fähigkeiten<br />
des Gehirns extrapolierend – den Leitspruch<br />
„Wer rastet, der rostet“ (oder<br />
moderner: „Use it or lose it“) ans Herz zu<br />
legen.<br />
Dies betrifft sowohl das motorische als auch<br />
das kognitive System, könnte die zerebrale<br />
Reserve erhöhen und erfährt weitere Unterstützung<br />
durch eine rezente fMRT-Studie, die<br />
nahelegt, dass intellektuelle Stimulation die<br />
zerebrale Effizienz bei MS erhöhen könnte.<br />
PatientInnen mit weniger intellektuellem Pouvoir<br />
und geringerer Stimulierung („intellectual<br />
enrichment“, gemessen an Ausbildungsgrad<br />
und Vokabular) benötigten vermehrt zerebrale<br />
Ressourcen für die Erledigung einer<br />
Arbeitsgedächtnisaufgabe, im Gegensatz zu<br />
PatientInnen mit hohem intellektuellen Pouvoir,<br />
die zudem den Effekt zerebraler Atrophie<br />
ausgleichen konnten. Derartige Effekte konnten<br />
bei gesunden ProbandInnen interessanterweise<br />
nicht beobachtet werden und scheinen<br />
daher erst im Kontext von MS-Pathologie<br />
schlagend zu werden 20 .<br />
n<br />
1 Fawcett JW, Rosser AE, Dunnett SB, Brain Damage,<br />
Brain Repair. Oxford University Press, USA; 1 edition;<br />
2002; ISBN-10: 0198523378<br />
2 Strasser-Fuchs S, Enzinger C, Ropele S, Wallner M,<br />
Fazekas F, Clinically benign multiple sclerosis despite<br />
large T2 lesion load: can we explain this paradox? Mult<br />
Scler 2008; 14(2):205–11<br />
3 Kesselring J, Neurorehabilitation: a bridge between<br />
basic science and clinical practice. Eur J Neurol 2001;<br />
8(3):221–5<br />
4 Draganski B, Gaser C, Busch V, Schuierer G, Bogdahn<br />
U, May A, Neuroplasticity: changes in grey matter<br />
induced by training. Nature 2004; 427(6972):311–312<br />
5 Scholz J, Klein MC, Behrens TE, Johansen-Berg H,<br />
Training induces changes in white-matter architecture.<br />
Nat Neurosci 2009; 12(11):1370–1371<br />
6 Enzinger C. Dawes H, Johansen-Berg H., Wade D,<br />
Bogdanovic M, Collett J et al., Brain activity changes<br />
associated with treadmill training after stroke. Stroke<br />
2009; 40(7):2460–2467<br />
7 Will B, Dalrymple-Alford J, Wolff M, Cassel JC, The<br />
concept of brain plasticity – Paillard’s systemic analysis<br />
and emphasis on structure and function (followed by<br />
the translation of a seminal paper by Paillard on<br />
plasticity). BehavBrain Res 2008; 192(1):2–7<br />
8 Österreichische <strong>Gesellschaft</strong> für fMRT (Website):<br />
www.oegfmrt.org<br />
9 Logothetis NK, Pfeuffer J, On the nature of the BOLD<br />
fMRI contrast mechanism. Magn Reson Imaging 2004;<br />
22(10):1517–31<br />
10 Sirotin YB, Das A, Anticipatory haemodynamic signals<br />
in sensory cortex not predicted by local neuronal<br />
activity. Nature. 2009; 457(7228):475–9<br />
11 Handwerker DA, Bandettini PA, Hemodynamic signals<br />
not predicted? Not so: a comment on Sirotin and Das<br />
(2009). Neuroimage 2011; 55(4):1409–12<br />
12 Hummel FC, Cohen LG, Drivers of brain plasticity. Curr<br />
Opin Neurol 2005; 18(6):667–74<br />
13 Cifelli A, Matthews PM, Cerebral plasticity in multiple<br />
sclerosis: insights from fMRI. Mult Scler 2002;<br />
8(3):193–9<br />
14 Rocca MA, Colombo B, Falini A, Ghezzi A, Martinelli V,<br />
Scotti G, Comi G, Filippi M, Cortical adaptation in<br />
patients with MS: a cross-sectional functional MRI<br />
study of disease phenotypes. Lancet Neurol 2005;<br />
4(10):618–26<br />
15 Loitfelder M, Fazekas F, Petrovic K, Fuchs S, Ropele S,<br />
Wallner-Blazek M, Jehna M, Aspeck E, Khalil M,<br />
Schmidt R, Neuper C, Enzinger C, Reorganization in<br />
cognitive networks with progression of multiple sclerosis:<br />
insights from fMRI. Neurology 2011; 76(6):526–33<br />
16 Cader S, Cifelli A, Abu-Omar Y, Palace J, Matthews<br />
PM, Reduced brain functional reserve and altered<br />
functional connectivity in patients with multiple<br />
sclerosis. Brain 2006; 129(Pt 2):527–37<br />
17 Langdon DW, Cognition in multiple sclerosis. Curr Opin<br />
Neurol 2011; 24(3):244–9<br />
18 Morgen K, Kadom N, Sawaki L, Tessitore A, Ohayon J,<br />
McFarland H, Frank J, Martin R, Cohen LG, Trainingdependent<br />
plasticity in patients with multiple sclerosis.<br />
Brain 2004; 127(Pt 11):2506–17<br />
19 Mattioli F, Stampatori C, Bellomi F, Capra R, Rocca M,<br />
Filippi M, Neuropsychological rehabilitation in adult<br />
multiple sclerosis. Neurol Sci 2010; 31(Suppl 2):S271–4<br />
20 Sumowski JF, Wylie GR, Deluca J, Chiaravalloti N,<br />
Intellectual enrichment is linked to cerebral efficiency in<br />
multiple sclerosis: functional magnetic resonance imaging<br />
evidence for cognitive reserve. Brain 2010;<br />
133(Pt 2):362–74<br />
17
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
Kommunikation mit<br />
MS-Patientinnen und -Patienten<br />
Kommunikation spielt in fast allen Bereichen unseres Lebens eine wichtige Rolle, und die enorme Bedeutung der<br />
„richtigen“ Kommunikation wird auch für den medizinischen Bereich zunehmend erkannt und berücksichtigt.<br />
S<br />
So kann mangelhafte Kommunikation am Arbeitsplatz<br />
nicht nur zu persönlicher Verletzung,<br />
Enttäuschung oder Demotivierung führen,<br />
sondern auch die Gefahr gravierender<br />
Fehler durch fehlende oder fehlerhafte Information<br />
in sich bergen. Denn „Kommunizieren“<br />
beinhaltet immer sowohl die Übermittlung<br />
von Informationsinhalten als auch die<br />
Art und Weise, wie diese Übermittlung stattfindet.<br />
Naturgemäß sind letztendlich beide<br />
Aspekte entscheidend, wie und welche Informationen<br />
dann auch von unserem Gegenüber<br />
„empfangen“ bzw. aufgenommen werden.<br />
Für beide Aspekte der Kommunikation ist im<br />
ärztlichen Umgang mit MS-PatientInnen ein<br />
Wandel feststellbar. Zunehmend wird akzeptiert,<br />
dass die Information von PatientInnen<br />
über ihre Erkrankung nicht nur rechtlich betrachtet,<br />
sondern auch in der Betreuung ein<br />
notwendiges Element darstellt. Aber auch<br />
das Aufbauen einer guten und tragfähigen<br />
zwischenmenschlichen Beziehung wird als<br />
wichtige Basis der therapeutischen Führung<br />
im Rahmen chronischer Erkrankungen und<br />
im Fall der MS auch zur Erhaltung der Therapie-Compliance<br />
bei Langzeittherapien als<br />
unerlässlich akzeptiert. In der täglichen Praxis<br />
und auch im folgenden Artikel sind diese beiden<br />
Ziele nicht klar trennbar und werden<br />
daher in kombinierter Weise dargestellt.<br />
Die Ziele einer positiven Kommunikation betreffen<br />
sowohl sachliche als auch seelische<br />
Bereiche. Es soll über die Krankheit und alle<br />
damit in Zusammenhang stehenden Inhalte<br />
so umfangreich und verständlich informiert<br />
werden, dass der/die PatientIn sich trotz der<br />
Unsicherheit durch die Krankheitssituation<br />
gut und sicher zurechtfindet und auch den<br />
persönlichen Anteil an allen medizinischen<br />
Entscheidungen leisten kann.<br />
Zusätzlich aber soll die Bewältigung der Erkrankung<br />
unterstützt werden und eine Hilfestellung<br />
im Verarbeiten der Lebenssituation<br />
mit MS geboten werden. Außerdem muss<br />
die Kommunikation eine Basis für eine im<br />
Fall chronischer Erkrankungen langjährige Beziehung<br />
darstellen, die auch der Belastung<br />
von eventuellen Verschlechterungen der MS,<br />
wechselnden therapeutischen Aufgaben und<br />
permanenter Forderung durch Informationen<br />
von außen (z. B. Angebote von „Heilungen“)<br />
gewachsen sein muss.<br />
Das ärztliche Gespräch<br />
Univ.-Prof. Dr.<br />
Siegrid Fuchs<br />
Universitätsklinik<br />
für <strong>Neurologie</strong>,<br />
Medizinische Universität<br />
Graz<br />
Prinzipiell ist zu beachten, dass die Stimmung<br />
im Rahmen des Gespräches von unterschiedlichen<br />
Faktoren beeinflusst werden kann.<br />
Deshalb ist es ratsam, schon die Rahmenbedingungen<br />
möglichst positiv zu gestalten.<br />
Eine ruhige Atmosphäre und ein angenehmes<br />
Klima im Raum erleichtern die Situation für<br />
die behandelten Menschen wie auch für<br />
den/die Arzt/Ärztin und sollten schon in der<br />
Auswahl und Adaptierung des Raumes beachtet<br />
werden. Wenn der Raum in seiner<br />
Ausstattung vorgegeben ist, so kann zumindest<br />
für ein Minimieren von Unterbrechungen,<br />
z. B durch Abstellen des Telefons, gesorgt<br />
werden und – als einfache Maßnahme<br />
– z. B. die Sitzgelegenheit des/der PatientIn<br />
gegen ein bequemeres Modell ausgetauscht<br />
werden.<br />
Sachinhalte vermitteln wir ohne Zweifel vorwiegend<br />
verbal, aber auch nonverbale Mitteilungen<br />
beeinflussen die Verständigung mit<br />
unseren PatientInnen intensiv und nachhaltig.<br />
Wenn wir einen/eine Patienten/-in kennen<br />
lernen, müssen die ersten Botschaften kurz<br />
zusammengefasst lauten: „Sie sind willkommen,<br />
Sie sind hier die Hauptperson, Sie werden<br />
in Ihren Bedürfnissen respektiert, und<br />
Ihre Anliegen sind mir wichtig.“<br />
Im Allgemeinen können diese Botschaften<br />
nicht oder maximal zu einem kleinen Teil einfach<br />
verbal mitgeteilt werden. Deshalb ist<br />
schon bei der Begrüßung und im gesamten<br />
Gesprächsverlauf auch auf nonverbale Mitteilungen<br />
zu achten. Das beginnt mit freundlicher<br />
Mimik, der Begrüßung und nament -<br />
lichen Vorstellung und dem Halten von<br />
Blickkontakt. Für die Teilnahme einer Begleitperson<br />
kann nur der/die PatientIn die Erlaubnis<br />
erteilen. Das wird meist von Seiten<br />
der Betroffenen nicht erwartet und die Erlaubnis<br />
oft vom Arzt/Ärztin erbeten! Daher<br />
sollte die Erlaubnis für das Einbeziehen einer<br />
Begleitperson von Seiten des/der PatientIn explizit<br />
erfragt und die Berechtigung für die<br />
Entscheidung erklärt werden.<br />
Im Gesprächsverlauf sollte durch Haltung und<br />
Gesichtsausdruck Interesse und Sensibilität<br />
vermittelt werden. Dass ausreichend Zeit für<br />
Fragen zur Verfügung steht, muss verbalisiert<br />
werden – denn dass von ärztlicher Seite die<br />
Bereitschaft für Zeitinvestition besteht, wird<br />
18
oft nicht erwartet! Es ist hilfreich, auch selbst<br />
direkt darauf hinzuweisen, dass die Schwierigkeit<br />
des Themas eventuelle Widerholungen<br />
und vor allem Rückfragen rechtfertigt. Zum<br />
Fragen muss im Verlauf auch mehrfach ermuntert<br />
werden und durch Nachfrage die<br />
Verständlichkeit der Mitteilungen kontrolliert<br />
werden. („Habe ich mich verständlich ausgedrückt?“,<br />
„Bitte machen Sie mich aufmerksam,<br />
wenn ich medizinische Ausdrücke<br />
verwende, die Ihnen nicht geläufig sind“<br />
usw.)<br />
Letztendlich ist natürlich zu beachten, dass<br />
Gespräche über MS durchaus emotionsbeladen<br />
verlaufen. Die Sicherheit, dass Emotionen<br />
akzeptiert und verstanden werden, sollte den<br />
PatientInnen sowohl verbal als auch nonverbal<br />
vermittelt werden (Taschentücher am<br />
Schreibtisch sind praktisch).<br />
Das MS-Aufklärungsgespräch<br />
Lange Zeit wurde die sofortige und umfassende<br />
Aufklärung über das Vorliegen einer<br />
MS in Zweifel gestellt und manchmal sogar<br />
als nicht vertretbar abgelehnt oder der „Kompromiss“<br />
angeboten, schon aufzuklären, aber<br />
dabei den Namen „MS“ nicht zu nennen.<br />
Gesetzlich ist die Frage völlig klar und eindeutig<br />
geregelt. Die Aufklärung über Befunde<br />
und Erkrankung stellt eine klare und definierte<br />
ärztliche Pflicht dar. Dabei ist natürlich<br />
umfassend über Diagnostik und Befundergebnisse,<br />
über die Erkrankung allgemein,<br />
über alle infrage kommenden Behandlungsmethoden,<br />
deren Wirkungsausmaß sowie Risiken<br />
und Nebenwirkungen und sogar über<br />
eventuell notwendige Lebensführungsmaßnahmen<br />
zu informieren. Die Aufklärung wird<br />
auch in den Behandlungsunterlagen dokumentiert.<br />
Unabhängig von der rechtlichen Verpflichtung<br />
zur Aufklärung ergibt sich aber speziell<br />
bei chronischen Erkrankungen noch eine zusätzliche<br />
Motivation, nämlich die Hoffnung,<br />
mit umfassender Information für die erkrankte<br />
Person auch Wege der Bewältigung zu<br />
finden und den Umgang mit der Erkrankung<br />
zu erleichtern. Deshalb ist es sinnvoll, neben<br />
dem Erfüllen der Aufklärungspflicht, die Situation<br />
auch für den Beginn einer therapeutischen<br />
Führung und Unterstützung zu nutzen.<br />
Dass die Aufklärung bei MS oft die Basis<br />
für eine langjährige Partnerschaft legt, ist ein<br />
Grund mehr, sich diesem Thema intensiv zu<br />
widmen.<br />
Das Aufklärungsgespräch enthält natürlich<br />
eine Reihe von rein sachlichen Informationen,<br />
die als Erstinformation zu vermitteln sind,<br />
aber auch emotionale Botschaften, die den<br />
späteren Umgang mit der Erkrankung bestimmen.<br />
Beides ist von großer Bedeutung<br />
und eine klare ärztliche Aufgabe. Das Delegieren<br />
dieser Aufgabe an „Andere“ ist weder<br />
im sachlichen Bereich (z. B. an Aufklärungsbroschüren)<br />
noch im emotionalen Bereich (z.<br />
B. an PsychotherapeutInnen) zu akzeptieren.<br />
Sachinhalte des<br />
MS-Aufklärungsgespräches<br />
Das Informationsgespräch beginnt mit einer<br />
Zusammenfassung der relevanten Punkte aus<br />
der Anamnese, dem Erklären der Befunde<br />
mit Besprechen ihrer Wertigkeit (was ist normal,<br />
was weicht ab, was bedeutet das) sowie<br />
mit dem Sichten und eventuellen Zeigen der<br />
MRT-Bilder. Anhand dieser Informationen<br />
wird die Diagnose MS abgeleitet und erklärt,<br />
auf welchen Informationen sie beruht und<br />
wie stabil die Abstützung dieser Diagnose<br />
durch die vorliegenden Befunde ist. Dabei erfordert<br />
speziell die Diagnose „mögliche MS“<br />
besondere Beachtung, da dieser Ausdruck oft<br />
dazu führt, dass aus einem Gefühl mangelnder<br />
Absicherung die Bewältigung der Erkrankung<br />
beiseitegeschoben wird und bei einem<br />
Zweitschub massive psychische Probleme riskiert<br />
werden. Andererseits muss man noch<br />
bestehende diagnostische Unsicherheiten<br />
auch klar ansprechen, um eventuell notwendige<br />
Verlaufskontrollen zu begründen und<br />
die Motivation dazu zu schaffen.<br />
Bei Durchsicht der MRT-Bilder muss auch beachtet<br />
werden, dass normale Strukturen gezeigt<br />
und benannt werden sollen (ein in der<br />
T 2 -Sequenz heller Ventrikel erzeugt als vermeintliche<br />
„große Läsion“ Ängste, wenn<br />
helle Veränderungen als pathologisch erklärt<br />
werden). Auch das Ausmaß der Veränderungen<br />
ist meist zu diskutieren und auch eventuell<br />
eine klinisch-radiologische Dissoziation<br />
zu besprechen bzw. ist die jeweilige Bedeutung<br />
der MRT für Prognoseeinstufung und<br />
Therapieentscheidungen mit zu erklären.<br />
Nach der Erklärung der persönlichen Befunde<br />
und Nennung der Diagnose ist die Frage an<br />
den/die Patienten/-in sinnvoll, wie die jeweils<br />
eigene Vorstellung von der Erkrankung MS<br />
aussieht, um schon zu diesem Zeitpunkt Fehlvorstellungen<br />
ausräumen zu können. Auch<br />
der „schlechte Ruf“ der Erkrankung kann angesprochen<br />
und im Hinblick auf seine Berechtigung<br />
diskutiert werden.<br />
In der Praxis hat es sich bewährt, das erste<br />
Aufklärungsgespräch in zwei große „Blöcke“<br />
zu teilen, nämlich in „Allgemeines“ und<br />
„Therapie“, wobei den Betroffenen diese Art<br />
der Strukturierung auch vorab kurz vermittelt<br />
wird. („Wir besprechen zuerst alles Wissenswerte<br />
über die Krankheit und dann erst die<br />
Behandlungsmöglichkeiten.“) Dies hilft bei<br />
der Fokussierung der Gesprächsinhalte.<br />
Allgemeine Informationen über MS, Häufigkeit,<br />
Verläufe, Entstehung, betroffene Altersgruppen,<br />
Symptome usw. erfordern meist<br />
einen längeren Monolog, der zumindest begleitet<br />
sein sollte von der Aufforderung:<br />
„Bitte unterbrechen Sie mich, wenn zu viel<br />
Information auf einmal nicht mehr erfassbar<br />
ist oder Fragen auftauchen.“ Kurze Pausen<br />
nach einzelnen Themengruppen mit der<br />
Rückfrage, ob alles verständlich war, sind<br />
sinnvoll.<br />
Thema Therapie: Nach Besprechung der allgemeinen<br />
Informationen ist die Therapie das<br />
nächste große Thema. Vorausgeschickt sollte<br />
die Bemerkung werden, dass man MS zwar<br />
noch immer nicht heilen kann, aber gute<br />
Möglichkeiten zur Verminderung der Aktivität<br />
der Erkrankung zur Verfügung stehen, die<br />
helfen, den Krankheitsverlauf positiv zu beeinflussen.<br />
Als nächster Schritt ist die individuelle<br />
Situation im Hinblick auf die Indikationsstellung<br />
für eine Behandlung zu bewerten<br />
und zu erklären.<br />
Bei vorhandener Therapieindikation sollten u<br />
19
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
vorwiegend die infrage kommenden Medikamente<br />
besprochen und andere Möglichkeiten<br />
nur der Vollständigkeit halber kurz erwähnt<br />
– und dieses Vorgehen erklärt – werden.<br />
(Dass es noch mehr Möglichkeiten gibt,<br />
erzeugt oft Beruhigung. Wenn später über<br />
nicht erwähnte Medikamente gelesen wird,<br />
entsteht eventuell das Gefühl, dass Information<br />
absichtlich „unterschlagen“ wurde.)<br />
Die einsetzbaren Medikamente sollten bezüglich<br />
Wirkung und Nebenwirkungen bewertet<br />
werden. Applikationsformen und Dosierungen<br />
sowie deren Vor- und Nachteile<br />
werden besprochen und erklärt und auf die<br />
Möglichkeit von Injektionshilfen wird hingewiesen.<br />
Nach Schilderung der vorhandenen<br />
Möglichkeiten sind persönliche Probleme zu<br />
besprechen (Spritzenängste, Hautsituation<br />
usw.) und die Methode der Integration der<br />
Therapie in das Alltagsleben ist zu überlegen.<br />
Dass dieses erste Gespräch nur der Information<br />
dient und eine Entscheidung erst nach<br />
entsprechender Überlegung getroffen werden<br />
soll, ist explizit zu erwähnen.<br />
Nach Vermittlung der vorher angeführten Inhalte<br />
ist ein großer Teil der „basalen“ Informationsaufgabe<br />
erfüllt. Trotzdem sollte den<br />
Betroffenen noch die Frage gestellt werden,<br />
ob sie spezielle zusätzliche Informationen<br />
wünschen. Häufig kommen dabei Fragen zu<br />
Lebensstilmodifikationen (Diät, Sport), oft<br />
auch die Frage nach der Vermeidung von<br />
Stress und nach Umgang mit der Krankheit<br />
in Alltag und Beruf. Fragen betreffend<br />
Schwangerschaft sollten bei jungen Frauen<br />
angesprochen werden, die Frage nach Vererbbarkeit<br />
wird von Männern und Frauen<br />
häufig gestellt.<br />
Im letzten Teil des Gespräches sollte darauf<br />
geachtet werden, dass auch die ganz persönlich<br />
wichtigen Anliegen noch einen Platz<br />
zur Besprechung finden. Auch ein Hinweis<br />
auf andere Informationsmöglichkeiten (Broschüren,<br />
Bücher) kann gegeben werden bzw.<br />
können diese mitgegeben werden, wenn ein<br />
grundlegendes Verständnis bereits geschaffen<br />
wurde. Da beim ersten Gespräch eine<br />
Fülle von Informationen vermittelt werden<br />
muss, tauchen Fragen meist erst nach dem<br />
Gespräch auf. Deshalb ist das Angebot, beim<br />
nächsten Termin eventuelle Unklarheiten<br />
noch einmal zu besprechen, sinnvoll.<br />
Emotionale Inhalte<br />
des Aufklärungsgesprächs<br />
Für beide Seiten ist das Aufklärungsgespräch<br />
eine immens wichtige Situation. Für den/die<br />
PatientIn ist dieses Gespräch ein Einschnitt,<br />
der die gesamte Lebenssituation verändert<br />
und die bestehende Ordnung völlig zerstört.<br />
Für den/die Arzt/Ärztin dient das erste Gespräch<br />
sowohl einer Positionierung der eigenen<br />
Person zur Präsentation der fachlichen<br />
Kompetenz als auch der Vermittlung der Bereitschaft<br />
zur ehrlichen und offenen Kommunikation<br />
und nicht zuletzt der Fähigkeit, sich<br />
verständnisvoll, unterstützend und helfend<br />
auf die neu anvertraute Person einzulassen.<br />
Entsprechend der emotional aufwühlenden<br />
Situation muss in Betracht gezogen werden,<br />
dass die Betroffenen unglaublich sensibel auf<br />
alle Botschaften – verbale wie nonverbale –<br />
reagieren. Deshalb ist es in dieser Situation<br />
besonders wichtig, die Präsentation der eigenen<br />
Person und Aussagen im Hinblick auf<br />
nonverbale Botschaften und Metamitteilungen<br />
einer genauen Kontrolle zu unterziehen.<br />
Besondere Beachtung jeder Reaktion und<br />
sensibles Eingehen auf alle Äußerungen<br />
des/der PatientIn ist unerlässlich. Auf Emotionen<br />
muss mit Verständnis und Unterstützung<br />
reagiert werden, im Gespräch anklingende<br />
persönlichkeitsbezogene Strategien<br />
zur Bewältigung sollten angesprochen und<br />
positiv hervorgehoben werden. Persönliche<br />
Wege des Umgehens mit der Erkrankung<br />
müssen gefunden werden. Ansätze dazu<br />
schimmern oft schon beim ersten Gespräch<br />
durch, und schon zu diesem Zeitpunkt kann<br />
das Erkennen dieses Weges unterstützt werden.<br />
Auch von Seiten des/der Arztes/Ärztin findet<br />
natürlich nonverbale Vermittlung von Einstellungen<br />
statt. Die Bezeichnung „MS“ aus<br />
einem Informationsgespräch auszuklammern,<br />
wie das früher oft der Fall war, bedeutet<br />
zum Beispiel die nonverbale Mitteilung:<br />
„Diese Krankheit ist so schrecklich,<br />
dass ich sie nicht einmal beim Namen nennen<br />
will, das würde Sie zu sehr belasten.“<br />
Deshalb ist es auch Teil einer guten Qualität<br />
der Kommunikation mit MS-Betroffenen,<br />
dass die behandelnden ÄrztInnen sich selbst<br />
immer wieder ihre eigene Einstellung zur Erkrankung<br />
sorgfältig bewusst machen und<br />
bedenken sowie den eigenen psychischen<br />
Hintergrund in Bezug auf den Umgang mit<br />
PatientInnen einer regelmäßigen Beobachtung<br />
unterziehen. Nur auf diese Weise ist<br />
das unbewusste Vermitteln ungewollter Einschätzungen<br />
und Wertungen weitgehend<br />
vermeidbar.<br />
Die Fortsetzung der Betreuung<br />
MS ist eine chronische Erkrankung und dauert<br />
„lebenslänglich“. Deshalb ist natürlich<br />
auch die Betreuung und Behandlung ein<br />
langjähriger Prozess, der auch immer wieder<br />
Adaptierung erfordert. Auch private Partnerschaften<br />
unterliegen ja – wenn sie Bestand<br />
haben sollen – einem ständigen Entwicklungsprozess<br />
und erfordern „Beziehungsarbeit“.<br />
Menschen ändern und entwickeln sich<br />
in ihrem Verhalten und in ihren Einstellungen,<br />
besonders wenn sie mit einer Lebenssituation<br />
umgehen müssen, die von einer Erkrankung<br />
mitbestimmt wird.<br />
Eine über viele Jahre notwendige Betreuung<br />
von MS-Betroffenen mit ihren wechselnden<br />
Anforderungen erfordert ein hohes Ausmaß<br />
an Flexibilität im Umgang mit der Erkrankung,<br />
eventuell wechselnden Therapien und<br />
Lebenssituationen der PatientInnen. Die Prinzipien<br />
der Kommunikation in Bezug auf Respekt<br />
und Wertschätzung, Klarheit, Offenheit<br />
und Unterstützung bleiben allerdings die gleichen<br />
und sind natürlich im gesamten Verlauf<br />
der Betreuung in analoger Weise zu beachten<br />
und weiterzuführen.<br />
n<br />
20
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
Kognition und multiple Sklerose<br />
Obwohl schon Charcot im 19. Jahrhundert in seiner ersten Krankenbeschreibung der multiplen Sklerose<br />
psychologische Begleiterscheinungen dokumentierte, begannen systematische Untersuchungen zu kognitiven<br />
Defiziten bei MS erst Mitte des letzten Jahrhunderts. Mittlerweile wurde eine Vielzahl von Studien publiziert,<br />
die neben motorischen Defiziten auch kognitive Beeinträchtigungen, Persönlichkeitsveränderungen, affektive<br />
Störungen und vermehrte chronische Ermüdung (chronic fatigue) bei MS-PatientInnen analysieren.<br />
Die pathophysiologische Ursache kognitiver<br />
Beeinträchtigungen bei MS wird in der Unterbrechung<br />
kortiko-subkortikaler Bahnen<br />
durch Demyelinisierung und Axonverluste angenommen.<br />
Die morphologischen Veränderungen,<br />
die besonders mit kognitiven Einschränkungen<br />
assoziiert werden, sind vor<br />
allem im erweiterten 3. Ventrikel, in periventrikulären<br />
Arealen, im Corpus callosum und<br />
im Parenchym zu finden 1, 2 .<br />
Calabrese et al. betonen 3 , dass aber nicht so<br />
sehr das Läsionsvolumen in den besagten<br />
Arealen ausschlaggebend für das Vorhandensein<br />
kognitiver Störungen ist, sondern die Läsionsverteilung.<br />
Das von ihnen beschriebene<br />
Schwellenmodell versucht individuell variierende<br />
kognitive Leistungsmuster zu erklären.<br />
Sie postulieren drei Prägnanztypen: großflächig<br />
periventrikuläre konfluierende Läsionsmuster,<br />
vereinzelte Läsionen und gleichzeitiges<br />
Auftreten konfluierender Demyelinisierungs-<br />
und lokalisierter Herde.<br />
So unterschiedlich die Befallmuster der entzündlichen<br />
Erkrankung sind, so unterschiedlich<br />
sind auch die interindividuellen Variabilitäten<br />
in den kognitiven Leistungsprofilen.<br />
Beim Großteil der MS-PatientInnen lässt sich<br />
aber trotzdem ein charakteristisches Störungsprofil<br />
beschreiben:<br />
• Aufmerksamkeitsfunktionen,<br />
• Lern- und Gedächtnisleistung,<br />
• exekutive Funktionen,<br />
• affektive Funktionen und Persönlichkeit<br />
1 2<br />
Eine Studie aus dem Jahre 2009 4 versuchte<br />
Korrelationen zwischen zerebralen Läsionsverteilungen<br />
und unterschiedlichen kognitiven<br />
Leistungsprofilen zu finden: PatientInnen<br />
mit großflächigen periventrikulären Läsionsmustern<br />
fielen durch mnestische Störungen<br />
und affektive Veränderungen auf. Vereinzelte<br />
Läsionen führten zu eng umschriebenen kognitiven<br />
Funktionsdefiziten, die dann dekompensierten,<br />
wenn eine bestimmte qualitative<br />
Schwelle erreicht war. PatientInnen mit Demyelinisierungen<br />
und lokalisierten Herden<br />
waren durch Einbußen in mehreren kognitiven<br />
Funktionen charakterisiert und wurden<br />
als RisikopatientInnen gesehen, rascher im<br />
Lauf der Jahre demenzielle Symptome zu entwickeln.<br />
Klinische Charakteristika<br />
Wenn man die kognitiven Funktionen, die<br />
bei MS besonders betroffen sind, genauer<br />
analysiert, haben MS-PatientInnen in den Dimensionen<br />
Aufmerksamkeit Probleme bei der<br />
Alertness (Aktivierung von Aufmerksamkeitsressourcen)<br />
und auch bei der geteilten Aufmerksamkeit<br />
(Steuerung der Aufmerksamkeit<br />
auf mehrere Reize gleichzeitig). Ebenso schildern<br />
die Betroffenen Beeinträchtigungen<br />
beim Arbeitsgedächtnis, das eine wichtige<br />
Funktion beim Lesen, Fernsehen, Gespräche<br />
führen etc. hat. Auch das Tip-of-the-Tongue-<br />
Phänomen (das Wort liegt mir auf der Zunge,<br />
aber die Wiedergabe fällt schwer), ein von<br />
MS-Erkrankten häufig geschildertes Problem,<br />
Mag. Dr. Gisela Pusswald 1<br />
Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong>,<br />
Medizinische Universität Wien<br />
Mag. Christa Mildner 2<br />
Sozialmedizinisches Zentrum Süd,<br />
Kaiser-Franz-Josef-Spital, <strong>Neurologie</strong><br />
kann als Ursache Defizite im Arbeitsgedächtnis<br />
haben.<br />
Die Probleme bei der Gedächtnisleistung beziehen<br />
sich vor allem auf die verzögerte Abrufleistung.<br />
PatientInnen berichten, dass sie<br />
Texte oder Inhalte, die sie vor einiger Zeit gehört<br />
haben, nur mit Hilfe z. B. von Cues abrufen<br />
können, die Abrufleistung von unzusammenhängendem<br />
Material ist reduziert.<br />
Dysexekutive Syndrome sind charakterisiert<br />
durch einen verzögerten Wortfluss, reduzierte<br />
Ideenproduktion, Beeinträchtigungen<br />
beim Planen, Monitoring, Ausführen von<br />
Handlungen und bei der Kontrolle von Handlungsschritten.<br />
PatientInnen haben im Alltag<br />
Probleme, da sie Termine vergessen, zu spät<br />
kommen, über Stress klagen etc.<br />
Ein oft vernachlässigtes Symptom, das aber<br />
für die Betroffenen mit großen Problemen im<br />
Alltag verbunden ist, sind Defizite der basalen<br />
visuellen Wahrnehmung wie z. B. Gesichtsfeldeinschränkungen<br />
sowie Skotome oder<br />
Defizite bei der kognitiven Verarbeitung visueller<br />
Reize. Im Alltag wirkt sich diese Beeinträchtigung<br />
durch frühzeitige Ermüdung<br />
beim Lesen, Autofahren, bei Computerarbeit<br />
oder z. B. beim Fernsehen aus. Kopfschmerzen,<br />
Nervosität, reduzierte Belastbarkeit und<br />
Unkonzentriertheit können die Sekundärfolgen<br />
sein.<br />
22
Auswirkungen<br />
auf die Lebensqualität<br />
MS tritt meist im Alter zwischen 20 und 40<br />
Jahren auf – ein Lebensabschnitt, in dem<br />
meist der Höhepunkt der beruflichen Karriere<br />
erreicht wird und die Familiengründung aktuell<br />
ist. Kognitive Defizite, begleitet von affektiven<br />
Störungen und Fatigue, sind häufig<br />
die Hauptgründe, warum die Betroffenen<br />
nicht mehr ihrer Arbeit nachgehen können,<br />
sich von Freizeitaktivitäten oder dem Freundeskreis<br />
zurückziehen. Studien zeigen, dass<br />
MS-PatientInnen mit kognitiven Defiziten seltener<br />
berufstätig sind, Probleme in der Partnerschaft<br />
und sexuelle Dysfunktionen häufiger<br />
angeben, mit Problemen am Arbeitsplatz<br />
kämpfen und an mehr Verkehrsunfällen beteiligt<br />
sind. Unumstritten sind kognitive Defizite<br />
der Betroffenen und Veränderungen des<br />
psychischen Zustandes – Faktoren, die die Lebensqualität<br />
negativ beeinflussen. Dieses Faktum<br />
muss im Bereich der <strong>neurologisch</strong>en Rehabilitation<br />
berücksichtigt werden und entsprechende<br />
Rehabilitationsprogramme, die<br />
neben Training der körperlichen Defizite, neuropsychologische<br />
Therapie, wie kognitives<br />
Training und psychologische Behandlung anbieten,<br />
Rechnung getragen werden.<br />
Neuropsychologische<br />
Therapie bei MS<br />
Neuropsychologische Therapie beinhaltet<br />
Aspekte der Restitution, Kompensation sowie<br />
Adaption. Studien zeigen, dass manche kognitive<br />
Funktionen durch Restitutionstraining,<br />
andere Funktionen durch Kompensationsstrategien<br />
verbesserbar sind. Die Möglichkeiten<br />
der Adaption der Umwelt sowie des eigenen<br />
Heimes an die Beeinträchtigungen stellen<br />
immer einen wesentlichen Bestandteil in der<br />
Behandlung dar.<br />
Aufmerksamkeitstraining: Dimensionen<br />
der Aufmerksamkeit lassen sich durch gezieltes<br />
intensives funktionelles Training verbessern.<br />
Bewährt haben sich computerunterstützte<br />
Therapieverfahren, die spezifische<br />
Aufmerksamkeitsfunktionen in alltagsnahen<br />
Situationen trainieren. Studien (z. B. 5 ) zeigen<br />
die Effektivität eines spezifischen, auf das jeweilige<br />
Defizit zugeschnittenen Trainings.<br />
In der Arbeit von Plohmann 6 wurden unterschiedliche<br />
Dimensionen von Aufmerksamkeitsdefiziten<br />
bei MS-PatientInnen mit einem<br />
spezifischen Programm der PC-Software AIX-<br />
TENT trainiert. Die Resultate zeigen, dass eine<br />
spezifische, individuell abgestimmte Intervention<br />
einen positiveren Effekt erzielt als ein<br />
unspezifisches Training. Andererseits konnte<br />
gezeigt werden, dass das Training einer<br />
grundlegenden Aufmerksamkeitsfunktion,<br />
wie der Alertness, auch eine Wirkung auf<br />
komplexe und höhere Aufmerksamkeitsfunktionen<br />
wie die selektive Aufmerksamkeit erzielen<br />
kann. Weiters konnte ein Transfereffekt<br />
des funktionellen Aufmerksamkeitstrainings<br />
auf Alltagsleistungen erhoben werden, ein<br />
Effekt, der Ziel jeglicher Trainingsansätze in<br />
der Rehabilitation sein sollte.<br />
Arbeitsgedächtnis: Vielversprechende Ergebnisse<br />
zeigt auch eine Studie von Vogt et<br />
al. 7 über die Wirksamkeit eines Trainings spezifischer<br />
Aspekte des Arbeitsgedächtnisses<br />
mittels „BrainStim“. Die Resultate zeigten bei<br />
PatientInnen und Gesunden während des<br />
Trainings eine konstante Leistungsverbes -<br />
serung. Bei einer neuropsychologischen<br />
Nachuntersuchung wurden bedeutsame<br />
Leis tungsverbesserungen beim Item „Arbeitsgedächtnis“<br />
und bei der Verarbeitungsgeschwindigkeit<br />
nachgewiesen, zudem zeigte<br />
sich eine deutliche Reduktion der Fatigue-<br />
Werte.<br />
Diese stimulierenden und aktivierenden Verfahren<br />
sollten falls nötig durch lerntheoretisch<br />
fundierte Methoden (Selbstinstruktionstraining)<br />
oder Kompensationstechniken wie<br />
Organisation des Alltages oder Adaptation<br />
an die Umwelt ergänzt werden.<br />
Lerngedächtnistraining und Abrufleis -<br />
tung: Es wird empfohlen, Beeinträchtigungen<br />
der Abrufleistungen von gespeichertem<br />
verbalem oder spatialem Material durch auf<br />
den individuellen Alltag des Betroffenen abgestimmte<br />
Strategien und Hilfen zu verbessern.<br />
Das Erlernen von Memotechniken oder<br />
der Einsatz von Hilfsmitteln wie z. B. Notizbüchern,<br />
Tagebüchern, Erinnerungsfunktionen<br />
des Handys etc. stellen für den Betroffenen<br />
die beste Unterstützung dar.<br />
Exekutivfunktionen: Die Therapie dysexekutiver<br />
Funktionen sollte störungsspezifisch<br />
sein. Ausgerichtet auf das jeweilige Defizit<br />
kann einerseits Restitution (z. B. bei Reduktion<br />
der verbalen Flüssigkeit oder des Ideenreichtums)<br />
und andererseits ein kompensatorischer<br />
Trainingsansatz (z. B. zur Verbesserung<br />
der Aufgaben- und Problemanalysen<br />
oder Entwicklung von Handlungsalternativen)<br />
eingesetzt werden. Behaviorale und lerntheoretische<br />
Methoden werden bei Verhaltenauffälligkeiten<br />
wie Kontrollverlust, Distanzlosigkeit<br />
etc. empfohlen. Kognitiv-verhaltentherapeutische<br />
Verfahren können auch im<br />
Gruppensetting bei Problemen der sozialen<br />
Kompetenz, der Kommunikation oder bei impulsivem,<br />
unkontrolliertem Verhalten angewendet<br />
werden.<br />
Visuell-räumliche Störungen: Der Behandlung<br />
visuell-räumlicher Störungen bei MS-PatientInnen<br />
wurde noch wenig Aufmerksamkeit<br />
geschenkt, Studien dazu fehlen gänzlich.<br />
Im Einzelfall werden interdisziplinäre Methoden<br />
(in Zusammenarbeit mit OrthoptistInnen<br />
und ErgotherapeutInnen) empfohlen, die sich<br />
bei den entsprechenden Störungen (wie Gesichtsfeldeinschränkungen,<br />
Skotome etc.) als<br />
wirksam erwiesen haben (Explorationstraining,<br />
Blicktraining, Lesetraining, Fusionstraining<br />
etc.).<br />
Frühzeitiger Therapiebeginn: Bei allen<br />
Trainingsansätzen darf nicht vergessen werden,<br />
dass das Erlernte in den Alltag, in die<br />
soziale, persönliche, berufliche Realität jedes<br />
einzelnen Betroffenen transferiert werden<br />
muss. Zudem sind stets sämtliche Aspekte zu<br />
beachten, die begünstigend oder auch negativ<br />
auf die kognitiven Fähigkeiten wirken<br />
können. Erwähnt seien an dieser Stelle Einflussfaktoren<br />
wie Stimmung (Depression)<br />
oder auch Auswirkungen von Stress.<br />
Begleitende klinisch psychologische Behandlungen<br />
– Erlernen von Entspannungstechniken,<br />
Stresspräventions- bzw. -verarbeitungsstrategien,<br />
Burn-out-Prophylaxe, Kriseninterventionen<br />
etc. – sind ein wichtiger Bestand- u<br />
23
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
teil des neuropsychologischen Rehabilitationskonzeptes.<br />
Genauso unverzichtbar ist die<br />
Edukation der Angehörigen, sei es die Übermittlung<br />
von krankheitsspezifischen Informationen<br />
oder die Einschulung der Angehörigen<br />
als Co-TherapeutInnen.<br />
Generell sollte die neuropsychologische Behandlung<br />
so früh wie möglich nach Erstdiagnose<br />
von kognitiven Defiziten begonnen<br />
werden. Je früher der/die MS-PatientIn<br />
seine/ihre wahrgenommenen Defizite zuordnen<br />
kann, diese trainiert und lernt, damit umzugehen,<br />
desto stabiler kann er/sie die Lebensqualität<br />
erhalten. Der Behandlung muss<br />
wie bei jeder klinischen Intervention eine Diagnostik<br />
vorangestellt werden. Neuropsychologisches<br />
Funktionstraining sollte mehrmals<br />
die Woche empfohlen werden, abhängig von<br />
der Art des Defizites mindestens 3-mal à 30<br />
Minuten lang durchgeführt werden kompensatorische<br />
Techniken können mit dem/der PatientIn<br />
erarbeitet und unter Supervision<br />
des/der TherapeutIn als auch mit Unterstützung<br />
eingeschulter Angehöriger durchgeführt<br />
werden.<br />
In Österreich wird neuropsychologische Diagnostik<br />
von klinischen PsychologInnen (bzw.<br />
RESÜMEE<br />
Neuropsychologische Defizite bei MS-PatientInnen<br />
sind kein seltenes Phänomen,<br />
sondern bei 40–60 % der Betroffenen<br />
vorhanden. Beeinträchtigungen der Aufmerksamkeit,<br />
des Gedächtnisses, der visuellen<br />
Wahrnehmung sowie exekutive<br />
Defizite werden am häufigsten diagnostiziert.<br />
Psychologische Probleme wie<br />
chronische Müdigkeit, Depressionen,<br />
Ängste und Veränderungen der Persönlichkeit<br />
sind Begleiterscheinungen, die<br />
vor allem die Angehörigen belasten.<br />
Neuropsychologische Diagnostik mit<br />
konsekutiver neuropsychologischer Behandlung<br />
sollte ein Standardangebot im<br />
<strong>neurologisch</strong>en Rehabilitationssetting<br />
von PatientInnen mit MS sein.<br />
In Österreich werden sowohl die Diagnos -<br />
tik als auch die Behandlung von klinischen<br />
NeuropsychologInnen angeboten<br />
(BehandlerInnenliste unter www.gnpoe.at).<br />
klinischen PsychologInnen mit der Zusatz -<br />
qualifikation „Neuropsychologe“: Adressen<br />
dazu werden unter www.gnpoe.at) angeboten<br />
und auf ärztliche Zuweisung von den<br />
Krankenkassen refundiert. Therapeutische<br />
Interventionen bieten sowohl klinische NeuropsychologInnen<br />
als auch Ergotherapeu -<br />
tInnen an.<br />
n<br />
1 Lensch E et al., Identification and management of cognitive<br />
disorders in multiple sclerosis – a consensus<br />
approach. J Neurol 2006; 253 Suppl 1:I29–31<br />
2 Pozzilli C et al., SPECT, MRI and cognitive functions in<br />
multiple sclerosis. J Neurol Neurosurg Psych 1991;<br />
54(2):110–5<br />
3 Calabrese P (Hrsg.), Multiple Sklerose und Kognition<br />
2007 Georg Thieme Verlag<br />
4 Tiemann L. et al., Cognitive decline in multiple sclerosis:<br />
impact of topographic lesion distribution on differential<br />
cognitive deficit patterns. Multiple Sclerosis 2009;<br />
15(10):1164–1174<br />
5 Sturm W et al., Network for auditory intrinsic alertness:<br />
a PET study. Neuropsychologia 2004; 42:563–568<br />
6 Plohmann AM et al., Computer-assisted retraining of<br />
attentional impairments in patients with multiple sclerosis.<br />
J Neurology Neurosurgery and Psychiatry 1998;<br />
64:455–462<br />
7 Vogt A et al., Brain Stim – Wirksamkeit eines neu entwickelten<br />
kognitiven Trainingsprogramms bei MS; Neurological<br />
Rehabilitation 2008; 14(2):93–101<br />
Weitere Literatur:<br />
- Cicerone KD et al., Evidence-based cognitive rehabilitation:<br />
Updated review of the literature from 1998 through<br />
2002. Arch Phys Med Rehab 2005; 86(8):1681–1692<br />
- Pusswald G, Vass K, Multiple Sklerose. Lehrner et al.,<br />
(Hrsg.), Lehrbuch Klinische Neuropsychologie. Springer<br />
Verlag, Wien 2010<br />
- Vorstand der GNP et al., Leitlinien der <strong>Gesellschaft</strong> für<br />
Neuropsychologie (GNP) für neuropsychologische Diagnostik<br />
und Therapie. Zeitschrift für Neuropsychologie<br />
2005; 16(4):175–201<br />
24
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
Emotionale Störungen und multiple Sklerose<br />
PatientInnen, die an multipler Sklerose erkrankt sind, leiden nicht nur an körperlichen Symptomen und<br />
Beeinträchtigungen. Zusätzlich treten häufig affektive Störungen auf, wie Depression oder eine bipolare<br />
Erkrankung, aber auch Psychosen. Möglicherweise können Beeinträchtigungen im Alltag auch durch Störungen<br />
der Emotionswahrnehmung und Emotionsverarbeitung bedingt sein.<br />
Depression,<br />
bipolare Störung, Psychosen<br />
Mehrere klinikbasierte, aber vor allem auch<br />
populationsbasierte epidemiologische Studien<br />
zeigten, dass die 12-Monats-Prävalenz der<br />
Major Depression bei MS-PatientInnen mit<br />
15,7 % doppelt so hoch ist wie in der Allgemeinbevölkerung.<br />
Die Lebenszeitprävalenz<br />
reicht nahe an 50 % heran. MS-PatientInnen<br />
haben auch ein signifikant höheres Suizidrisiko.<br />
Risikoerhöhend wirken männliches Geschlecht,<br />
soziale Isolation, Substanzmissbrauch,<br />
Diagnose einer Major Depression und<br />
jüngeres Alter bei MS-Beginn. Als ursächlich<br />
für die erhöhte Prävalenz der Depression können<br />
sowohl eine genetische Veranlagung als<br />
auch psychosoziale Risikofaktoren, wie sie bei<br />
depressiven PatientInnen ohne MS vorkommen,<br />
wirken. Weiters kann die Depression<br />
auch als Reaktion auf die Erkrankung und<br />
die Auseinandersetzung mit der Erkrankung<br />
entstehen.<br />
Zum Teil wird diese Risikoerhöhung auch<br />
durch Läsionen im Fasciculus arcuatus der<br />
dominanten Hemisphäre sowie durch Läsionen<br />
frontal und parietal oder durch eine kortikale<br />
Atrophie erklärt. Weiters wurden Hinweise<br />
gefunden, dass depressive MS-PatientInnen<br />
im Vergleich zu nicht depressiven<br />
häufiger Läsionen im medialen inferioren präfrontalen<br />
Kortex und im anterioren Temporallappen<br />
der dominanten Hemisphäre<br />
haben.<br />
Bei der klinischen Symptomatik stehen Reizbarkeit,<br />
Frustration, Mutlosigkeit und neurovegetative<br />
Symptome (Schlafstörung, Appetitminderung,<br />
Ermüdbarkeit) im Vordergrund.<br />
MS-PatientInnen weisen aber weniger oft<br />
Schuldgefühle und niedrigen Selbstwert auf<br />
als depressive PatientInnen ohne MS 1, 2 .<br />
Auch die Prävalenz der bipolar affektiven Störung<br />
ist zweimal so hoch wie in der Normalbevölkerung.<br />
Es gibt keine ausreichenden<br />
bildgebenden Studien, welche die Pathogenese<br />
bei MS-PatientInnen untersuchten. Die<br />
Prävalenz der Angststörungen wird auf 14–<br />
41 % bei MS-PatientInnen geschätzt. Angststörungen<br />
kommen häufig gemeinsam mit<br />
Depressionen vor und gehen mit einer erhöhten<br />
Rate von suizidalen Ideen, mehr körperlichen<br />
Beschwerden, häufigeren sozialen<br />
Dysfunktionen und erhöhtem Alkoholkonsum<br />
einher.<br />
Die Prävalenz von Psychosen bei MS-PatientInnen<br />
wurde lange Zeit als gering eingeschätzt.<br />
Es gibt zwar nach wie vor wenige<br />
Daten, aber eine populationsbasierte Untersuchung<br />
weist darauf hin, dass die Prävalenz<br />
mit 2–3 % bis zu dreimal höher sein könnte<br />
als in der Allgemeinbevölkerung. Aufgrund<br />
der mangelnden Datenlage kann derzeit<br />
keine Aussage getroffen werden, ob diese<br />
mögliche Risikoerhöhung mit den MS-typischen<br />
Läsionen zusammenhängt oder ob andere<br />
Risikofaktoren eine Rolle spielen 1, 2 .<br />
Therapeutisch sind die psychiatrischen Erkrankungen<br />
bei MS-PatientInnen so zu behandeln<br />
wie bei psychiatrisch Erkrankten<br />
ohne MS. Insbesondere sind neben der medikamentösen<br />
Therapie die Psychotherapie<br />
und stützende Gespräche wichtige Stütz -<br />
pfeiler.<br />
Emotionswahrnehmung<br />
und Emotionsverarbeitung<br />
Dr. Karin Zebenholzer<br />
Universitätsklinik<br />
für <strong>Neurologie</strong>,<br />
Medizinische Universität<br />
Wien<br />
Unter den PatientInnen mit multipler Sklerose<br />
leiden 40–70 % an kognitiven Defiziten.<br />
Dabei sind die Aufmerksamkeit, die Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit,<br />
exekutive<br />
Funktionen, das Gedächtnis, visuelles Lernen<br />
und visuelles Gedächtnis am häufigsten betroffen<br />
3 . Diesen kognitiven Störungen liegen<br />
die MS-typischen Veränderungen in der weißen<br />
Substanz wie auch die dadurch bedingten<br />
Unterbrechungen der frontal-subkortikalen<br />
Netzwerke zu Grunde. Wegen dieser Veränderungen<br />
wird vermutet, dass auch Probleme<br />
beim Erkennen und Verarbeiten von<br />
Emotionen auftreten können, denn das Erkennen<br />
von Emotionen ist ein komplexer kognitiver<br />
Prozess, der vor allem die Aufmerksamkeit,<br />
das Arbeitsgedächtnis, die Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit,<br />
das<br />
Lernen, das Abrufen von Gedächtnisinhalten<br />
und semantische und exekutive Funktionen<br />
involviert. Erst seit relativ kurzer Zeit wird der<br />
Emotionswahrnehmung und Emotionsverarbeitung<br />
bei PatientInnen mit multipler Sklerose<br />
mehr wissenschaftliche Aufmerksamkeit<br />
zuteil.<br />
Das Erkennen von Emotionen – unter anderem<br />
die Interpretation emotionaler Ausdrücke<br />
in Gesichtern und Körpersprache – ist wichtig,<br />
um im sozialen Umfeld adäquat interagieren<br />
zu können. Für die Interaktion mit<br />
anderen spielt auch die Theory of Mind eine<br />
große Rolle: Theory of Mind beschreibt die<br />
Fähigkeit, Annahmen über Bewusstseinsvorgänge<br />
in anderen Personen vorzunehmen<br />
und diese in der eigenen Person zu erkennen,<br />
also Gefühle, Bedürfnisse, Ideen, Absichten,<br />
Erwartungen und Meinungen zu vermuten.<br />
Dafür ist die Integration kognitiver und emotionaler<br />
Prozesse notwendig.<br />
Basierend auf diesen Annahmen wurden in<br />
den letzten Jahren einige Studien zur Emotionswahrnehmung<br />
und -verarbeitung bei PatientInnen<br />
mit multipler Sklerose durchgeführt.<br />
In erster Linie wurde dabei das Erkennen<br />
von Emotionen in Gesichtern untersucht. u<br />
25
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
Zusätzlich wurde mit Hilfe von MRT und fMRT<br />
versucht, die zu Grunde liegenden pathologischen<br />
Vorgänge zu erfassen.<br />
Defizite in der Emotionswahrnehmung<br />
bei MS-PatientInnen<br />
In einer der ersten Untersuchungen zur Emotionserkennung<br />
bei MS-PatientInnen fanden<br />
Beatty et al. 4 nicht nur kognitive Defizite bei<br />
MS-PatientInnen, sondern auch, im Vergleich<br />
zu gesunden Kontrollpersonen, niedrigere<br />
Scores in Gesichtererkennungstests. Jehna et<br />
al. 5 fanden zwar Hinweise für kognitive Defizite<br />
bei MS-PatientInnen im Vergleich zu gesunden<br />
Kontrollen und eine längere Reaktionszeit,<br />
um die Emotionen in Gesichtern zu<br />
erkennen, aber die PatientInnen erkannten<br />
die Emotionen in Gesichtern gleich gut wie<br />
die Kontrollpersonen.<br />
Theory of Mind wurde von Henry et al. 6 mittels<br />
des Mind-in-the-Eye-Tests untersucht.<br />
MS-PatientInnen hatten signifikant schlechtere<br />
Ergebnisse als Kontrollpersonen. Zusätzlich<br />
korrelierten bei den MS-PatientInnen<br />
schlechtere Scores bei der verbalen Flüssigkeit<br />
mit schlechteren Mind-in-the-Eye-Ergebnissen<br />
und eine langsamere Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit<br />
bei der Affekterkennung<br />
in Gesichtern. Die MS-PatientInnen<br />
wiesen keine generellen Defizite bei der Emotionserkennung<br />
in Gesichtern auf, erkannten<br />
aber Zorn und Angst schlechter. In einer Studie<br />
von Ouellet et al. 7 konnte gezeigt werden,<br />
dass MS-PatientInnen mit kognitiven Defiziten<br />
im Gegensatz zu den PatientInnen ohne<br />
kognitive Defizite auch mehr Probleme hatten,<br />
den mentalen Status anderer Personen<br />
einzuschätzen. Diese schlechteren Theory-of-<br />
Mind-Fähigkeiten wurden somit nicht der MS<br />
per se zugeordnet, sondern durch die kognitiven<br />
Defizite erklärt.<br />
Eine Studie von Phillips et al. 8 konnte zeigen,<br />
dass MS-PatientInnen spezifische Defizite<br />
beim Dekodieren von statischen und dynamischen<br />
Informationen über Emotionen<br />
haben. Es fanden sich auch Hinweise darauf,<br />
dass soziale und psychologische Aspekte der<br />
Lebensqualität mit diesen Defiziten zusammenhängen.<br />
Weiters fanden auch Prochnow<br />
et al. 9 bei MS-PatientInnen Defizite in der Affekterkennung<br />
in Gesichtern und zusätzlich<br />
höhere Alexithymie-Scores als bei gesunden<br />
Kontrollpersonen. Diese höheren Alexithymie-Scores<br />
korrelierten auch mit den Defiziten<br />
in der Emotionswahrnehmung.<br />
Funktionelle Bildgebung<br />
und Emotionswahrnehmung<br />
Mehrere Arbeitsgruppen untersuchten Störungen<br />
der Emotionswahrnehmung bei MS-<br />
PatientInnen mittels fMRT. Zielregionen, die<br />
eine wesentliche Rolle bei der Erkennung von<br />
Emotionen in Gesichtern spielen, sind die<br />
RESÜMEE<br />
Es gibt Hinweise darauf, dass MS-PatientInnen<br />
Defizite bei der Emotionserkennung<br />
in Gesichtern haben. Vor allem<br />
scheint das Erkennen negativer Emotionen<br />
erschwert zu sein. Es ist aber aufgrund<br />
der bisherigen Studien nicht differenzierbar,<br />
ob diese Ergebnisse eine<br />
statistische Assoziation zwischen Läsionen<br />
in jenen Regionen der weißen Substanz,<br />
die in die Emotionsverarbeitung<br />
involviert sind, und kognitiven Prozessen<br />
widerspiegeln, oder ob die kognitiven<br />
Defizite selbst die Ursache für die Probleme<br />
bei der Emotionserkennung sind.<br />
Wenn Defizite bei der Emotionserkennung<br />
vorhanden sind, so scheinen diese<br />
sehr subtil zu sein. Inwieweit sie eine<br />
Rolle im Alltag der Patienten spielen, insbesondere<br />
in den sozialen Beziehungen<br />
oder am Arbeitsplatz, muss erst detaillierter<br />
untersucht werden.<br />
Der Zusammenhang zwischen affektiven<br />
Störungen und der Emotionswahrnehmung<br />
ist bisher nicht ausreichend untersucht.<br />
Gesichert ist, dass viele MS-PatientInnen<br />
durch Depressionen, bipolare<br />
Erkrankungen und auch durch Psychosen<br />
beeinträchtigt sind. Daher ist bei der Anamnese<br />
und in der regelmäßigen Betreuung<br />
der PatientInnen darauf besondere<br />
Aufmerksamkeit zu legen. Diese Erkrankungen<br />
sind mit bewährten Medikamenten<br />
und psychotherapeutischer Unterstützung<br />
gut behandelbar, und es können<br />
somit der Leidensdruck für die<br />
PatientInnen und die Beeinträchtigung<br />
im Alltag deutlich gemindert werden.<br />
Amygdala und der orbitofrontale Kortex. Zum<br />
Teil wurden jedoch widersprüchliche Aktivierungsmuster<br />
gefunden. Krause et al. 10 fanden<br />
bei PatientInnen, die Defizite beim Erkennen<br />
von Emotionen in Gesichtern hatten, eine verminderte<br />
Aktivierung in frontalen Kortexregionen<br />
und in der anterioren Inselregion, aber<br />
eine normale Aktivierung bei PatientInnen<br />
ohne solche Defizite. Allerdings fanden sich<br />
diese Unterschiede nur für die Dimensionen<br />
Angst, Trauer und Zorn und nicht bei glücklichen<br />
Gesichtern. Bemerkenswert scheint jedoch,<br />
dass sich die PatientInnen mit Defiziten<br />
in der Emotionswahrnehmung hinsichtlich des<br />
T2-Läsionsvolumens nicht von jenen ohne<br />
diese Defizite unterschieden, und dass auch<br />
die Läsionslast nicht mit den Aktivierungsmus -<br />
tern während des Tests korrelierte 11 . Während<br />
der Beurteilung negativer Emotionen in Gesichtern<br />
im fMRT wurden bei MS-PatientInnen<br />
der ventrolaterale präfrontale Kortex und der<br />
superiore parietale Kortex deutlicher aktiviert<br />
als bei Gesunden. Zusätzlich zeigte sich eine<br />
verminderte funktionale Konnektivität zwischen<br />
ventrolateralem sowie medialem präfrontalen<br />
Kortex und linker Amygdala. Dies<br />
könnte die Demyelinisierung dieser Verbindungen<br />
widerspiegeln 11 .<br />
n<br />
1 Feinstein A, Neuropsychiatric syndromes associated<br />
with multiple sclerosis. J Neurol 2007;<br />
254(Suppl 2);II/73–II/76<br />
2 Paparrigopoulos T, Ferentinos P, Kouzoupis A, Koutsis<br />
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multiple sclerosis. Lancet Neurol 2008; 7:1139–1151<br />
4 Beatty WW, Goodkin DE, Monson N, Beatty PA, Cognitive<br />
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multiple sclerosis. Arch Neurol 1989; 46:1113–1119<br />
5 Jehna M, Neuper C, Petrovic K, Wallner-Blazek M,<br />
Schmidt R, Fuchs S, Fazekas F, Enzinger C, An ex -<br />
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clinically isolated syndrome and multiple sclerosis. Clin<br />
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sclerosis. JINS 2010; 16:287–296<br />
8 Phillips LH, Henry JD, Scott C, Summers F, Whyte M,<br />
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relapsing-remitting multiple sclerosis. Brain 2009;<br />
132:3380–3391<br />
26
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
(Motorische) Rehabilitation<br />
bei multipler Sklerose<br />
Es dürfte die wohl häufigste Zuweisung in der Betreuung von PatientInnen mit multipler Sklerose (MS) sein: das<br />
leger hingeworfene „Wie wäre es mit Physiotherapie?“ als Synonym für motorische Rehabilitation. PatientInnen<br />
erwarten Wunder, ÄrztInnen sind von der Notwendigkeit überzeugt. Dass eigentlich die Rehabilitation<br />
multimodal (z. B. Physio- und Ergotherapie) sein sollte, sei nur nebenbei erwähnt. Welche Grundlagen<br />
und welche Evidenz zur Wirksamkeit der motorischen Rehabilitation gibt es aber tatsächlich?<br />
Definition<br />
Rehabilitation bedeutet in Anlehnung an die<br />
WHO das Erzielen und Erhalten der optimalen<br />
physischen, psychischen, sensorischen, intellektuellen<br />
und sozialen Funktionen, vor allem<br />
auch im Hinblick auf Selbstbestimmung und<br />
Unabhängigkeit. Definitionsgemäß ist auch<br />
von der Wiederherstellung dieser Funktionen<br />
die Rede; allerdings ist es in der <strong>Neurologie</strong><br />
oft unrealistisch, ein solches absolutes Ziel<br />
anzustreben.<br />
Speziell bei MS ist es wichtig, Rehabilitation<br />
als einen Prozess zu sehen, der den Betroffenen<br />
hilft, die optimal mögliche Funktion zu<br />
erreichen und zu erhalten, und dabei unter<br />
Berücksichtigung der Behinderung Umwelt<br />
und Lebensziele auch Beruf und Lebensqualität<br />
nicht zu vergessen.<br />
Auch wenn der Krankheitsverlauf nicht (eindeutig?)<br />
beeinflusst werden kann, so sollte<br />
ein gezieltes individuelles Rehabilitationsprogramm<br />
eine Verbesserung der Mobilität, der<br />
Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) und<br />
der Lebensqualität (QoL) bewirken. Anzustreben<br />
ist ebenso die Verhinderung von (Sekundär-)Komplikationen,<br />
eine Reduktion der Inanspruchnahme<br />
sozialer Dienste sowie in der<br />
Folge eine Erlangung von Sicherheit und Unabhängigkeit.<br />
Negative Auswirkungen einer<br />
Rehabilitation sind nicht beschrieben. Relative<br />
Kontraindikationen wären u. a. schwere kognitive<br />
Störungen.<br />
Ein Rehabilitationsprogramm soll individuell<br />
ausgerichtet sein und ein persönliches<br />
Übungsprogramm, Funktionstraining und auf<br />
die Einzelperson abgestimmte Aktivitäten beinhalten.<br />
Mit einem Wort, bei einer optimalen<br />
Rehabilitation müssen neben physiologischen<br />
Aspekten auch die psychischen und sozialen<br />
Auswirkungen einer Funktionseinschränkung<br />
berücksichtigt werden.<br />
Exkurs zur ICF<br />
Um die vorliegenden und auch zukünftige<br />
Studien über den Einsatz einer Rehabilitation<br />
besser zu verstehen bzw. zu planen, ist es<br />
notwendig, einen kleinen Exkurs zur ICF (International<br />
Classification of Functioning, Disability<br />
and Health) vorzunehmen. Mit dieser<br />
Klassifikation, die 2001 von der WHO verabschiedet<br />
wurde, wird versucht, ein Gesundheitsproblem<br />
(Gesundheitsstörung oder<br />
Krankheitsfolgen definiert nach ICD-10)<br />
unter Berücksichtigung bestimmter Komponenten<br />
zu beschreiben.<br />
Diese Komponenten sind einerseits die Körperfunktion<br />
und Körperstruktur sowie Aktivitäten<br />
und Partizipation (Teilhabe) (als Teil 1:<br />
Funktionsfähigkeit und Behinderung), andererseits<br />
Umweltfaktoren und personenbezogene<br />
Faktoren (als Teil 2: Kontextfaktoren).<br />
Letztere beeinflussen die Aktivitäten des/der<br />
PatientIn. Das bedeutet, dass bei der Betreuung<br />
und Rehabilitation von Pa tien tInnen/<br />
KlientInnen nicht ausschließlich die physische<br />
Einschränkung von Bedeutung ist, sondern<br />
auch verschiedene andere Aspekte der Persönlichkeit<br />
wie etwa die Integration in die<br />
<strong>Gesellschaft</strong>. Die Verbesserung soll die „funktionale<br />
Gesundheit“ betreffen, d. h. Therapieziele<br />
sollen sich nicht nur auf die Funktions-<br />
und Aktivitätsebene beziehen, sondern<br />
auch auf die Teilhabeebene. Aus den vorangegangenen<br />
Bemerkungen wird deutlich,<br />
dass der Begriff „motorische Rehabilitation“<br />
zu eng gefasst ist, um den Vorstellungen der<br />
ICF zu genügen. Eine ganzheitliche Sicht<br />
des/der PatientIn und seiner/ihrer Gesundheitsprobleme<br />
ist notwendig, um eine Verbesserung<br />
der Funktionsfähigkeit zu erreichen:<br />
das Einbeziehen der Umwelt, die Berücksichtigung<br />
der Persönlichkeit (obwohl in<br />
ICF nicht kodiert) etc.<br />
In der ICF werden klassifiziert: Körperfunktion<br />
(„b“) und -struktur („s“), Aktivität und Partizipation<br />
(„d“) sowie Umwelt („e“). In der<br />
englischsprachigen Literatur entspricht „impairment“<br />
der geschädigten Körperfunktion<br />
und -struktur, „disability“ der veränderten Aktivität<br />
bzw. der Behinderung und „participation“<br />
bzw. „handicap“ der Teilhabe.<br />
Evaluierung von Studien<br />
zur Rehabilitation bei MS<br />
Univ.-Prof. DDr.<br />
Susanne Asenbaum-Nan,<br />
MBA<br />
Universitätsklinik<br />
für <strong>Neurologie</strong>,<br />
Medizinische Universität<br />
Wien<br />
Obwohl in einer Reihe von Veröffentlichungen<br />
ein positives Ergebnis einer motorischen<br />
Rehabilitation gezeigt wurde, sind Vergleiche<br />
und Schlussfolgerungen schwierig – zu unterschiedlich<br />
sind eingeschlossene Patientenpopulationen,<br />
Messmethoden, Art und Ausmaß<br />
der Rehabilitation bzw. Setting (stationär<br />
28
versus ambulant) sowie Definition einer erfolgreichen<br />
Therapie.<br />
Für die exakte Bestimmung der angestrebten<br />
(Rehabilitations)Ziele und deren Überprüfung<br />
bietet sich die ICF an. Als Kernpunkte dienen<br />
die zuvor angeführten Bereiche bzw. Komponenten,<br />
die für ein Gesundheitsproblem<br />
ausschlaggebend sein können. Khan et al. 1<br />
schlagen für den Einsatz der ICF bei MS-Studien<br />
unter anderem folgende Skalen vor, die<br />
eine Definition, Beschreibung und Messung<br />
der einzelnen Komponenten ermöglichen sollen<br />
(wobei Überlappungen in den Kategorien<br />
vorliegen können) (Tab.):<br />
• Funktion/Schädigung – EDSS, MMSE,<br />
BDI, MSFC<br />
• Aktivität – BI, FIM, FSS, FAM<br />
• Teilhabe – MS QOL 54, SF 36, FAMS.<br />
Multimodale Rehabilitation<br />
bei MS<br />
Frage: Wirksamkeit? Khan et al. 2 verfassten<br />
in der „Cochrane database of systematic reviews“<br />
eine Übersichtsarbeit über multidisziplinäre/multimodale<br />
Rehabilitation bei MS. In<br />
Summe wurden 8 randomisierte und kontrol -<br />
lierte Studien aufgenommen (EDSS 3,5–9).<br />
Es ergab sich zwar keine Änderung hinsichtlich<br />
der geschädigten Körperfunktion, durch<br />
die stationäre Rehabilitation konnte aber die<br />
Behinderung und Teilhabe verbessert werden<br />
(„strong evidence“). Eine eingeschränkte Evidenz<br />
zeigte sich für ambulante oder Heim-<br />
Rehabilitation hinsichtlich kurzfristiger Verbesserungen<br />
der Symptome und Behinderung<br />
durch hochintensive Übungen, es kam<br />
allerdings zu einer Steigerung der Teilhabe<br />
und Lebensqualität. Geringe Übungsintensität<br />
über einen längeren Zeitraum führte mit<br />
hoher Evidenz zu einer Erhöhung der Lebensqualität.<br />
Kosteneffektivität konnte nicht<br />
nachgewiesen werden. Hinweise auf eine<br />
„beste Dosis“ oder die „beste Therapie“ ergaben<br />
sich nicht.<br />
Schlussfolgerung ist, dass Rehabilitation nicht<br />
die Körperschädigung beeinflusst, sondern<br />
die Aktivität und Teilhabe verbessern soll. Lebensqualität<br />
scheint davon nicht betroffen zu<br />
sein. Es wird auf die Notwendigkeit weiterer<br />
Tab.: ICF: Gesundheitsfaktoren und deren Testung bei PatientInnen mit MS<br />
ICF-Komponenten Skala Hauptbereich<br />
Körperfunktion EDSS motorisch<br />
und Körperstruktur<br />
MMSE Mini Mental Scale Examination kognitiv<br />
BDI Beck Depression Index psychisch<br />
MSFC Multiple Sclerosis Functional motorisch,<br />
Composite<br />
kognitiv<br />
Aktivität BI Barthel-Index ADL<br />
RMI Rivermead Mobility Index motorisch<br />
FIM Functional Independence Measure motorisch,<br />
kognitiv<br />
FAM Functional Assessment Measure<br />
FSS Fatigue Severity Scale psychisch<br />
Teilhabe<br />
MS QoL 54 MS Quality-of-Life Questionnaire<br />
FAMS Functional Assessment of MS QoL<br />
Instrument<br />
MSIS 29 Multiple Sclerosis Impact Scale physische +<br />
psychische<br />
Auswirkung<br />
SF 36 36 item Short Form Health<br />
Survey Questionnaire<br />
nach Khan et al., 2008 1<br />
Studien hingewiesen, in denen die Effektivität<br />
der Therapien – was, wie lange, wie – und<br />
deren Kosteneffektivität geprüft werden<br />
muss. Darüber hinaus wird auf die Bedeutung<br />
der richtigen Skalen zur Beurteilung eines<br />
Therapieerfolges hingewiesen, die auf der ICF<br />
beruhen sollten.<br />
Beispiele für diese Erkenntnisse wären zwei<br />
Studien aus dem Jahr 1999. Freeman et al. 3<br />
untersuchten die Langzeitauswirkungen einer<br />
stationären Rehabilitation: Auch wenn es im<br />
Beobachtungszeitraum von einem Jahr zu<br />
einer vermehrten Schädigung (EDSS) kam,<br />
zeigte sich eine Verbesserung u.a. der Behinderung<br />
(FIM) für 6 Monate sowie der Lebensqualität<br />
(SF-36, physical component)<br />
über 10 Monate. In einer ähnlich konzipierten<br />
Studie konnten Solaris et al. 4 als direkte Wirkung<br />
eine Reduktion der Behinderung (FIM)<br />
und Verbesserung der Lebensqualität (SF 36,<br />
mental components) über 9 Wochen aufzeigen.<br />
2008 bestätigten Khan et al. 5 in einer randomisierten,<br />
wartelistenkontrollierten Studie<br />
über 12 Monate diese Ergebnisse: signifikante<br />
Verbesserung u. a. im FIM total motor<br />
score in der Behandlungsgruppe mit individuellem<br />
Rehabilitationsprogramm; keine Änderung<br />
waren in MSIS und QoL fassbar.<br />
In gewissem Gegensatz dazu beschreiben<br />
Romberg et al. 6 2005 nach 6 Monaten Widerstandstraining<br />
zwar eine Verbesserung im<br />
MSFC („impairment“ und „disability“), aber<br />
keine Änderung im FIM, EDSS oder MSQOL-<br />
54. Storr et al. 7 konnten 2006 keinen Effekt<br />
einer im Schnitt 35-tägigen intramuralen Rehabilitation<br />
finden.<br />
Frage: intra- und extramurale Rehabilitation?<br />
Im Vergleich scheint die intramurale<br />
Therapie mit kurzfristiger Zielsetzung hinsichtlich<br />
Aktivität besser abzuschneiden. Allerdings<br />
kann eine intensive, kurze extramurale<br />
Rehabilitation gegenüber keiner Therapie<br />
sehr wohl die Aktivität der PatientInnen positiv<br />
beeinflussen, ebenso gibt es Hinweise<br />
hinsichtlich Verbesserung der Lebensqualität.<br />
Für langfristige Therapieprogramme mit niedriger<br />
Intensität zeigte sich am ehesten ein<br />
positiver Effekt auf die Lebensqualität. u<br />
29
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
Frage: akute und chronische Symptomatik?<br />
Craig et al. 8 stellten 2003 fest, dass PatientInnen,<br />
die im Rahmen eines Schubes<br />
neben i. v. Cortison auch multidisziplinäre<br />
Rehabilitation erhielten, nach 3 Monaten bessere<br />
Werte vor allem hinsichtlich der Aktivität<br />
aufwiesen. In diesem Zusammenhang soll auf<br />
eine Studie an einer allgemeinen Rehabilitationspopulation<br />
von Jörger et al. 9 hingewiesen<br />
werden, in der eine deutlichere Verbesserung<br />
im BI bei PatientInnen mit akuten Ausfällen<br />
gegenüber solchen mit chronischen<br />
Behinderungen gefunden wurde.<br />
Eine andere Frage verfolgten Grasso et al. 10 :<br />
Bei PatientInnen mit gering bis mäßig erhöhtem<br />
EDSS konnte durch Rehabilitation eine<br />
stärkere Auswirkung auf ADL (BI, RMI) nachgewiesen<br />
werden als bei schwer betroffenen<br />
MS-PatientInnen.<br />
Frage: Langzeiteffekt? Auch wenn es<br />
schwierig ist, insbesondere in Anbetracht der<br />
Grunderkrankung MS, eine längerfristige<br />
Auswirkung einer Rehabilitation zu postulieren,<br />
so sind doch in mehreren Untersuchungen<br />
positive Langzeitergebnisse von 6 Wochen<br />
bis 10 Monaten beschrieben worden.<br />
Wirkweise einer<br />
Rehabilitation<br />
Grundlagen für Effekte einer Rehabilitation<br />
sind bei chronischer Schädigung die trainings -<br />
induzierte neuronale Plastizität sowie Kompensation,<br />
Adaptation und Rekonditionierung;<br />
auch verbesserte Coping-Mechanismen und<br />
Nutzung persönlicher und sozialer Ressourcen<br />
können Anteil an positiven Resultaten haben.<br />
Wie bereits erwähnt, soll im Vordergrund der<br />
Rehabilitation ein aktives und aufgaben- und<br />
zielorientiertes Bewegungstraining mit hoher<br />
Trainingsintensität stehen.<br />
Folgende Verfahren werden eingesetzt (kein<br />
Anspruch auf Vollständigkeit): repetitives<br />
Üben, funktionell orientierte Verfahren (wie<br />
„Impairment-orientiertes Training“) sowie<br />
Therapie des erzwungenen Gebrauches<br />
(„constraint-induced movement therapy“).<br />
Weitere Möglichkeiten wären eine therapeutische<br />
elektrische Stimulation sowie die repetitive<br />
transkranielle Magnetstimulation; ob<br />
mentales Training eine positive Wirkung<br />
zeigt, ist unklar. Speziell bei MS-PatientInnen<br />
soll für die Gangschulung ein Training am<br />
Laufband, falls notwendig, auch ein elektromechanischer<br />
Gangtrainer in Erwägung gezogen<br />
bzw. eingesetzt werden. Für detaillierte<br />
Ausführungen muss auf einschlägige Spezialliteratur<br />
verwiesen werden.<br />
Sport als Therapie<br />
RESÜMEE<br />
Im Rahmen der Rehabilitation sollen die<br />
Faktoren der ICF berücksichtigt werden,<br />
da mit dieser Klassifizierung Informationen<br />
über die Funktionsfähigkeit und<br />
deren Beeinträchtigung bzw. über die<br />
Behinderung gewonnen werden können,<br />
die sowohl der Zielsetzung als auch der<br />
Zielerreichung dienen. Neben der klinischen<br />
Befunderhebung (= Körperstruktur<br />
und -funktion) spielen dabei die Erfassung<br />
der Alltagsaktivitäten und der Teilhabe<br />
sowie persönliche und umweltbezogene<br />
Kontextfaktoren ein bedeutende<br />
Rolle.<br />
Eine Verbesserung der Behinderung<br />
sowie der Teilhabe durch Rehabilitation<br />
sind belegt, Therapieerfolge sollten vorrangig<br />
am Ausmaß der Teilhabe gemessen<br />
werden. Das Setzen von Therapiezielen<br />
und deren ständige Überprüfung<br />
und Modifizierung sind unerlässlich. Eine<br />
intramurale Rehabilitation ist einer extramuralen<br />
vorzuziehen.<br />
Thematisch eng verknüpft mit einer Rehabilitation<br />
ist die Frage nach dem Nutzen einer<br />
sportlichen Tätigkeit. Streng sportphysiologisch<br />
können unter anderem Ausdauer- und<br />
Widerstandstraining unterschieden werden.<br />
Für beide Arten – mit moderater Intensität<br />
betrieben – sind Wirksamkeit und Verträglichkeit<br />
bei MS beschrieben.<br />
Rietberg et al. veröffentlichten 2005 eine<br />
Übersichtsarbeit 11 über den Einsatz einer Trainingstherapie:<br />
Wie zu erwarten zeigte Training<br />
im Vergleich die besten Erfolge hinsichtlich<br />
Kraft, Belastbarkeit und Mobilität, wenig<br />
Einfluss sah man auf die Stimmungslage, keinen<br />
auf Tagesmüdigkeit oder den Umgang<br />
mit der Behinderung. Im Speziellen konnte<br />
keine Auswirkung von bestimmten Trainings<br />
auf Aktivität oder Teilhabe im Vergleich zu<br />
anderen Trainingsarten demonstriert werden.<br />
Es fand sich auch kein Hinweis auf schädigende<br />
Wirkung eines moderaten Trainings.<br />
Allerdings sprechen andere Veröffentlichungen<br />
durchaus von Verbesserungen durch körperliches<br />
Training hinsichtlich QoL, Depression<br />
oder Fatigue.<br />
Elemente eines klassischen Kraft- und Ausdauertrainings<br />
sind wohl in jeder multimodalen<br />
Rehabilitation zu finden. Allerdings<br />
muss man berücksichtigen, dass für eine Verbesserung<br />
verschiedener physiologischer Parameter<br />
eine gewisse Mindestintensität und<br />
Mindestdauer der Belastung notwendig sind.<br />
So ist zum Beispiel ein Ausdauertraining einmal<br />
pro Woche sinnlos, ebenso wie eine Gesamtdauer<br />
von z. B. 3 Wochen.<br />
Offen sind die Fragen, ob Sport einen immunmodulierenden<br />
und verlaufsmodifizierenden<br />
Effekt aufweist bzw. ob über eine<br />
Freisetzung neurotropher Faktoren durch<br />
Sport die Neuroregeneration beeinflusst werden<br />
kann.<br />
n<br />
1<br />
Khan et al., 2008<br />
2<br />
Khan et al., Multidisciplinary rehabilitation for adults<br />
with multiple sclerosis 2008<br />
3<br />
Freeman et al., 1999<br />
4<br />
Solaris et al., 1999<br />
5<br />
Khan et al., 2008<br />
6<br />
Romberg et al., 2005<br />
7<br />
Storr et al., 2006<br />
8<br />
Craig et al., 2003<br />
9<br />
Jörger et al., 2001<br />
10<br />
Grasso et al., 2009<br />
11<br />
Rietberg et al., 2005<br />
30
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
Symptomatische Therapie der multiplen Sklerose<br />
Spastik, Fatigue und Gehfähigkeit<br />
Im Gegensatz zu den kausal orientierten MS-Therapien war das Interesse für symptomatische Therapien –<br />
zumindest gemessen an der Zahl wissenschaftlicher Publikationen – bis vor einigen Jahren eher gering. Erst das<br />
gesteigerte Interesse an der Lebensqualität der MS-PatientInnen hat diese Therapien mehr in den Mittelpunkt<br />
gerückt. Dieser Artikel beschäftigt sich mit drei Kardinalsymptomen der multiplen Sklerose und den Möglich -<br />
keiten ihrer symptomatischen Behandlung.<br />
D<br />
Die multiple Sklerose stellt in den Industriestaaten<br />
die häufigste nichttraumatische<br />
Ursache einer Behinderung im jungen Erwachsenenalter<br />
dar. Der kausal orientierte<br />
Therapieansatz dieser demyelinisierenden<br />
Autoimmunerkrankung umfasst die Immunmodulation<br />
und Immunsuppression, mit dem<br />
Ziel, die Schubrate und im Idealfall auch die<br />
Behinderungsprogression zu beeinflussen.<br />
PatientInnen, die bereits an einer Behinderung<br />
leiden, erfahren durch diese Therapien<br />
keine Linderung ihrer bereits bestehenden<br />
Beschwerden, was in manchen Fällen auch<br />
zu Compliance-Problemen auf Seiten der PatientInnen<br />
führt. Im Gegensatz dazu kann<br />
eine symptomatische Therapie zu einer unmittelbaren<br />
Besserung der für die PatientInnen<br />
vielfach beeinträchtigenden Symptome<br />
führen, auch wenn dadurch der Krankheitsverlauf<br />
selbst nicht beeinflusst werden kann.<br />
Spastik<br />
Spastizität, definiert als pathologische Erhöhung<br />
des Muskeltonus, betrifft mehr als 60 %<br />
aller PatientInnen mit multipler Sklerose und<br />
steht häufig in fortgeschrittenen Stadien der<br />
Erkrankung im Vordergrund der Beschwerden<br />
1 . Bedingt durch Läsionen zerebraler oder<br />
spinaler motorischer Bahnen kommt es zu<br />
einschießender, passagerer bzw auch ständiger<br />
Erhöhung des Muskeltonus. Daraus resultieren<br />
einerseits teils schmerzhafte Verspannungen,<br />
andererseits auch Funktionseinschränkungen<br />
der betroffenen Extremitäten.<br />
Letztlich kommt es zu einer zunehmenden<br />
Immobilität, aber auch zu einer Beeinträchtigung<br />
der Lebensqualität und Selbstständigkeit<br />
der Betroffenen 2 .<br />
Bei der Behandlung der Spastik ist eine multimodale<br />
therapeutische Strategie entscheidend,<br />
wobei einer kontinuierlichen Physiotherapie<br />
große Bedeutung zukommt 3 . Nicht<br />
nur der Erhalt und die Verbesserung der<br />
Kraft, sondern auch besonders die Vermeidung<br />
von schmerzhaften Kontrakturen stehen<br />
hier im Vordergrund.<br />
In wenigen kleinen kontrollierten Studien<br />
wird ein positiver Effekt einer Kombination<br />
von physiotherapeutischen Interventionen<br />
und transkranieller Magnetstimulation als<br />
nichtinvasive Therapie zur Reduktion der Spas -<br />
tik beschrieben 4, 5 .<br />
Dr. Gudrun Zulehner,<br />
Univ.-Prof. Dr. Fritz<br />
Leutmezer<br />
Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong>,<br />
Medizinische Universität Wien<br />
Medikamentöse Therapie<br />
Daneben stehen eine Reihe medikamentöser<br />
Behandlungsstrategien zur Verfügung, um<br />
eine Reduktion des Muskeltonus zu erzielen.<br />
Ihnen gemeinsam ist eine breite Verwendung<br />
im klinischen Alltag, obwohl überzeugende<br />
Studien mit adäquater statistischer Power<br />
und hinreichend guter Methodik eigentlich<br />
für keines dieser Präparate zur Verfügung stehen<br />
1 .<br />
Zu den am häufigsten angewandten oralen<br />
Medikamenten zählen Baclofen (Lioresal ® ),<br />
Tizanidin (Sirdalud ® ) und Benzodiazepine. Für<br />
diese Pharmaka konnte in einer Metaanalyse<br />
eine vergleichbare Wirksamkeit hinsichtlich<br />
Tonusreduktion (beurteilt anhand der<br />
Ashworth-Skala) bestätigt werden 6 . Wenn<br />
man hingegen auch die Nebenwirkungen,<br />
hier vor allem die sedierenden Eigenschaften<br />
und Toleranzeffekte von Benzodiazepinen berücksichtigt,<br />
scheint Tizanidin besser verträglich.<br />
Zur Dosisfindung wird ein langsames<br />
Einschleichen mit initial niedrigen Mengen<br />
empfohlen, um eine Reduktion des Muskeltonus<br />
zu erzielen, möglichst ohne einen negativen<br />
Einfluss auf die Kraft und Motilität<br />
auszulösen 7 .<br />
Cannabinoide: Neben diesen häufig verwendeten<br />
und schon länger etablierten Medikamenten<br />
gibt es in letzter Zeit zunehmend<br />
Studien, die den Effekt von Cannabinoiden<br />
in der Therapie der Spastik bei MS-PatientInnen<br />
untersuchten. Deren Einsatz wird kontrovers<br />
diskutiert, da in mehreren Studien im<br />
Vergleich zu Placebo zwar eine signifikante<br />
subjektive Verbesserung von den PatientInnen<br />
beschrieben wird, eine Objektivierung<br />
der Ergebnisse, z. B anhand der Ashworth-<br />
Skala, aber oft nicht gelang 8 . Hingegen<br />
wurde erst kürzlich in der ersten randomisierten,<br />
doppelblinden Phase-III-Studie gezeigt,<br />
dass die oromukosale Verabreichung<br />
von Nabiximols (Sativex ® ) mittels Sublingualspray<br />
als Add-on-Therapie zu einer signifikanten<br />
und auch objektivierbaren Tonusreduktion<br />
führt 9 .<br />
Botulinumtoxin: Während orale Muskelrelaxantien<br />
zu einer generalisierten Tonusre-<br />
32
duktion führen, steht für eine lokalisierte Anwendung<br />
die Injektion mit Botulinumtoxin an<br />
erster Stelle. Beispielsweise bei einer Adduktorenspastik<br />
oder zur Verbesserung einer<br />
Beugespastik an den oberen Extremitäten<br />
können durch diese intramuskulären Injektionen<br />
Verrichtungen des täglichen Lebens wie<br />
Ankleiden oder Selbstkatheterismus deutlich<br />
erleichtert werden 10 .<br />
Intrathekale Baclofen-Gabe: Wenn orale<br />
oder intramuskuläre Therapeutika in Fällen<br />
von schwerer generalisierter Tonuserhöhung<br />
mit resultierenden Schmerzen und Bewegungsunfähigkeit<br />
keine ausreichende Symptomkontrolle<br />
erzielen, so kann der Einsatz<br />
einer kontinuierlich intrathekalen Baclofen-<br />
Gabe diskutiert werden. Die Implantation, die<br />
individuelle Dosisfindung und die langfristige<br />
Betreuung der Betroffenen sollten aufgrund<br />
der Komplexität einer solchen Behandlung<br />
jedoch an einem entsprechend spezialisierten<br />
Zentrum erfolgen.<br />
Kürzlich konnte in einer prospektiven Datenerhebung<br />
gezeigt werden, dass auch nach<br />
bis zu 12 Jahren ein anhaltender positiver Effekt<br />
mit geringer Toleranzentwicklung bei<br />
den meisten PatientInnen erzielt werden<br />
konnte, wenn auch größere und kontrollierte<br />
Studien, unter anderem bedingt durch den<br />
seltenen Einsatz, derzeit noch fehlen 11 .<br />
Fatigue<br />
Bis zu 90 % aller MS-PatientInnen leiden irgendwann<br />
an Müdigkeit, insgesamt 40 %<br />
sogar täglich 12, 13 . Trotzdem ist die Müdigkeit<br />
erst in den 1980er Jahren in das Blickfeld<br />
der NeurologInnen geraten, als eine Arbeit<br />
zeigen konnte, dass sie das häufigste Symptom<br />
überhaupt bei MS-PatientInnen zu sein<br />
scheint 14 . Dabei beeinflusst die Fatigue nicht<br />
nur die Lebensqualität vom MS-PatientInnen,<br />
sondern hat auch enormen Einfluss auf die<br />
Arbeitswelt und damit auf den sozioökonomischen<br />
Status 15, 16 .<br />
Dementsprechend bemühte sich in den USA<br />
das „Multiple Sclerosis Council for Clinical<br />
Practice Guidelines“ auch um eine operationalisierte<br />
Definition und gelangte zu folgender<br />
Formulierung: „A subjective lack of physical<br />
and/or mental energy that is perceived<br />
by the individual or caregiver to interfere with<br />
usual and desired activities“ 17 .<br />
Obwohl die genauen pathophysiologischen<br />
Mechanismen der Fatigue nach wie vor unklar<br />
sind, scheinen doch folgende Faktoren<br />
eine relevante Rolle zu spielen:<br />
• Die Tatsache, dass chronische Müdigkeit<br />
auch bei einer Reihe anderer Auto -<br />
immunerkrankungen ein häufiges Symp -<br />
tom darstellt, spricht dafür, dass Verän -<br />
derungen des Immunsystems selbst eine<br />
Rolle spielen. Dafür spricht auch, dass<br />
die beim Chronic-Fatigue-Syndrom ge -<br />
fundenen Veränderungen im Immun -<br />
system (Anstieg der Zahl aktivierter T-<br />
Lymphozyten sowie proinflammatorischer<br />
Zytokine wie Interleukin-1 und Tumor-<br />
Nekrose-Faktor) jenen der MS ähnlich<br />
sind 18 .<br />
• Funktionell bildgebende Verfahren<br />
sprechen dafür, dass die Schädigung<br />
umschriebener Hirnareale für Fatigue<br />
verantwortlich sein könnte. So wurde<br />
mittels funktioneller Magnetresonanz<br />
(fMRT) gezeigt, dass u. a. eine ver -<br />
minderte Aktivität des kontralateralen<br />
Thalamus mit erhöhten Fatigue-Scores<br />
korrelierte 19 . PET-Studien suspizierten in<br />
diesem Zusammenhang unter anderem<br />
den präfrontalen Kortex und die<br />
Basalganglien 20 .<br />
• Auch neuroendokrine Faktoren wie<br />
beispielsweise eine Störung der Kortison -<br />
produktion in der Nebenniere 21 , aber<br />
auch die vom Hypothalamus gesteuerte<br />
Sekretion von Neurotransmittern wie<br />
Dopamin und Serotonin wurden in<br />
diesem Zusammenhang diskutiert 22 .<br />
• Schließlich spielen auch eine Reihe<br />
sekundärer Ursachen eine Rolle. Dazu<br />
zählen bei der MS häufig auftretende<br />
Schlafstörungen (nicht zuletzt durch eine<br />
neurogene Blasenfunktionsstörung oder<br />
nächtliche Dysästhesien und Spastik<br />
verursacht) sowie zahlreiche Medikamente,<br />
wie beispielsweise solche zur<br />
Behandlung der Spastik, aber auch die<br />
Interferone.<br />
Therapie<br />
Die Therapie der Fatigue umfasst sowohl<br />
nichtmedikamentöse Behandlungsstrategien<br />
wie Bewegungstherapie 23 , Kühlmethoden 24 ,<br />
Ernährungsumstellung und Programme zur<br />
Strukturierung des Tagesablaufes 25 als auch<br />
medikamentöse, wobei Ersteren immer der<br />
Vorzug gegeben werden sollte. Dies nicht nur<br />
wegen ihres fehlenden Nebenwirkungspotenzials,<br />
sondern auch aufgrund der Tatsache,<br />
dass die zur Verfügung stehenden Medikamente<br />
weder im Rahmen klinischer Studien<br />
noch in der klinischen Praxis einen<br />
überzeugenden Effekt gezeigt haben.<br />
In den Fällen, in denen die nichtmedikamentösen<br />
Therapien nicht ausreichen, können<br />
Amantadin 26 oder Modafinil 27, 28 versucht<br />
werden, wobei für Amantadin keine heutigen<br />
Standards genügenden Studien vorliegen<br />
und für Modafinil die Studienergebnisse widersprüchlich<br />
sind. Ein Autor hat im Rahmen<br />
einer offenen Pilotstudie auch gute Erfahrungen<br />
mit Methylphenidat gemacht, obwohl zu<br />
diesem Präparat keinerlei Studiendaten vorliegen.<br />
Ein Vorteil dieser Substanz ist der wesentlich<br />
günstigere Preis – was nicht selten<br />
eine Rolle spielt, da die gesetzliche Krankenversicherung<br />
die Kosten für Modafinil häufig<br />
nicht übernimmt.<br />
Falls neben der Fatigue auch eine Depression<br />
vorliegt, können auch Antidepressiva wie Bupropion,<br />
Fluoxetin oder Venlafaxin versucht<br />
werden.<br />
Gehfähigkeit<br />
Die Erhaltung der Gehfähigkeit ist ein entscheidender<br />
Faktor für die Erhaltung der Autonomie<br />
und damit auch der Lebensqualität<br />
von PatientInnen. Trotzdem konnte die Gehfähigkeit<br />
bis dato durch symptomatische Therapien<br />
nur unzureichend beeinflusst werden.<br />
Mit der kürzlich erfolgten Zulassung von retardiertem<br />
4-Aminopyridin steht nunmehr die<br />
erste Substanz zur Verfügung, die eine Verbesserung<br />
der Gehfähigkeit zumindest bei<br />
einem Teil der PatientInnen bewirkt.<br />
4-Aminopyridin: Die Substanz selbst steht<br />
als unretardierte Form bereits seit Jahr- u<br />
33
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
zehnten zur Verfügung und wurde bei zahlreichen<br />
neuromuskulären Erkrankungen<br />
schon bis dato verwendet. Auch bei MS-PatientInnen<br />
existiert bereits seit Langem eine<br />
große Zahl von Studien, die eine Verbesserung<br />
u. a. der Gehfähigkeit nahelegten. Allerdings<br />
genügten diese Studien aufgrund<br />
ihrer geringen Patientenzahl nicht den heutigen<br />
Standards, die für solche Studien gefordert<br />
werden.<br />
Die im Rahmen der MS stattfindende Entmarkung<br />
von Axonen führt u. a. zu einer vermehrten<br />
Exposition von nach auswärts gerichteten<br />
Kaliumkanälen. Dies begünstigt über<br />
einen vermehrten Kaliumausstrom in den Extrazellularraum<br />
eine Repolarisation des Axons<br />
und beeinträchtigt somit die axonale Erregungsweiterleitung.<br />
Die Wirkung von 4-Aminopyridin<br />
beruht auf der Blockade dieser spannungsabhängigen<br />
Kaliumkanäle, wodurch es<br />
innerhalb gewisser Grenzen zu einer Normalisierung<br />
der Erregungsfortleitung kommt. Darüber<br />
hinaus bewirkt 4-Aminopyridin über eine<br />
Steigerung des Kalziumeinstroms in präsynaptische<br />
Terminale eine vermehrte Freisetzung<br />
von Acetylcholin und damit eine Verbesserung<br />
der neuromuskulären Übertragung 29 .<br />
Fampridin: Im Gegensatz zum unretardier -<br />
tem 4-Aminopyridin liegen für die retardierte<br />
Form (Fampridine) nunmehr 3 doppelblinde,<br />
placebokontrollierte Studien vor, die eine sig -<br />
nifikante Wirkung von 2-mal 10 mg Fampridin<br />
täglich auf die Dauer, die für das Zurücklegen<br />
einer definierten Wegstrecke benötigt wird,<br />
gezeigt haben 30–32 . Allerdings wurde die statistische<br />
Signifikanz erst dadurch erreicht, dass<br />
zunächst 2 Gruppen von PatientInnen definiert<br />
wurden, nämlich Non-Responder (65 %) und<br />
Responder (35 %). In der Responder-Gruppe<br />
kam es zu einer Geschwindigkeitszunahme<br />
um etwa 25 %. Die Muskelkraft der unteren<br />
Extremitäten stieg sowohl in der Respon derals<br />
auch in der Non-Responder-Gruppe signifikant<br />
im Vergleich zu Placebo, das Ausmaß<br />
war jedoch in der Responder-Gruppe wesentlich<br />
größer. Ein relevanter Einfluss auf die<br />
Spastik bestand nicht, da die Ashworth-Skala<br />
sowohl in der Behandlungs- als auch in der<br />
Placebogruppe gleich blieb.<br />
Ein Argument für die retardierte Form, das<br />
auch einen im Vergleich zur unretardierten<br />
Form wesentlich höheren Preis begründen<br />
soll, ist die Tatsache, dass die Serumspiegel<br />
unter Fampridine wesentlich konstanter bleiben,<br />
wodurch das Auftreten von Nebenwirkungen<br />
minimiert werden soll. Zu diesen Nebenwirkungen<br />
zählen häufige (d. h. in > 5 %<br />
auftretende) wie Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen,<br />
Fatigue und Gleichgewichtsstörungen<br />
wie auch seltene, dafür aber schwerwiegende,<br />
worunter v. a. epileptische Anfälle gefürchtet<br />
sind.<br />
n<br />
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34
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
Blasen- und Sexualfunktionsstörungen<br />
bei multipler Sklerose<br />
Blasenfunktionsstörungen und Sexualfunktionsstörungen treten praktisch nie als Initialsymptome bei multipler<br />
Sklerose (MS) auf. Mit zunehmendem Krankheitsverlauf treten jedoch bei der überwiegende Mehrheit der<br />
PatientInnen neurogene Blasenstörungen auf, und ebenso sind Beeinträchtigungen der Sexualfunktion<br />
sehr häufig.<br />
Blasenfunktionsstörungen<br />
Blasenfunktionsstörungen als Erstmanifestation<br />
einer MS kommen praktisch nicht vor,<br />
hingegen leiden 60–90 % der PatientInnen<br />
im Laufe ihrer MS an einer neurogenen Blasenstörung.<br />
Blasenstörungen werden von Betroffenen<br />
als jene funktionellen Einschränkungen<br />
gesehen, die am meisten ihre Lebensqualität<br />
und ihre soziale Partizipation<br />
beeinträchtigen. Störungen der Blasenfunktion<br />
nehmen mit der MS-Erkrankungsdauer,<br />
dem Behinderungsgrad und dem Alter der<br />
Betroffenen zu.<br />
Die topografische Korrelation von zentralen<br />
Steuerungszentren der Blasenfunktion und<br />
MS-Plaques erklärt, warum bei MS-Läsionen<br />
in der Pons, im Myelon bzw. im Verlauf der<br />
Pyramidenbahn das Vorhandensein einer<br />
neurogenen Blasenstörung naheliegt (Abb. 1).<br />
Blasenstörungen sind keine banalen Symptome,<br />
früher waren Pyelonephritis und Urosepsis<br />
verantwortlich für die hohe Mortalität von<br />
MS-PatientInnen. Die erhöhte Aufmerksamkeit<br />
(vor allem von NeurologInnen) gegenüber<br />
neurogenen Blasenstörungen und die<br />
Verbesserung der neurourologischen Diagnostik<br />
und Therapie haben zum deutlichen<br />
Rückgang neurourologischer Komplikationen<br />
bei MS und zur erheblichen Verbesserung der<br />
Lebensqualität von MS-PatientInnen geführt.<br />
Symptome der<br />
gestörten Blasenfunktion<br />
80 % der Betroffenen mit neurogener Blasenstörung<br />
leiden unter einer überaktiven<br />
Blase, gekennzeichnet durch starken, kaum<br />
oder nicht unterdrückbarem Harndrang<br />
(Urge), häufige Blasenentleerungen sowie<br />
Dranginkontinenz, ausgelöst durch eine Detrusorüberaktivität.<br />
45 % der so<br />
Betroffenen haben Symptome<br />
der überaktiven Blase ohne<br />
gleichzeitig erschwerte Blasenentleerung,<br />
bei 35 % ist sie mit<br />
einer erschwerten Blasenent- u<br />
Abb. 1: Zentren der Blasenfunktion<br />
Univ.-Prof. Dr.<br />
Thomas Berger, MSc<br />
Leiter der AG Neuroimmunologie<br />
& Multiple Sklerose,<br />
Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong>,<br />
Medizinische Universität Innsbruck<br />
Vorgeschaltete Miktionszentren<br />
im medialen Frontalhirn<br />
Primäre Miktionszentren<br />
(PAG und PMC) im dorsalen<br />
Tegmentum der Pons<br />
zwei neuronale Schaltkreise<br />
für Blasenfüllung bzw.<br />
Blasenentleerung:<br />
S2–4 in der Cauda equina<br />
Pelvische und pudendische Nerven<br />
35
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
leerung mit oder ohne Restharn kombiniert.<br />
Ein Drittel der PatientInnen muss einen harnableitenden<br />
Katheter (intermittierenden<br />
Selbstkatheterismus bzw. Dauerharnableitung)<br />
verwenden. Infekte der ableitenden<br />
Harnwege sind eine häufige Folge der Blasenentleerungsstörung<br />
(mit zusätzlichen Auswirkungen<br />
auf das Auftreten von beispielsweise<br />
Pseudoschüben oder Verschlechterung<br />
der Spastizität).<br />
Abb. 2: Pontiner MS-Plaque im MRT<br />
Komplikationen von<br />
Blasenfunktionsstörungen<br />
Restharn, hohe Harnblasendrucke bei der<br />
Speicherung/Entleerung und Dauerkatheterableitungen<br />
begünstigen Harnwegsinfektionen.<br />
Bei etwa 10 % der MS-PatientInnen mit<br />
neurogener Blasenstörung kommt es zu<br />
Komplikationen des oberen Harntraktes mit<br />
Pyelonephritis, seltener entzündungsbedingten<br />
Nieren-/Urethersteinen.<br />
Diagnose von Störungen<br />
der Blasenfunktion<br />
MS-PatientInnen müssen direkt nach Blasenstörungen<br />
befragt werden, weil diese den<br />
PatientInnen oft nicht bewusst sind oder fehleingeschätzt<br />
bzw. bagatellisiert werden. Beispielsweise<br />
hat eine Studie gezeigt, dass bei<br />
63 % von 170 MS-PatientInnen ein Restharnvolumen<br />
von > 100 ml bestand, aber<br />
nur knapp die Hälfte der PatientInnen sich<br />
dessen bewusst war.<br />
Bei MS-Symptomen, die auf eine Läsion im<br />
Hirnstamm (Abb. 2), Rückenmark oder in der<br />
Pyramidenbahn zurückzuführen sind, muss<br />
die/der NeurologIn bei klinisch stummen MStypischen<br />
MRT-Läsionen davon ausgehen,<br />
dass entweder eine neurogene Blasenstörung<br />
besteht oder zumindest zu antizipieren ist<br />
und dass daher eine (neuro-)urologische Untersuchung<br />
zu erfolgen hat.<br />
Die Diagnostik umfasst folgende Schritte:<br />
• gezielte Fragen nach Symptomen einer<br />
gestörten Blasenfunktion (Tab. 1)<br />
• Medikamentenanamnese<br />
Tab. 1: Die 8 wichtigen Fragen nach urologischen Symptomen bei<br />
MS-PatientInnen<br />
1. Haben Sie Harnblasenbeschwerden, und wenn ja, was stört Sie am meisten?<br />
2. Wie oft entleeren Sie untertags Ihre Harnblase?<br />
3. Wie oft wachen Sie nachts mit Harndrang auf und müssen Sie Ihre Blase entleeren?<br />
4. Verlieren Sie beim Husten, Niesen, Lachen oder Heben unfreiwillig Harn?<br />
5. Ist der Harndrang mitunter so stark, dass Sie vor Erreichen des WC Harn verlieren?<br />
6. Tragen Sie deshalb Einlagen?<br />
7. Haben Sie das Gefühl, Ihre Blase vollständig zu entleeren?<br />
8. Haben Sie beim Wasserlassen Schwierigkeiten oder Schmerzen?<br />
Quelle: Madersbacher H, Berger T, Mair D et al., Management von Blasenfunktionsstörungen<br />
bei Multipler Sklerose. <strong>neurologisch</strong> 2011; Suppl 2:1–12<br />
• klinisch <strong>neurologisch</strong>e Untersuchung:<br />
Hinweis auf volle Blase, Sensibilitätsstörungen<br />
in den sakralen Dermatomen<br />
S3–S5 (Reithose), fehlender Anal-/Bulbuscavernosus-Reflex<br />
• Harnuntersuchung zur Diagnose eines<br />
Harnwegsinfektes bzw. einer Mikro-/<br />
Makrohämaturie: Harnstix oder Labor,<br />
ggf. Harnkultur<br />
• Restharnbestimmung<br />
• Blasentagebuch zur Erfassung der Trink -<br />
mengen, Miktionszeiten, entleerten<br />
Harnvolumina und des Harndrangs<br />
• gezielte (neuro-)urologische Unter -<br />
suchung: Sonographie der Harnorgane,<br />
(video-)urodynamische Untersuchungen,<br />
Zystometrie<br />
Therapie der neurogenen<br />
Blasenstörung bei MS<br />
Ziele der therapeutischen Maßnahmen sind<br />
die Verbesserung der Blasenkapazität, die<br />
komplette Harnentleerung, eine Reduktion<br />
der Miktionsfrequenz, Kontinenz bzw. Ver-<br />
36
Tab. 2: Antimuskarinika (Anticholinergika) und Erstattungskodex<br />
Grüne Box<br />
Trospiumchlorid 1–3 x täglich unzerkaut 15–60 mg/d<br />
(Spasmolyt ® 20 mg<br />
Inkontan ® 15 mg, 30 mg) ca. 1/2 Stunde vor dem Essen<br />
Trospiumchlorid retard 1 x täglich unzerkaut 60 mg/d<br />
(Urivesc ® 60 mg)<br />
ca. 1/2 Stunde vor dem Essen<br />
Oxybutynin IR<br />
(Ditropan ® 5 mg, 2–3 x täglich 5–15 mg/d<br />
Detrusan ® , verschiedene unabhängig vom Essen<br />
Oxybutynin-Generika)<br />
Tolterodine 2–3 x täglich 2–4 mg/d<br />
(Detrusitol ® 1 mg, 2 mg) unabhängig vom Essen<br />
Hellgelbe Box<br />
Solifenacin 1 x täglich 5–10 mg/d<br />
(Vesicare ® 5 mg, 10 mg) unabhängig vom Essen<br />
Oxybutynin transdermal alle 3–4 Tage ein Pflaster 3,9 md/d<br />
TDS (Kentera ® )<br />
anwenden<br />
Rote Box – No Box<br />
Tolterodine retard 1 x täglich 4 mg/d<br />
(Detrusidol ® 4 mg)<br />
unabhängig vom Essen<br />
Oxybutynin retard<br />
in Österreich nicht erhältlich<br />
Fesoterodine 1 x täglich 4–8 mg/d<br />
(Toviaz ® 4 mg, 8 mg) unabhängig vom Essen<br />
Propiverin<br />
in Österreich nicht erhältlich<br />
(Miktonorm ® 15 mg, 2–3 x täglich unabhängig vom Essen 15–45 mg/d<br />
Miktonorm Uno ® 30 mg, 1 x täglich unabhängig vom Essen 60 mg/d<br />
Miktonetten ® 5 mg) 1–2 x täglich unabhängig vom Essen 5–10 mg/d<br />
Darifenacin<br />
in Österreich nicht erhältlich<br />
besserung der Inkontinenz und schließlich die<br />
Prävention von Komplikationen.<br />
Flüssigkeitszufuhr: Auf der Basis eines Blasenentleerungsprotokolls<br />
sollte eine Harnausscheidung<br />
von 1 bis 1,5 l in 24 Stunden erreicht<br />
werden. Zu wenig Trinken fördert Obstipation,<br />
zu viel Trinken erschwert die<br />
Behandlung von Symptomen der überaktiven<br />
Blase.<br />
Verhaltenstherapeutische<br />
Maßnahmen<br />
Aus: Quelle: Madersbacher H, Berger T, Mair D et al., Management von Blasenfunktionsstörungen<br />
bei Multipler Sklerose. <strong>neurologisch</strong> 2011; Suppl 2:1–12<br />
Beckenboden-Reedukation: Zumindest im<br />
Anfangsstadium der überaktiven Blase kann<br />
durch gezielte Kontraktion des Becken -<br />
bodens reflektorisch eine Relaxation des<br />
überaktiven Detrusors erreicht und damit imperativer<br />
Drang und Dranginkontinenz beeinflusst<br />
werden. Dies sollte unter physiotherapeutischer<br />
Anleitung und Kontrolle (mit<br />
oder ohne Biofeedback) trainiert werden.<br />
Miktionstraining: Basierend auf einem Blasenentleerungsprotokoll<br />
sollte die Harnblase<br />
vor Erreichen des kritischen Füllungsvolumens<br />
willkürlich entleert werden bzw. bei Auftreten<br />
von imperativem Drang durch aktives Anspannen<br />
des Beckenbodens der überaktive<br />
Detrusor kontrolliert und damit die drohende<br />
Miktion verhindert bzw. verzögert werden.<br />
Toilettentraining: Ist eine Willkürsteuerung<br />
des Detrusors nicht mehr möglich, so sollte<br />
versucht werden, den Harn in regelmäßigen<br />
Abständen (2-stündlich) zu entleeren, um so<br />
dem unfreiwilligen Harnabgang zuvorzukommen.<br />
Medikamentöse Therapie bei<br />
Symptomen der überaktiven Blase<br />
Antimuskarinika (Anticholinergika): Therapie<br />
der ersten Wahl bei überreaktiver Blase mit<br />
Restharn unter 100 ml (Tab. 2). Antimuskarinika<br />
vergrößern bei neurogener Detrusorüberaktivität<br />
die Blasenkapazität um etwa ein<br />
Drittel und reduzieren die Kontraktilität um<br />
etwa ein Drittel. Eine flexible Dosierung mit<br />
Dosissteigerung ist sinnvoll, da bei neurogener<br />
Detrusorüberaktivität höhere Dosen erforderlich<br />
sein können.<br />
Botulinumtoxin A: Kleine Studien bei MS-PatientInnen<br />
haben gezeigt, dass Injektionen<br />
von Botulinumtoxin A in den Detrusor bei<br />
neurogener Detrusorüberaktivität wirksam<br />
sind. Es gibt für diese Indikation jedoch noch<br />
keine Zulassung, außerdem ist diese Behandlung<br />
natürlich spezialisierten Zentren mit Erfahrungen<br />
mit Botulinumtoxin-A-Behandlungen<br />
vorbehalten.<br />
Desmopressin: Durch die abendliche Einnahme<br />
von Desmopressin wird die nächtliche<br />
Harnausscheidung reduziert und damit die<br />
Nykturie/nächtliches Einnässen vermindert.<br />
Alternativ kann bei nächtlicher Polyurie Furosemid<br />
als schnell wirksames Diuretikum<br />
nachmittags verordnet werden.<br />
Therapeutische<br />
Möglichkeiten bei Restharn<br />
Eine medikamentöse Behandlung (Alphablocker,<br />
Antispastika, Cholinergika) führt üblicherweise<br />
zu keiner ausreichenden Verbesserung<br />
bei Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie<br />
oder Detrusorüberaktivität bzw. Relaxation<br />
des spastischen Beckenbodens. Bei relevantem<br />
Restharn ist nur der intermittierende Katheterismus<br />
(bevorzugte Methode) oder die<br />
Dauerharnableitung (generell nur empfohlen,<br />
wenn der Einmalkatheterismus nicht möglich<br />
ist) effektiv.<br />
Therapie bei<br />
Harnwegsinfektionen<br />
Harnwegsinfektionen sollen entsprechend<br />
antibiotisch behandelt werden. Bei rezidivierenden<br />
Harnwegsinfekten ist eine Infektprophylaxe<br />
notwendig: Preiselbeerextrakte (hindern<br />
E. coli an ihrer Urothelhaftung), abendliche<br />
Einnahme von verdünntem Apfelessig<br />
(1–2 EL auf 250 ml Wasser) oder L-Methionin<br />
eignen sich hierfür. Bei unzureichendem Effekt<br />
muss eine antibiotische Langzeit-Infektprophylaxe<br />
(z. B. Nitrofurantoin 50–100 mg,<br />
danach Cephalosporine der 1. Generation,<br />
danach ggf. Trimethoprim 100 mg) erfolgen. u<br />
37
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
Sexualfunktionsstörungen<br />
Sexualfunktionsstörungen treten praktisch<br />
nie als Initialsymptom bei MS auf. Hingegen<br />
kommt es bei 30–80 % der PatientInnen innerhalb<br />
von durchschnittlich 10 Jahren<br />
Krankheitsverlauf (in Abhängigkeit auch des<br />
Behinderungsgrades) zu Beeinträchtigungen<br />
der Sexualfunktion. Sexualfunktionsstörungen<br />
werden häufig ignoriert oder schamhaft<br />
verschwiegen. Das liegt in erster Linie daran,<br />
dass Gespräche über Sexualität ein weitgehendes<br />
Tabuthema zwischen PatientInnen<br />
und ÄrztInnen ist.<br />
Sexualfunktionsstörungen können direkt<br />
und/oder indirekt durch MS bedingt sein. Indirekte<br />
Einflüsse auf die Sexualfunktion<br />
haben Fatigue, Blasenstörungen, Spastizität,<br />
Schmerzen (Paroxysmen), aber auch notwendige<br />
Hilfsmittel, wie beispielsweise ein Blasenkatheter.<br />
Einen ganz erheblichen (zusätzlichen)<br />
Einfluss auf das Sexualleben von MS-<br />
PatientInnen haben psychologische<br />
Umstände. Physische Einschränkungen, der<br />
Intimitätsverlust durch Behinderung bzw. Angewiesensein<br />
auf Pflege durch den Partner,<br />
die verminderte Akzeptanz durch den Partner,<br />
eine gestörte eigene Körperwahrnehmung<br />
und ein gestörtes Selbstvertrauen sind<br />
nur einige Faktoren, die ein erfülltes Sexualleben<br />
maßgeblich einschränken oder gar verhindern.<br />
Symptome der<br />
gestörten Sexualfunktion<br />
Sexualfunktionsstörungen manifestieren sich<br />
bei weiblichen und männlichen PatientInnen<br />
naturgemäß unterschiedlich. Die American<br />
Foundation for Urologic Disease klassifiziert<br />
weibliche Sexualfunktionsstörungen nach<br />
Störungen der Sexualverlangens (Hypoaktivität,<br />
Aversion), des Sexualempfindens (generalisiert,<br />
genital, dysphorisch, fehlend), Orgasmusstörungen<br />
und sexuellen Schmerzsyndromen<br />
(Dyspareunia, Vaginismus). Bei<br />
MS-Patientinnen tritt am häufigsten eine verminderte<br />
Libido, gefolgt von verminderter vaginaler<br />
Empfindbarkeit und Orgasmusstörungen<br />
auf (Tab. 3).<br />
Tab. 3: Häufigkeit von Sexualfunktionsstörungen bei multipler Sklerose<br />
Frauen<br />
Verminderte Libido 29–86 %<br />
Verminderte genitale Empfindlichkeit 43–62 %<br />
Orgasmusstörungen 24–58 %<br />
Lubricatio vaginalis 12–40 %<br />
Dyspareunie 6–40 %<br />
Männer<br />
Verminderte Libido 37–86 %<br />
Erektile Dysfunktion (partiell, transient, permanent) 34–80 %<br />
Orgasmusstörungen 29–64 %<br />
Ejakulationsstörung (verfrüht, verzögert, fehlend) 34–61 %<br />
Verminderte genitale Empfindsamkeit 21–72 %<br />
Fatigue 4–65 %<br />
Quellen: Vas, 1969; Lilius et al., 1976; Lundberg, 1978; Minderhoud et al., 1984; Valleroy & Kraft, 1984;<br />
Dupont & Moffat, 1994; Hulter & Lundberg, 1995; Mattson et al., 1995; Ghezzi et al., 1996; Stenager et al., 1996;<br />
McCabe et al., 1996; Zorzon et al., 1999; Zivadinov et al., 2003<br />
Bei Männern steht ebenfalls die Libidoverminderung<br />
im Vordergrund, nahezu gleich<br />
häufig kommt es zu erektiler Dysfunktion<br />
und/oder Orgasmus- bzw. Ejakulationsstörungen<br />
(Tab. 3). Interessanterweise klagen vor<br />
allem Männer über die Beeinflussung ihres<br />
Sexuallebens durch MS-bedingte Fatigue.<br />
Schließlich ist pathologisches Sexualverhalten<br />
im Sinne von Hypersexualität oder abnormem<br />
Sexualverhalten (beispielsweise sexuelle<br />
Paraphilie) bei MS äußerst selten, hierzu<br />
sind nur einige wenige Einzelfallberichte<br />
publiziert.<br />
Folgen der<br />
Sexualfunktionsstörung<br />
Die familiären und sozialen Auswirkungen<br />
des beeinträchtigten Sexuallebens sind nach<br />
mittlerweile detaillierten Untersuchungen<br />
deutlich: Bei 34 % Frauen und 13 % Männern<br />
mit MS kommt es zu einem Meiden<br />
des Partners. Umgekehrt ist aber die Partnermeidung<br />
durch 61 % männlicher (und nur<br />
23 % weiblicher) Partner von MS-PatientInnen<br />
dramatisch höher. Insgesamt sind bei 33<br />
% der männlichen und 19 % der weiblichen<br />
MS-PatientInnen Sexualfunktionsprobleme<br />
Grund für erhebliche Partnerprobleme bzw.<br />
auch Ehescheidungen.<br />
Diagnostik von<br />
Sexualfunktionsstörungen<br />
Das bei Weitem wichtigste diagnostische Instrumentarium<br />
ist (wie so oft) die Anamnese.<br />
Abbildung 3 zeigt die wichtigen Fragenkomplexe:<br />
Neben direkten Fragen nach Symp -<br />
tomen der Sexualfunktionsstörung ist es<br />
notwendig, bei speziellen MS-bedingten<br />
Symptomen gezielt bei PatientInnen nachzufragen.<br />
Sollte ein/e Patient/-in an einer neurogenen<br />
Blasenstörung oder an einer spinalen<br />
Symptomatik leiden, dann bestehen zumeist<br />
auch Sexualfunktionsstörungen bzw.<br />
können diese angenommen werden. Es ist<br />
aber auch besonders wichtig, dass gleichzeitig<br />
die Partnerschaft des/der Patienten/-in angesprochen<br />
wird. In Hinblick auf die therapeutischen<br />
Optionen bei Sexualfunktionsstörungen<br />
ist die frühzeitige Einbindung des/der<br />
Partners/-in sehr wertvoll.<br />
Differenzialdiagnostische Überlegungen müssen<br />
andere Ursachen für eine Sexualfunktionsstörung<br />
mitbedenken: kardiovaskuläre Ursachen/Risiken,<br />
Endokrinopathien, kongenitale<br />
oder akquirierte urogenitale Ursachen,<br />
Alkohol, Drogen und Medikamente.<br />
Elektrophysiologische Untersuchungen zu<br />
Diagnostik bzw. Ausmaß einer Sexualfunktionsstörung<br />
sind bislang nur bei Männern<br />
38
Abb. 3: Anamnese bei Sexualfunktionsstörungen<br />
konklusiv möglich. Die nachfolgenden Untersuchungen<br />
dienen natürlich auch differenzialdiagnostischen<br />
Abwägungen, vor allem<br />
hinsichtlich urologisch, vaskulär oder häufig<br />
auch psychogen bedingter Erektionsstörungen.<br />
Der nächtliche penile Tumeszenz-Test<br />
(NPT) misst Häufigkeit, Umfang und Ausmaß<br />
nächtlicher Erektionen. Die Tatsache, dass<br />
30–50 % der MS-Patienten mit Impotenz<br />
spontane nächtliche Erektionen haben, bedeutet<br />
nicht, dass die erektile Dysfunktion<br />
psychogen ist, sondern dass ein häufiges<br />
grundlegendes Problem der Sexualfunktionsstörung<br />
die fehlende Möglichkeit ist, intrapsychische<br />
oder externe Stimuli für eine Erektion<br />
zu integrieren.<br />
Nachdem der N. pudendus (N. dorsalis penis<br />
und Nn. perineales/scrotales) die Genitalien<br />
innerviert sowie für die Tumeszenz des Penis<br />
und die Ejakulation mitverantwortlich ist, können<br />
auch spezifische elektrophysiologische<br />
Untersuchungen durchgeführt werden: Bulbus-cavernosus-Reflex;<br />
somatosensorisch evozierte<br />
Potenziale des N. pudendus; motorisch<br />
evozierte Potenziale des M. bulbocavernosus.<br />
Was sind die Symptome?<br />
direkt durch MS bedingt?<br />
indirekt durch MS bedingt?<br />
Einfluss der Symptome auf<br />
die Partnerschaft?<br />
• Ausmaß Erektion<br />
• Ausmaß nokturner Erektion<br />
• Ejakulation: normal/verfrüht/<br />
verzögert/fehlend<br />
• Vaginale Lubrikation<br />
• Orgasmusqualität<br />
• Libido<br />
• Qualität der Partnerschaft<br />
• Wünsche und Phantasien<br />
• Akzeptanz des Partners<br />
• Akzeptanz durch den Partner<br />
Therapie von<br />
Sexualfunktionsstörungen<br />
Therapeutisch stehen medikamentöse und<br />
nichtmedikamentöse Möglichkeiten zur Verfügung.<br />
MS-PatientInnen berichten oft darüber,<br />
dass das Gespräch über – existente oder<br />
potenzielle – Sexualfunktionsstörungen eine<br />
positive Erfahrung und auch Intervention darstellt.<br />
Hierbei sei noch einmal auf die wichtige<br />
Einbindung des/der Partners/-in hingewiesen.<br />
Bei Auftreten von Sexualfunktionsstörungen<br />
muss als erster therapeutischer Schritt die<br />
Möglichkeit in Betracht gezogen werden,<br />
dass laufende medikamentöse Therapien Nebenwirkungen<br />
hinsichtlich der Sexualfunktion<br />
haben können. So können Antispastika<br />
(z. B. Baclofen oder Benzodiazepine) die Libido<br />
oder auch Ejakulation beeinträchtigen<br />
und so manche Antidepressiva erektile Dysfunktionen<br />
oder Lubricatio vaginalis verursachen.<br />
Ein wesentlicher nächster Schritt in der<br />
Behandlungskaskade ist Verhinderung oder<br />
Behandlung MS-bedingter direkter oder indirekter<br />
negativer Faktoren für die Sexualfunktion<br />
bzw. das sexuelle Erleben.<br />
• Blasenfunktionsstörung<br />
• Mastdarmfunktionsstörung<br />
• Motorische Einschränkung<br />
• Sensibilitätsstörung<br />
• Behinderungsgrad<br />
• Kontrakturen, Schmerz<br />
• Psychische Faktoren<br />
• Kognitive Defizite<br />
Erektile Dysfunktion: Die medikamentöse<br />
Therapie beschränkt sich im Grunde auf die<br />
Therapie der erektilen Dysfunktion. Sildenafil,<br />
Vardenafil und Tadalafil sind Inhibitoren der<br />
cGMP-spezifischen Phosphodiesterase 5 (PDE<br />
5). Grundsätzlich führt eine Freisetzung von<br />
N0 zum Anstieg der cGMP, welche die Relaxierung<br />
der korporalen glatten Muskulatur<br />
und daher die Erektion bedingt. Der Abbau<br />
von cGMP durch PDE 5 wird durch diese Medikamente<br />
inhibiert. Der Wirkeintritt der PDE-<br />
5-Inhibitoren beträgt durchschnittlich 30 Minuten,<br />
der Effekt hält 4 (Sildenafil, Vardenafil)<br />
bis 36 (Tadalafil) Stunden an. Bis jetzt sind<br />
nur Studien mit Sildenafil bei MS-Patienten<br />
durchgeführt worden.<br />
Eine Alternative zu den PDE-5-Inhibitoren ist<br />
Apomorphin, welches ein D1/D2-Dopaminrezeptoragonist<br />
ist. Der Wirkeintritt nach sublingualer<br />
Applikation erfolgt bei einer Dosierung<br />
von 2–3 mg innerhalb von 20 Minuten.<br />
Einschränkend muss aber festgestellt werden,<br />
dass bei 7 % der Patienten Übelkeit als Nebenwirkung<br />
aufgetreten ist und dass es bislang<br />
keine Studien bei MS-Patienten gibt.<br />
Andere Therapieoptionen der erektilen Dysfunktion,<br />
wie beispielsweise die intrakavernöse<br />
Injektion vasoaktiver Substanzen und<br />
die temporäre bzw. permanente Implantation<br />
von Prothesen oder Vakuumpumpen, sind<br />
(neuro-)urologischen FachkollegInnen vorbehalten.<br />
Bei Frauen ist die medikamentöse Behandlung<br />
von Sexualfunktionsstörungen bedauerlicherweise<br />
nahezu inexistent. Therapieversuche<br />
beschränkten sich bislang auf die Applikation<br />
intravaginaler östrogenhältiger<br />
Cremen bei Lubricatio vaginalis und den probatorischen<br />
Off-Label-Gebrauch von Carbamazepin<br />
und Amitriptylin bei Dyspareunie.<br />
Studien mit Sildenafil haben nur einen Effekt<br />
auf die Lubricatio vaginalis gebracht. n<br />
Weiterführende Literatur:<br />
- Fowler CJ, Panicker JN, Drake M et al., A UK consenus<br />
on the managment of the bladder in multiple sclerosis.<br />
J NeurolNeurosurgPsych 2009; 80:470–477<br />
- Kessler TM, Fowler CJ, Panicker JN, Sexual dysfuntion in<br />
multiple sclerosis. ExpertRevNeurother 2009; 9:341–350<br />
- Madersbacher H, Berger T, Mair D et al., Management<br />
von Blasenfunktionsstörungen bei Multipler Sklerose.<br />
<strong>neurologisch</strong> 2011; Suppl 2:1–12.<br />
Spezielle Literatur beim Verfasser<br />
39
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
Sozialmedizinische Konsequenzen der MS<br />
Die Diagnose „Multiple Sklerose“ ist für den erkrankten Menschen mit einer Vielzahl von Herausforderungen<br />
verbunden, die deutliche Einschnitte in das Selbstverständnis des bisherigen Lebens mit sich bringen. Die<br />
sozialmedizinischen Konsequenzen der MS sind breit gestreut und begleiten Menschen über einen langen<br />
Zeitraum ihres Lebens in den unterschiedlichsten Lebensbereichen.<br />
Am Beginn der Erkrankung können der Zeitpunkt<br />
der Diagnosestellung, bereits aufgetretene<br />
Symptome und die individuelle<br />
Krankheitsgeschichte sowie die Atmosphäre<br />
im aufklärenden Arztgespräch sehr unterschiedlich<br />
sein. Ebenso wird die in der Folge<br />
unumgängliche und MS-bedingte Lebensveränderung<br />
von den Menschen sehr unterschiedlich<br />
erlebt, hängt die Reaktion des/der<br />
Einzelnen doch sehr stark mit individuellen<br />
Eigenschaften, der Lebensgeschichte, den Lebensumständen<br />
und dem sozialen Umfeld<br />
des betroffenen Menschen zusammen. Es gilt<br />
mit den Unsicherheiten der Erkrankung und<br />
den damit einhergehenden Ängsten leben zu<br />
lernen, Reaktionen wie Wut, Trauer, Verzweiflung<br />
anzunehmen und die richtigen<br />
Menschen zu finden, die in diesen schwierigen<br />
Zeiten unterstützende BegleiterInnen<br />
sein können.<br />
Beratungstätigkeit<br />
der MS-<strong>Gesellschaft</strong> Wien<br />
Mit dem Ziel, einen Überblick über die aktuelle<br />
Situation von MS-Betroffenen zu erhalten,<br />
führte die Österreichische Multiple<br />
Sklerose <strong>Gesellschaft</strong> unter der Leitung von<br />
Prim. Dr. Ulf Baumhackl in Zusammenarbeit<br />
mit GfK Austria und unter Mitarbeit zahlreicher<br />
MS-Zentren in Österreich die Studie<br />
„Prävalenz der Multiplen Sklerose 2010“<br />
durch.<br />
Was die Ergebnisse anbelangt, erscheinen<br />
drei Aspekte im Zusammenhang mit den sozialmedizinischen<br />
Konsequenzen relevant:<br />
• Der Anstieg der Prävalenz der<br />
Erkrankung kann unter anderem auf<br />
eine höhere Lebenserwartung und eine<br />
1 2<br />
verbesserte Diagnostik zurückgeführt<br />
werden.<br />
• PatientInnen fühlen sich gut informiert.<br />
• Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes und<br />
anfallende Krankheitskosten bereiten<br />
finanzielle Sorgen.<br />
Diese drei Aspekte schlagen sich in der Beratungstätigkeit<br />
der MS-<strong>Gesellschaft</strong> Wien<br />
nieder und werden in den Fragestellungen<br />
transparent. Das Bedürfnis nach Information<br />
zeigt sich in zahlreichen telefonischen Anfragen<br />
und Beratungsgesprächen, der Besuch<br />
von Informationsveranstaltungen und die<br />
Nutzung neuer Medien spiegeln das Informationsbedürfnis<br />
wider.<br />
Da Menschen nun in einem zunehmend längeren<br />
Lebensabschnitt die Beratungsstelle<br />
aufsuchen, verbreitert sich die Palette an Anfragen.<br />
Immer neue Fragen werden relevant<br />
und stehen meist im Zusammenhang mit<br />
dem Eintritt in eine neue Lebensphase und<br />
mit einer materiellen oder körperlichen Verschlechterung<br />
der aktuellen Lebenssituation.<br />
Durch die verbesserte und raschere Diagnos -<br />
tik kommen sehr junge Menschen in die Beratungsstelle,<br />
darunter auch Betroffene, die<br />
kaum aktuelle Symptome aufweisen.<br />
Je nach Art der Symptome ergeben sich unterschiedliche<br />
Fragestellungen, die sich nach<br />
der Sichtbarkeit einteilen lassen.<br />
Katharina Schlechter 1 ,<br />
Lucia Bauer-Bohle 2<br />
Sozialdienst, Psychotherapie,<br />
Multiple Sklerose <strong>Gesellschaft</strong> Wien<br />
Die unsichtbare MS<br />
Das Einholen von Informationen unmittelbar<br />
nach Diagnosestellung bedeutet einen ersten<br />
Schritt, um sich mit der Krankheit auseinanderzusetzen.<br />
Dabei stehen meist Fragen nach<br />
Behandlungsmöglichkeiten und Therapieformen,<br />
nach alternativen Therapien und MS-<br />
SpezialistInnen im Vordergrund. Das Bedürfnis<br />
nach Austausch mit anderen Betroffenen<br />
kommt ebenso zum Ausdruck wie Unsicherheiten<br />
bezüglich einer Änderung des aktuellen<br />
Lebensstils. Der Schock über die unerwartete<br />
Diagnose sitzt manchmal tief und<br />
löst eine Vielzahl von bisher unbekannten<br />
Emotionen aus. Depressionen, Erschöpfung<br />
und Müdigkeit lassen den Alltag als nicht bewältigbar<br />
erscheinen, Angewiesensein auf<br />
Hilfe, eine plötzlich so unsichere Zukunft und<br />
Unwissenheit über die Erkrankung stellen<br />
neue und oft beängstigende Erfahrungen dar.<br />
Dabei werden psychotherapeutische Unterstützung<br />
und Gespräche mit außen stehenden<br />
Personen als hilfreich empfunden.<br />
Die ersten sozialen Fragen tauchen meist im<br />
Zusammenhang mit dem Arbeitsplatz auf<br />
und beziehen sich häufig auf Mitteilungspflicht,<br />
Kündigungsschutz, Auswirkungen<br />
von vermehrten Krankenständen, verminderte<br />
Leistungsfähigkeit oder Unsicherheiten im<br />
Zusammenhang mit einer Ausbildung.<br />
40
Mit Ausnahme von Einstellungsgesprächen,<br />
bei denen für die Betroffenen von Anfang<br />
an klar ist, dass sie diesen Tätigkeitsbereich<br />
nicht uneingeschränkt ausführen können, ist<br />
MS keine meldepflichtige Krankheit und<br />
muss zu keinem Zeitpunkt mitgeteilt werden.<br />
Eine Kündigung kann auch im Krankenstand<br />
ausgesprochen werden, was besonders nach<br />
einer kürzlich erhaltenen Diagnosemitteilung<br />
zu einer zusätzlichen und unerwarteten Belastung<br />
führt. Alleine die Tatsache, an MS erkrankt<br />
zu sein, hat keinerlei finanzielle Ansprüche<br />
zur Folge, auch keine Vor- oder<br />
Nachteile gegenüber gesunden Menschen.<br />
Mit dem Ziel, Menschen den Einstieg oder<br />
einen Verbleib im Arbeitsprozess zu ermöglichen,<br />
bietet das BBRZ (Berufliches Bildungsund<br />
Rehabilitationszentrum) in Kooperation<br />
mit der Pensionsversicherungsanstalt auch für<br />
Menschen ohne sichtbare Behinderung eine<br />
Vielzahl von diversen Schulungsmaßnahmen<br />
zur beruflichen Rehabilitation an. Neben dem<br />
BBRZ verfügen auch das Arbeitsmarktservice<br />
und der Wiener ArbeitnehmerInnen Förderungsfonds<br />
über Angebote für Umschulungsmaßnahmen.<br />
An der Universität Wien berät<br />
der Student Point Studierende mit physischen<br />
und psychischen Beeinträchtigungen in studienspezifischen<br />
Fragen.<br />
Da gerade viele junge Menschen mit der Diagnose<br />
MS konfrontiert sind, treten in dieser<br />
Lebensphase neben Fragen zum Arbeitsplatz<br />
und zur Ausbildung auch Verunsicherungen<br />
und Überlastungen im Zusammenhang mit<br />
der familiären Situation auf. Familienplanung<br />
und Schwangerschaft sind neu zu überdenken.<br />
Die Versorgung von Kindern, eine Doppelbelastung<br />
durch Beruf und Haushalt und<br />
finanzielle Engpässe, nun verbunden mit körperlicher<br />
und psychischer Belastung, können<br />
für junge Mütter Überforderungen darstellen<br />
und für AlleinerzieherInnen zusätzliche Probleme<br />
in einer bereits angespannten Lebenssituation<br />
bedeuten.<br />
Die sichtbare MS<br />
Neben nun häufiger gestellten Fragen nach<br />
Physiotherapie- und Rehabilitationsmöglichkeiten<br />
treten Fragen um den Arbeitsplatz erneut<br />
in den Vordergrund. Bei zunehmenden<br />
und sichtbaren Einschränkungen bestehen<br />
nun auch Möglichkeiten zur Unterstützung<br />
und rechtlichen Absicherung.<br />
Die Ausstellung eines Behindertenpasses ist<br />
dafür Voraussetzung. Dieser wird vom Bundessozialamt<br />
ausgestellt und dient als Nachweis<br />
einer Behinderung. Der Grad der Behinderung<br />
wird in einer ärztlichen Untersuchung<br />
festgestellt und im Ausweis vermerkt.<br />
Die Höhe des Grades wird von mehreren Faktoren<br />
bestimmt. Neben dem Vorhandensein<br />
einer chronischen Erkrankung und den tatsächlichen<br />
Einschränkungen finden nach der<br />
neuen Einschätzungsverordnung auch psychische<br />
Krankheiten und Tagesmüdigkeit ihre<br />
Berücksichtigung. Im Rahmen der ersten Untersuchung<br />
werden seitens des Bundessozialamtes<br />
auch mögliche Zusatzeintragungen<br />
geprüft und in den Pass eingetragen. Diese<br />
betreffen unter anderem das Angewiesensein<br />
auf einen Rollstuhl, eine starke Sehbehinderung<br />
oder die Unzumutbarkeit der Benützung<br />
öffentlicher Verkehrsmittel.<br />
Der Behindertenpass dient als amtlicher<br />
Nachweis und wird von anderen Einrichtungen<br />
anerkannt. Mit Ausnahme der Zugehörigkeit<br />
zum Personenkreis der begünstigten<br />
Behinderten (siehe unten) erfolgt keine Weiterleitung<br />
der Untersuchungsergebnisse an<br />
andere Institutionen.<br />
Ab einem Behinderungsgrad von 25 % besteht<br />
die Möglichkeit, einen Steuerfreibetrag<br />
beim Finanzamt zu beantragen, gewisse Zusatzeintragungen<br />
dienen als Voraussetzung<br />
für die Nutzung von Behindertenparkplätzen,<br />
der Befreiung von der motorbezogenen Versicherungssteuer<br />
und der Refundierung der<br />
Kosten der Autobahnvignette.<br />
Ab einem Grad von 30 % kann Arbeitsassis -<br />
tenz in Anspruch genommen werden. Diese<br />
wird von verschiedenen Vereinen angeboten,<br />
hilft bei der Auswahl und der Suche nach<br />
geeigneten Arbeitsplätzen und setzt sich<br />
auch mit ArbeitgeberInnen in Verbindung.<br />
Begünstigte Behinderte: Ab einem Grad<br />
von 50 % kann die Zugehörigkeit zum Personenkreis<br />
der begünstigten Behinderten beantragt<br />
werden. Dieser Status hat ausschließlich<br />
arbeitsrechtliche Relevanz und wird nur<br />
Personen zuerkannt, die sich noch im Arbeitsprozess<br />
befinden. Obwohl dadurch einige<br />
Unterstützungen erwirkt werden können<br />
und mit der Zugehörigkeit auch eine erschwerte<br />
Kündbarkeit verbunden ist, sollte<br />
die Beantragung dennoch gut überlegt werden.<br />
Dabei ist vor allem zu bedenken, dass<br />
das Vorliegen eines solchen Ausweises automatisch<br />
über das Finanzamt an den/die<br />
DienstgeberIn weitergeleitet wird und der<br />
Ausweis außer im Falle einer längerfristigen<br />
Verbesserung des Zustandes und einer beantragten<br />
Herabsetzung des Grades der Behinderung<br />
nicht mehr zurückgegeben werden<br />
kann.<br />
Beantragt und erhält die behinderte Person<br />
in einem laufenden Beschäftigungsverhältnis<br />
einen Feststellbescheid, so wird dieser nach<br />
Ablauf von 6 Monaten nach Beginn des<br />
Dienstverhältnisses gültig. Besteht das Dienstverhältnis<br />
seit über 6 Monaten, wird der Bescheid<br />
ab dem Zeitpunkt der Antragstellung<br />
wirksam. Die wesentlichste Motivation, einen<br />
Feststellbescheid zu beantragen, liegt in der<br />
erschwerten Kündbarkeit. So wird in jedes<br />
Kündigungsverfahren das Bundessozialamt<br />
eingeschaltet. Dieses überprüft nun die Situation<br />
am Arbeitsplatz hinsichtlich alternativer<br />
Tätigkeitsbereiche, Einschränkungen der<br />
betroffenen Person und Zumutbarkeiten für<br />
den/die ArbeitgeberIn und stimmt in der<br />
Folge einer Kündigung zu oder lehnt diese<br />
ab. Die Entscheidung ist sowohl für den/die<br />
ArbeitgeberIn als auch für den/die ArbeitnehmerIn<br />
bindend.<br />
Im Falle der Aufnahme eines neuen Dienstverhältnisses<br />
mit einem bereits vorhandenen<br />
Feststellbescheid wird der Kündigungsschutz<br />
erst nach 4 Jahren wirksam.<br />
Neben dem speziellen Kündigungsverfahren<br />
bietet der Feststellbescheid für begünstigte<br />
Behinderte aber auch noch eine Reihe weiterer<br />
Möglichkeiten für Unterstützungen und<br />
Förderungen am Arbeitsplatz, die auch für<br />
ArbeitgeberInnen Begünstigungen bedeuten.<br />
Eingliederungsbeihilfen durch das AMS sowie<br />
Entgeltbeihilfen und Zuschüsse zur Arbeitsplatzadaptierung<br />
durch das Bundessozialamt<br />
sind dabei exemplarisch zu erwähnen. u<br />
41
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
RESÜMEE<br />
Da DienstgeberInnen verpflichtet sind, pro 25<br />
ArbeitnehmerInnen eine begünstigt behinderte<br />
Person einzustellen oder im Rahmen<br />
einer Staffellösung eine Ausgleichszahlung zu<br />
entrichten, bedeutet die Einstellung einer Person<br />
mit Feststellbescheid eine finanzielle Erleichterung<br />
für einen mittelgroßen Betrieb.<br />
Fortgeschrittene Behinderung: Ist die körperliche<br />
Einschränkung so weit fortgeschritten,<br />
dass der Arbeitsplatz weder mit öffentlichen<br />
Verkehrsmitteln noch durch das Selbstlenken<br />
eines eigenen Fahrzeugs erreicht<br />
werden kann, übernimmt die Pensionsversicherungsanstalt<br />
Transportkosten, die durch<br />
Fahrten mit einem geeigneten Taxiunternehmen<br />
anfallen.<br />
Im Weiteren besteht bei fortgeschrittener Behinderung<br />
die Möglichkeit, über das Bundessozialamt<br />
persönliche Assistenz am Arbeitsplatz<br />
zu beantragen. Die Assistenzperson<br />
übernimmt dann einfache Tätigkeiten für die<br />
behinderte Person und hilft bei persönlichen<br />
Angelegenheiten wie zum Beispiel beim<br />
Gang auf die Toilette.<br />
Fühlt sich die an MS erkrankte Person nicht<br />
mehr in der Lage, die bisherige Arbeitsleis -<br />
tung weiterhin zu erbringen, stellt sich die<br />
Frage nach einer Berufsunfähigkeitspension.<br />
Rechtlich gesehen wird diese bewilligt, wenn<br />
die Arbeitsleistung auf weniger als 50 % im<br />
Vergleich mit einer gesunden Person herabgesunken<br />
ist. Gleichzeitig spielen aber auch<br />
Ausbildung und bisherige Tätigkeiten im Arbeitsprozess<br />
bei der Bewilligung eine bedeutende<br />
Rolle. Diese Pensionsanträge sind oft<br />
lange und nervenaufreibende Prozesse und<br />
mit seelischen Belastungen verbunden. Die<br />
Einsicht, vorzeitig aus dem Arbeitsleben aussteigen<br />
zu müssen, stellt oft den Selbstwert<br />
in Frage und zwingt, eine andere Identität<br />
zu finden und neue Aufgaben zu suchen.<br />
Die immer wiederkehrenden Konfrontationen<br />
mit Verlust an körperlicher Integrität und Leistungsfähigkeit,<br />
Hilfsbedürftigkeit und eine<br />
unsichere Zukunft bedeuten im Verlauf der<br />
Erkrankung keine abgeschlossenen Prozesse,<br />
Was in diesem Text zu schildern versucht<br />
wird, lässt sich durch das Modell der 5<br />
Säulen des Psychologen H. G. Petzold<br />
auch bildlich veranschaulichen. Das Modell<br />
findet unter anderem in der Sozialarbeit<br />
seine Anwendung und bezieht<br />
sich auf die Faktoren, die Identität bedingen:<br />
Körperlichkeit, soziales Netzwerk,<br />
Arbeit/Leistung, materielle Sicherheit<br />
und Werte.<br />
MS erschüttert und betrifft all diese Säulen<br />
und bedeutet damit eine konsequente<br />
Herausforderung an die Aufrechterhaltung<br />
der eigenen Identität. Hier<br />
schließt sich der Kreis: Sozialmedizinische<br />
Konsequenzen der MS sind breit gestreut<br />
und gefächert. Sie begleiten Menschen<br />
über einen langen Zeitraum ihres Lebens<br />
hinweg in unterschiedlichsten Lebenslagen<br />
und Lebensbereichen. Soziale, medizinische<br />
und psychologische Angebote,<br />
volkswirtschaftliche Aspekte und sozialrechtliche<br />
Grundlagen sind Perspektiven,<br />
die ebenso wenig aus dem Auge zu verlieren<br />
sind wie die Beachtung der individuellen<br />
Persönlichkeit mit ihren Ressourcen<br />
und Nöten.<br />
sondern können auch nach jedem schwereren<br />
Schub erneut auftreten.<br />
Finanzielle Probleme: Durch den Eintritt in<br />
die Pension, die in der Regel anfangs nur befristet<br />
bewilligt wird, entstehen oftmals finanzielle<br />
Probleme, durch die fortgeschrittene<br />
Behinderung stellen sich Fragen zur<br />
Wohnsituation und zur Unterstützung bei der<br />
Alltagsbewältigung.<br />
Eine finanzielle Zuspitzung kann zwar durch<br />
die Inanspruchnahme diverser Beihilfen entschärft<br />
werden, materielle Einbußen bleiben<br />
dennoch häufig bestehen und zwingen zu<br />
Verzicht oder manchen einschneidenden<br />
Maßnahmen.<br />
Wohnsituation: Nicht nur auf Grund finanzieller<br />
Probleme, sondern auch durch körperliche<br />
Verschlechterungen wird eine Veränderung<br />
der Wohnsituation oft unumgänglich.<br />
Hier gilt es gut abzuwägen, ob eher Adaptierungsmaßnahmen<br />
oder ein Wohnungswechsel<br />
zum Fortbestand der Lebensqualität<br />
und der Eigenständigkeit beitragen. Dabei ist<br />
auch der soziale Aspekt nicht aus dem Auge<br />
zu verlieren. So transportieren Fahrtendienste<br />
behinderte Menschen zwar quer durch die<br />
Stadt, allerdings immer nur unter der Voraussetzung,<br />
dass diese den Weg von ihrer<br />
Wohnung bis zur Straße selbständig überwinden<br />
können.<br />
Teilnahme am sozialen Leben und größtmögliche<br />
Eigenständigkeit in der Alltagsbewältigung<br />
sind nicht nur Ziele einer gelungenen<br />
Wohnsituation, sondern auch in der medizinischen<br />
Behandlung und Rehabilitation und<br />
bei der Wahl von Hilfsmitteln und Betreuungsangeboten<br />
erstrebenswert.<br />
Betreuung: Mit dem Pflegegeld, einem 7-stu -<br />
figen Modell, das sich nach der Anzahl der<br />
benötigten Stunden an Hilfe durch eine andere<br />
Person richtet, besteht die Möglichkeit,<br />
unterstützende Betreuungsangebote zu finanzieren.<br />
Unterstützung durch nahe Verwandte,<br />
Nachbarschaftshilfe oder private<br />
Putzdienste, Betreuung durch HeimhelferInnen,<br />
Tageszentren, Pflegestationen oder<br />
durch persönliche Assistenten und 24-Stunden-Betreuung<br />
stellen zwar eine breite Palette<br />
an potenziellen Möglichkeiten dar, müssen<br />
aber im Einzelfall auf ihre Umsetzbarkeit<br />
überprüft werden. So kann Betreuung durch<br />
nahe Angehörige zu Überforderung und zu<br />
Veränderungen im Beziehungsgefüge führen.<br />
Kognitive Fähigkeiten, Altersgrenze und Pflegegeldhöhe<br />
hingegen müssen beim Modell<br />
der persönlichen Assistenz miteinbezogen<br />
werden. Im Rahmen von persönlicher Assis -<br />
tenz erhält die hilfsbedürftige Person über<br />
das Pflegegeld hinaus zwar noch einen weiteren<br />
finanziellen Zuschuss, ist aber verpflichtet,<br />
als eigenständige/r UnternehmerIn Hilfskräfte<br />
anzustellen, die Administration abzuwickeln<br />
und der zuschussauszahlenden Stelle<br />
42
die gesamte Abrechnung vorzulegen. 24-<br />
Stunden-Betreuung ist eine Alternative zu<br />
einer Aufnahme in ein Pflegeheim. Bei dieser<br />
Variante kann der/die Betroffene in der eigenen<br />
Wohnung bleiben, allerdings muss für<br />
die betreuende Person eine eigene Räumlichkeit<br />
vorhanden sein. Dabei fallen auch Kosten<br />
MS-<strong>Gesellschaft</strong> Wien<br />
an, die nicht gänzlich durch Zuschüsse abgedeckt<br />
werden können.<br />
Die Erfahrung zeigt, dass Antragstellungen<br />
auf Sozialleistungen und Förderungsansuchen<br />
für behindertengerechte Maßnahmen<br />
trotz gesetzlicher Grundlage mit zunehmend<br />
Die Autorinnen sind Mitarbeiterinnen im Sozialservice und der Psychotherapie der MS-<br />
<strong>Gesellschaft</strong> Wien. Diese sozialmedizinische Non-Profit-Organisation hat es sich zum Ziel<br />
gesetzt, Menschen mit multipler Sklerose und deren Angehörige zu informieren, zu beraten<br />
und zu unterstützen, damit diese bestmöglich mit den MS-bedingten Lebensveränderungen<br />
zurechtkommen und trotz der Erkrankung ein qualitätvolles Leben führen<br />
können.<br />
Multiple Sklerose <strong>Gesellschaft</strong> Wien<br />
Beratungszentrum Hernalser Hauptstraße 15–17, 1170 Wien<br />
Tel.: 01/409 26 69, E-Mail: office@msges.at, Information: www.msges.at<br />
mehr Aufwand verbunden sind. Die Beilage<br />
von <strong>neurologisch</strong>en Befunden der behandelnden<br />
ÄrztInnen, die die Situation des/der<br />
Betroffenen oft über einen längeren Zeitraum<br />
hinweg bereits kennen, verleihen Anträgen<br />
den notwendigen Nachdruck, unterstreichen<br />
die Rechtfertigung und leisten damit einen<br />
wichtigen Beitrag, der die Aussicht auf Erfolg<br />
steigen lässt.<br />
n<br />
Literatur bei den Verfasserinnen<br />
Links zu den angeführten Institutionen<br />
- ÖMSG – Österreichische Multiple Sklerose <strong>Gesellschaft</strong><br />
www.msgoe.co.at<br />
- GfK Austria – Marktforschungsinstitut www.gfk.at<br />
- BBRZ – Berufliches Bildungs- und Rehabilitationszentrum<br />
www.bbrz.at<br />
- PVA – Pensionsversicherungsanstalt<br />
www.pensionsversicherung.at<br />
- AMS – Arbeitsmarktservice www.ams.at<br />
- WAFF – Wiener ArbeitnehmerInnen Förderungsfond<br />
www.waff.at<br />
- Student Point Uni Wien http://studentpoint.univie.ac.at<br />
- Bundessozialamt (BSA) www.bundessozialamt.gv.at/<br />
- Finanzamt – Dienststellensuche online unter<br />
http://dienststellen.bmf.gv.at/ListDst_Auswahl.asp<br />
43
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
Anmerkungen zum „publication bias“<br />
Das einzige Dogma, das es in der Wissenschaft geben darf, ist, dass es kein Dogma geben darf,<br />
und dass alles, was denkbar möglich scheint, auch ausgesprochen werden darf.<br />
Diese freie Grundhaltung der Wissenschaft<br />
– und die Medizin ist nichts anderes<br />
als eine empirische Wissenschaft – scheint<br />
durch in den letzten Jahren aufkommende,<br />
sehr befremdlich anmutende Strömungen<br />
gefährdet: ForscherInnen sehen<br />
sich einem immer höheren Publikationsdruck<br />
und finanziellen Druck gegenüber.<br />
Ergebnisse müssen stets „brandneu“ sein,<br />
neues Wissen schaffen, „positiv“ sein.<br />
Immer schneller wird publiziert, um<br />
„anderen zuvorzukommen“, manchmal<br />
anscheinend überhastet und vorschnell –<br />
zumindest gemessen an der Zahl der<br />
zurückgezogenen Arbeiten und nach Jahren<br />
relativierten Arbeiten.<br />
„Rein“ bestätigende Ergebnisse oder gar<br />
die (vermeintlichen?) „Positiv-Ergebnisse“<br />
nicht bestätigende „Negativ-Ergebnisse“<br />
scheinen nichts wert, werden nur schwer<br />
oder gar nicht veröffentlicht. Hier wird mit<br />
unterschiedlichem Maß gemessen: das<br />
Argument, dass die AutorInnen-/Arbeitsgruppe<br />
XYZ zeigen konnten, dass etwas<br />
so sei („Positiv-Ergebnis“), ist (vorerst)<br />
kaum ausräumbar, selbst wenn die<br />
Methodik und Resultate der ursprünglichen<br />
Arbeit Zweifel erwecken oder gar<br />
durch bessere Methodik und Resultate<br />
nicht bestätigt werden können. Das Negativ-Ergebnis<br />
scheint nicht nur keine Beachtung<br />
zu finden, sondern Widerstand, da<br />
es zumeist mit dem Mainstream bzw.<br />
anderen Publikationen nicht kompatibel<br />
scheint.<br />
Gleiches Abwägen von<br />
Positiv- und Negativ-Ergebnissen<br />
Der Wissenschaft würde Genüge getan<br />
werden, würden Positiv- und Negativ-Er -<br />
gebnis gleich beurteilt und gleichermaßen<br />
– ohne Wenn und Aber – ihren Weg in die<br />
medizinische Literatur finden. Nur so wäre<br />
gewährleistet, dass alle „Für und Wider“<br />
in Folgearbeiten und Meta-Analysen<br />
Berücksichtigung finden können und das<br />
so genannte (zuweilen nur minimale) Positiv-Ergebnis,<br />
dass irgendein Faktor X,<br />
Merkmal Y, Korrelation Z in einer<br />
bestimmten Krankheitsgruppe statistisch<br />
(was dies in vielen Fällen konkret bedeuten<br />
soll, möge an dieser Stelle hinterfragt<br />
sein) gesehen häufiger auftritt etc., keine<br />
Überbewertung erfährt.<br />
Nur allzu gut bekannt sind die überstrapazierten<br />
Sätzen wie „(...) our results may<br />
have major implications for the treatment<br />
of (...)“ oder „(...) our study may be of<br />
potential interest for (...)“, „further studies<br />
are necessary to confirm the (...)“ etc., mit<br />
denen sehr viele Arbeiten enden, um dem<br />
vielleicht nur geringen Positiv-Ergebnis der<br />
Arbeit eine gewisse Wertigkeit zu verleihen.<br />
Dabei gibt es in einem streng wissenschaftlichen<br />
Ansatz und bei objektiver<br />
Betrachtung kein unbedeutendes Ergebnis,<br />
wenn das Konzept des wissenschaftlichen<br />
Experiments bzw. der Studie klar,<br />
strukturiert und nachvollziehbar ist und<br />
die angewandte Methodik dem bestem<br />
möglichen Stand der Wissenschaft entspricht,<br />
sorgfältig durchgeführt wird und<br />
reproduzierbar ist. Im Gegenteil, Gefahr<br />
besteht darin, dass eine Überinterpretation<br />
Ergebnisse konterkarieren bzw. sogar<br />
„verfälschen“ kann. Oftmals scheinen<br />
andere denkbar mögliche Einflüsse oder<br />
sogar offensichtliche Cofounder keine<br />
Beachtung zu finden.<br />
Priv.-Doz. Dr.<br />
Fahmy Aboul-Enein<br />
Neurologische Abteilung,<br />
SMZ Ost, Donauspital<br />
Wien<br />
Manchmal finden Ergebnisse rasch Einzug<br />
in die medizinischen Lehrbücher (zumeist<br />
Positiv-Ergebnisse ohne „strenge Validierung“)<br />
und sind, dort einmal angelangt,<br />
mitunter über Jahrzehnte als „unwiderrufliche“<br />
(teils evidenzbasierte) Lehrmeinung<br />
fixiert und prägen unseren klinischen Alltag,<br />
bis die alltägliche Routine und Erfahrung<br />
doch das Gegenteil beweisen. Dies<br />
wäre vermutlich schon zuvor durch eine<br />
objektive, kritische und schonungslose<br />
Evaluierung und vor allem durch das gleiche<br />
Abwägen von Positiv- und Negativ-<br />
Ergebnissen vermeidbar. Dies wäre ohnehin<br />
vom rein naturwissenschaftlichen<br />
Ansatz auch gefordert.<br />
Nichtsdestotrotz scheint das Gegenteil die<br />
Regel und vor allem der Umgang mit Kritik<br />
zuweilen fragwürdig zu sein: Es entspreche<br />
oftmals nicht der „Politik des<br />
Journals“, Leserbriefe und kritische Kommentare<br />
zu diversen Originalarbeiten in<br />
entsprechender Form zu würdigen und zu<br />
veröffentlichen, obwohl dies eine der<br />
wesentlichen Auflagen für ein Journal ist,<br />
in der Medline gelistet zu sein und<br />
dadurch überhaupt einen Impact-Faktor<br />
erlangen zu können.<br />
Statische Signifikanz –<br />
Maß aller Dinge<br />
Einzig und allein der Impact-Faktor des<br />
wissenschaftlichen Journals, in dem die<br />
52
Arbeit veröffentlicht werden kann, und<br />
die statistische Signifikanz scheinen zum<br />
Maß aller Dinge auserkoren, idealisiert<br />
und unantastbar. Sei die Signifikanz noch<br />
so gering, die Fallzahl noch so unbedeutend,<br />
die Streuung der Einzelwerte noch<br />
so hoch und vor allem die Fragestellung<br />
und das Studienkonzept vielleicht sogar<br />
noch so merkwürdig anmutend, ein Positiv-Ergebnis<br />
bleibt ein Positiv-Ergebnis,<br />
gleich wie viele Negativ-Ergebnisse existieren,<br />
jedoch nie publiziert werden (können).<br />
Eine fehlende statistische Signifikanz<br />
oder Korrelation (mit irgendeinem Nebenparameter)<br />
scheint oft mit einem Nichtpublizieren-Können<br />
gleichgesetzt zu werden.<br />
Viel bedenklicher ist jedoch, dass den<br />
LeserInnen zumeist die individuellen<br />
Daten der einzelnen PatientInnen verborgen<br />
bleiben und eine eigene Interpretation<br />
durch grafische Darstellung von Balkendiagrammen<br />
(anstelle z. B. von Scatterplots)<br />
und tabellarische Aufstellung von<br />
Mittelwerten, Standardabweichungen,<br />
Ratios etc. schier unmöglich gemacht wird<br />
– und dies im Zeitalter der Elektronik, in<br />
denen zahlreiche Daten als Supplements<br />
publiziert werden könnten.<br />
In einer immer schneller werdenden Welt<br />
scheinen nur mehr die Überschriften und<br />
kurze Abstrakte in den medizinischen<br />
Datenbanken und Übersichtsarbeiten in<br />
renommierten Journalen Beachtung zu finden.<br />
Die LeserInnen scheinen die Methodik<br />
und Resultate nicht mehr ihrer eigenen kritischen<br />
Analyse zu unterziehen, und dies,<br />
obwohl streng genommen nur die Methodik<br />
und Resultate und deren Plausibilität für<br />
jede weitere wissenschaftliche Bewertung<br />
herangezogen werden sollen. Dabei sollte<br />
die Diskussion nur der Interpretation und<br />
Plausibilitätskontrolle in Bezug auf die<br />
Durchführung der eigenen Arbeit und zur<br />
bestehenden Literatur dienen.<br />
Erste Verlaufsstudie zur optischen<br />
Kohärenztomographie bei MS<br />
Wir hoffen mit unserer vor Kurzem<br />
erschienenen Arbeit der klinisch angewandten<br />
Forschung gerecht zu werden<br />
und stellen uns dem kritischsten aller<br />
Urteile, dem Urteil der LeserInnen. In dieser<br />
Arbeit versuchten wir, eine in den letzten<br />
Jahren sehr kontrovers diskutierte<br />
Arbeitshypothese, dass die Dicke der Nervenfaserschicht<br />
der Retina bei MS-PatientInnen<br />
mit diffuser axonaler Schädigung<br />
des gesamten ZNS (unabhängig von<br />
etwaig statt gehabten Sehnervenentzündungen)<br />
korreliere, zu reevaluieren.<br />
Auch wenn die optische Kohärenztomographie<br />
(OCT) eine Darstellung der retinalen<br />
Schichten und eine Messung der retinalen<br />
Nervenfaserschichtdicke (RNFL, Retinal<br />
Nerve Fiber Layer) erlaubt, ist eine Aussage<br />
über zugrunde liegende histolo gische, morphologische<br />
Veränderungen und deren<br />
mögliche Ursache naturgemäß nicht möglich:<br />
Eine verminderte RNFL heißt verminderte<br />
RNFL, nicht mehr. Die OCT erlaubt<br />
keine weitere Aussage, insbesondere nicht<br />
ob die RNFL-Verminderung<br />
1 durch Verlust von einzelnen Axonen<br />
des Sehnerven<br />
2 durch Größen-/Kaliberabnahme<br />
von einzelnen Axonen des<br />
Sehnerven<br />
3 schubhaft, durch einzelne patho lo -<br />
gische Ereignisse<br />
4 progredient, durch andauernden<br />
pathologischen Stimulus<br />
5 durch pathologische Prozesse von<br />
„außen“/im Auge (z. B. Druckschä -<br />
digung bei Augendruckerhöhung,<br />
Glaukom etc.)<br />
6 durch pathologische Prozesse in der<br />
Netzhaut selbst, oder gar<br />
7 retrograd, durch die derzeitig sehr<br />
kontrovers diskutierte, hypothetische<br />
retrograde transsynaptische Degeneration<br />
bedingt ist.<br />
Vor allem gilt es zu bedenken, dass die<br />
RNFL-Messwerte selbst Tagesschwankungen<br />
unterworfen sein können und<br />
von Gerät zu Gerät, von UntersucherIn<br />
zu UntersucherIn, von Untersuchung zu<br />
Untersuchung variabel sein können und<br />
die Dicke der RNFL individuell sehr unterschiedlich<br />
sein kann, mit dem Lebensalter<br />
in der Regel abnimmt und der Ausgangswert<br />
der RNFL beim einzelnen<br />
Patienten unbekannt bleiben muss. Die<br />
Limitation selbst für die hochauflösenden<br />
OCT-Geräte der neuen Generation<br />
ist demnach nur allzu offensichtlich:<br />
„Schnappschüsse“ der Retina. Diese<br />
dürfen wenn sie auch noch so oft im<br />
Verlauf gemessen werden, mitunter<br />
mehrmals täglich, niemals überbewertet<br />
werden. Eine tatsächliche Verminderung<br />
der RNFL kann maximal einen „irreversiblen<br />
Endzustand“ anzeigen und erlaubt<br />
keinen Rückschluss über die zugrunde<br />
liegenden pathologischen Mechanismen,<br />
die hierzu geführt haben. (Anm.:<br />
analog zu einer in der MRT sichtbaren<br />
Hirnatrophie; eine der Hirnatrophie<br />
zugrunde liegende Neurodegeneration<br />
im ZNS ist in der Regel irreversibel, entspricht<br />
somit einem „Endzustand“, der<br />
vielleicht sistieren oder fortschreiten,<br />
jedoch nicht wieder aufgehoben werden<br />
kann.)<br />
Implikation und Interpretation: Wir –<br />
wie auch andere Arbeitsgruppen – glauben,<br />
dass unser Negativ-Ergebnis erhebliche<br />
Bedeutung für unsere MS-PatientInnen<br />
hat, und hoffen, die oben zitierten<br />
Sätze hiermit nicht überstrapaziert zu<br />
haben. Wir versuchten, den LeserInnen<br />
eine eigene Interpretation eines (vielleicht<br />
erst vorläufigen) Negativ-Ergebnisses zu<br />
ermöglichen, indem wir die individuellen<br />
Ergebnisse und klinischen Eckdaten der<br />
einzelnen PatientInnen präsentierten. Die<br />
Arbeit ist für alle interessierten LeserInnen<br />
weltweit und unentgeltlich als free<br />
download zugänglich.<br />
Wir hoffen, dass Sie an unserem Artikel<br />
Gefallen finden und bei den nächsten Veröffentlichungen<br />
und Präsentationen von<br />
Positiv-Ergebnissen hinterfragen, wie viele<br />
Negativ-Ergebnisse zu eben jener präsentierten<br />
bzw. veröffentlichten Fragestellung<br />
bereits existieren, aber bislang noch nicht<br />
veröffentlicht wurden (bzw. veröffentlicht<br />
werden konnten).<br />
n<br />
53
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
Hochauflösende Spectral-Domänen- optische<br />
Kohärenztomographie (SD-OCT) bei MS –<br />
die erste Verlaufsstudie über 2 Jahre<br />
ABSTRACT: „Nichtinvasiv, berührungslos, schneller und billiger als die MRT“ und „das<br />
Auge ist ein Fenster zum Gehirn“ sind die aktuellen Schlagworte, um die optische Kohärenztomographie<br />
(OCT, Optical Coherence Tomography) als neuen Surrogatmarker bei der<br />
multiplen Sklerose (MS) anzupreisen. Mit der OCT sollen erstmals Axone des zentralen<br />
Nervensystems (ZNS) „direkt und nichtinvasiv“ dargestellt werden können. † Die propagierte<br />
Hypothese lautet: Die Reduktion der retinalen Nervenfaserschichtdicke (RNFL, Retinal<br />
Nerve Fiber Layer) soll bei MS-PatientInnen mit der Krankheitsaktivität und Krankheitsdauer<br />
korrelieren.<br />
Allerdings sind viele Fragen ungeklärt: Reflektieren ein paar wenige (Anm.: schätzungsweise<br />
1,5 bis 4) Millionen Axone beider Sehnerven wirklich das Schicksal von hunderten<br />
Milliarden von Neuronen im gesamten ZNS? Führt ein Schaden im ZNS wirklich zu einer<br />
(globalen) Reduktion der Retina? Und wenn ja, ist klar, ob eine pathologische Verminderung<br />
der RNFL wirklich bei allen MS-PatientInnen existiert, und wenn ja, ob diese RNFL<br />
langsam und stetig fortlaufend entsteht? Wie können subtile globale Veränderungen der<br />
RNFL zuverlässig bestimmt werden und vor allem von den eher groben fokalen RNFL-Änderungen,<br />
die durch Sehnervenentzündungen verursacht werden, zuverlässig abgegrenzt<br />
werden? In jedem Fall ist eine neutrale, kritische und schonungslose wissenschaftliche<br />
Überprüfung dieser Hypothese notwendig.<br />
Methodik: Wir untersuchten prospektiv 37 MS-PatientInnen mit primär schubhaftem<br />
(n = 27) und sekundär progredientem Verlauf (n = 10) mit hochauflösender SD-OCT mit<br />
3,5-mm-Circle-Scan-Protokoll, gesperrten Referenzbildern und Eye-tracking-Modus. Das<br />
mediane Intervall zwischen den beiden Untersuchungen betrug 22,4 ± 0,5 Monate (Bereich<br />
19 bis 27 Monate). Die eingeschlossenen MS-PatientInnen hatten weder 12 Monate vor<br />
Studienbeginn noch innerhalb des Beobachtungszeitraums eine Sehnervenentzündung.<br />
Resultate: Obwohl mehr als die Hälfte der eingeschlossenen MS-PatientInnen mit primär<br />
schubhafter MS eine hohe Krankheitsaktivität über den Beobachtungszeitraum hatte<br />
(19 PatientInnen/32 Schübe) und die anfängliche Dicke der RNFL sehr stark variierte (von<br />
normal bis stark reduziert), konnten keine signifikanten Veränderungen zwischen der<br />
ersten und den Folgeuntersuchungen nachgewiesen werden.<br />
Schlussfolgerungen: Unsere Ergebnisse mahnen zur Vorsicht, die OCT derzeit für das<br />
Monitoring von Krankheitsaktivität und globaler Neurodegeneration bei MS zu ver wenden.<br />
† im engeren Sinne können die einzelnen Kompartimente, nicht die einzelnen Axone der Retina dargestellt werden;<br />
die OCT erlaubt hiermit keine Aussage über die einzelnen Axone, deren Anzahl oder Volumen. Die retinale Nervenfaserschicht<br />
(RNFL) könnte durch den Verlust von Axonen oder Volumenverminderung bzw. beides vermindert sein.<br />
Hintergrund und Studienziel<br />
Angenommen wird, dass die multiple<br />
Sklerose eine chronische entzündliche<br />
Erkrankung des zentralen Nervensystems<br />
ist, die zu charakteristischer Demyelinisierung<br />
und axonaler Degeneration führen<br />
soll. 1 Die Ursache der MS ist nach wie vor<br />
unbekannt; ihre zugrunde liegenden<br />
pathogenetischen Mechanismen sind vermutlich<br />
komplex und heterogen, werden<br />
wahrscheinlich außerhalb des ZNS ausgelöst,<br />
sind aber wahrscheinlich letztendlich<br />
innerhalb des ZNS kompartmentalisiert. 2–9<br />
Bei den meisten MS-PatientInnen verläuft<br />
die Erkrankung primär schubhaft (RRMS,<br />
relapsing remitting MS) und nur selten<br />
gleich von Beginn an primär progredient<br />
(PPMS, primär progrediente MS). Nach<br />
unbestimmter Zeit können viele der<br />
ursprünglich primär schubhaften MS-<br />
PatientInnen sekundär progredient werden,<br />
mit oder ohne superponierte(n) Schübe(n)<br />
(SPMS, sekundär progrediente MS).<br />
Jede(r) MS-PatientIn folgt seinem/ ihrem<br />
eigenem, individuellem Krankheitsverlauf.<br />
10 Weder die Häufigkeit und Schwere<br />
der einzelnen Schübe noch die Behinderung<br />
in den ersten Jahren nach dem Ausbruch<br />
der Krankheit, noch die Läsionslast<br />
in der Magnetresonanztomographie (MRT)<br />
noch irgendein anderer etablierter Parameter<br />
oder Biomarker erlauben eine zuverlässige<br />
Aussage der einzelnen individuellen<br />
Krankheitsverläufe. 11–17<br />
Allgemein wird akzeptiert, dass bei den<br />
meisten MS-PatientInnen eine dauerhafte<br />
Behinderung letztendlich durch axonalen<br />
Schaden bedingt ist. 18 Schlüssig erscheint<br />
daher, dass eine Methode, mit welcher<br />
der axonale Schaden im ZNS zuverlässig in<br />
vivo gemessen werden könnte, für das<br />
Monitoring von MS-PatientInnen hilfreich<br />
sein kann. 19–20<br />
OCT- und RNFL-Veränderungen: Mit<br />
der OCT kann die Netzhaut im Prinzip<br />
relativ einfach und nichtinvasiv visualisiert,<br />
ihre Dicke bestimmt und etwaige Veränderungen<br />
der RNFL-Dicke über die Zeit<br />
gemessen werden. Erste wissenschaftliche<br />
Untersuchungen der retinalen Nervenfaserschicht<br />
von MS-PatientInnen zeigten<br />
jedoch, dass die Messwerte der RNFL<br />
äußerst heterogen sind. Sie können von<br />
normalen bis zu stark reduzierten Werten<br />
reichen. 21–22<br />
Die Anzahl stattgehabter Optikusneuritiden<br />
(ON), die Dauer der Erkrankung und<br />
die MS-Subtypen (v. a. bei PPMS und<br />
SPMS) sollen mit herabgesetzten RNFL-<br />
54
Werten korrelieren 23, 24 , wobei die RNFL-<br />
Veränderungen durch ON eher grob und<br />
fokal sind. 25, 27 (Anm.: nach gegenwärtigem<br />
Stand des Wissens dürften ON vermutlich<br />
zu „sektoriellen/fokalen Kratern“<br />
in der RNFL entsprechend ihrer Lokalisation<br />
im Sehnerven führen und keine gleichmäßige,<br />
subtile, langsam fortschreitende<br />
Degeneration der gesamten, globalen<br />
RNFL verursachen). Diese relativ groben<br />
RNFL-Veränderungen durch ON könnten<br />
die hypothetischen globalen RNFL-Veränderungen,<br />
die langsam und stetig fortschreiten<br />
und subtil sein sollen und gar<br />
unter der Nachweisgrenze von hochauflösender<br />
SD-OCT Technik liegen sollen,<br />
überlagern und eine Detektion schier<br />
unmöglich machen.<br />
20, 26, 27<br />
Langzeitstudien mit hochauflösender SD-<br />
OCT, in denen die individuellen Daten für<br />
jede/n einzelne/n Patienten/-in nachvollziehbar<br />
bereitgestellt werden, sind für die<br />
weitere wissenschaftliche Klärung unerlässlich<br />
und ermöglichen der/dem LeserIn<br />
eine eigene Interpretation. 10, 28 Merkwürdig<br />
mutet an, dass derzeit Einfachunter -<br />
suchungen als „wissenschaftlicher Beweis<br />
für eine kontinuierlich fortschreitende<br />
RNFL-Reduktion („RNFL-Ausdünnung“)<br />
angesehen werden und publiziert<br />
werden.<br />
20, 27<br />
Tatsächlich ist aber weder bewiesen, ob<br />
eine globale RNFL-Reduktion überhaupt,<br />
und wenn ja, bei allen MS-PatientInnen<br />
existiert, noch ob simple mathematische<br />
Berechnungen (RNFL-Reduktionsraten [in<br />
µm] pro Jahr = RNFL [in µm bei<br />
Baseline]/Krankheitsdauer [in Jahren]) die<br />
Realität bei MS-PatientInnen widerspiegeln,<br />
noch ob eine etwaige globale RNFL-<br />
Reduktion kontinuierlich (eine „RNFL-Ausdünnung“,<br />
semantisch im engeren Sinn)<br />
oder schrittweise durch die Ansammlung<br />
von fokalen Läsionen, oder eben beides<br />
verursacht würde. Angaben wie „RNFL-<br />
Reduktionsraten pro Jahr“ oder „RNFL-<br />
Ausdünnung“ können gänzlich irreführend<br />
sein und sollten keine Verwendung<br />
finden. Für jede klinische Anwendung ist<br />
vor allem eine Frage zu beantworten, was<br />
die hypothetische globale RNFL-Reduktion<br />
verursachen könnte: Gibt es bei allen MS-<br />
PatientInnen eine globale RNFL-Reduktion<br />
oder nicht, und wenn ja, können die<br />
postulierten subtilen globalen RNFL-Veränderungen<br />
in sehr kurzen Beobachtungszeiträumen<br />
von 6 Monaten bis 2<br />
Jahren überhaupt gemessen werden.<br />
23, 24<br />
Unbestritten ist jedenfalls, dass die hoch<br />
auflösende SD-OCT Grundvoraussetzung<br />
für die Beantwortung dieser Frage ist.<br />
19, 20,<br />
24, 26–29<br />
Zu diesem Zweck untersuchten wir eine<br />
große Kohorte von 27 RRMS- und 10<br />
SPMS-PatientInnen mit der neuen hoch<br />
auflösenden SD-OCT über einen längeren<br />
Beobachtungszeitraum von ca. 22,4 ± 0,5<br />
Monaten. Trotz teilweise hoher Krankheitsaktivität<br />
mit vielen Schüben hatten<br />
die eingeschlossenen PatientInnen keine<br />
ON 12 Monate vor Studienbeginn und im<br />
weiteren Verlauf. In die Analysen wurden<br />
die klinischen Daten jedes/jeder einzelnen<br />
Teilnehmers/-in (Alter, Geschlecht, MS-<br />
Subtyp, Krankheitsdauer, Schubanzahl<br />
[vor und während der Studie] und medikamentöse<br />
Behandlung) miteinbezogen.<br />
Methoden<br />
Die Studie wurde von der lokalen Ethikkommission<br />
genehmigt. Eine schriftliche<br />
Einverständniserklärung wurde von allen<br />
PatientInnen und ProbandInnen vor Studienbeginn<br />
eingeholt. Wir luden nochmals<br />
alle 59 MS PatientInnen (42 RRMS,<br />
17 SPMS), die wir bereits zuvor einmal<br />
untersucht hatten (Baseline) 22 , zu einer<br />
Verlaufsuntersuchung ein. 37 MS-PatientInnen<br />
(27 RRMS, 10 SPMS) stimmten zu,<br />
22 PatientInnen zogen sich von einer<br />
weiteren Teilnahme zurück. Eine dieser<br />
22 PatientInnen hatte einen embolischen<br />
Schlaganfall der A. cerebri ant. sin., eine<br />
andere Patientin verschlechterte sich dramatisch<br />
(EDSS 8,0). Die restlichen 20 Pa -<br />
tientInnen gaben keine Begründung an.<br />
Diese blieben allerdings klinisch stabil<br />
(data not shown).<br />
Wir untersuchten die 37 MS-Patienten<br />
(27 RRMS, 10 SPMS) zweimal mit einem<br />
medianen Intervall von 22,4 ± 0,5 Monaten<br />
[Bereich: 19 bis 27 Monate] prospektiv.<br />
Die PatientInnen wurden konsekutiv<br />
rekrutiert. Die Diagnose „klinisch defini -<br />
tive MS“ war laborchemisch und MRTgestützt<br />
(MRI-Kriterien nach Barkhof).<br />
30, 34<br />
Andere mögliche Differenzialdiagnosen<br />
fanden keine Bestätigung. 31 Intrathekale<br />
oligoklonale Extra-Banden wurden bei<br />
allen MS-PatientInnen nachgewiesen.<br />
PatientInnen mit zusätzlichen anderen<br />
(Augen-)Krankheiten, die die RNFL-Dicke<br />
reduzieren können (Glaukom, anteriore<br />
ischämische Optikusneuropathie, hohe<br />
Myopie und angeborenen Anomalien des<br />
Sehnerven) wurden ausgeschlossen.<br />
Die klinisch-<strong>neurologisch</strong>e Untersuchung,<br />
visuell evozierte Potenziale (VEP) und ophthalmologische<br />
Untersuchungen wurden<br />
innerhalb von 7 Tagen durchgeführt.<br />
Kein(e) PatientIn hatte eine ON 12 Monate<br />
vor und während der Studie. Eine<br />
Zusammenfassung der detaillierten demografischen<br />
und klinischen Daten für jede/n<br />
einzelne/n MS-PatientenIn ist in der Ta -<br />
belle angegeben.<br />
Hochauflösende Spectral-Domain-OCT:<br />
Die RNFL-Messung wurde im Detail bereits<br />
beschrieben.<br />
22, 25, 26<br />
Kurz angeführt sei,<br />
dass wir die hochauflösende SD-OCT mit<br />
einem konfokalen Laser-Scanning-Ophthalmoskop<br />
verwendet haben (Heidelberg<br />
Engineering, Heidelberg, Deutschland,<br />
Spectralis Software-Version 4.0.3.0, Eye<br />
Explorer Software 1.6.1.0). Durch einen<br />
besonderen Eye-Tracking-Modus (True-<br />
Trac) und die hohe Scan-Geschwindigkeit<br />
dieses SD-OCT-Gerätes wird eine<br />
Reduktion der Artefakte durch Augenbewegungen<br />
ermöglicht. Jeder peripapilläre<br />
OCT-Scan wird registriert und als Referenzbild<br />
für weitere Aufnahmen/ Verlaufsuntersuchungen<br />
gespeichert. Mittels der speziellen<br />
OCT-Software wird bei Verlaufsuntersuchungen<br />
der OCT-Laserstrahl auf eben die<br />
gleiche Position der Referenzaufnahmen<br />
gerichtet und das gleiche Areal der Retina<br />
erneut gescannt. Um das Verhältnis Signal:<br />
Hintergrund (signal-to-noise-ratio; „Rauschen“)<br />
und die Bildqualität zu verbessern,<br />
werden 16 Frames (B-Scans) der gleichen<br />
Scan-Position mit automatischem Echtzeit-<br />
Mittelung-Modus (ART mode, Automatic<br />
Real-Time mode) gemittelt. Alle RNFL-<br />
Scans wurden mit erweiterten Pupillen im<br />
hochauflösenden Modus angefertigt, um<br />
die einzelnen Netzhautschichten genau zu u<br />
55
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
Tab.: Klinische und demografische Daten der StudienpatientInnen<br />
vor der ersten OCT-Untersuchung<br />
im Beobachtungszeitraum der Studie<br />
Lebens-<br />
Lebens- Lebensalter<br />
alter alter<br />
bei bei bei<br />
MS KH- Schübe * ON Base- Follow- Therapie<br />
No Subtyp Beginn Therapie rechts links line up Schübe *<br />
Geschlecht<br />
1 RRMS f 34,5 MITOX, GLAT, IFN(b), IFN(a) 7 0 0 40,5 42,25 3 Natalizumab<br />
2 RRMS f 18,5 IFN(a), IFN(b) 4 0 0 23,5 25,25 3 Natalizumab<br />
3 RRMS f 36,0 MITOX 1 , IFN(a) 7 0 0 42,0 43,5 2 Natalizumab<br />
4 RRMS f 31,5 keine Therapie 3 0 0 38,0 40,25 0 keine Therapie<br />
5 RRMS m 40,0 IFN(a) 3 0 0 45,5 47,5 0 IFN(a) 2 ; keine Therapie<br />
6 RRMS f 28,5 IFN(b) 3 0 0 39,0 40,75 2 IFN(b), Natalizumab 3<br />
7 RRMS f 43,0 GLAT, IFN(b), keine Therapie 4 4 0 0 48,0 49,75 3 keine Th., Natalizumab<br />
8 RRMS f 40,0 keine Therapie 2 0 0 42,25 44,0 0 keine Therapie<br />
9 RRMS m 24,0 keine Therapie 2 0 0 25,0 26,5 0 keine Therapie<br />
10 RRMS f 18,0 GLAT, keine Therapie 5 2 0 0 19,75 21,5 1 keine Therapie<br />
11 RRMS f 29,75 IFN(a) 6 , keine Therapie 4 0 0 36,0 37,5 1 keine Therapie<br />
12 RRMS m 31,0 IFN(b) 2 0 0 33,25 35,0 1 IFN(b)<br />
13 RRMS m 51,0 IFN(b) 2 0 0 52,0 54,75 0 IFN(b)<br />
14 RRMS f 23,75 keine Therapie 2 0 0 27,0 28,5 0 keine Therapie 7<br />
15 RRMS m 27,5 GLAT 4 0 0 39,0 40,75 0 GLAT<br />
16 RRMS f 30,0 IFN(b) 8 , keine Therapie 4 0 0 46,0 48,5 0 keine Therapie<br />
17 RRMS m 39,0 IFN(c) 4 0 0 45,0 47,25 1 IFN(c)<br />
18 RRMS f 20,0 IFN(a) 9 , keine Therapie 2 0 0 23,0 25,25 2 keine Therapie<br />
19 RRMS f 16,0 GLAT 4 0 0 61,0 63,25 0 GLAT<br />
20 RRMS f 20,5 IFN(b) 10 , keine Therapie 5 0 0 28,0 30,25 1 keine Therapie<br />
21 RRMS f 26,0 IFN(a), IFN(b), MITOX 11 , keine Therapie 9 1 1 32,0 34,0 0 keine Therapie<br />
22 RRMS f 17,75 IFN(a), IFN(b) 6 1 3 19,75 21,75 1 IFN(b) 12 , Natalizumab<br />
23 RRMS f 31,0 IFN(a), IFN(b) 4 1 0 36,0 38,25 0 IFN(b)<br />
24 RRMS f 20,0 IFN(b) 8 1 1 47,5 49,0 1 IFN(b)<br />
25 RRMS m 22,5 GLAT, IFN(a), IFN(b), Natalizumab 10 0 1 42,5 44,0 0 Natalizumab<br />
26 RRMS f 20,0 IFN(a) 3 0 4 41,0 42,5 0 IFN(a)<br />
27 RRMS m 31,0 GLAT 13 , keine Therapie 2 0 1 33,0 35,25 0 keine Therapie<br />
28 SPMS m 40,0 GLAT, MITOX 14 , keine Therapie 3 0 0 46,5 48,5 0 keine Therapie<br />
29 SPMS f 13,0 IFN(b), MITOX 15 , keine Therapie 5 0 0 27,0 29,25 2 keine Therapie<br />
30 SPMS f 38,0 GLAT, keine Therapie 3 0 0 45,0 47,25 0 keine Therapie<br />
31 SPMS f 33,5 keine Therapie 3 0 0 56,0 58,25 0 keine Therapie<br />
32 SPMS m 28,0 IFN(a), IFN(b) 11 0 0 47,25 49,0 1 IFN(b)<br />
33 SPMS m 25,0 IFN(c), GLAT, IFN(a), IFN(b) 10 1 1 47,5 49,75 1 IFN(b)<br />
34 SPMS m 22,0 IFN(b) 5 1 0 30,5 32,25 2 IFN(b) 16 , keine Therapie<br />
35 SPMS f 16,0 IFN(a), MITOX 17 , keine Therapie 6 0 2 44,25 46,5 2 keine Therapie<br />
36 SPMS f 50,0 GLAT 4 0 2 53,5 55,75 2 GLAT<br />
37 SPMS m 29,0 IFN(b) 3 0 1 52,0 53,75 0 IFN(b)<br />
* Schübe, die mit hochdosiertem intravenösem Steroid behandelt wurden; keine/r der eingeschlossenen MS-PatientInnen hatte 12 Monate bzw. während der Studie eine ON;<br />
ON = Optikusneuritis; GLAT = Glatirameracetat 20 mg s. c. 1-mal/die; MITOX = Mitoxantron; IFN(a) = Interferon beta-1a i. m. 1-mal/Woche; IFN(b) = Interferon beta-1a (44 mg) s. c.<br />
3-mal/Woche; IFN(c) = Interferon beta-1b (250 mg) s. c. jeden 2. Tag<br />
1 Therapieabbruch/-pause (48 mg/m 2 KOF Mitoxantron)<br />
2 Therapieabbruch/-pause 9 Monate nach der ersten OCT-Untersuchung<br />
3 Therapiebeginn 7 Monate vor der zweiten OCT-Untersuchung<br />
4 Therapieabbruch/-pause 12 Monate vor der ersten OCT-Untersuchung<br />
5 Therapieabbruch/-pause 6 Monate vor der ersten OCT-Untersuchung<br />
6 Therapieabbruch/-pause 20 Monate vor der ersten OCT-Untersuchung<br />
7 strikte vegane Diät, die zu Vitamin-B 12 - und Folsäuremangel führte und substituiert<br />
werden musste<br />
8 hohe Titer von Anti-Interferon-beta-Autoantikörpern, Therapieabbruch/-pause<br />
14 Monate vor der ersten OCT-Untersuchung<br />
9 Therapieabbruch/-pause 25 Monate vor der ersten OCT-Untersuchung<br />
10 Therapieabbruch/-pause 8 Monate vor der ersten OCT-Untersuchung<br />
11 Mitoxantron-Kumulativdosis 96 mg/m 2 KOF, Therapieabbruch/-pause 10 Monate vor der<br />
ersten OCT-Untersuchung<br />
12 Eskalationstherapie mit Natalizumab 2 Monate nach der ersten OCT-Untersuchung<br />
13 Therapieabbruch/-pause 6 Monate vor der ersten OCT-Untersuchung<br />
14 Mitoxantron-Kumulativdosis 92 mg/m 2 KOF, Therapieabbruch/-pause 10 Monate vor der<br />
ersten OCT-Untersuchung<br />
15 Mitoxantron-Kumulativdosis 96 mg/m 2 KOF, Therapieabbruch/-pause 26 Monate vor der<br />
ersten OCT-Untersuchung<br />
16 Therapieabbruch/pause 5 Monate nach der ersten OCT-Untersuchung<br />
17 Mitoxantron-Kumulativdosis 108 mg/m 2 KOF, Therapieabbruch/-pause 27 Monate vor der<br />
ersten OCT-Untersuchung<br />
56
differenzieren. Alle RNFL-Scans wurden<br />
mehrmals in einer Sitzung von einem qualifizierten<br />
und geschulten Untersucher<br />
(N.S.) durchgeführt, bis mindestens 3 hochwertige<br />
Scans für die weitere Analyse vorhanden<br />
waren. Der Untersucher (N.S.)<br />
hatte keine Kenntnisse von klinischen<br />
Daten oder den Baseline-Daten.<br />
Abb. 1: Globale RNFL-Veränderungen zwischen Erst- (Baseline) und<br />
Folgeuntersuchung (Follow-up)<br />
Visuelle Funktionskontrolle, Visual Field<br />
Analysis und visuell evozierte Po ten -<br />
ziale wurden bereits im Detail beschrieben.<br />
22, 25<br />
Statistik: Die verwendeten statistischen<br />
Methoden wurden bereits ausführlich<br />
beschrieben. 22<br />
Ergebnisse<br />
Die Ergebnisse unserer mit dem hochauflösenden<br />
SD-OCT durchgeführten Studie<br />
können kurz wie folgt zusammengefasst<br />
werden. In einer medianen Beobachtungszeit<br />
von 22,4 ± 0,5 Monate (Bereich:<br />
19 bis 27 Monate) blieben die RNFL-Messungen<br />
der einzelnen MS-PatientInnen im<br />
Vergleich zum Ausgangswert unverändert<br />
(Abb. 1). Die minimalen Veränderungen (±<br />
2 µm) in einigen wenigen der Follow-up-<br />
Scans lagen innerhalb der normalen<br />
Untersuchungs-/Messungsvariabilität<br />
(Abb. 1 und 2). 26, 27, 29 RRMS-PatientInnen<br />
ohne ON zeigten durchschnittlich die<br />
höchsten Messwerte für die globale RNFL,<br />
während die Messwerte im Durchschnitt<br />
bei RRMS mit ON und in SPMS mit und<br />
ohne ON niedriger waren. Nichtsdestotrotz<br />
reichten in allen 4 Gruppen RNFL-<br />
Werte der einzelnen MS-PatientInnen<br />
(RRMS und SPMS mit und ohne ON) von<br />
normal bis stark reduziert, global oder<br />
zumindest in einem der 6 peripapillären<br />
Sektoren (Abb. 1). 22<br />
Im Vergleich zum Ausgangswert waren<br />
auch die visuelle Sehschärfe und das<br />
Kontrastsehen, die Empfindlichkeitstests<br />
(ETDRS, Sloan- und Pelli-Robson-Charts),<br />
der Farbtest (Lanthony D-15) und die<br />
Humphrey-Gesichtsfeld-Analyse und die<br />
visuell evozierten Potenziale unverändert.<br />
22 Es fand sich weder eine Korrelation<br />
der RNFL-Messungen zum Lebensalter u<br />
a: linkes Auge; b: rechtes Auge; 1-37: MS-PatientInnen (siehe Tabelle für demografische und klinische<br />
Daten); weiße Karos: RRMS ohne ON (Baseline |—| Follow-up); schwarze Karos: RRMS mit ON (Baseline<br />
|—| Follow-up); weiße Dreiecke: SPMS ohne ON (Baseline |—| Follow-up); schwarze Dreiecke:<br />
SPMS mit ON (Baseline |—| Follow-up); schwarze Balken: Mittelwerte.<br />
Abb. 2: Schwankungsbreite der RNFL-Messungen<br />
a, b: Variation der RNFL-Messungen zwischen Erst- und Folgeuntersuchung in Bezug zur Gesamtzahl<br />
an Schüben (ohne ON) vor Studienbeginn.<br />
c, d: Variation der RNFL-Messungen zwischen Erst- und Folgeuntersuchung in Bezug zur Gesamtzahl<br />
an Schüben (ohne ON) während des Studienbeobachtungszeitraums.<br />
a: linkes Auge; b: rechtes Auge; c: linkes Auge; d: rechtes Auge; weiße Karos: RRMS ohne ON;<br />
schwar ze Karos: RRMS mit ON; weiße Dreiecke: SPMS ohne ON; schwarze Dreiecke: SPMS mit ON<br />
57
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
noch zur Krankheitsdauer noch zum MS-<br />
Subtyp.<br />
Diskussion<br />
In den letzten Jahren erweckten viele OCT-<br />
Studien von MS-PatientInnen, Meta-Analysen<br />
und Übersichtsarbeiten großes Interesse.<br />
19–24 Die OCT wurde sogar von manchen<br />
als mögliches paraklinisches Werkzeug<br />
bezeichnet, um den Krankheitsverlauf<br />
von MS-PatientInnen und vor allem<br />
neuroprotek tive Therapien zu monitieren.<br />
19, 20 Allerdings sind viele Kernfragen<br />
offen und werden kontrovers diskutiert.<br />
Von größter Bedeutung ist, dass sich<br />
RNFL-Messungen von gleichen PatientInnen<br />
und unter gleichen Untersuchungsbedingungen,<br />
jedoch mit unterschiedlichen<br />
OCT-Geräten gemessen deutlich unterscheiden<br />
und daher nicht uneingeschränkt<br />
verglichen werden können. 29 Die<br />
Unterschiede können durch die verschiedenen<br />
verwendeten OCT-Technologien<br />
(Time Domain vs. Spectral Domain OCT),<br />
Retina-Segmentierungsalgorithmen, Scangeschwindigkeit,<br />
Pupillenerweiterung und<br />
andere technische Besonderheiten wie<br />
spezielle Eye-Tracking-Modi oder hochauflösende<br />
Aufnahmemodi oder einfach<br />
durch normale untersuchungs- und untersucherInnenabhängige<br />
Variabilität (intersession-/interobserver<br />
variability) erklärt<br />
werden. 29<br />
Im Gegensatz zu der eher groben fokalen<br />
RNFL-Reduktion von etwa 5 µm bis 40 µm<br />
wurde angenommen, dass eine globale<br />
RNFL-Reduktion von etwa 2 µm bis 4 µm<br />
pro Jahr bei MS-Patienten auch ohne ON<br />
(„RNFL-Ausdünnung“) existiert. 20, 23 Aber<br />
„RNFL-Reduktionsraten pro Jahr" oder<br />
eine „RNFL-Ausdünnung“ sind, bis sie<br />
durch sorgfältige langfristige Verlaufsuntersuchungen<br />
nachgewiesen werden, nur<br />
statistische/mathematische Definitionen<br />
bzw. nicht wissenschaftlich bewiesen.<br />
Erstens ist bekannt, dass der Schwankungsbereich<br />
der RNFL-Dicke bei gesunden<br />
Individuen sehr breit sein kann (Mittelwert:<br />
97,2 µm ± 9,7 µm; Bereich von 75<br />
µm bis 125 µm) und dass die RNFL-Dicke<br />
mit dem Lebensalter abnimmt. 27 Daraus<br />
ergibt sich, dass selbst wenn Abertausende<br />
von Werten für die RNFL-Dicke zu statis -<br />
tisch höchst signifikanten Normwerten<br />
gemittelt würden, die initiale RNFL-Dicke,<br />
d. h. der individuelle RNFL-Ausgangslevel<br />
der jeweiligen einzelnen MS-PatientInnen,<br />
unbekannt bleiben muss. Daher kann eine<br />
einfache mathematische Korrelation von<br />
nur einem (Baseline) RNFL-Wert, gebrochen<br />
durch die Dauer der Erkrankung, Verlaufsuntersuchungen<br />
langer Beobachtungszeiträume<br />
nicht ersetzen; dies muss<br />
umso mehr in Betracht gezogen werden,<br />
als vor Kurzem eine minimale Beobachtungszeit<br />
von mindestens 2 Jahren vorgeschlagen<br />
wurde, um subtile globale RNFL-<br />
Veränderungen bei MS-Patienten ohne ON<br />
erkennen zu können, sofern diese überhaupt<br />
existieren. 20<br />
Zweitens ist noch unbekannt, ob die globale<br />
RNFL-Reduktion (abgesehen von<br />
RNFL-Veränderungen durch ON) wirklich<br />
bei allen MS-Patienten existiert, und wenn<br />
ja, ob diese wirklich durch kontinuierliche<br />
oder wiederkehrende (remittierende) axonale<br />
Veränderungen entsteht. Die hypothetische<br />
globale Reduktion der RNFL<br />
könnte bereits Jahre vor Beginn der<br />
Erkrankung oder in sehr frühen Stadien<br />
der Erkrankung und nicht erst in späteren<br />
Stadien auftreten. Progressive axonale<br />
Veränderungen könnten jedoch in kurzen<br />
Beobachtungzeiträumen dem Nachweis<br />
entgehen und erst in langen Beobachtungszeiträumen<br />
über viele Jahre detektiert<br />
werden.<br />
Insofern könnte die Hypothese plausibel<br />
sein, dass eine subtile, stetig fortschreitende<br />
RNFL-Reduktion auftreten kann, wenn<br />
der Krankheitsverlauf von der schubförmigen<br />
in die sekundär progredienten Phase<br />
wechselt, oder gleich von Beginn an<br />
einem primär progredienten Verlauf folgt.<br />
Trotzdem konnten Henderson et al. keine<br />
signifikante RNFL-Reduktion („RNFL-Ausdünnung“)<br />
in 34 MS-PatientInnen mit<br />
progredientem Erkrankungsverlauf (18<br />
PPMS, 16 SPMS) in einem relativ langen<br />
Beobachtungszeitraum (Median 575 Tage,<br />
Bereich 411 bis 895 Tage) nachweisen<br />
(Anm.: diese Studie wurde wie viele andere<br />
mit der konventionellen, nicht hochauflösenden<br />
Time-Domain-OCT [TD-OCT]<br />
durchgeführt). 24<br />
Diese Resultate können wie folgt interpretiert<br />
werden:<br />
1. Entweder ist die Hypothese, dass progrediente<br />
globale RNFL-Veränderungen<br />
bei MS-PatientInnen existieren, falsch<br />
oder<br />
2. die globalen RNFL-Änderungen sind zu<br />
subtil, um mit herkömmlichen TD-OCT<br />
detektiert zu werden, oder<br />
3. der Beobachtungszeitraum war zu<br />
kurz, um etwaige subtile RNFL-Veränderungen<br />
überhaupt detektieren zu<br />
können. Allerdings muss bedacht werden,<br />
dass die meisten klinischen Studien<br />
häufig nur über Beobachtungszeiträume<br />
von 6 bis 12 Monaten geführt<br />
wurden und werden. Wie auch immer<br />
– die hypothetische RNFL-Reduktion<br />
von etwa 2 µm pro Jahr ist jedenfalls<br />
unter der Nachweisgrenze der TD-OCTund<br />
sogar der meisten SD-OCT-Geräte<br />
(Variationen bis zu 5 µm).<br />
26, 29<br />
Drittens können die eher groben und<br />
fokalen RNFL-Veränderungen (z. B. durch<br />
ON) die hypothetischen subtilen, progressiven<br />
globalen RNFL-Veränderungen gänzlich<br />
überlagern und eine Differenzierung<br />
und Aussage über subtile globale RNFL-Veränderungen<br />
nahezu unmöglich machen.<br />
Schließlich ist völlig unklar, ob der Schaden<br />
von einigen Axonen entlang der Sehnerven<br />
wirklich das anatomische und<br />
funktionelle Schicksal von hunderten Milliarden<br />
von Neuronen im gesamten ZNS<br />
überhaupt repräsentieren kann, gleich<br />
welche pathogenetischen Mechanismen<br />
zugrunde liegen. Dies muss umso mehr in<br />
Betracht gezogen werden, als allgemein<br />
bekannt ist, dass nur sehr selten die MRT-<br />
Läsionslast mit dem klinischen Verlauf von<br />
MS-PatientInnen korreliert.<br />
Folglich stellt sich die Frage, warum nun<br />
die RNFL-Dicke mit MRT-Parametern und<br />
dem klinischen Verlauf von MS-PatientInnen<br />
korrelieren soll? Mit anderen Worten:<br />
Soll eine hypothetische retrograde transsynaptische<br />
axonale Degeneration aus<br />
dem ganzen ZNS eine solche Auswirkung<br />
auf die RNFL haben, aber im Umkehr- u<br />
58
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
schluss eine ON nicht zu einer diffusen<br />
anterograden transsynaptischen axonalen<br />
Degeneration im gesamten ZNS führen?<br />
Zumindest wurde unserer Kenntnis nach<br />
noch nie behauptet bzw. wissenschaftlich<br />
bewiesen, dass eine ON zu diffuser axonaler<br />
Degeneration im gesamten ZNS bzw.<br />
zu einer Hirnatrophie führt.<br />
Zusammenfassung<br />
Auch wenn die meisten MS-PatientInnen<br />
einem primären schubförmigen Verlauf mit<br />
klinisch stabilen Intervallen über Monate,<br />
Jahre oder manchmal sogar Jahrzehnte folgen,<br />
lässt sich naturgemäß nicht ausschließen,<br />
dass subklinische „stille“ degenerative<br />
Veränderungen im Hintergrund ablaufen. 35<br />
Ob solche hypothetischen Veränderungen<br />
wirklich bei allen MS-PatientInnen existieren,<br />
muss kritisch und objektiv evaluiert<br />
werden. Wie auch andere Arbeitsgruppen,<br />
halten wir be stimmte standardisierte technische<br />
Voraussetzungen für unabdingbar.<br />
24, 27, 29, 34 Nichtsdestotrotz konnten wir<br />
in unserer Langzeitstudie mit neuer hochauflösender<br />
SD-OCT-Technik keine RNFL-<br />
Reduktion („RNFL-Ausdünnung“) in einer<br />
gut klassifizierten Gruppe von RRMS- und<br />
SPMS-PatientInnen mit teilweise hoher<br />
Krankheitsaktivität nachweisen. Unsere<br />
Daten legen den Schluss nahe, dass die<br />
OCT die MRT derzeit weder zu ersetzen<br />
vermag noch als neuer Surrogatmarker bei<br />
MS dienen kann.<br />
High Resolution Spectral Domain<br />
Optical Coherence Tomography<br />
(SD-OCT) in Multiple Sclerosis:<br />
The First Follow Up Study over<br />
Two Years.<br />
AutorInnen: Nermin Serbecic 1# , Fahmy<br />
Aboul-Enein 2#* , Sven C. Beutelspacher 3 ,<br />
Clemens Vass 1 , Wolfgang Kristoferitsch 2 ,<br />
Hans Lassmann 4 , Andreas Reitner 1 ,<br />
Ursula Schmidt-Erfurth 1<br />
1 Universitätsklinik für Augenheilkunde und Optometrie,<br />
Medizinische Universität Wien, Österreich<br />
2 Abteilung für <strong>Neurologie</strong>, SMZ Ost, Donauspital, Wien<br />
3 Abteilung für Augenheilkunde, Medizinische Fakultät<br />
Mannheim, Universität Heidelberg, Mannheim<br />
4 Hirnforschungszentrum, Medizinische Universität Wien<br />
# equal contribution<br />
* korrespondierender Autor:<br />
E-Mail: fahmy.aboul-enein@telering.at<br />
Erschienen in: PLoS One 6(5): e19843. doi:10.1371/<br />
journal.pone.0019843<br />
Interessenkonflikt: keiner<br />
1 Compston A, Coles A, Multiple sclerosis. Lancet 2008;<br />
372:1502–1517.<br />
2 Goodin DS, The causal cascade to multiple sclerosis: a<br />
model for MS pathogenesis. PLoS One 2009; 4:e4565.<br />
3 Haarmann A, Deiss A, Prochaska J, Foerch C, Weksler B<br />
et al., Evaluation of soluble junctional adhesion molecule-A<br />
as a biomarker of human brain endothelial barrier<br />
breakdown. PLoS One 2010; 5:e13568.<br />
4 Kuenz B, Lutterotti A, Ehling R, Gneiss C, Haemmerle<br />
M et al., Cerebrospinal fluid B cells correlate with early<br />
brain inflammation in multiple sclerosis. PLoS One<br />
2008; 3:e2559.<br />
5 Brettschneider J, Tumani H, Kiechle U, Muche R,<br />
Richards G et al., IgG antibodies against measles, rubella,<br />
and varicella zoster virus predict conversion to multiple<br />
sclerosis in clinically isolated syndrome. PLoS One<br />
2009; 4:e7638.<br />
6 Brettschneider J, Czerwoniak A, Senel M, Fang L,<br />
Kassubek J et al., The chemokine CXCL13 is a<br />
prognostic marker in clinically isolated syndrome (CIS).<br />
PLoS One 2010; 5:e11986.<br />
7 Stoop MP, Singh V, Dekker LJ, Titulaer MK, Stingl C et<br />
al., Proteomics comparison of cerebrospinal fluid of<br />
relapsing remitting and primary progressive multiple<br />
sclerosis. PLoS One 2010; 5:e12442.<br />
8 Ban M, Elson J, Walton A, Turnbull D, Compston A et<br />
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Brain 2010; 133:1591–1601.<br />
60
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
15 th International Congress of Parkinson’s<br />
Disease and Movement Disorders 2011<br />
Ausgewählte Highlights zum Thema Relevanz, Neuheit und Qualität der klinischen und Grundlagenforschung<br />
des M. Parkinson wurden in der „Blue Ribbon Session“ präsentiert. Im Folgenden einige ausgewählte Themen<br />
zu Risikofaktoren, Epidemiologie und Therapie aus den umfassenden wissenschaftlichen Beiträgen zum<br />
M. Parkinson beim 15. internationalen Kongress der Movement Disorder Society in Toronto.<br />
Risikofaktoren und<br />
Epidemiologie bei M. Parkinson<br />
Genetik: Obwohl der M. Parkinson traditionell<br />
als nichtgenetische Krankheitsentität angesehen<br />
wird, wird immer klarer, dass es eine<br />
wesentliche genetische Komponente bei dieser<br />
Erkrankung gibt. In genomweiten Assoziationsstudien<br />
(GWAS) haben die Genloci<br />
MAPT und SNCA konsistente Risikoassoziationen<br />
für M. Parkinson gezeigt. BST1, GAK<br />
und LRRK2 waren auch in mehreren Studien<br />
assoziiert. Eine Metaanalyse von 5 GWAS<br />
(über 5.000 Parkinson-PatientInnen und<br />
12.000 Kontrollpersonen) mit Daten von<br />
7.689.524 Einzelnukleotidpolymorphismen<br />
(single nucleotide polymorphisms, SNP)<br />
wurde präsentiert. In weiteren 7.000 Fällen<br />
und 9.500 Kontrollen wurden signifikant assoziierte<br />
Genloci repliziert. Zusätzlich zu den<br />
bereits bekannten Loci zeigte sich eine statistisch<br />
überzeugende Evidenz für 5 weitere<br />
assoziierte Loci. Risikoprofilanalysen der 11<br />
identifizierten Loci zeigten ein 2,5-mal erhöhtes<br />
Risiko für die Erkrankung sowie ein populationsattributables<br />
Risiko von 60,3 %. Mit<br />
dieser Studie wird eine starke genetische<br />
Komponente in der Entstehung des M. Parkinson<br />
bestätigt. 1<br />
Infektionen und Umweltfaktoren: Assoziation<br />
von viralen Infektionen und Parkinson<br />
in einer Fall-Kontrollstudie: Mehr als 400 Parkinson-PatientInnen<br />
und ebenso viele Kontrollpersonen<br />
wurden bezüglich relevanter Infektionserkrankungen,<br />
Krankenstände, Kinderkrankheiten,<br />
Beruf und Exposition gegenüber<br />
Menschenansammlungen oder Tieren<br />
befragt, wobei sich eine signifikante Assoziation<br />
von Parkinson mit „schwerer Grippe“<br />
sowie beruflicher Exposition zu Katzen und<br />
Rindern zeigte. Eine umgekehrte Assoziation<br />
zeigte sich für Kinderkrankheiten, insbesondere<br />
Masern. 2<br />
Eine weitere Studie untersuchte, ob Met h -<br />
amphetaminkonsum ein erhöhtes Risiko für<br />
die Entstehung des M. Parkinson darstellt und<br />
fand ein signifikant höheres Risiko im Vergleich<br />
zu zwei alters-, rasse-, und geschlechtsgematchten<br />
Kontrollgruppen (Appendizitis,<br />
Kokainkonsumenten). Limitationen<br />
stellten die Restriktion auf nur stationäre<br />
PatientInnen und die diagnostische Validität<br />
der Klassifikation des M. Parkinson nach ICD-<br />
9 dar. 3<br />
Biomarker: Neben der klinischen Diagnose<br />
des M. Parkinson und im Hinblick auf mögliche<br />
krankheitsmodifizierende Therapien ist<br />
man ständig auf der Suche nach Biomarkern,<br />
die eine möglichst frühe Diagnose ermöglichen.<br />
Histopathologische Evidenz zeigt eine<br />
-Synuklein-Aggregation, das pathologische<br />
Korrelat des M. Parkinson, auch in Neuronen<br />
des Gastrointestinaltraktes. Eine Studie untersuchte<br />
10 nichtbehandelte Parkinson-PatientInnen<br />
im Frühstadium, 23 gesunde Kontrollpersonen<br />
sowie 23 mit entzündlichen<br />
Darmerkrankungen mittels Biopsie aus dem<br />
distalen Kolon sigmoideum. Immunhistochemische<br />
Studien zur Bestimmung von -Sy -<br />
nu klein sowie 3-NT-Immunostaining (3-nitro -<br />
tyrosine-Immunostaining), ein für oxidativen<br />
Stress sensibler Parameter, wurden durch -<br />
geführt. Alle Parkinson-PatientInnen waren<br />
-Synuklein-positiv, während sämtliche Kontrollen<br />
negativ waren. 3-NT war positiv bei<br />
87 % der Parkinson-PatientInnen, jedoch<br />
nicht spezifisch dafür. Das Fehlen von -Synuklein<br />
in der Gruppe der entzündlichen<br />
Darmerkrankungen weist darauf hin, dass<br />
dies kein Marker für inflammatorischen oder<br />
oxidativen Stress ist. 4<br />
Medikamentöse Therapie<br />
Dr. Karoline Wenzel<br />
Universitätsklinik<br />
für <strong>Neurologie</strong>,<br />
Medizinische Universität<br />
Graz<br />
Apomorphin ist als subkutan applizierter<br />
Dopaminagonist, der sehr gut bei Off-Phasen<br />
wirkt, bereits lange Zeit bekannt. Die Wirkung<br />
der neuen inhalierbaren und von PatientInnen<br />
vielleicht bevorzugten Applikationsform<br />
bei 55 fluktuierenden Parkinson-PatientInnen<br />
wurde präsentiert. Die klinische<br />
Besserung gemessen am UPDRS III war in der<br />
mit Apomorphin behandelten Gruppe (19,5<br />
Punkte) signifikant größer als in der Placebogruppe<br />
(8,1 Punkte, p = 0,023). In der<br />
Apomorphingruppe wurden 65 % der Off-<br />
Phasen erfolgreich behandelt, dagegen nur<br />
11 % in der Placebogruppe, p < 0,001). 5 u<br />
63
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
Lokale, v. a. pulmonale, Langzeitnebenwirkungen<br />
sind noch nicht bekannt und werden<br />
weiter erforscht.<br />
IPX066 ist eine neue Carbidopa-Levodopa-<br />
Retard-Formulation, die bei 381 nicht mit L-<br />
Dopa vorbehandelten Parkinson-PatientInnen<br />
in einer randomisierten, placebokontrollierten<br />
Studie getestet wurde. Alle Dosisstufen<br />
(300, 500 oder 800 mg) waren Placebo im<br />
UPDRS Teil II und III hoch signifikant überlegen<br />
(p < 0,0001), in der Clinical Global Impression<br />
Scale verbesserten sich 72 % in der<br />
IPX066-Gruppe vs. 27 % in der Placebo-<br />
Gruppe (p < 0,0001), ähnliche Ergebnisse<br />
lagen auch bei den anderen Endpunkten vor.<br />
Unerwünschte Ereignisse waren in den Behandlungsgruppen<br />
und der Placebogruppe<br />
gleich, lediglich in der niedrigsten Dosisgruppe<br />
etwas niedriger. Insgesamt zeigten sich<br />
ein Benefit für die PatientInnen und eine gute<br />
Verträglichkeit über die gesamte Studiendauer<br />
von 30 Wochen. 6<br />
Therapiekomplikation: Eine bisher noch<br />
nicht systematisch untersuchte Therapiekomplikation<br />
bei der Parkinson-Krankheit ist das<br />
Dopaminagonisten-Entzugssyndrom (DAWS,<br />
dopamine agonist withdrawal syndrome).<br />
Pondal et al. untersuchten retrospektiv 487<br />
Krankenakten einer Parkinson-Spezialabteilung.<br />
Sie fanden 297 PatientInnen unter DA-<br />
Therapie, davon mussten 98 die Therapie beenden.<br />
Von 84 auswertbaren PatientInnen erfüllten<br />
13 (15,5 %) die Kriterien für ein<br />
DAWS. Der Grund für das Absetzen der DA<br />
bei den DAWS-PatientInnen war bei allen<br />
(100 % ) eine Impulskontrollstörung (ICD) im<br />
Vergleich zu 41 % bei denjenigen ohne<br />
DAWS (p < 0,0001). Die übrigen demografischen<br />
Eigenschaften waren in beiden Gruppen<br />
ähnlich. Bei den PatientInnen mit Impulskontrollstörungen<br />
mit (n = 13) oder ohne<br />
(n = 29) DAWS wurden folgende Parameter<br />
näher untersucht: Geschwindigkeit des Entzugs,<br />
früheres Auftreten von ICD mit DA,<br />
Therapie mit Benzodiazepinen, atypischen<br />
Antipsychotika, Antidepressiva, ICD-Typ und<br />
Dauer vor DA-Entzug. Höhere L-Dopa-Dosen<br />
und Rauchen waren häufiger in der DAWS-<br />
Gruppe, zwischen den verschiedenen Dopaminagonisten<br />
gab es keine Unterschiede.<br />
Zusammenfassend sind Impulskontrollstörungen<br />
ein guter Prädiktor für die Entwicklung<br />
eines DAWS, eine höhere L-Dopa-Dosis sowie<br />
Rauchen erhöhen in dieser Population das<br />
Risiko noch weiter. Die meisten PatientInnen<br />
(61 %) erholten sich innerhalb von 6 Monaten,<br />
wenige waren länger betroffen (23 %)<br />
oder mussten wieder mit DA behandelt werden<br />
(15 %). 7<br />
Neben den zusammengefassten Beiträgen<br />
wurden sehr viele wissenschaftliche Beiträge<br />
präsentiert, die auf eine außerordentliche Aktivität<br />
im Bereich der Parkinson-Forschung<br />
zeigt. Mit Spannung kann der MDS-Kongress<br />
2012 in Dublin erwartet werden. n<br />
1 Wood N, Meta-analysis of imputed sequence variants<br />
reveals extensive and novel genetic risk for Parkinson’s<br />
disease; late-braking abstract 2<br />
2 Harris MA et al., Associations between viral infections<br />
and Parkinson’s disease in a case-control study; P154<br />
3 Callaghan RC et al., Are individuals with methamphe -<br />
tamine-use disorders at higher than normal risk for<br />
developing PD? P149<br />
4 Shannon KM et al., Alpha-synuclein in colonic sub -<br />
mucosa in early untreated parkinson’s disease; P777<br />
5 Grosset KA et al., Inhaled apomorphine (VR040) for ’off’<br />
periods in PD; P385<br />
6 Pahwa R et al., Efficacy and safety of IPX066, a new<br />
carbidopa-levodopa (CD-LD) extended-release formu -<br />
lation, in LD-naive early PD (APEX-PD trial); P407<br />
7 Pondal M et al., Clinical features of dopamine agonist<br />
withdrawal syndrome (DAWS) in a movement disorder<br />
clinic; P333<br />
Die Glanzlichter der Nicht-Parkinson-Themen<br />
Die Plenarsitzungen beim diesjährigen Movement-Disorders-Kongress befassten sich mit Themen rund um den<br />
Morbus Parkinson. Für Neuigkeiten aus dem Nicht-Parkinson-Bereich sorgten daher vor allem die Posterpräsentationen.<br />
Im Anschluss werden drei der aus meiner Sicht interessantesten Präsentationen beschrieben.<br />
Mb. Huntington<br />
Dr. Petra Schwingenschuh<br />
Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong>,<br />
Medizinische Universität Graz<br />
Die Huntington-Erkrankung wird autosomaldominant<br />
vererbt und durch eine CAG-Expansion<br />
im Huntingtin-Gen auf dem kurzen<br />
Arm von Chromosom 4 (Locus 4p16.3) verursacht.<br />
Bei gesunden Menschen wiederholt<br />
sich das Basentriplett CAG circa 9 bis 35 Mal.<br />
Eine CAG-Blockexpansion > 39 im Huntingtin-Gen<br />
bestätigt die Diagnose; bei einem Befund<br />
zwischen 36 und 39 liegt eine eingeschränkte<br />
Penetranz vor. Obwohl der klassische<br />
Erkrankungsbeginn zwischen 30–40<br />
Jahren liegt, gibt es diesbezüglich eine große<br />
Streubreite (1.–7. Dekade und länger). Statis -<br />
tisch betrachtet gilt: je länger die CAG-Expansion,<br />
desto früher der Krankheitsbeginn.<br />
Auf das Individuum bezogen ist die Länge<br />
der CAG-Wiederholungen jedoch nur zu 60 %<br />
für die Varianz bezüglich des Erkrankungsbeginns<br />
verantwortlich, und man vermutet,<br />
dass die restlichen 40 % durch genetische<br />
64
FOTO: PETRA SCHWINGENSCHUH<br />
Kofaktoren sowie Umweltfaktoren beeinflusst<br />
werden.<br />
C. Duru et al. (Amiens, Frankreich) untersuchten<br />
in einer Studie an 80 Huntington-<br />
PatientInnen, ob Koffein das Erkrankungsalter<br />
beeinflusst. 1 Koffein ist ein nichtselektiver<br />
Antagonist an A2-Adenosin-Rezeptoren<br />
(A2A-Rezeptoren), die selektiv an „medium<br />
spiny neurons“ im Striatum lokalisiert sind,<br />
welche die vulnerabelsten Zellen bei der Huntington-Erkrankung<br />
repräsentieren. Die AutorInnen<br />
erhoben mittels Fragebogen Daten<br />
zu Koffeinkonsum, Alkoholkonsum und<br />
Rauchgewohnheiten der letzten 10 Jahre.<br />
Nach Korrektur für CAG-Wiederholungen<br />
und Rauchen fand sich, dass PatientInnen mit<br />
hohem Koffeinkonsum (> 185 mg/Tag oder<br />
> 2 Tassen Kaffee/Tag) einen um vier Jahre<br />
früheren Erkrankungsbeginn (Durchschnittsalter<br />
45,4 Jahre) haben als PatientInnen mit<br />
geringem Koffeinkonsum (< 185 mg/Tag)<br />
(Durchschnittsalter 49,5 Jahre). Die AutorInnen<br />
schlussfolgerten, dass Koffeinkonsum<br />
einen das Erkrankungsalter modifizierenden<br />
Umweltfaktor darstellt. Adenosin-Rezeptoren<br />
dürften somit in der Pathophysiologie der<br />
Huntington-Erkrankung eine Rolle spielen<br />
und könnten zukünftig auch für die Entwicklung<br />
neuer Therapiestrategien relevant sein. 1<br />
Musikerdystonie<br />
A. Schmidt (Lübeck, Deutschland) präsentierte<br />
im Rahmen seiner „Junior Award Lecture“<br />
die Ergebnisse einer aktuellen Studie zum<br />
phänotypischen Spektrum der Musiker-Dystonie.<br />
2 Die Musikerdystonie wurde bislang als<br />
sporadisch auftretende Bewegungsstörung<br />
angesehen, die sich in der Regel nur während<br />
des Spielens eines Instrumentes zeigt. Es<br />
wurde jedoch kürzlich eine familiäre und individuelle<br />
Häufung verschiedener Dystonieformen<br />
in 28 Familien von PatientInnen mit<br />
Musikerdystonien beschrieben.<br />
Daher untersuchten Schmidt et al. nun das<br />
phänotypische Spektrum der Musikerdystonie<br />
und assoziierter Phänotypen. Die <strong>neurologisch</strong>e<br />
Untersuchung und videobasierte Begutachtung<br />
von 116 PatientInnen mit Musikerdystonie<br />
ergab bei 56 % eine einfache (=<br />
nur am Instrument auftretende) Musikerdystonie,<br />
während bei 44 % eine komplexe Musikerdystonie<br />
(zusätzlich vorhandene Dystonie<br />
oder Tremor im gleichen oder anderen<br />
Körperteilen) diagnostiziert wurde.<br />
Als Risikofaktoren für das Auftreten einer<br />
komplexen Musikerdystonie wurden positive<br />
Familienanamnese für Bewegungsstörungen<br />
sowie Vorhandensein einer Musikerdystonie<br />
an einer oberen Extremität identifiziert. Die<br />
AutorInnen schlussfolgerten, dass dieses Ergebnis<br />
– zusammen mit der rezenten Identifizierung<br />
von 22 Angehörigen mit verschiedenen<br />
Bewegungsstörungen in den Familien<br />
von 28 PatientInnen mit Musikerdystonie –<br />
auf eine hereditäre Komponente bei der Entstehung<br />
der Musikerdystonie hinweist, mit<br />
unterschiedlicher phänotypischer Ausprägung.<br />
2<br />
Essenzieller Tremor<br />
Der essenzielle Tremor stellt eine der häufigsten<br />
Bewegungsstörungen dar und betrifft<br />
0,4–3,9 % der Gesamtbevölkerung. Der Tremor<br />
spricht teils gut auf medikamentöse Therapie<br />
wie Propranolol und Primidon an, jedoch<br />
sind beide Präparate häufig durch Nebenwirkungen<br />
gekennzeichnet, besonders bei älteren<br />
PatientInnen. Zusätzlich kommt es bei<br />
einem signifikanten Anteil an PatientInnen<br />
aufgrund des progredienten Krankheitsverlaufs<br />
trotz medikamentöser Therapie zu einer<br />
behindernden Tremorintensität. Die Einnahme<br />
von Alkohol führt zu einer signifikanten Reduktion<br />
des Tremors bei ca. 70 % der PatientInnen<br />
mit essenziellem Tremor. Aufgrund<br />
des akuten und chronischen toxischen Effekts<br />
von Alkohol kann diese Substanz verständlicherweise<br />
nicht als symp tomatische Therapie<br />
bei ET empfohlen werden.<br />
Octansäure ist ein endogener Metabolit des<br />
langkettigen Alkohols Octanol. D Haubenberger<br />
(Bethesda, USA; Wien, Österreich)<br />
präsentierte im Rahmen einer geführten Postersitzung<br />
seine viel versprechenden Daten<br />
zur Sicherheit und Effektivität von Octansäure<br />
zur Behandlung des essenziellen Tremors. 3 Im<br />
Rahmen einer doppelblinden placebokontrollierten<br />
Cross-over-Studie wurde die Wirkung<br />
einer einzelnen oralen Dosis von Octansäure<br />
(4 mg/kg) an 19 PatientInnen mit essenziellem<br />
Tremor getestet. 80 Minuten nach Einnahme<br />
(primärer Endpunkt) trat keine signifikant<br />
bessere Tremorlinderung als unter Placebo<br />
auf. Nach 150 Minuten bestand jedoch<br />
bereits ein positiver Trend, und zu den Messzeitpunkten<br />
180 und 300 Minuten nach Einnahme<br />
von Octansäure fand sich jeweils eine<br />
statistisch signifikante Abnahme der Tremoramplitude.<br />
Die Verabreichung von Octansäure<br />
war sicher und wurde gut toleriert. n<br />
1 Duru C, Simonin C, Richard F et al., Caffeine is a<br />
modifier of age at onset in Huntington’s disease.<br />
Mov Disord 2011; Vol. 26, Suppl. 2 (A180)<br />
2 Schmidt A, Jabusch HC, Altenmüller E et al., Phenotypic<br />
spectrum of musician’s dystonia: A task-specific<br />
disorder? Mov Disord 2011; Vol. 26, Suppl. 2 (A680)<br />
3 Haubenberger D, McCrossin GJ, Auh S et al., Safety and<br />
efficacy of octanoic acid in the treatment of essential<br />
tremor. Mov Disord 2011; Vol. 26, Suppl. 2 (A1131)<br />
65
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
20. European Stroke Conference (ESC)<br />
in Hamburg<br />
Die ESC feierte heuer in<br />
der Hansestadt Hamburg<br />
ihr 20-jähriges Jubiläum<br />
und bot den über 3000 Teil -<br />
nehmerInnen aus 85 ver -<br />
schiedenen Nationen mit<br />
einem vielfältigen Programm<br />
aus knapp 1200 Präsenta<br />
tionen eine breite Auswahl<br />
im Bereich der vaskulären<br />
<strong>Neurologie</strong>.<br />
NNach der Eröffnungszeremonie und einer imposanten<br />
Aufführung des weltbekannten<br />
Hamburger Balletts kam ESC-Gründer Michael<br />
Hennerici zu Wort und blickte auf die letzten<br />
20 Jahre der Europäischen Schlaganfallforschung<br />
zurück. Im Anschluss wurde dem<br />
in Zell am See gebürtigen Österreicher Wolf-<br />
Dieter Heiss, Köln, der renommierte Wepfer<br />
Award für seine außerordentlichen Leistungen<br />
auf dem Gebiet der funktionellen Bildgebung<br />
mittels PET und deren Beitrag zum<br />
Verständnis der zerebralen Hämodynamik<br />
und des Penumbra-Konzepts verliehen.<br />
Schlaganfall<br />
und Vorhofflimmern<br />
Ein Kernstück des diesjährigen Kongresses<br />
bildete die Sitzung „Large Clinical Trials“, die<br />
Dr. Thomas Gattringer<br />
Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong>,<br />
Medizinische Universität Graz<br />
zum größten Teil Studien zur Prävention kardioembolischer<br />
Schlaganfälle unter Einsatz<br />
neuer antikoagulatorischer und antithrombotischer<br />
Medikamente gewidmet war. Aufgrund<br />
bereits mehrfacher und rezenter Vorstellung<br />
der neuen Substanzen Dabigatran,<br />
Rivaroxaban und Apixaban in den letzten<br />
Ausgaben von <strong>neurologisch</strong> soll an dieser<br />
Stelle auf eine detaillierte Darstellung verzichtet<br />
werden.<br />
FOTO: UWE URBAS - FOTOLIA.COM<br />
66
Die viel versprechenden Ergebnisse der RE-<br />
LY-Studie (Dabigatran), ROCKET-AF-Studie<br />
(Rivaroxaban) sowie der AVERROES-Studie<br />
(Apixaban) werden jedenfalls Anlass geben,<br />
bisherige Therapiestrategien zur Sekundärprophylaxe<br />
von Schlaganfällen/TIA bei Vorhofflimmern<br />
kritisch zu überdenken. Insbesondere<br />
die noch immer übliche Verabreichung<br />
von Aspirin bei PatientInnen mit<br />
Kontraindikationen für eine orale Antikoagulation<br />
dürfte damit bald der Geschichte angehören.<br />
In diesem Zusammenhang merkte der Kardiologe<br />
Michael Ezekowitz aus Wynnewood,<br />
USA, auch kritisch an, dass InternistInnen wie<br />
NeurologInnen in der täglichen Praxis noch<br />
immer vielen PatientInnen mit klarer Indikation<br />
eine orale Antikoagulation vorenthalten.<br />
Als Grund dafür bezeichnete er das Überwiegen<br />
der Angst vor iatrogener Schädigung<br />
(Blutungskomplikation) gegenüber dem in<br />
den Köpfen vieler ÄrztInnen weniger verankerten<br />
Vertrauen in eine evidenzbasierte Verhinderung<br />
kardioembolischer Ereignisse.<br />
Weiters wurde hervorgehoben, dass auch<br />
kurze (paroxysmale) Episoden von Vorhofflimmern<br />
eine große klinische Bedeutung für Kardioembolien<br />
darstellen. Wiederholte EKG-<br />
Langzeit-Analysen in Form von mehrmaligen<br />
24-Stunden-EKG oder kontinuierliches Monitoring<br />
mittels automatisierter Algorithmen<br />
bzw. implantierter Eventrecorder sollten deshalb<br />
vermehrt eingesetzt werden, um die<br />
Wahrscheinlichkeit der Detektion eines paroxysmalen<br />
Vorhofflimmerns zu erhöhen und<br />
somit eine beeinflussbare Schlaganfallursache<br />
ausfindig machen zu können.<br />
Blutdrucksenkung<br />
im akuten Schlaganfall<br />
In der doppelblinden, placebokontrollierten,<br />
multizentrischen SCAST-Studie 1 (The Scandinavian<br />
Acute Stroke Trial), der bis dato größten<br />
Studie zum Blutdruckmanagement beim<br />
akuten Schlaganfall (n = 2029), wurde untersucht,<br />
inwieweit PatientInnen mit akutem<br />
ischämischen oder hämorrhagischen Schlaganfall<br />
und erhöhtem Blutdruck (> 140 mmHg<br />
systolisch) von einer frühzeitigen Blutdrucksenkung<br />
mit dem Angiotensin-Rezeptor-Blo -<br />
cker (ARB) Candesartan profitieren.<br />
Als Grundlage diente die 2003 in Stroke publizierte<br />
ACCESS-Studie, die bei knapp 350<br />
PatientInnen einen Benefit von Candesartan<br />
hinsichtlich Reduktion von vaskulären Ereignissen<br />
und Tod in der ersten Woche nach<br />
zerebrovaskulärem Ereignis zeigte, sowie Arbeiten<br />
über potenzielle neuroprotektive Effekte<br />
von ARB.<br />
Als Endpunkte wurden einerseits vaskulärer<br />
Tod, Myokardinfarkt und Schlaganfall in den<br />
ersten 6 Monaten sowie andererseits das<br />
funktionelle Outcome (gemessen am modified<br />
Rankin-Score, mRS) ein halbes Jahr nach<br />
dem initialen Event gewählt. Die Ergebnisse<br />
dieser mittlerweile in Lancet erschienen Arbeit<br />
wurden von der Erstautorin Else Charlotte<br />
Sandset, Oslo, berichtet: Der mittlere<br />
blutdrucksenkende Effekt von Candesartan<br />
nach einer Woche war 5 mmHg (p < 0,0001)<br />
systolisch sowie 2 mmHg (p = 0,001) diastolisch.<br />
Bezüglich beider Endpunkte ergab sich<br />
kein signifikanter Vorteil von Candesartan,<br />
sondern sogar ein etwas schlechteres funktionelles<br />
Outcome nach 6 Monaten und eine<br />
höheren Rate an Gesamtevents (inklusive Tod<br />
jeglicher Ursache) in der Verum-Gruppe.<br />
Damit bleibt die Frage des optimalen Blutdruckmanagement<br />
nach Schlaganfall weiter<br />
ungeklärt. Interessant ist, dass sich in der<br />
SCAST-Studie auch keine Unterschiede im<br />
Verhalten auf die Therapie zwischen ischämischem<br />
und hämorrhagischem Schlaganfall<br />
zeigten. Dieses Ergebnis ist allerdings mit Vorsicht<br />
zu interpretieren, da die Gruppe mit hämorrhagischem<br />
Schlaganfall aus nur 274 PatientInnen<br />
bestand. Man wird also auf die<br />
Ergebnisse der gerade laufenden INTERACT2-<br />
Studie warten müssen, um mehr über das<br />
richtige Blutdruckmanagement bei PatientInnen<br />
mit intrazerebraler Blutung aussagen zu<br />
können.<br />
Fluoxetin und motorische<br />
Rehabilitation nach Schlaganfall<br />
Ein weiterer interessanter Beitrag von François<br />
Chollet aus Toulouse beschäftigte sich<br />
mit dem Effekt des selektiven Serotonin-<br />
Reuptake-Inhibitors Fluoxetin auf das motorische<br />
System in der Neurorehabilitation nach<br />
Schlaganfall. Die AutorInnen der so genannten<br />
FLAME-Studie 2 (Fluoxetin for motorrecovery<br />
after acute ischemic stroke) konnten in<br />
dieser placebokontrollierten Untersuchung<br />
an knapp 120 PatientInnen zeigen, dass eine<br />
frühe Gabe von 20 mg Fluoxetin (5 bis 10<br />
Tage nach ischämischem Schlaganfall mit Hemiparese<br />
bis -plegie) zusätzlich zu etablierten<br />
neurorehabilitativen Maßnahmen die motorische<br />
Funktion – gemessen anhand der Fugl-<br />
Meyer Motor Scale und des motorischen Teils<br />
des NIHSS – nach 3 Monaten signifikant verbessern<br />
konnte.<br />
Mögliche Erklärungsversuche stützen sich auf<br />
tierexperimentelle Daten sowie kleine fMRI-<br />
Studien, die einen positiven Effekt der kurzfristigen<br />
Gaben von SSRI auf die neuronale<br />
Plastizität und im Speziellen auf das motorische<br />
System illustrieren konnten. Dennoch<br />
muss an dieser Stelle auch der antidepressive<br />
Mechanismus und die damit assoziierte vermehrte<br />
Aufmerksamkeit und Zugänglichkeit<br />
für neurorehabilitative Interventionen als<br />
mögliche Begründung mit bedacht werden.<br />
So war eine Depression in der Fluoxetin-<br />
Gruppe nach 3 Monaten signifikant weniger<br />
häufig als in der Vergleichsgruppe.<br />
Prävalenz unrupturierter<br />
intrakranieller Aneurysmen<br />
Monique Vlak aus Utrecht, Niederlande, eine<br />
der GewinnerInnen des „Young Investigator<br />
Awards“, präsentierte eine aktuelle, kürzlich<br />
in Lancet Neurology publizierte Metaanalyse 3<br />
zum Thema Prävalenz unrupturierter intrakranieller<br />
Aneurysmen. Angesichts der zunehmenden<br />
Verfügbarkeit nichtinvasiver bildgebender<br />
Modalitäten zur Gefäßdarstellung<br />
und der damit einhergehenden vermehrten<br />
Detektion inzidenteller Gefäßveränderungen<br />
(v. a. Aneurysmen) ist dies eine klinisch mittlerweile<br />
sehr relevante Fragestellung.<br />
Insgesamt wurden in dieser Übersichtsarbeit<br />
68 Studien mit ca. 95.000 PatientInnen berücksichtigt.<br />
Davon wiesen 1450 ein inzidentelles<br />
unrupturiertes Aneurysma auf. Vlak<br />
konnte zeigen, dass die Prävalenz in einer u<br />
67
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
Population ohne Komorbiditäten bei 3,2 %<br />
liegt, während bei PatientInnen mit autosomal<br />
dominanter polyzystischer Nierenerkrankung<br />
(6,9 %) mit einer mehr als doppelt so<br />
großen Häufigkeit zu rechnen ist. Bei PatientInnen<br />
mit einer positiven Familienanamnese<br />
für intrakranielle Aneurysmen bzw. Subarachnoidalblutungen<br />
(3,4 %) war die Prävalenz<br />
demgegenüber nur gering erhöht. Die Prävalenz<br />
unrupturierter intrakranieller Aneurysmen<br />
war zudem signifikant höher bei Personen<br />
über 30 Jahre sowie bei Frauen. Beim<br />
weiblichen Geschlecht fand sich ein besonderer<br />
Prävalenzanstieg im Alter über 50 Jahren<br />
– ein Umstand, der möglicherweise auf<br />
hormonelle Einflüsse hindeuten könnte.<br />
Ein weiterer interessanter Aspekt dieser Studie<br />
bezieht sich auf Ergebnisse in Japan und<br />
Finnland, zwei Länder mit einer bekannten<br />
höheren Rate für Subarachnoidalblutungen.<br />
So war in diesen beiden Ländern die Prävalenz<br />
unrupturierter Aneurysmen nicht höher,<br />
was den Rückschluss nahe legt, dass hier per<br />
se ein erhöhtes Rupturrisiko vorliegt und dass<br />
weitere Studien auf spezielle rupturfördernde<br />
Risikofaktoren in Japan und Finnland fokussieren<br />
sollten.<br />
Thrombolytische Therapie<br />
mit Tenecteplase<br />
Mark Parsons aus Newcastle, Australien, stellte<br />
mit dem genetisch modifizierten und durch<br />
eine längere Halbwertzeit gekennzeichneten<br />
rt-PA-Abkömmling Tenecteplase eine vielversprechende<br />
neue thrombolytische Substanz<br />
vor, die sich vor allem durch eine höhere Fibrin-Spezifität<br />
hervorhebt. PatientInnen mit<br />
akuter zerebraler Ischämie und einem Gefäßverschluss<br />
sowie einem Perfusionsdefizit –<br />
dargestellt mittels multimodalem CT – wurden<br />
innerhalb des Zeitfensters von bis zu<br />
6 Stunden randomisiert entweder mit<br />
0,1 mg/kg KG Tenecteplase (n = 50) oder<br />
0,9 mg/kg KG rt-PA (n = 25) behandelt.<br />
Alle PatientInnen hatten nach 24 Stunden<br />
eine Follow-up-Bildgebung (Gefäß- sowie<br />
Perfusionsbildgebung). Dabei zeigte sich eine<br />
signifikant bessere Reperfusionsrate in der Tenecteplase-Gruppe<br />
(77,5 % versus 55,4 %;<br />
p = 0,0097). Weiters ließ die neue Substanz<br />
einen signifikanten Vorteil bezüglich NIHSS<br />
sowie mRS nach 3 Monaten erkennen.<br />
In den Sicherheitsanalysen (intrazerebrale<br />
Blutungen, Tod oder schwere Behinderung<br />
an Tag 90) ergaben sich keine signifikanten<br />
Unterschiede zwischen den beiden Substanzen.<br />
Vielversprechende Ergebnisse also, die<br />
nach Replikation in einer größeren PatientInnengruppe<br />
auf eine neue wirksame thrombolytische<br />
Substanz hoffen lassen!<br />
Österreichische Beiträge<br />
Auch 16 österreichische Beiträge wurden<br />
vom ESC-Komitee für freie Vorträge und Pos -<br />
terpräsentationen ausgewählt, von denen<br />
nur 2 herausgegriffen werden sollen.<br />
Karl Matz, Krems, stellte in seinem Vortrag<br />
Risikofaktoren für die Entwicklung einer<br />
schlaganfallassoziierten Pneumonie (poststroke<br />
pneumonia) an österreichischen Stroke<br />
Units vor. Von über 46.000 PatientInnen, die<br />
von 2004 bis 2010 an einer Stroke Unit (innerhalb<br />
des österreichischen Stroke Unit<br />
Registers) behandelt wurden, entwickelten<br />
2605 PatientInnen (5,7 %) eine Pneumonie.<br />
Neben Faktoren wie höherem Alter, initialem<br />
NIHSS, wiederkehrendem oder progressivem<br />
Schlaganfall, kardialen Arrhythmien und weiteren<br />
Infektionen zeigte vor allem die Anlage<br />
einer nasogastralen Sonde (NGS) die höchste<br />
Odds-Ratio für eine assoziierte Pneumonie.<br />
Die AutorInnen schließen daraus, dass eine<br />
enterale Ernährung mittels NGS keine zuverlässige<br />
präventive Maßnahme einer (Aspirations-)Pneumonie<br />
darstellt.<br />
Daniel Flöry aus Linz legte in seinem Vortrag<br />
in der Sitzung „Brain Imaging“ dar, wie die<br />
MR-Perfusionsbildgebung in der Differenzialdiagnose<br />
von akuten zerebralen Ischämien<br />
zu schlaganfallimitierenden Migräneattacken<br />
(akute hemiplegische Migräne) hilfreich eingesetzt<br />
werden kann. In einer retrospektiven<br />
Analyse identifizierte er derart 20 Migräne-<br />
PatientInnen, bei denen ein charakteristisches<br />
Muster der Hypoperfusion, das nicht an vorgegebene<br />
vaskuläre Territorien gebunden<br />
war, nachgewiesen werden konnte. Dabei<br />
zeigte sich vor allem eine Prädominanz für<br />
das Posteriorstromgebiet.<br />
Fazit<br />
Zusammenfassend lässt sich auf einen spannenden,<br />
abwechslungsreichen Kongress zurückblicken,<br />
in dem vor allem neue Substanzen<br />
und neue intensivierte Strategien zur<br />
Behandlung bzw. Detektion von Vorhofflimmern<br />
im Vordergrund standen. Gespannt<br />
darf man der 21. Jahrestagung nächstes Jahr<br />
in Lissabon, Portugal, entgegenblicken und<br />
hoffen, dass sich weiterhin eine derartige<br />
Dynamik in der Schlaganfallforschung fortsetz.<br />
n<br />
1 Sandset EC, Bath PM, Boysen G, Jatuzis D, Kõrv J,<br />
Lüders S, Murray GD, Richter PS, Roine RO, Terént A,<br />
Thijs V, Berge E, SCAST Study Group. The angiotensinreceptor<br />
blocker candesartan for treatment of acute<br />
stroke (SCAST): a randomised, placebo-controlled,<br />
double-blind trial. Lancet 2011; 377(9767):741–50<br />
2 Chollet F, Tardy J, Albucher JF, Thalamas C, Berard E,<br />
Lamy C, Bejot Y, Deltour S, Jaillard A, Niclot P, Guillon B,<br />
Moulin T, Marque P, Pariente J, Arnaud C, Loubinoux I,<br />
Fluoxetine for motor recovery after acute ischaemic<br />
stroke (FLAME): a randomised placebo-controlled trial.<br />
Lancet Neurol 2011; 10(2):123–30<br />
3 Vlak MH, Algra A, Brandenburg R, Rinkel GJ, Prevalence<br />
of unruptured intracranial aneurysms, with emphasis on<br />
sex, age, comorbidity, country, and time period: a sys -<br />
tematic review and meta-analysis. Lancet Neurol 2011;<br />
10(7):626–36<br />
68
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
International Conference on Alzheimer’s<br />
Disease (ICAD, Paris, 2011)<br />
Die ICAD fand im Juli in Paris statt.<br />
Es wurden dieses Jahr Beiträge<br />
zum Thema Prävention, Diagnostik<br />
und Therapiemöglichkeiten<br />
gebracht. Aufgrund der steigenden<br />
Prävalenz der Erkrankung – laut<br />
Prognosen werden 2030 bereits<br />
63 Millionen und im Jahr 2050<br />
sogar 114 Millionen Menschen<br />
weltweit betroffen sein 1 – hielt<br />
auch der Präsident Frankreichs,<br />
Nicolas Sarkozy, eine Rede zu<br />
diesem Thema und über die<br />
zukünftig größere Unterstützung<br />
der Forschung auf diesem Gebiet.<br />
In diesem Artikel werden<br />
Schwerpunkte der ICAD 2011<br />
präsentiert.<br />
Neue Amyloid--Liganden<br />
und PET<br />
Dr. Evelyn Sieczkowski,<br />
Univ.-Prof. Dr. Peter Dal-Bianco<br />
Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong>,<br />
Medizinische Universität Wien<br />
FOTO: FOTOLIA XXV - FOTOLIA.COM<br />
In der Alzheimer-Pathologie werden drei Vorgänge<br />
unterschieden: der Amyloid-Dysmetabolismus,<br />
der zur Plaqueformation führt, die<br />
Formation neurofibrillärer Bündel sowie letztlich<br />
der Verlust von Neuronen, Synapsen und<br />
Dendriten 2 . Ob diese qualitativ unterschiedlichen<br />
Pathologien gleichzeitig oder aufeinander<br />
folgend entstehen, ist heute nur zum<br />
Teil bekannt. Deshalb ist es wichtig, verschiedene<br />
bildgebende Modalitäten zu entwickeln<br />
– als In-vivo-Indikator für Alzheimer-spezifische<br />
Veränderungen; nicht nur um diese<br />
komplexen pathologischen Prozesse zu verstehen<br />
und neue therapeutische Möglichkeiten<br />
zu entwickeln, sondern auch um diese<br />
Erkrankung möglichst früh zu erkennen.<br />
Die Positronenemissionstomographie (PET)<br />
mit Liganden, die spezifisch an Amyloid-<br />
binden, wird einen bedeutenden Stellenwert<br />
in der Früherkennung der Alzheimer-Demenz<br />
(AD) einnehmen. Der erste Ligand, mit dem<br />
bereits etliche Studien erfolgen, ist der 11 C-<br />
markierte PET-Tracer PiB (Pittsburgh compound<br />
B), der mit hoher Affinität an Amyloid-<br />
bindet. Der limitierende Faktor für eine<br />
verbreitete klinische Anwendung ist die kurze<br />
Halbwertszeit des 11 C PiB (20 min), die das<br />
Vorhandensein eines Zyklotrons vor Ort voraussetzt.<br />
Es wurden in weiterer Folge 18 F-markierte Tracer<br />
entwickelt, die mit einer Halbwertszeit<br />
von 110 Minuten einen klaren Vorteil haben.<br />
Zurzeit gibt es Flutemetamol, Florbetaben<br />
und Florbetapir, die eine hohe Affinität zu<br />
Amyloid- aufweisen. Es konnte mit Florbetapir<br />
ein signifikanter Unterschied in der u<br />
69
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
Menge an Amyloid bei PatientInnen mit Alzheimer-Demenz<br />
im Vergleich zu altersentsprechenden<br />
Kontrollpersonen gezeigt werden.<br />
96 % der PatientInnen, die eine positive<br />
Florbetapir-PET hatten, erfüllten post mortem<br />
auch die pathologischen Kriterien einer Alzheimer-Demenz.<br />
Weiters korrelierte die regionale<br />
PET-Amyloidlast mit immunhistochemischen<br />
Parametern 3 .<br />
Florbetaben wiederum bietet eine langsame<br />
Eliminationskinetik, die ein längeres Zeitfenster<br />
für PET-Aufnahmen ermöglicht. In der<br />
größten Phase-II-Studie lag die diagnostische<br />
Sensitivität bei 80 % und die Spezifität bei<br />
91 % 4 . Eine aktuell laufende Phase-III-Studie<br />
soll die Wertigkeit des 18 F-Florbetaben-PET<br />
gemessen am Goldstandard der histopathologischen<br />
Bestimmung des Amyloid- zeigen.<br />
Veränderungen der Amyloid--Konzentrationen<br />
im Gehirn finden bereits initial in noch<br />
nicht symptomatischen Stadien der Erkrankung<br />
statt. Deshalb eignet sich für die Früherkennung<br />
gerade das PET mit Liganden, die<br />
offenbar eine hohe Sensitivität bieten. Zurzeit<br />
dient das PET mit Amyloid--Liganden zahlreichen<br />
Studien zum Wirknachweis von Medikamenten/Antikörper<br />
gegen Amyloid-.<br />
Krankheitsmodifizierende<br />
Therapien<br />
Die derzeit für die Therapie der Alzheimer-<br />
Demenz eingesetzten zwei Substanzklassen<br />
wirken hauptsächlich symptomatisch. Das<br />
Hauptaugenmerk der derzeitigen Forschung<br />
liegt auf der Entwicklung krankheitsmodifizierender<br />
Therapeutika, welche die Entstehung<br />
der Pathologie beeinflussen sollen.<br />
Zahlreiche randomisierte Studien mit Cho -<br />
linesterase-Inhibitoren in verschiedenen Stadien<br />
der AD belegen einen eindeutigen Benefit<br />
im Vergleich zu Placebo in Bezug auf<br />
kognitive Defizite sowie die Verbesserung der<br />
ADL (activities of daily living) 5, 6 .<br />
Es gibt zudem starke Hinweise aus experimentellen<br />
Studien, die zeigen, dass Cholin -<br />
esterase-Inhibitoren, wie Galantamin die Akkumulation<br />
von Amyloid- in kultivierten<br />
Neuronen sowie die A1-40-induzierte<br />
Apoptose reduzieren 7 . In einer Studie, in der<br />
Tab.: Übersicht über derzeit laufende Studien<br />
Colostrinin Hemmung der A-Aggregation Phase II<br />
Scyllo-Inositol (AZD103) Hemmung der A-Aggregation Phase II<br />
Bapineuzumab A – passive Immunisierung Phase III<br />
LY2062430 A – passive Immunisierung Phase III<br />
Simvastatin Cholesterinreduktion Phase III<br />
MTC (Rember) Hemmung der Tau-Aggregation Phase II<br />
Clioquinol<br />
hemmt Zink- und Kupferbindung an A Phase II<br />
12 PatientInnen mit Lewy-Body-Demenz mit<br />
und ohne Cholinesterase-Therapie verglichen<br />
wurden, konnte post mortem 68 % weniger<br />
parenchymale Amyloidakkumulation in der<br />
Gruppe mit Cholinesterase-Therapie nachgewiesen<br />
werden. Dieser Effekt lässt stark vermuten,<br />
dass diese Substanzklasse neben<br />
einer symptomatischen auch eine krankheitsmodifizierende<br />
Wirkung aufweist 8 .<br />
Auch bei Memantin, einem NMDA-Antagonisten,<br />
wird eine mögliche krankheitsmodifizierende<br />
Wirkung postuliert. Eine longitudinale<br />
Untersuchung konnte zeigen, dass unter<br />
der Therapie mit Memantin die Phosphorylierung<br />
des Tau-Proteins im Liquor signifikant<br />
abnahm 9 . Eine Metaanalyse mit 3 Studien,<br />
welche Memantin bei milder AD untersuchten,<br />
zeigte keinen Benefit bei der milden AD<br />
und eine wenig zufrieden stellende Wirkung<br />
in der mittelschweren AD 10 . Im Gegensatz<br />
dazu konnte eine Metaanalyse mit 3 randomisierten,<br />
placebokontrollierten Studien mit<br />
Memantin bei Patienten mit mittelschwerer<br />
bis schwerer AD verglichen mit Placebo bzw.<br />
einer bereits vorbestehenden Therapie mit<br />
Donepezil nach 6 Monaten einen signifikanten<br />
positiven Effekt in Bezug auf kognitive<br />
Funktionen, ADL sowie der CIBIC (clinical<br />
impression of change) nachweisen 11 .<br />
Krankheitsmodifizierende Medikamente sollen<br />
direkt in die Entstehung der Pathologie<br />
eingreifen und somit z. B. die Akkumulation<br />
von extrazellulärem Amyloid-, die intrazellulären<br />
neurofibrillären Bündeln Inflammation,<br />
oxidativen Stress, die Eisendysregulation oder<br />
den Cholesterinmetabolismus modulieren.<br />
Viel versprechend schien dabei der -Sekretase-Inhibitor<br />
Semagacestat (LY450139) zu<br />
sein, allerdings kam es – trotz guter Ergebnisse<br />
in der präklinischen Phase – zu einer<br />
kognitiven Verschlechterung bei den PatientInnen,<br />
sodass Eli Lilly 2010 die Phase-III-Studien<br />
(IDENTITY 1 und 2) abbrach. Weiters<br />
konnte das kognitive Ausgangsniveau der PatientInnen<br />
7 Monate nach Beendigung der<br />
Studien nicht wieder erreicht werden. Angestrebt<br />
wird nun eine selektive Enzymmodulation.<br />
Weitere Substanzen mit teilweise zufrieden<br />
stellenden präliminären Ergebnissen<br />
werden zurzeit getestet. Die Tabelle soll einen<br />
Überblick über einige derzeit laufende Studien<br />
geben 12 .<br />
n<br />
1 Wimo A, Winblad B, Aguero-Torres H, von Strauss E,<br />
The magnitude of dementia occurrence in the world.<br />
Alzheimer Dis Assoc Disord 2003; 17(2):63–7<br />
2 Braak H., Braak E. Neuropathological stageing of<br />
Alzheimer-related changes. Acta Neuropathol 1991;<br />
82(4):239–59<br />
3 Clark CM, Schneider JA, Bedell BJ, Beach TG, Bilker<br />
WB, Mintun MA et al., Use of florbetapir-PET for imaging<br />
beta-amyloid pathology. JAMA : the journal of the<br />
American Medical Association 2011; 305(3):275–83<br />
4 Barthel H, Gertz HJ, Dresel S, Peters O, Bartenstein P,<br />
Buerger K, Hiemeyer F, Wittemer-Rump SM, Seibyl J,<br />
Reininger C, Sabri O, Florbetaben Study Group. Cerebral<br />
amyloid--PET with florbetaben (18F) in patients with<br />
Alzheimer's disease and healthy controls: a multicentre<br />
phase 2 diagnostic study. Lancet Neurol 2011;<br />
10(5):424–35<br />
5 Loy C, Schneider L, Galantamine for Alzheimer’s<br />
disease and mild cognitive impairment. Cochrane<br />
Dementia and Cognitive Improvement Group.<br />
Cochrane Database Syst Rev 2007; 3<br />
6 Birks J, Grimley Evans J, Iakovidou V, et al Rivastigmine<br />
for Alzheimer’s disease. Cochrane Dementia and<br />
Cognitive Improvement Group. Cochrane Database<br />
Syst Rev 2007; 3<br />
7 Matharu B, Gibson G, Parsons R, Huckerby TN, Moore<br />
SA, Cooper LJ et al., Galantamine inhibits beta-amyloid<br />
aggregation and cytotoxicity. Journal of the neurological<br />
sciences 2009<br />
8 Ballard CG, Chalmers KA, Todd C, McKeith IG,<br />
O'Brien JT, Wilcock G, Love S, Perry EK, Cholinesterase<br />
inhibitors reduce cortical Abeta in dementia with Lewy<br />
bodies. Neurology 2007; 68(20):1726–9<br />
9 Degerman Gunnarson M, Klialnder L., Basu H.,<br />
Lannefelt L, Reduction of phosphorylatedd tau during<br />
memantine treatment of Alzheimer’s disease. Dement<br />
Geriatr Cogn Disord 2007; 24(4):247–52<br />
10 Schneider LS, Dagerman KS, Higgins JP, McShane R,<br />
Lack of evidence for the efficacy of memantine in mild<br />
Alzheimer disease. Arch Neurol 2011; 68(8):991–8<br />
11 McShane R, Areosa Sastre A, Minakaran N. Memantine<br />
for dementia. Cochrane Database Syst Rev 2006;<br />
19(2):CD003154<br />
12 Galimberti D, Scarpini E, Disease-modifying treatments<br />
for Alzheimer’s disease. Ther Adv Neurol Disord 2011;<br />
4(4):203–16<br />
70
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
Gemeinsame Jahrestagung der Deutschen,<br />
Schweizerischen und Österreichischen<br />
Liga gegen Epilepsie, Graz<br />
Neben einem breiten Angebot an Seminaren und Kursen bot die 7. Jahrestagung der Deutschen, Österreichischen<br />
und Schweizerischen Liga gegen Epilepsie ein ausgezeichnetes, umfassendes wissenschaftliches Programm mit<br />
den Schwerpunkten „aktuelle Entwicklungen in der zerebralen Bildgebung“, „Herausforderung in der<br />
medikamentösen Therapie“, „ innovative Therapiekonzepte wie Neurostimulation und Immuntherapie“,<br />
„immunmediierte Epilepsien“ „epigenetische Grundlagen fokaler und generalisierter Epilepsien“ sowie<br />
„Epilepsiechirurgie bei kindlichen Epilepsien“. Nachfolgend sind die Highlights aus der Sicht der Erwachsenen-<br />
Epileptologie zusammengefasst.<br />
Epigenetische Grundlagen fokaler<br />
und generalisierter Epilepsien<br />
Epigenetische Veränderungen entsprechen<br />
erblichen Veränderungen der Genfunktion,<br />
die nicht durch Änderungen der DNA-Sequenz<br />
gesteuert werden. Die Rolle epigenetischer<br />
Veränderungen in der Pathogenese<br />
verschiedener neuropsychiatrischer Erkrankungen<br />
wie Autismus, bipolarer Störungen,<br />
Schizophrenie, Hirntumoren<br />
und neurodegenerativer Erkrankungen<br />
ist Gegenstand aktueller Forschung.<br />
In der wissenschaftlichen Sitzung<br />
„Epigenetische Grundlagen fokaler<br />
und generalisierter Epilepsien“<br />
mit den ReferentInnen Dr. El-Osta, Dr.<br />
Lachner, Dr. Kobow, Dr. Bernard<br />
wurde ein exzellenter Überblick über<br />
die Grundlagen möglicher Regulationsmechanismen<br />
der DNA – Expression<br />
(Chromatin- und DNA-Modifikation)<br />
vermittelt. Darüber hinaus wurden<br />
neueste Forschungsergebnisse zu spezifischen<br />
epigenetischen Veränderungen<br />
(Methylierung, Demethylierung,<br />
Deacetylierung mittels spezifischer Enzyme)<br />
und deren Bedeutung in der<br />
Epileptogenese (Tiermodelle) präsentiert<br />
und schließlich ein spannender<br />
Ausblick über zukünftige therapeutische<br />
Ansätze im Sinne einer „Krankheitsmodifizierung“<br />
durch Unterdrückung oben beschriebener<br />
Phänomene gegeben.<br />
Dr. Iris Unterberger<br />
Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong>,<br />
Medizinische Universität Innsbruck<br />
Aktuelle Entwicklungen<br />
in der zerebralen Bildgebung<br />
Dr. Kuchukhidze eröffnete die Sitzung „Einsatz<br />
des fMRI in der Epilepsie“ mit einer hervorragenden<br />
Übersicht über die Grundlagen<br />
und Methodik des funktionellen MRI. Die<br />
weiteren Referate (Dr. Bonelli, Dr. Wellmer,<br />
Dr. Broicher, Dr. Kuchukhidze) beleuchteten<br />
die Bedeutung des fMRI für das präoperative<br />
Mapping von Sprache, Gedächtnis und Emotion<br />
in der prächirurgischen Evaluierung von<br />
PatientInnen mit Temporallappenepilepsien.<br />
Alle ReferentInnen konkludierten, dass im<br />
Hinblick auf die Voraussagefähigkeit postoperativer<br />
Defizite bei epilepsiechirurgischen<br />
PatientInnen weitere Studien erforderlich<br />
sind.<br />
In einem zweistündigen Workshop (Dr. Huppertz,<br />
Dr. Wellmer, Dr. Kuchukhidze) wurden<br />
die Methoden der MRT-Nachbearbeitung mit<br />
dem morphometrischen Analyseprogramm<br />
MAP07 vorgestellt. Die Methode dient der<br />
Erkennung und Lokalisation von fokalen kortikalen<br />
Dysplasien, aber auch von anderen<br />
möglichen epileptogenen kortikalen Entwicklungsstörungen<br />
anhand typischer Merkmale<br />
wie etwa einer abnormen Gyrierung, einer<br />
Verdickung des Kortex oder einer Störung<br />
der Rinden-Mark-Differenzierung. Dieses<br />
MRT-Nachbearbeitungsverfahren ermöglicht<br />
bei bislang nichtläsionellen bildgebenden Be-<br />
72
funden die Detektion kortikaler Entwicklungsstörungen und eröffnet<br />
dadurch die Möglichkeit eines epilepsiechirurgischen Eingriffes.<br />
Innovative Therapiekonzepte:<br />
Neurostimulation<br />
In der wissenschaftlichen Sitzung „Tiefe Hirnstimulation bei Epilepsie“<br />
(Dr. Voges, Dr. Holtkamp, Dr. Boon, Dr. Schmitt, Dr. Münte) wurden<br />
die möglichen zugrunde liegenden Pathomechanismen der tiefen<br />
Hirnstimulation (Netzwerktheorie), die Ergebnisse tierexperimenteller<br />
Modelle sowie der Einsatz der tiefen Hirnstimulation (direkt und indirekte<br />
Stimulation) bei PatientInnen mit medikamentös schwer behandelbaren<br />
Epilepsien und die neuropsychiatrischen bzw. neuropsychologischen<br />
Konsequenzen der Stimulation behandelt.<br />
Kernthema der Sitzung war die Vorstellung der rezent publizierten<br />
SANTE-Studie (Stimulation of the anterior nuclei of thalamus for epilepsy).<br />
Diese Studie ist die erste größere randomisierte, doppelblinde<br />
Untersuchung, welche die Wirksamkeit der chronischen (indirekten)<br />
Stimulation des anterioren Thalamus bei PatientInnen mit pharmakoresistenter<br />
fokaler Epilepsie nachweisen konnte. Die SANTE-Studie<br />
führte zur europäischen Zulassung der tiefen Hirnstimulation in der<br />
Epilepsiebehandlung. Kritisch beleuchtet wurde das Problem der unterschiedlichen<br />
Anfallssemiologie, wo darauf hingewiesen wurde,<br />
dass möglicherweise unterschiedliche Stimulationsorte in Abhängigkeit<br />
der verschiedenen Anfallstypen zielführend wären.<br />
Immunmediierte Epilepsien<br />
Dr. Bien, Dr. Bauer, Dr. Kirschstein und Dr. Irani spannten in der Sitzung<br />
„immunmediierte Epilepsien“ einen weiten Bogen, der die<br />
Diagnose und das Management immunmediierter Epilepsien (z. B.<br />
Rasmussen-Enzephalitis; limbische Enzephalitis; Anti-NMDA-Antikörper-mediierte<br />
Enzephalitis), die Immunpathogenese Auto-Antikörper-assoziierter<br />
ZNS-Erkrankungen, die pathophysiologischen Effekte<br />
von NMDA-R-Antikörpern sowie die Vorstellung eines<br />
„neuen“, immuntherapieresponsiven Epilepsiesyndroms mit sehr distinkten<br />
Anfallssymptomen (FBDS = faciobrachial dystonic seizures)<br />
umfasste.<br />
Es wurde berichtet, dass Antikörpern, die gegen neuronale Oberflächenmoleküle<br />
gerichtet sind, wie etwa spannungsabhängige Kaliumkanal-Antikörper,<br />
NMDA-Rezeptor-Antikörper oder Antikörper gegen<br />
GABA-B- und AMPA-Rezeptoren, eine besondere Bedeutung in der<br />
Epileptogenese zukommt, da sie direkt pathogen zu sein scheinen.<br />
Antikörper, die gegen intrazelluläre Antigene gerichtet sind, wie etwa<br />
Antikörper gegen Glutaminsäure-Decarboxylase (GAD) oder onkoneuronale<br />
Antikörper, scheinen eher Marker eines immunopathologischen<br />
Prozesses zu sein als direkt pathogen zu wirken. Immunmediierte<br />
Epilepsien, die mit Antikörpern gegen neuronale Oberflächenmoleküle<br />
assoziiert sind, scheinen besonders gut auf eine<br />
immunmodulatorische Therapie anzusprechen.<br />
n
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
Epileptologie des Kindes- und Jugendalters<br />
Im Rahmen des exzellenten, breit gefächerten wissenschaftlichen Programmes der Jahrestagung der<br />
Österreichischen, Deutschen und Schweizer Sektion der ILAE in Graz wurden die Themen im Bereich der<br />
Epileptologie des Kindes-und Jugendalters als Novität in gemeinsamer Organisation des Tagungspräsidenten,<br />
Priv.-Doz. Dr. Michael Feichtinger, Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong> Graz mit der Co-Präsidentin Univ.-Prof.<br />
Dr. Barbara Plecko, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde Graz, gestaltet. Im Folgenden werden<br />
die wichtigsten Inhalte aus kinderepileptologischer Sicht kurz zusammengefasst.<br />
Genetik schwerer<br />
frühkindlicher Epilepsien<br />
In der letzten Dekade konnte die Aufklärungsrate<br />
genetischer Ursachen schwerer<br />
frühkindlicher Epilepsien wesentlich verbessert<br />
werden. Einen wesentlichen Beitrag hierzu<br />
leistete, wie von Dr. Köhler, Medizinisch<br />
Genetisches Zentrum München, referiert, die<br />
Micro-Array-CGH-Diagnostik. Diese hochauflösende<br />
Methode stellt ein Bindeglied zwischen<br />
der konventionellen Chromosomenanalyse<br />
und der molekulargenetischen Mutationsanalyse<br />
dar. Dadurch konnten neue<br />
Mikrodeletionssyndrome (z. B. 15q13.3; oder<br />
16p13.11) als Ursache von Epilepsien identifiziert<br />
werden. Die intensive Aufarbeitung der<br />
kodierenden Abschnitte führte zur Identifikation<br />
neuer Epilepsie-Gene, wie dem<br />
CHRNA7-Gen und dem MYH11-Gen.<br />
Dr. Neubauer, Neuropädiatrie, Universitätsklinikum<br />
Gießen und Marburg, Deutschland,<br />
brachte ein praxisorientiertes Vorgehen zur<br />
Abklärung monogener Epilepsien. Während<br />
einige monogene Epilepsieformen anhand<br />
einer gründlichen Anfallsanamnese und Charakterisierung<br />
der Anfallssemiologie klinisch<br />
gut zuzuordnen sind (z. B. Dravet-Syndrom<br />
mit SNC1A-Mutationen), zeigen andere monogene<br />
Störungen ein weites Spektrum (z.<br />
B. Mutationen des ARX-Gens). Neben familiären<br />
Formen, wie der nächtlichen, dominant<br />
vererbten Frontallappenepilepsie, sind zahlreiche<br />
Störungen auf Spontanmutationen zurückzuführen<br />
(z. B. SCN1A, CDKL5/Rett-Syndrom-Variante<br />
mit frühem Anfallsbeginn).<br />
Eine genetisch gesicherte Diagnose hat zwar<br />
für die bislang besprochenen Erkrankungen<br />
nur eingeschränkte therapeutische Konsequenzen,<br />
ermöglicht den Familien jedoch<br />
eine fundierte genetische Beratung und gezielte<br />
Familienplanung.<br />
Die Gruppe schwerer frühkindlicher Epilepsien<br />
verbirgt jedoch auch eine Gruppe kausal<br />
behandelbarer Stoffwechselerkrankungen.<br />
Dr. Barbara Plecko brachte ein Update zu<br />
Biomarkern sowie typischen EEG- und MRT-<br />
Veränderungen häufigerer, behandelbarer<br />
Epilepsien auf dem Boden angeborener Stoffwechselstörungen<br />
(Vitamin-B 6 -abhängige<br />
Epilepsien, Serinsynthesedefekte, Kreatinmangelsyndrome,<br />
Glukosetransporterdefekt<br />
Typ-GLUT1-Defekt). Dr. Holger Lerche, Universitätsklinik<br />
für <strong>Neurologie</strong>, Tübingen, stellte<br />
das erweiterte Spektrum von GLUT1-Defekten<br />
vor. PatientInnen können neben therapieresistenten<br />
Anfällen mit Beginn im<br />
Säuglingsalter das Bild einer bewegungsinduzierten<br />
Dyskinesie (PED) zeigen. Dabei besteht<br />
keine Genotyp-Phänotyp-Korrelation,<br />
sodass vermutlich auch epigenetische Faktoren<br />
oder interagierende Gene eine zusätzliche<br />
Rolle spielen.<br />
West-Syndrom<br />
Dr. John Osborne, The Royal United Hospital,<br />
University of Bath, präsentierte Daten der<br />
UKISS-Studie zur Ätiologie bei 207 PatientInnen<br />
mit West-Syndrom. Dabei konnte bei<br />
61 % eine klare ätiologische Zuordnung erfolgen<br />
(63 % pränatal, 38 % perinatal, 8 %<br />
postnatal, 18 % andere Ursachen), bei 33 %<br />
blieb die Ätiologie unklar, und 6 % waren<br />
Univ.-Prof. Dr.<br />
Barbara Plecko<br />
Leiterin der Epilepsieambulanz,<br />
Universitätsklinik für<br />
Kinder- und Jugendheilkunde,<br />
Medizinische Universität Graz<br />
Priv.-Doz. Dr.<br />
Michael Feichtinger<br />
Tagungspräsident,<br />
Universitätsklinik für<br />
<strong>Neurologie</strong> Graz<br />
nicht umfassend abgeklärt. Dr. Wohlrab, Kinderspital<br />
der Universität Zürich, erläuterte die<br />
Datenlage zur Therapie bei West-Syndrom.<br />
Der Cochrane Report 2009, die Leitlinien der<br />
<strong>Gesellschaft</strong> für Neuropädiatrie sowie der US-<br />
Konsensus 2010 diskutieren, in unterschiedlicher<br />
Wertigkeit, den Einsatz von ACTH,<br />
Prednisolon sowie Vigabatrin. Die laufende<br />
KISS-Studie untersucht die Auswirkung dieser<br />
3 wichtigsten Behandlungsoptionen auf die<br />
Kognition. Die so genannten „neuen Antikonvulsiva“<br />
(Topiramat, Zonisamid, Levetiracetam)<br />
sowie die ketogene Diät zeigten in<br />
offenen Studien keine bessere Wirksamkeit<br />
im Hinblick auf Anfallsfreiheit und EEG-Normalisierung.<br />
Dr. Kurlemann, Universitätsklinik<br />
für Kinder- und Jugendheilkunde, Universität<br />
74
Münster, brachte Daten zur Diagnoseverzögerung<br />
und Outcome bei West-Syndrom,<br />
welches bei idiopathischen Formen deutlich<br />
besser ist als bei symptomatischen Formen.<br />
Epilepsiechirurgie<br />
im Kindesalter<br />
Dr. Czech, Universitätsklinik für Neurochirurgie<br />
Wien) und Dr. Martha Feucht, Universitätsklinik<br />
für Kinder- und Jugendheilkunde,<br />
Wien, stellten Ergebnisse von 30 PatientInnen<br />
mit funktioneller Hemisphärotomie aus<br />
einem Zeitraum der letzten 13 Jahre vor. In<br />
22 Fällen war das Ergebnis nach der Wieser-<br />
Klassifikation 1a. Größere Fallserien werden<br />
zeigen, ob funktionelle Verfahren zu einer<br />
Reduktion von postoperativen Liquorzirkulationsstörungen<br />
führen.<br />
Dr. Mitter, Universitätsklinik für Neuroradiologie<br />
Wien, erläuterte den Stellenwert neuer<br />
bildgebender Techniken, wie des Diffusion-<br />
Tensor-Imaging und der Traktografie für die<br />
Darstellung abnormer Faserbahnen im Rahmen<br />
kongenitaler Malformationen. Bei funktionellen<br />
Hemisphärotomien können dadurch<br />
sowohl präoperativ Hinweise auf eventuell<br />
vorhandene Funktionalität in der pathologischen<br />
Hemisphäre gewonnen werden als<br />
auch postoperativ der Effekt auf die struk -<br />
turelle Konnektivität des Gehirns beurteilt<br />
werden.<br />
Die Kombination verschiedenster bildgebender<br />
Verfahren im Sinne einer multimodalen<br />
Bildgebung wurde von der Gruppe von Dr.<br />
Seeck, Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong>, Universitätshospital<br />
Genf, vorgestellt. Vor allem<br />
PatientInnen mit extratemporaler Läsionslokalisation<br />
oder auch KandidatInnen für nichtläsionelle<br />
Epilepsiechirurgie profitieren von<br />
einer kombinierten Auswertung von SPECT,<br />
PET und fMRI. Dr. Polster, Krankenhaus Mara,<br />
Epilepsie-Zentrum Bethel-Bielefeld, Deutschland,<br />
referierte zur funktionellen, transkraniellen<br />
Dopplersonografie als nichtinvasives<br />
Testverfahren zur Sprachlateralisation bei Kindern<br />
und PatientInnen mit eingeschränkter<br />
Kooperationsfähigkeit.<br />
Amplitudenintegriertes EEG<br />
Für die Risikogruppe von Neugeborenen mit<br />
angeborener oder erworbener ZNS-Läsion<br />
stellt das aEEG ein nicht ersetzbares Tool zur<br />
Langzeitüberwachung auf neonatologischen<br />
Intensivstationen dar. Dr. Olischar und Dr. Klebermaas-Schrehof,<br />
Universitätsklinik für Kinder-<br />
und Jugendheilkunde Wien, gaben eine<br />
ausgezeichnete Einführung in Grundlagen<br />
und Limitationen dieser Ableitetechnik. 4-Kanalschreiber<br />
mit integriertem Video und Asservierung<br />
digitaler Originaldaten werden in<br />
der nächsten Gerätegeneration zu einer wesentlichen<br />
Verbesserung beitragen; zusätzlich<br />
sind Software-Programme zur automatisierten<br />
Anfallsdetektion in Entwicklung. Betont<br />
wurde die Verifizierung pathologischer Befunde<br />
im konventionellen EEG sowie die begrenzte<br />
Aussage und Erfahrung im Bereich<br />
extrem Frühgeborener.<br />
Dr. Borggraefe, Universitätskinderklinik, Dr.<br />
von Haunersches Kinderspital München,<br />
brachte Daten zum aEEG bei asphyktischen<br />
Neugeborenen. Hier scheint eine positive Korrelation<br />
von dauerhafter Beeinträchtigung und<br />
> 24 Stunden persistierendem pathologischem<br />
aEEG-Muster bei Normothermiebehandlung<br />
sowie bei > 36–48 h persistierendem pathologischem<br />
aEEG-Muster bei Hypothermiebehandlung<br />
zu bestehen. Dr. Osredkar, Department<br />
of Pediatrics, University Hospital Ljubljana,<br />
Slovenia, betonte, dass laut aktueller<br />
Datenlage vermutlich sowohl klinische als auch<br />
subklinische, neonatale Anfälle das Risiko einer<br />
späteren Epilepsie erhöhen. Dies untermauert<br />
die Sinnhaftigkeit eines aEEG-Langzeitmonitorings<br />
auf neonatologischen Intensivstationen.<br />
Therapieresistente Epilepsien<br />
im Kindesalter<br />
Der Effekt von Kortikoiden bei therapieschwierigen<br />
Epilepsien ist lange bekannt. Dr.<br />
Thomas Bast, Epilepsieklinik für Kinder und<br />
Jugendliche, Diakonie Kork, Deutschland,<br />
präsentierte Daten zur pulsatilen Kortisontherapie<br />
bei West-, Lennox-Gastaut-, Landau-<br />
Kleffner-Syndrom u. a. Dabei existiert keine<br />
allgemein gültige Empfehlung zur Wahl des<br />
Kortisonpräparates (z. B. Methylprednisolon<br />
vs. Dexamethason) oder der zeitlichen Abfolge<br />
der Zyklen (z. B. 5 Tage pro Monat, versus<br />
3 Tage pro Woche) sowie Gesamtdauer der<br />
Behandlung. Die begrenzte Datenlage lässt,<br />
zumindest in Einzelfällen, eine positive Wirkung<br />
bei insgesamt deutlich verminderten<br />
Nebenwirkungen erkennen.<br />
Dr. Martha Feucht, Universitätsklinik für Kinder-<br />
und Jugendheilkunde Wien, referierte<br />
zum Einsatz „neuer Antikonvulsiva“, deren<br />
Pharmakokinetik im Kindesalter und teils<br />
günstigerem Nebenwirkungsprofil. Bei Therapieresistenz<br />
sollte vor der Implantation<br />
eines Vagusstimulators auch der Einsatz der<br />
ketogenen Diät erwogen werden. Dr. Jörg<br />
Klepper, Kinderklinik Aschaffenburg, erläutert<br />
den Trend zu früherem Einsatz dieses<br />
Therapieverfahrens mit evtl. gelockerter<br />
Ratio von Fett/Kohlehydraten und Protein,<br />
bis hin zur Atkins-Diät (Ratio 1 : 1). Damit<br />
werden Akzeptanz und Compliance wesentlich<br />
erhöht. Der Vagusnervstimulator führt,<br />
so Dr. Sperner, Lübeck, bei ca. 10 % pädiatrischer<br />
PatientInnen zu Anfallsfreiheit, bei<br />
weiteren 30–50 % zu > 50 % Anfallsreduk -<br />
tion.<br />
n<br />
75
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
Neuropathischer Schmerz<br />
und dessen Erfassung<br />
Der neuropathische Schmerz ist ein chronischer, nichtmaligner Schmerzzustand, der durch Erkrankungen des<br />
zentralen und peripheren Nervensystems hervorgerufen wird. Er unterscheidet sich vom nozizeptiven Schmerz<br />
und von akuten Schmerzzuständen durch seine Pathophysiologie und Therapie.<br />
Definition und Epidemiologie<br />
Trotz der typischen klinischen Symptome des<br />
neuropathischen Schmerzes, die schon vor<br />
mehr als 160 Jahren genau beschrieben wurden,<br />
ringt die Wissenschaftswelt noch immer<br />
um eine valide Definition, was neuropathische<br />
Schmerzen eigentlich sind und welche<br />
pathophysiologischen Mechanismen dahinter<br />
stehen.<br />
1982 definierte die International Association<br />
for the Study of Pain (IASP) den neuropathischen<br />
Schmerz als eigene Schmerzentität folgendermaßen:<br />
„Schmerz, initiiert oder verursacht<br />
durch eine primäre Läsion oder Fehlfunktion<br />
des peripheren und zentralen<br />
Nervensystems“ („pain initiated or caused by<br />
Tab. 1: Art und Ort neuropathischer Schmerzsyndrome<br />
Periphere Ursachen fokal<br />
• Trigeminusneuralgie<br />
• Post-Zoster-Neuralgie<br />
• Post-Thorakotomie-Schmerz, Narbenschmerzen<br />
• Stumpfschmerz<br />
• Post-Diskektomie-Syndrom<br />
• CRPS (komplex-regionales Schmerzsyndrom) I (ohne Nervenläsion) und II (mit Nervenläsion)<br />
• Engpasssyndrome<br />
Periphere Ursachen generalisiert<br />
• Metabolisch/toxisch: - Diabetes mellitus<br />
- Alkohol<br />
- Hypothyreose<br />
- Vitaminmangel<br />
• Medikamente, infektiös oder postinfektiös, immunologisch<br />
Zentrale schmerzhafte Neuropathien<br />
• Hirninfarkt (insbesondere Thalamus, Hirnstamm)<br />
• Rückenmarksverletzungen<br />
• Multiple Sklerose<br />
„Mixed-Pain-Syndrome“<br />
• Chronische Radikulopathien<br />
• Tumorschmerzen<br />
a primary lesion or dysfunction in the nervous<br />
system“). Heutzutage ist offensichtlich, dass<br />
diese Definition nicht genau und nicht ausreichend<br />
ist, und so wurde 2008 eine neue<br />
Definition vorgeschlagen, die bis heute heftig<br />
diskutiert wird: „Schmerz, der als direkte<br />
Folge eines Schadens oder einer Erkrankung<br />
des somatosensorischen Systems entsteht“<br />
(„pain arising as a direct consequence of a<br />
lesion or disease affecting the somatosensory<br />
sys tem“).<br />
Ob diese neue Definition des neuropathischen<br />
Schmerzes im klinischen Alltag hilfreich<br />
in der Differenzierung von nozizeptiven und<br />
neuropathischen Schmerzen sein kann, muss<br />
sich erst noch zeigen. Neue diagnostische<br />
Hilfsmittel erleichtern jedoch die Diagnosefindung<br />
des neuropathischen Schmerzes.<br />
Trotzdem bleibt er immer noch eine diagnos -<br />
tisch-therapeutische Herausforderung.<br />
Die Anzahl an PatientInnen mit neuropathischen<br />
Schmerzen ist unklar, dürfte aber höher<br />
sein als bisher weithin angenommen. In<br />
Österreich leiden etwa 3–8 % der Bevölkerung<br />
an neuropathischen Schmerzen. Zudem<br />
sind 25–50 % aller Arztbesuche wegen<br />
Schmerzen mit dieser Form in Verbindung zu<br />
bringen.<br />
Nur etwa 30 % aller ÄrztInnen sehen sich<br />
in der Lage, neuropathische Schmerzen sicher<br />
zu diagnostizieren bzw. eine adäquate Therapie<br />
zu kennen. Nach Erhebungen der Pharmaindustrie<br />
weisen nur rund ein Drittel der<br />
im Zusammenhang mit neuropathischen<br />
Schmerzen verschriebenen Medikamente in<br />
dieser Indikation eine evidenzbasierte Wirksamkeit<br />
auf. Es ist davon auszugehen, dass<br />
neuropathische Schmerzen unterdiagnostiziert<br />
sind bzw. nicht, unzureichend oder<br />
falsch behandelt werden.<br />
Wie kommt man<br />
zur richtigen Diagnose?<br />
Univ.-Prof. Dr.<br />
Stefan Quasthoff<br />
Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong>,<br />
Medizinische Universität Graz<br />
Voraussetzung für die Entstehung dieser<br />
chronischen Schmerzform ist eine vorausgegangene<br />
Läsion peripherer/zentraler Nervenstrukturen,<br />
auch wenn diese nicht immer<br />
zweifelfrei nachgewiesen werden kann. Die<br />
Veränderungen im Nervensystem können sich<br />
80
verselbständigen, irreversibel und somit chronisch<br />
werden. Klinisch charakteristisch ist<br />
unter anderem ein Fortbestehen des Schmerzes<br />
nach Abheilen der Primärläsion, ob im<br />
peripheren (z. B. Engpasssyndrom, Polyneuropathie)<br />
oder zentralen (Zustand nach<br />
Schlaganfall) Nervensystem. Eine Auswahl<br />
häufiger neuropathischer Schmerzsyndrome<br />
zeigt die Tabelle 1.<br />
Charakteristisch ist das gleichzeitige oder alternierende<br />
Auftreten von „Positiv-“ und<br />
„Negativsymptomen“. Positivsymptome entstehen<br />
auf Grundlage einer Übererregbarkeit<br />
der Neurone und lassen sich in aller Regel<br />
mit einer spezifischen Therapie gut behandeln.<br />
Zu ihnen gehören spontane Schmerzen<br />
(brennender Dauerschmerz bzw. einschießende<br />
Schmerzattacken) bzw. nichtschmerzhafte<br />
Empfindungen (Ameisenlaufen, Parästhesien)<br />
sowie als (mechanisch, thermisch)<br />
evozierte Schmerzen (Hyperalgesie, Allodynie).<br />
Die Negativsymptome beruhen auf<br />
einem Verlust von Neuronenfunktionen und<br />
lassen sich wenig oder gar nicht zufrieden<br />
stellend beeinflussen. Hierzu zählen reduzierte<br />
Empfindungen: Hypästhesie, Hypalgesie<br />
bzw. Pallhypästhesie (Vibrationssinn) oder<br />
Thermhypästhesie.<br />
Einen zentralen diagnostischen Stellenwert<br />
besitzen sorgfältige Anamnese (Schmerzqualität,<br />
-intensität) und Exploration der PatientInnen.<br />
So können etwa positive und negative<br />
sensorische Symptome/Zeichen mit einfachen<br />
„Bedside“-Tests evaluiert werden, wie sie der<br />
deutsche „painDETECT“ und der französische<br />
„DN4“-Fragebogen darstellen (Abb. 1<br />
und 2). Mit diesen Befragungs- und Untersuchungshilfsmitteln<br />
lassen sich innerhalb<br />
von 5–10 Minuten die Verdachtsdiagnose<br />
neuropathischer Schmerz mit 80 % Sicherheit<br />
verifizieren.<br />
Eine zusätzliche apparative Diagnostik umfasst<br />
je nach Notwendigkeit elektrophysiologische<br />
Untersuchungen, quantitative sensorische<br />
Testung (QST), eine strukturelle Abklärung<br />
mittels Neuroimaging sowie weitere<br />
Untersuchungen (z. B. Labordiagnostik und<br />
Liquorpunktion). Die QST kann in einzelnen<br />
Fällen an Hand von so genannten Z-Profilen<br />
das Vorherrschen von Positiv- oder Negativ-<br />
Phänomen beschreiben und gegebenenfalls<br />
Abb. 1: DN4-Fragebogen: Wenn mehr als 4 Fragen mit „ja“ beantwortet<br />
wurden, dann ist mit ca. 80 % Sicherheit von einem neuropathischen<br />
Schmerzsyndrom auszugehen.<br />
die Wirksamkeit von Substanzklassen vorhersagen.<br />
Diese diagnostische Hilfe besteht jedoch<br />
nur in wenigen Zentren in Österreich.<br />
Besteht der Verdacht auf eine Small-Fibre-<br />
Neuropathie mit neuropathischem Schmerzsyndrom,<br />
sollte zur Verifizierung eine Hautbiopsie<br />
angestrebt werden, da alle anderen<br />
diagnostischen Maßnahmen keine sichere u<br />
Abb. 2: painDETECT-Fragebogen zur Erfassung neuropathischer Schmerzen<br />
81
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
Tab. 2: Medikamentöse Therapieoptionen bei neuropathischen Schmerzen<br />
Evidenz- Evidenz- Evidenz- Negative<br />
klasse A klasse B klasse C Evidenz<br />
PZN Amitriptylin Tramadol ret. NSAID<br />
Nortriptylin Morphin ret. Paracetamol<br />
Gabapentin Oxycodon Metamizol<br />
Pregabalin<br />
Capsaicin-Salbe<br />
Lidocain-Pflaster<br />
PNP Amitriptylin Maprotilin Citalopram Topiramat<br />
Nortriptylin Carbamazepin Fluoxetin Lamotrigin<br />
Venlafaxin Capsaicin-Salbe Paroxetin<br />
Duloxetin<br />
Oxcarbazepin<br />
Gabapentin<br />
Pregabalin<br />
Tramadol<br />
Oxycodon<br />
PTN<br />
PHAN<br />
HIV<br />
STR<br />
RM<br />
MS<br />
Diagnose liefern können. Es muss jedoch klar<br />
sein, dass es trotz aller diagnostischen Bemühungen<br />
beim neuropathischen Schmerz,<br />
so wie für alle anderen Schmerzarten auch,<br />
keine zu 100 % objektivierbaren Untersuchungsverfahren<br />
gibt.<br />
Relevante Komorbiditäten wie etwa Diabetes<br />
mellitus, Alkoholabusus, Niereninsuffizienz,<br />
Depression, Medikamenteneinnahme etc.<br />
müssen ebenfalls berücksichtigt werden.<br />
Therapie<br />
Tetrahydrocannabinol<br />
Amitriptylin<br />
Capsaicin-Salbe<br />
Gabapentin<br />
Tramadol<br />
Morphin<br />
Gabapentin<br />
Lamotrigin<br />
Amitriptylin<br />
Lamotrigin<br />
Gabapentin<br />
Pregabalin<br />
Lamotrigin<br />
PZN = Post-Zoster-Neuralgie; PNP = Polyneuropathie; PTN = posttraumatische Neuralgie; RM = Rückenmarkläsion;<br />
STR = Stroke; HIV = HIV-Neuropathie; PHAN = Phantomschmerz; MS = multiple Sklerose<br />
Quelle: AWMF online, Diagnostik und Therapie neuropathischer Schmerzen 2008<br />
Eine kausale Therapie der zugrunde liegenden<br />
Ursache ist das erste Ziel jeder Therapie<br />
(z. B. diabetische Polyneuropathie – Zuckereinstellung;<br />
Karpaltunnelsyndrom – Opera -<br />
tion). Aber gerade bei neuropathischen<br />
Schmerzen kann nur selten eine kausale Therapie<br />
eingeleitet werden. Oberste Prämisse<br />
ist in Kooperation mit den PatientInnen die<br />
Definition eines realistisch erreichbaren Therapiezieles.<br />
Eine Schmerzreduktion um > 50 %,<br />
Verbesserung von Schlaf- und Lebensqualität<br />
sowie Erhalt von Arbeitsfähigkeit und sozialer<br />
Aktivität sollten und können erfolgreich angestrebt<br />
werden, wobei rasche Therapie -<br />
erfolge innerhalb weniger Tage nur selten<br />
erreicht werden. Ein langfristiges Therapieschema<br />
sollte angestrebt werden, das sowohl<br />
pharmakologische wie auch nichtpharmakologische<br />
Behandlungsansätze (z. B. interventionelle/invasive<br />
Verfahren, TENS, psychologische<br />
bzw. physikalische Therapie) beinhaltet<br />
und dem chronischen Schmerzsyndrom gerecht<br />
wird.<br />
Pharmakologische Intervention<br />
Bei der pharmakologischen Behandlung des<br />
neuropathischen Schmerzsyndroms befinden<br />
sich TherapeutInnen, im Gegensatz zu anderen<br />
<strong>neurologisch</strong>en Erkrankungen oder<br />
Schmerzsyndromen, in der glücklichen Lage,<br />
eine breite Palette wirksamer Medikamente<br />
unterschiedlichster Wirksubstanzen zur Verfügung<br />
zu haben. Es besteht die Option, lokal<br />
oder systemisch mit Pflastern, oraler und i. v.<br />
Medikation zu therapieren. Fast alle Wirkstoffe<br />
haben eine sehr günstige NNT (number<br />
needed to treat), d. h., unter medikamentöser<br />
Therapie ist eine 50%ige Schmerzreduktion<br />
bei jedem 2. bis 4. Patienten zu erwarten.<br />
Absolute Schmerzfreiheit kann jedoch<br />
fast nie erzielt werden.<br />
Alle medikamentösen Optionen sind in Tabelle<br />
2 und 3 zusammengefasst, wobei die<br />
Nebenwirkungen ebenso aufmerksam beobachtet<br />
werden sollten wie ihre Wirksamkeit.<br />
Die Substanzauswahl orientiert sich nicht<br />
mehr ausschließlich an der zugrunde liegenden<br />
Ursache, vorherrschenden Symptomen<br />
und Zeichen, sondern an Alter und Komorbiditäten<br />
sowie Medikamenteninteraktionen<br />
und Verträglichkeit. Auch der Grundsatz,<br />
immer einer Monotherapie mit oralen Medikamenten<br />
den Vorzug vor einer intelligenten<br />
Kombination von peripher und zentral wirksamen<br />
Substanzen zu geben, gilt nicht mehr.<br />
Die Findung der richtigen Medikamentenkombination<br />
in der richtigen Dosierung ist<br />
individuell und abhängig von Wirkung und<br />
Nebenwirkungen. Wesentlich ist, der gewählten<br />
Substanz in ausreichender Dosierung ausreichend<br />
Zeit (mindestens 2–4 Wochen) zur<br />
Entfaltung ihrer Effektivität zu geben. Wesentliche<br />
weitere Faktoren für den Behandlungserfolg<br />
sind Geduld von PatientInnen<br />
und ÄrztInnen sowie ein konsequentes Therapiemonitoring.<br />
Therapie-Algorithmus<br />
Aus den derzeit vorliegenden kontrollierten<br />
Studien lassen sich folgende Empfehlungen<br />
in Abhängigkeit vom Alter ableiten:<br />
Mittel erster Wahl: Lokale Therapie: Lidocain-Pflaster<br />
(Versatis ® ), Capsaicin-Pflaster<br />
(Qutenza ® ).<br />
82
Tab. 3: Pragmatische Therapie bei neuropathischen Schmerzen<br />
Arzneistoff Startdosis und Wirksame Dosis Besonderheiten<br />
(Dosisintervall) (Maximaldosis)<br />
Antidepressiva<br />
TCA (5-HT, Na) 10–25 mg (0-0-1) 50–75 mg (150 mg/d) Cave: AV-Block, Glaukom,<br />
Amitriptylin (z. B. Saroten ® )<br />
Miktionsstörungen, Hypotension<br />
TCA (Na) 10–25 mg (1-0-0) 50–75 mg (150 mg/d) wie Amitriptylin<br />
Maprotilin (z. B. Ludiomil ® )<br />
SNRI<br />
NW: Übelkeit, Erbrechen<br />
Venlafaxin (z. B. Effectin ® ) 37,5 mg (1-0-1) 75–225 mg (375 mg/d)<br />
Duloxetin (z. B. Cymbalta ® ) 30 mg (1-0-0) 60 mg (120 mg/d)<br />
Antiepileptika (Ca-Kanal)<br />
Gabapentin (z. B. Neurontin ® ) 300 mg (0-0-1) 1200–2400 mg (3600 mg/d) NW: Müdigkeit, Schwindel, Ödeme,<br />
kaum Interaktionen<br />
Pregabalin (Lyrica ® ) 75 mg (1-0-1) 150 mg (600 mg/d) NW: Müdigkeit, Schwindel, Ödeme, kaum<br />
Interaktionen; lineare Plasmakonzentration,<br />
schneller Wirkeintritt<br />
Antiepileptika (Na-Kanal)<br />
Carbamazepin (z. B. Tegretol ® ) 100–200 mg (0-0-1) 600–1200 mg (1400 mg/d) effektiv bei Trigeminusneuralgie; häufige NW:<br />
Blutbildveränderungen, Leberschäden,<br />
Hyponatriämie, Medikamenteninteraktionen<br />
wegen Enzyminduktion<br />
Lamotrigin (Lamictal ® ) 25 mg (0-0-1) 100–200 mg (400 mg/d) gute Verträglichkeit<br />
Exantheme, extrem langsame Aufdosierung<br />
Opioid-Analgetika<br />
Tramadol ret. 50–100 mg (1-0-1) Titration (600 mg/d) Übelkeit, Hypotension<br />
Morphin ret. 10–30 mg (1-0-1) Titration (keine) Kumulation bei Niereninsuffizienz und Alter<br />
Oxycodon + Naloxon (Targin ® ) 10–20 mg (1-0-1) Titration (keine) duale Galenik (keine Laxantien nötig)<br />
Oxycodon ret. 10–20 mg (1-0-1) Titration (keine) duale Galenik<br />
Cannabinoide<br />
Tetrahydrocannabinol 2,5 mg (1-0-0) Titration (40 mg/d) NW: Tachykardie, Hypotension, Sedierung<br />
Topische Therapie<br />
Lidocain-Pflaster (z. B. Versatis ® ) 5 %/700mg 1-mal täglich bis 4 Pflaster täglich gute Wirkung auf Allodynie, keine systemischen<br />
mind. 12 Stunden Pause<br />
Nebenwirkungen, keine Interaktion<br />
Capsaicin-Salbe 0,025–0,075 % 3–4-mal täglich anfängliches Hautbrennen<br />
3–4-mal täglich<br />
(Qutenza ® ) 8 % einamlig einmalig nur in Schmerzzentren anzuwenden<br />
TCA = tri- bzw. tetrazyklisches Antidepressivum; SSRI = selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer; SNRI = Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer;<br />
zNDRI = zentraler Noradrenalin-Dopamin-Wiederaufnahmehemmer<br />
Quelle: AWMF online, Diagnostik und Therapie neuropathischer Schmerzen 2008<br />
Systemische Therapie: Antiepileptika (Gabapentin<br />
und Pregabalin), bestimmte Antidepressiva<br />
(SSNRI, z. B. Duloxetin; klassische Trizyklika,<br />
z. B. Amitriptylin); schwache wie starke<br />
Opioide (Tramadol und Oxycodon, Targin ® )<br />
– allein oder in Kombination sowohl untereinander<br />
als auch in Kombination mit topischen<br />
Therapieoptionen (z. B. Lidocain, Capsaicin).<br />
Mittel zweiter Wahl: Antiepileptika (Carbamazepin,<br />
außer bei Trigeminusneuralgie,<br />
hier Mittel der ersten Wahl: Oxcarbazepin,<br />
Lamotrigin), bestimmte Antidepressiva (Citalopram,<br />
Fluoxetin, Paroxetin), Cannabinoide<br />
und alle anderen noch experimentellen oder<br />
mit geringer Evidenz eingesetzten Substanzen<br />
(Tab. 2).<br />
u<br />
83
GESELLSCHAFTS-<br />
NACHRICHTEN<br />
SCHWERPUNKT<br />
NEUROLOGIE IN<br />
ÖSTERREICH<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
FÜR DIE PRAXIS<br />
Sinnvolle und aus Studien belegbare Kombinationen<br />
sind: Gabapentin und Morphin<br />
sowie Gabapentin und Oxycodon.<br />
Bei PatientInnen über 65 sollten keine anticholinerg<br />
wirksamen Substanzen wie z. B.<br />
Amitriptylin eingesetzt werden.<br />
Bei therapeutischem Versagen bzw. intole -<br />
rablen Nebenwirkungen sollte immer eine interdisziplinäre<br />
Schmerzambulanz oder Einrichtung<br />
zu Rate gezogen werden. Nur in<br />
diesem Zusammenhang sollten interventionelle<br />
bzw. invasive Verfahren (z. B. periphere<br />
Nervenblockaden, chemische bzw. physikalische<br />
Neurolysen, Schmerzpumpe, Stimulationssonden<br />
etc.) am Ende einer eskalierenden<br />
multidisziplinären Therapiebemühung gesehen<br />
werden.<br />
n<br />
Weitere Literatur:<br />
- Baron R, Birklein F, Maier C, Quasthoff S, C. Sommer C,<br />
Tölle TR, Wasner G, Ziegler D, Diagnostik und Therapie<br />
neuropathischer Schmerzen; Leitlinien der Deutschen<br />
<strong>Gesellschaft</strong> für <strong>Neurologie</strong> 10/2008<br />
- Baron R, Diagnostik und Therapie neuropathischer<br />
Schmerzen; Deutsches Ärzteblatt 2006; 104:2720–2729<br />
- Lunn MP, Hughes RA, Wiffen PJ, Duloxetine for treating<br />
painful neuropathy or chronic pain. Cochrane Database<br />
Syst Rev 2009; (4):CD007115<br />
- O'Connor AB, Dworkin RH, Treatment of neuropathic<br />
pain: an overview of recent guidelines. Am J Med 2009;<br />
122(10 Suppl):22–32<br />
- Quasthoff S, Therapie neuropathischer Schmerzen (DFP);<br />
CliniCum psy 2/05<br />
- Wiffen PJ, Collins S, McQuay HJ, Carroll D, Jadad A,<br />
Moore RA. Anticonvulsant drugs for acute and chronic<br />
pain. Cochrane Database Syst Rev 2010; (1):CD001133<br />
RESÜMEE<br />
Neuropathische Schmerzen sollten so früh und konsequent wie möglich behandelt werden<br />
– nicht zuletzt, um eine weitere Schmerzchronifizierung hintanzuhalten. Im Zentrum<br />
der medikamentösen Therapie stehen Antiepileptika, Antidepressiva, Opioide bzw. topische<br />
Antineuralgika.<br />
Fragebögen (painDETECT und DN4) erleichtern die klinische Diagnose „neuropathischer<br />
Schmerz“. Die quantitative sensorische Testung unterstützt die klinische Verdachtsdiagnose<br />
und kann möglicherweise die Wirksamkeit bestimmter Medikamente vorhersagen.<br />
Die Hautbiopsie ist neben der quantitativen sensorischen Testung Mittel der Wahl zur<br />
Diagnose einer Small-Fibre-Neuropathie.<br />
Das wirksame Medikament muss bei jedem/jeder einzelnen PatientIn durch Erprobung<br />
unter Berücksichtigung des individuellen Beschwerdebildes sowie der Nebenwirkungen<br />
und Kontraindikationen gefunden werden.<br />
Jeder Patient benötigt eine individuelle Dosierung in Abhängigkeit von Wirkung und<br />
Nebenwirkungen (sorgfältige Titration auch über einen längeren Zeitraum). Die Wirkungslosigkeit<br />
des Medikaments sollte erst nach 6–8 Wochen unter ausreichender Dosierung<br />
beurteilt werden. Einzeldosen und Applikationsintervalle müssen je nach Pharmakokinetik<br />
und Interaktionsprofil bemessen werden.<br />
Die Wirksamkeit von Lidocain-Pflastern als Add-on-Therapie bei der Post-Zoster-Neuralgie<br />
und anderen fokalen Neuropathien wurde nachgewiesen ().<br />
Hochdosiertes Capsaicin (8 %) als Pflaster ist nach einmaliger lokaler Anwendung<br />
wirksam bei Post-Zoster-Neuralgie ().<br />
Pregabalin ist bei peripheren und zentralen neuropathischen Schmerzen wirksam und<br />
hat einen guten Effekt auf die Komorbidität Schlafstörung ().<br />
Duale Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (SNRI; Venlafaxin, Duloxetin)<br />
sind bei der Therapie der schmerzhaften diabetischen Neuropathie wirksam ().<br />
Lamotrigin ist bei postischämischen zentralen Schmerzsyndromen und bei neuropathischen<br />
Schmerzen infolge einer kompletten oder inkompletten spinalen Läsion wirksam ().<br />
Neue Initiative „Chronischer Schmerz“<br />
Österreichische PatientInnen gehen im Durchschnitt<br />
erst mehr als drei Wochen nach<br />
Schmerzbeginn zum Arzt/zur Ärztin – so die<br />
Ergebnisse einer aktuellen, zum Teil unveröffentlichten<br />
Untersuchung. Aber gerade ein<br />
früher Behandlungsbeginn ist für den Behandlungserfolg<br />
von zentraler Bedeutung und<br />
kann auch der Chronifizierung von Schmerzen<br />
vorbeugen.<br />
Nach den Ergebnissen einer Umfrage mit fast 57.000 Befragten<br />
aus 5 EU-Ländern lässt häufig auch die Therapietreue zu wünschen<br />
übrig: 25 % der Patienten, denen ein rezeptpflichtiges Schmerzmittel<br />
verschrieben wurde, nehmen eine zu niedrige Dosis ein. Und:<br />
Schmerzen werden häufig unterbehandelt: 12 % der PatientInnen<br />
mit schweren Schmerzen nehmen nur ein nicht verschreibungspflichtiges<br />
Schmerzmedikament (OTC), 8 % wurden gar nicht behandelt.<br />
Rund 60 % der PatientInnen mit starken Schmerzen sind<br />
mit ihrer Behandlung unzufrieden.<br />
Die Ärzte Krone startet in Kooperation<br />
mit der Österreichischen<br />
Schmerzgesellschaft<br />
(ÖSG) unter ihrem Präsidenten,<br />
Univ.-Prof. Dr. Günther Bernatzky,<br />
Salzburg, sowie unter ihrem<br />
Past-Präsidenten, Univ.-Prof. Dr.<br />
Wilfried Ilias, Wien, eine große<br />
Informationsoffensive zum Thema „Chronischer Schmerz“. Sie wird<br />
begleitet sein von Berichten in diversen Fachmedien des MedMedia-Verlages<br />
sowie – für Laien aufbereitet – in „Krone Gesund“.<br />
Geplant sind auch eine Podiumsdiskussion im „Institut für Ethik<br />
und Recht in der Medizin“, eine „Punkte“-Ausgabe (das Fortbildungsmedium<br />
des MedMedia-Verlages) sowie ein Schmerzreport,<br />
in dem erhoben wird, wie viele ÖsterreicherInnen unter chronischen<br />
Schmerzen leiden. Der Arzneiombudsman wird sich mit Erstattungsproblemen<br />
der Schmerztherapie befassen. Die Aktivitäten werden<br />
auch auf www.netdoktor.at zu verfolgen sein.<br />
84
NEUROLOGIE AKTUELL<br />
Bewegungsstörungen<br />
Überprüfung der Eignung des<br />
Sniffin’Sticks-Riechtests in der Diagnostik<br />
des M. Parkinson<br />
SniffPD-Studie<br />
Es gilt nunmehr als gesichert, dass Geruchssinnstörungen<br />
den motorischen Störungen des Parkinson einige<br />
Jahre vorausgehen. Weiters ist die Wahrscheinlichkeit,<br />
einen M. Parkinson (MP) zu bekommen, erhöht, wenn<br />
eine Geruchssinnstörung vorliegt 1 . Die vorliegende<br />
multizentrische, klinische Studie stellte sich die Aufgabe,<br />
herauszufinden, ob mittels eines einfachen, ökonomisch<br />
günstigen und schnell von jedermann anwendbaren<br />
Geruchstests eine valide Aussage über das Vorliegen<br />
einer Alpha-Synukleopathie möglich ist.<br />
Die Alpha-Synukleopathien (idiopathischer M. Parkinson und Multisys -<br />
tematrophie) gehen mit einer Geruchssinnstörung einher, die bei den<br />
Nicht-Alpha-Synukleopathien mit ähnlichem klinischem Erscheinungsbild<br />
(progressive supranukleäre Parese, kortikobasale Degeneration und<br />
vaskuläre extrapyramidale Störungen) nicht beobachtbar sind. Die<br />
Unterscheidung wird dadurch verkompliziert, dass Geruchssinnstörungen<br />
bei fortschreitendem Alter häufiger vorkommen. Es sollte also die<br />
Frage beantwortet werden, ob aus dem Test eine zusätzliche Information<br />
über die Art der falschen Antwort möglich ist.<br />
Die Treffsicherheit (Spezifität und Sensitivität) von kombinatorischen<br />
Tests, die rein quantitativ ausgerichtet sind, also Erkennungsquoten<br />
summieren (z. B. Combined Odor Thresholds, Discrimination and Identification<br />
TDI), ist allerdings nicht hoch genug, um bei MP als verlässliches<br />
diagnostisches Instrument alleine eingesetzt werden zu können 2 .<br />
Im Routinebetrieb der letzten Jahre hat sich gezeigt, dass die Art der Verwechslung<br />
bei Parkinson-PatientInnen typisch ist: Es werden bestimmte<br />
Gerüche häufig mit bestimmten anderen verwechselt. Die Geruchssinnstörung<br />
ist den Betroffenen meist nicht bewusst.<br />
Da es also bei MP gewisse Hinweise auf selektive Geruchsdefizite gibt 3 ,<br />
sollte versucht werden, über einen qualitativen Ansatz, also über<br />
Geruchserkennungsmuster, die Treffsicherheit von MP-diagnostischen<br />
Riechtests zu verbessern 4 .<br />
Material und Methode<br />
Im Großraum Wien schlossen sich 10 Neurologinnen und Neurologen<br />
aus dem nieder gelassenen Bereich zu einer Studiengruppe * zusammen.<br />
Insgesamt wurden 276 PatientInnen in die Studie eingeschlossen. Die<br />
Aufteilung auf die 3 Kohorten war wie folgt:
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
Zusammengestellt für den<br />
Beirat Bewegungsstörungen:<br />
Prim. Dr. Dieter Volc 1 ,<br />
Dr. Albert Wuschitz 2 , Dr. Wolfgang Schimetta 3<br />
für das SniffPD-Studienteam*<br />
1 Neurologische Abteilung, Confraternität Wien;<br />
2 Facharzt für <strong>Neurologie</strong> und Psychiatrie, Wien;<br />
3 Abteilung für Angewandte Systemforschung und Statistik, Johannes-Kepler-Universität Linz<br />
Abb. 1: Stick 5 (Banane) – Einstufung des Geruchs als …<br />
• Kohorte MP: PatientInnen mit gesichertem<br />
Morbus Parkinson (diagnostiziert anhand<br />
der UK-Brain-Bank-Kriterien, z. T. auch<br />
mit Dopamintransporter-SPECT) n = 122<br />
(diese Kohorte gliederte sich, was Sub -<br />
typen betrifft, auf in 3,5 % Akinese,<br />
39,8 % Akinese-Rigor, 28,3 %<br />
Äquivalenz, 7,1 % Rigor und<br />
21,2 % Tremor).<br />
• Kohorte CD: PatientInnen mit zerebralen<br />
Durchblutungsstörungen ohne Parkinsonismus<br />
(Z. n. Insult oder Mikroangio -<br />
pathie), n = 61<br />
• Kohorte POMP: ProbandInnen ohne<br />
Morbus Parkinson und auch ohne andere<br />
<strong>neurologisch</strong>e Erkrankungen, n = 93<br />
Der handelsübliche Sniffin’-Sticks-Riechtest in<br />
der Ausführung Screening 12 (Burghart<br />
Medizintechnik, Wedel, Deutschland) kam<br />
zur Anwendung. Es ist ein einfach und ökonomisch<br />
anwendbares Instrument zur<br />
Geruchsschnelldiagnostik.<br />
%<br />
100 -<br />
90 -<br />
80 -<br />
70 -<br />
62,3<br />
60 -<br />
50 -<br />
40 -<br />
30 -<br />
20 - 15,6 13,1<br />
9,0<br />
10 -<br />
0 -<br />
MP<br />
0,0 4,9 93,4<br />
CD<br />
glichen. Der Grund lag in den relativ günstigen<br />
Ergebnissen der Überprüfung des diagnostischen<br />
Stellenwerts der Erkennung von<br />
MP-PatientInnen mittels des Sniffin’-Sticks-<br />
Riechtest in der Ausführung Screening 12.<br />
Damit verlagerte sich der Schwerpunkt<br />
begleitender Analysen auf die Gegenüberstellung<br />
von PatientInnen mit MP und PatientInnen<br />
ohne MP. Außerdem nivellierten sich<br />
durch diese Vorgangsweise einzelne bei der<br />
1,6 0,0 1,1<br />
96,8<br />
POMP<br />
2,2<br />
Kokos (falsch)<br />
Walnuss (falsch)<br />
Banane (richtig)<br />
Kirsche (falsch)<br />
Aufteilung auf 3 Kohorten festgestellte Baseline-Ungleichheiten<br />
(z. B. gegenüber MP<br />
höheres Alter bei CD und niedrigeres Alter<br />
bei POMP).<br />
Die leichte und rasche Anwendbarkeit und<br />
Sicherheit wurde von allen durchführenden<br />
NeurologInnen positiv bewertet.<br />
Die 12 verschiedenen Gerüche wurden sehr<br />
unterschiedlich wahrgenommen. Während<br />
Orange von Betroffenen (78,7 %) und nicht u<br />
Ergebnisse<br />
Abb. 2: Stick 10 (Ananas) – Einstufung des Geruchs als …<br />
Der Abschluss der Studie konnte als prüfplangemäß<br />
eingestuft werden, obwohl in der<br />
Kohorte POMP nur 78 % der angestrebten<br />
Einschlusszahl (n = 120) erreicht wurden. Die<br />
für die Diagnostik von MP relevante Kombination<br />
der (Kontroll-)Kohorten CD und POMP<br />
(Kohorte CD+POMP: n = 154) beinhaltete 86<br />
% der angestrebten Einschlusszahl (n = 180).<br />
In Abweichung zu den primären Festlegungen<br />
wurde eine Gegenüberstellung aller 3<br />
Kohorten (MP, CD, POMP) nur in Form einer<br />
Nebenanalyse deskriptiv vorgenommen,<br />
währenddessen wurden die Kohorten MP<br />
und CD+POMP zusätzlich auch statistisch ver-<br />
%<br />
100 -<br />
90 -<br />
80 -<br />
70 -<br />
60 -<br />
50 -<br />
40 -<br />
30 -<br />
20 -<br />
10 -<br />
0 -<br />
67,2<br />
36,9<br />
21,3 23,0 18,9<br />
6,6 11,5 14,8 7,5<br />
4,3 2,2<br />
MP CD POMP<br />
86,0<br />
Birne (falsch)<br />
Pflaume (falsch)<br />
Pfirsich (falsch)<br />
Ananas (richtig)<br />
87
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
NEUROLOGIE AKTUELL<br />
Bewegungsstörungen<br />
Abb. 3: ROC-Kurve für das Modell des MP-Diagnose-Tools<br />
1,0 -<br />
Spezifität<br />
0,8 -<br />
0,6 -<br />
0,4 -<br />
0,2 -<br />
0,0 -<br />
0,0 0,2 0,4 0,6 0,8 1,0<br />
1 – Sensitivität<br />
Abb. 4: Deutlicher Trend zu schlechteren Ergebnissen in der MP-Gruppe im<br />
Vergleich zu CD und POMP<br />
Sniffin’Sticks-Anzahl der korrekten Ergebnisse<br />
12 -<br />
10 -<br />
8 -<br />
6 -<br />
4 -<br />
2 -<br />
0 -<br />
49<br />
42<br />
155<br />
19<br />
--<br />
MP CD POMP<br />
Zuordnung zur Kohorte<br />
276<br />
187<br />
Betroffenen (80,3 % und 97,8 %) fast immer<br />
erkannt wurde, lag die Trennschärfe bei Fisch<br />
wesentlich höher. POMP (93,5 %) und CD<br />
(86,2 %) erkannten Fisch fast immer, während<br />
42,6 % der MP-PatientInnen den<br />
Geruch falsch als Käse, Brot oder Schinken<br />
bezeichneten. Ähnlich deutlich fiel das Ergebnis<br />
für Ananas aus, 86 % der Gesunden<br />
lagen richtig und nur 36,9 % der Parkinson-<br />
Betroffenen.<br />
Pfefferminz und Gewürznelke sind als intensive<br />
Gerüche und möglicherweise auch als<br />
Trigeminus-Reizstoffe aktiver und wurden zu<br />
einem hohen Prozentsatz richtig erkannt,<br />
wobei bei Pfefferminz in der Parkinson-Gruppe<br />
die Verwechslung mit Fichte bei 16,4 %<br />
auftrat, in der Kontrollgruppe nur bei 5 %.<br />
Reihenfolge: Praktisch bewährt sich das Vorgehen<br />
nach folgender Reihenfolge: Stick 1<br />
(Orange) wird von fast allen ProbandInnen<br />
richtig erkannt. Wird es nicht richtig erkannt,<br />
gibt das einen ersten Hinweis auf eine eventuelle<br />
Leitungsstörung, also eine Störung im<br />
Bereich der Luftwege zum Riechepithel.<br />
Ähnlich verhält es sich mit Stick 2 (Schuhleder),<br />
hier gibt die Variante „Rauch“ einen<br />
Hinweis auf Parkinson. Wird Zimt mit Honig<br />
oder Vanille verwechselt, ist das ein Hinweis<br />
auf die Parkinson-Gruppe. Pfefferminz wird<br />
von gesunden ProbandInnen fast immer richtig<br />
eingestuft. Banane (Abb. 1) schätzen ProbandInnen<br />
ohne Parkinson praktisch immer<br />
richtig ein, Parkinson-PatientInnen nur zu<br />
62,3 %. Die Verwechslung ist hier Kokos vor<br />
Walnuss und Kirsche, was bei gesunden ProbandInnen<br />
praktisch nicht vorkommt.<br />
Die Verwechslung von Zitrone mit Grapefruit<br />
ist naturgemäß auch bei ProbandInnen ohne<br />
Parkinson groß, jedoch geben diese nicht so<br />
häufig Apfel und Pfirsich als Geruchswahrnehmung<br />
an.<br />
Obwohl Lakritze als schwieriger Geruch eingestuft<br />
wird, kann er von der Kontrollgruppe<br />
doch in über 80 % richtig angegeben werden,<br />
während es bei MP nur 40 % sind.<br />
Ähnlich verhält es sich bei Kaffee, der in der<br />
Kontrollgruppe zu über 90 % richtig erkannt<br />
wird, während 26,3 % der Parkinson-PatientInnen<br />
den Geruch mit Zigaretten- oder Kerzenrauch<br />
verwechseln. Gewürznelke ist recht<br />
unspezifisch, aber Ananas (Abb. 2) liefert eine<br />
wichtige Abgrenzung. 86 % der Gesunden<br />
liegen richtig, aber nur 36,9 % der Parkinson-Betroffenen.<br />
Auch bei Rosen ist der Prozentsatz der richtigen<br />
Angaben bei Gesunden sehr hoch und<br />
liegt bei MP nur bei 59 %. Fisch ist sehr unangenehm<br />
für normale Nasen: Bei MP ist zwar<br />
die Dauer des Schnüffelns länger, die Angaben<br />
sind nur bei 57,4 % richtig im Vergleich<br />
zu 86,2 bzw. 93,5 in der Kontrollgruppe.<br />
Modell für MP-Diagnose: Bei der Überprüfung<br />
einer Eignung der Kombination von einzelnen<br />
Item-Ergebnissen als MP-Diagnose-<br />
Tool lieferte die logistische Regression (Vorwärtsselektion<br />
nach Wald) ein Modell mit folgender<br />
Treffsicherheit:<br />
88
• Sensitivität: 70,2 %<br />
(95%-KI: 61,3–78,2 %)<br />
• Spezifität: 84,2 %<br />
(95%-KI: 77,4–89,6 %)<br />
In dieses Modell wurden folgende Riechtest-<br />
Items aufgenommen:<br />
• Stick 03 Item 4 = Zimt<br />
(korrekte Geruchsvariante)<br />
• Stick 05 Item 3 = Banane<br />
(korrekte Geruchsvariante)<br />
• Stick 07 Item 1 = Lakritze<br />
(korrekte Geruchsvariante)<br />
• Stick 08 Item 4 = Kerzenrauch<br />
(falsche Geruchsvariante)<br />
• Stick 10 Item 4 = Ananas<br />
(korrekte Geruchsvariante)<br />
• Stick 11 Item 3 = Rosen<br />
(korrekte Geruchsvariante)<br />
Um den Stellenwert des Item-spezifischen<br />
Modells als MP-Diagnose-Tool zu dokumentieren,<br />
wurde dieses einem Ansatz, der die Anzahl<br />
an korrekt erkannten Geruchsvarianten für die<br />
Identifizierung von MP verwendet, gegenübergestellt.<br />
Für das letztgenannte Diagnose-Tool<br />
ergaben sich aus dessen ROC-Kurve (Receiver<br />
Operating Characteristic Curve: grafische Darstellung<br />
der Wertepaare von Spezifität und<br />
Sensitivität eines diagnostischen Tests für alle<br />
möglichen Cut-off-Punkte innerhalb des Messbereiches)<br />
folgende ausgewählte Alternativmodelle<br />
für eine MP-Erkennung:<br />
• Modell 1: Einstufung als MP bei nicht<br />
mehr als 7 korrekt erkannten Geruchs -<br />
varianten: Sensitivität = 55,7 %,<br />
Spezifität = 89,0 %<br />
• Modell 2: Einstufung als MP bei nicht<br />
mehr als 8 korrekt erkannten Geruchs -<br />
varianten: Sensitivität = 67,2 %,<br />
Spezifität = 85,1 %<br />
• Modell 3: Einstufung als MP bei nicht<br />
mehr als 9 korrekt erkannten Geruchs -<br />
varianten: Sensitivität = 78,7 %,<br />
Spezifität = 76,6 %<br />
u
NEUROLOGIE AKTUELL<br />
Bewegungsstörungen<br />
• Modell 4: Einstufung als MP bei nicht<br />
mehr als 10 korrekt erkannten Geruchs -<br />
varianten: Sensitivität = 88,5 %,<br />
Spezifität = 60,4 %<br />
Diskussion<br />
Das Studienhauptziel, einen Item-spezifischen<br />
Ansatz zur Erkennung von MP herauszuarbeiten<br />
(mit der Option, daraus ein MP-<br />
Früherkennungsinstrument zu entwickeln),<br />
kann anhand der Eckdaten des mittels logistischer<br />
Regression entwickelten Modells (Heranziehung<br />
von 6 Items, Sensitivität = 70,2 %,<br />
Spezifität = 84,2 %) als erreicht gelten.<br />
Die anhand von Trefferquoten berechneten<br />
besten Alternativmodelle (Modelle 2 und 3)<br />
sind, was die MP-Erkennung anbelangt, in<br />
der Größenordnung des Item-spezifischen<br />
Modells angesiedelt.<br />
Der Trefferquotenansatz bietet kein nennenswertes<br />
Potenzial für weitere Verbesserungen<br />
der Treffsicherheit (relativ hoher „Preis“ für<br />
eine relevant über die Kennwerte des Itemspezifischen<br />
Modells hinausgehende Erhöhung<br />
von Spezifität oder Sensitivität durch<br />
Cut-off-Verschiebungen – siehe Alternativmodelle<br />
1 und 4: Erhöhung der Spezifität auf<br />
89 %, Verringerung der Sensitivität auf 56<br />
%; Erhöhung der Sensitivität auf 89 % Verringerung<br />
der Spezifität auf 60 %). Dies liegt<br />
gut im gleichen Rahmen wie bei anderen<br />
Untersuchungen mit ähnlichem Ansatz 5, 6 .<br />
Jahrestagung der<br />
Österreichischen Parkinson <strong>Gesellschaft</strong><br />
13. bis 15. Oktober 2011<br />
Congress Center Villach<br />
Information:<br />
Österreichische Parkinson <strong>Gesellschaft</strong><br />
Skodagasse 14–16, 1080 Wien<br />
www.parkinson.at<br />
Auch eine Kombination von Trefferquoten-<br />
Modellen mit dem Item-spezifischen Modell<br />
bringt trotz leichter modellspezifischer Unterschiede<br />
bei der Identifizierung von MP-<br />
PatientInnen (Indikator für die generelle Sinnhaftigkeit<br />
eines Kombinationsversuchs) keine<br />
ersichtlichen Vorteile (keine Erhöhung der<br />
Spezifität ohne nahezu gleich große Senkung<br />
der Sensitivität und umgekehrt).<br />
Limitationen: Zusätzlich bestehen die folgenden<br />
allgemeinen Limitationen bei der<br />
Inter pretation der vorliegenden Studienergebnisse:<br />
a) Es ist (zumindest derzeit) keine Analyse verfügbar,<br />
die aussagt, ob die Treffsicherheit der<br />
untersuchten Modelle (Trefferquoten- und<br />
Item-spezifisch) bei allen MP-PatientInnen<br />
relativ gleichartig besteht, oder ob vielleicht<br />
gewisse Subgruppen verstärkt für die insgesamt<br />
charakteristischen Geruchserkennungsdefizite<br />
verantwortlich sind.<br />
b) Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass<br />
sich im Kontrollpersonenkollektiv Individuen<br />
mit MP im klinisch unerkannten Frühstadium<br />
befunden haben, für das ebenfalls bereits<br />
eine Geruchsstörung vermutet wird.<br />
c) Die Studienergebnisse, die nur bei klinisch<br />
manifestiertem MP gewonnen werden konnten,<br />
geben keine Auskunft darüber, ob die<br />
identifizierten Diagnoseinstrumente auch bei<br />
subklinischem MP-Frühstadium „greifen“.<br />
Die Akzeptanz des Sniffin’-Sticks-Riechtests ist<br />
als gut einzustufen, der einzige Kritikpunkt<br />
am Device per se betraf die Geruchssorte<br />
„Lakritze“, allerdings auch nur mit marginaler<br />
Intensität und mutmaßlich fehlender Notwendigkeit<br />
von Konsequenzen. Sicherheits- oder<br />
Handhabungsmängel sind nicht beschrieben.<br />
Resümee<br />
Zusammenfassend lässt sich postulieren (Abb. 4),<br />
dass die Identifizierung von MP durch<br />
Geruchserkennungsmuster (Riechtest-Itemspezifisch)<br />
möglich ist und zumindest genauso<br />
treffsicher verläuft wie durch die Inzidenz<br />
an korrekten Geruchserkennungen (Trefferquoten-spezifisch).<br />
Die Beschäftigung mit<br />
dem Schnelltest lässt sich rasch erlernen und<br />
ist einfach im Rahmen der <strong>neurologisch</strong>en<br />
Untersuchung durchführen. In Zukunft wird<br />
es noch wichtiger sein, M. Parkinson früh<br />
oder präklinisch zu erkennen, weshalb Biomarker<br />
und einfache Screening-Methoden<br />
etabliert werden müssen 7 .<br />
n<br />
* SniffPD-Studienteam:<br />
Die Studie wurde in folgenden Ordinationen durch -<br />
geführt: Helene Eckelhart, Notburga Fast, Monika<br />
Reichenauer, Andrea Taut, Caroline Thun-Hohenstein,<br />
Claudia Wiegand, Charles Allen, Günther Possnigg,<br />
Albert Wuschitz und Dieter Volc<br />
Organisatorische Betreuung: Nicole Halasek,<br />
Karina Ludwig, Alexandra Dunkler<br />
Statistik: Wolfgang Schimetta, Werner Pölz<br />
(Johannes-Kepler-Universität Linz)<br />
1 Haehner A, Hummel T, Reichmann H, Olfactory<br />
Dysfunction as a Diagnostic Marker for Parkinson’s<br />
Disease. Expert Rev Neurother 2009; 1773–1779<br />
2 Hummel T, Sekinger B, Wolf S, Pauli E, Kobal G,<br />
„Sniffin’Sticks“: Olfactory performance assessed by<br />
the combined testing of odor identification, odor<br />
discrimination and olfactory threshold. Chem Senses<br />
1997; 22:39–52<br />
3 Daum RF, Sekinger B, Kobal G, Lang CJ, Olfactory<br />
testing with ‘sniffin’ sticks’ for clinical diagnosis of<br />
Parkinson disease. Nervenarzt 2000; 71: 643–650<br />
4 Rodríguez-Violante M, Lees AJ, Cervantes-Arriaga A,<br />
Corona T, Silveira-Moriyama L, Use of smell test identi -<br />
fication in Parkinson’s disease in Mexico: a matched<br />
case-control study. Mov Disord 2011; 26(1):173–6<br />
5 Deeb J, Shah M, Muhammed N, Gunasekera R, Gannon<br />
K, Findley LJ, Hawkes CH, A basic smell test is as<br />
sensi tive as a dopamine transporter scan: comparison<br />
of olfaction, taste and DaTSCAN in the diagnosis of<br />
Parkinson’s disease. QJM 2010; 103(12):941–52<br />
6 Wolfensberger M, Schnieper I, Welge-Lüssen A, Sniffin’<br />
Sticks: a new olfactory test battery. Acta Otolaryngol<br />
2000 Mar; 120(2):303–6<br />
7 Savica R, Rocca WA, Ahlskog JE, When does Parkinson<br />
disease start? Arch Neurol 2010; 67(7):798–801<br />
90
NEUROLOGIE AKTUELL<br />
Schlafstörungen<br />
Zusammengestellt im Namen<br />
des Beirats „Schlafstörungen“:<br />
Priv.-Doz. Dr.<br />
Birgit Frauscher<br />
Univ.-Prof. Dr.<br />
Birgit Högl<br />
Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong>, Medizinische Universität Innsbruck<br />
Neuer Durchbruch in der Genetik des RLS<br />
Das Restless Legs Syndrom (RLS) ist eine häufige <strong>neurologisch</strong>e Erkrankung<br />
mit einer Prävalenz von bis zu 10 % in der allgemeinen Bevölkerung.<br />
Ungefähr 3 % benötigen eine RLS-spezifische medikamentöse<br />
Therapie. PatientInnen mit RLS beklagen vorwiegend abends und in<br />
der Nacht auftretende Missempfindungen im Bereich der unteren Extremitäten,<br />
vergesellschaftet mit Bewegungsdrang, und erfahren eine<br />
deutliche Besserung ihrer Beschwerden auf Bewegung. Bei den meisten<br />
PatientInnen kann ein guter Therapieerfolg mit dopaminergen Subs -<br />
tanzen erzielt werden, von denen in Europa Levodopa, Pramipexol,<br />
Ropinirol und Rotigotin zugelassen sind.<br />
Seit vielen Jahren ist bei RLS eine familiäre Häufung bekannt. Da RLS<br />
keine monogenetische Erkrankung ist, erbrachten erstmals 2007 genomweite<br />
Assoziationsstudien den direkten Nachweis von genetischen<br />
Polymorphismen bei idiopathischem RLS (MEIS1-Gen auf Chromosom<br />
2p, BTBD9-Gen auf Chromosom 6p, MAP2K5/LBXCOR1-Gen auf Chromosom<br />
15q). Als 4. Polymorphismus wurde unter Mitwirkung unserer<br />
Arbeitsgruppe PTPRD auf Chromosom 9p entdeckt.<br />
Entscheiden<br />
Narkolepsie-PatientInnen anders?<br />
Die Narkolepsie mit Kataplexie ist eine immer noch häufig unterdiagnostizierte<br />
Erkrankung, deren Prävalenz bei 0,5 % liegt.<br />
Ihre Kardinalsymptome sind erhöhte Tagesschläfrigkeit mit imperativen<br />
Einschlafattacken, Kataplexien, hypnagoge Halluzinationen<br />
und Schlafparalysen. Bei der Narkolepsie mit Kataplexie<br />
handelt es sich um eine autoimmunologische Erkrankung, bei<br />
der es zum Untergang von Hypocretin-1 produzierenden Zellen<br />
im dorsolateralen Hypothalamus kommt. Hypocretin hat nicht<br />
nur eine wichtige Funktion in der Schlaf-wach-Regulation, sondern<br />
auch für die Nahrungsaufnahme, Regulation von Emotionen<br />
und kognitiven Funktionen sowie in der Schmerzverarbeitung.<br />
Weiters beeinflusst das Hypocretin-System das dopaminerge Sys -<br />
tem, welches Veränderungen in der Verarbeitung von Belohnung<br />
und beim Treffen von Entscheidungen vermuten lässt.<br />
Studie: Das Ziel der vorliegenden genetischen Studie 1 derselben Kollaborationspartner<br />
aus Europa, Kanada und den USA unter Leitung von<br />
Frau Prof. Winkelmann bestand darin, in einem großen PatientInnenkollektiv<br />
von 4857 RLS-PatientInnen und 7280 Kontrollen genetische Sequenzvarianten<br />
(SNP) in einer genomweiten Assoziationsstudie zu untersuchen.<br />
Im explorativen Teil der Untersuchung wurde die DNA von 922<br />
PatientInnen (davon 124 aus Österreich) und 1526 Kontrollen analysiert.<br />
In die Replikation ging die DNA von 3935 PatientInnen (davon 288 aus<br />
Österreich) und 5754 Kontrollen ein. Neben den bereits bekannten Polymorphismen<br />
wurden 2 weitere Loci entdeckt. Es handelt sich dabei um<br />
eine Intergen-Region auf Chromosom 2p14 und TOX3 auf Chromosom<br />
16q12.1. TOX3 ist in der Regulierung zerebraler Aktivität involviert. Es<br />
ist bekannt, dass eine Zunahme von TOX3 neuronale Zellen vor dem Zelltod<br />
bewahrt. Der genaue Zusammenhang zwischen TOX3 und RLS ist<br />
derzeit noch nicht vollständig bekannt.<br />
Kommentar: Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die bisher<br />
größte genomweite Assoziationsstudie bei idiopathischem RLS, die neben<br />
den bekannten Polymorphismen 2 weitere Genloci, die mit RLS assoziiert<br />
sind, entdeckte. TrägerInnen der genetischen Risikovarianten haben eine<br />
erhöhte Wahrscheinlichkeit, in ihrem Leben RLS zu entwickeln. Eine der<br />
in dieser Studie neu entdeckten Varianten, TOX3, spielt eine Rolle in<br />
der Regulierung zerebraler Aktivität. Insgesamt liefern Ergebnisse der<br />
vorliegenden Studie neue Erkenntnisse zu Entstehungsmechanismen des<br />
RLS. Potenzielle Therapieimplikationen bleiben abzuwarten.<br />
n<br />
Studie: In die aktuelle Studie 1 wurden 21 PatientInnen mit<br />
Narkolepsie-Kataplexie und 58 ProbandInnen eingeschlossen.<br />
PatientInnen sammelten weniger Informationen, tolerierten<br />
mehr Unsicherheit, ihre Entscheidungen wurden weniger<br />
durch Belohnung beeinflusst und sie behielten ihre ungünstigen<br />
Entscheidungen trotz negativer Rückmeldung bei.<br />
Keine Unterschiede zeigten sich in der kognitiven Flexibilität,<br />
im Regellernen und -umkehren, im Arbeitsgedächtnis und in<br />
der räumlichen Planungsfähigkeit. Zusammenfassend zeigten<br />
Narkolepsie-PatientInnen sehr gute Leistungen in verschiedenen<br />
neuropsychologischen Domänen, während spezifische<br />
Funktionen (Informationssuche, Treffen von Entscheidungen<br />
unter Unsicherheit) verglichen mit ProbandInnen unterschiedlich<br />
waren.<br />
Kommentar: Das Vorhandensein von kognitiven Defiziten bei<br />
PatientInnen mit Narkolepsie-Kataplexie wird kontroversiell diskutiert.<br />
Die vorliegende Studie konnte erstmals zeigen, dass<br />
PatientInnen mit Narkolepsie-Kataplexie in den meisten Bereichen<br />
sehr gute neuropsychologische Leistungen erzielen, während<br />
sich wenige spezifische Unterschiede, insbesondere in der<br />
Informationssuche und im Treffen von Entscheidungen unter<br />
Unsicherheit, ergaben. Ob die nachgewiesenen Unterschiede<br />
von Relevanz für den Alltag von Narkolepsie-PatientInnen sind,<br />
bedarf weiterer Untersuchungen.<br />
n<br />
1 Winkelmann J et al., Genome-wide association study identifies novel Restless Legs-Syndrome<br />
susceptibility Loci on 2p14 and 16q12.1. PLoS Genet 2011; 7:e1002171<br />
1 Delazer M et al., Executive functions, information sampling, and decision<br />
making in narcolepsy with cataplexy. Neuropsychology 2011; 25:477–87<br />
94
NEUROLOGIE AKTUELL<br />
Schlaganfall<br />
Zusammengestellt für den Beirat „Schlaganfall“:<br />
Univ.-Doz. Dr. Hans-Peter Haring<br />
Neurologische Abteilung, Landesnervenklinik Wagner-Jauregg, Linz<br />
Endovaskuläres Schlaganfallmanagement<br />
Wozu endovaskulär<br />
intervenieren?<br />
Tab.: Studien zur endovaskulären Schlaganfallbehandlung<br />
Die endovaskuläre Schlaganfallbehandlung<br />
ist eine Reaktion auf die Tatsache, dass die<br />
Rekanalisationspotenz intravenöser Thrombolyse<br />
dann an ihre Grenzen stößt, wenn es<br />
sich um proximal gelegene und/oder langstreckige<br />
Gefäßverschlüsse handelt.<br />
Die akute Schlaganfalltherapie mittels intravenöser<br />
rTPA-Applikation gilt dabei als evidenzbasierter<br />
Standard. Die Methode ist seit<br />
Mitte der 1990er Jahre eingeführt, in ihrem<br />
Nutzen-Risiko-Verhältnis klar definiert und in<br />
jeder <strong>neurologisch</strong>en Standardabteilung problemlos<br />
und kostengünstig umsetzbar.<br />
Trotzdem wurde bereits vor mehr als 20 Jahren<br />
mittels intraarterieller (endovaskulärer)<br />
Applikation thrombolytischer Substanzen experimentiert.<br />
2004 wurde der erste endovaskuläre<br />
Katheter (MERCI-Katheter) von der<br />
FDA für die akute Schlaganfallintervention<br />
zugelassen. Seither entwickelte sich die Kathetertechnologie<br />
rasant weiter. Gegenwärtig<br />
werden bevorzugt Absaugsysteme (z. B. Penumbra-Katheter)<br />
oder transientes Thrombenstenting<br />
(z. B. Solitaire-Stent, Trevo-Stent)<br />
eingesetzt.<br />
Intravenös versus endovaskulär<br />
Unabhängig von der verwendeten Methode<br />
fokussiert die akute Schlaganfalltherapie auf<br />
zwei therapeutisch beeinflussbare Parameter:<br />
1. Rekanalisation<br />
2. Rekanalisation so rasch wie möglich<br />
In diesem Anspruch sind intravenöse und endovaskuläre<br />
Therapie keine konkurrierenden,<br />
sondern komplementäre Therapien.<br />
Die Mehrheit der distal gelegenen Gefäßverschlüsse<br />
ist unumstritten eine Domäne der<br />
intravenösen rTPA-Applikation.<br />
Bei proximalen Verschlüssen ist die i. v.<br />
Thrombolyse hingegen mit Rekanalisationsraten<br />
zwischen 10 % (Karotis-T-Gabel) und<br />
30–40 % (M1-Segment, A. basilaris) der endovaskulären<br />
Behandlung mit konstant berichteten<br />
Rekanalisationsraten bis über 80 %<br />
(M1-Segment, A. basilaris) unterlegen.<br />
Die effiziente Rekanalisation übersetzt sich<br />
aber nicht 1 : 1 in entsprechendes klinisches<br />
Studie Jahr n Bas- Technik % % mRS %<br />
nihss<br />
TICI 2–3 2–3/90tg Mort/90tg<br />
PROACT 1 1999 180 17 Ia prourokin. 66 40 25<br />
MultiMERCI 2 2007 80 19 IV + Mercikath. 69 36 34<br />
IMS 2 3 2007 81 19 IV + IA 60 46 16<br />
PENUMBRA 4 2009 125 18 Absaugkath. 82 25 32<br />
RECANALISE 5 2009 53 22 IV + Stent 87 57 17<br />
SARIS 6 2009 20 14 Stent 100 60 0<br />
SOLITAIRE 7 2010 20 19 Stent 90 45 0<br />
1 Furlan A et al., JAMA 1999; 282:2003–11; 2 Flint AC et al., Stroke 2007; 38:1274–80; 3 IMS 2 Trial Investigators,<br />
Stroke 2007; 38:2127–35; 4 Penumbra Pivotal Stroke Trial Investigators; Stroke 2009; 40:2761–68; 5 Mazighi M<br />
et al., Lancet Neurology, 2009; 8:802–09; 6 Lewy EI et al., Stroke 2009; 40:3552–56; 7 Castano C et al., Stroke 2010;<br />
41:1836–40<br />
Outcome. Ein Hauptgrund dafür liegt in der<br />
weitaus höheren Behandlungskomplexität.<br />
Sekundärtransport an spezialisierte Zentren,<br />
logistischer Organisationsaufwand und die<br />
anspruchsvolle endovaskuläre Technik an sich<br />
benötigen Zeit. Dieser „(Zeit-)Preis“ ist dem<br />
Rekanalisationsvorteil in einem wissenschaftlich<br />
noch nicht definierten Ausmaß gegenzurechnen.<br />
Evidenzlage<br />
Gegenwärtig ist die endovaskuläre Schlaganfalltherapie<br />
ein experimentelles Verfahren<br />
(Ausnahme: intraarterielle Prourokinase innerhalb<br />
von 6 Stunden).<br />
Ungeachtet dessen ist der Therapieansatz pathophysiologisch<br />
plausibel. Eine Reihe nicht<br />
randomisierter klinischer Studien mit unterschiedlichen<br />
Techniken und Designs belegten<br />
wiederholt die hohe Rekanalisationspotenz.<br />
Die divergierenden klinischen Erfolge korrespondieren<br />
dabei mit den uneinheitlich langen<br />
therapiefreien Intervallen. Hohe Rekanalisationsraten<br />
konnten dann nicht in entsprechendes<br />
Outcome übersetzt werden, wenn<br />
das therapiefreie Intervall zu lange (median<br />
> 6 Stunden) war (Multi MERCI, Penumbra).<br />
Dieser Befund untermauert einmal mehr, dass<br />
– unabhängig von der eingesetzten Technik<br />
– Rekanalisation nur dann erfolgreich ist,<br />
wenn sie rasch gelingt.<br />
Infrastruktur<br />
Unbestritten verursacht das endovaskuläre<br />
Schlaganfallmanagement einen erheblichen<br />
logistischen Aufwand und konsumiert personelle,<br />
materielle und finanzielle Ressourcen.<br />
Noch mehr als bereits gegenwärtig, erfordert<br />
jeder Eingriff eine sorgfältig abgestimmte Kooperation<br />
zwischen <strong>Neurologie</strong>, Neuroradiologie<br />
und Anästhesie.<br />
u<br />
95
NEUROLOGIE AKTUELL<br />
Schlaganfall<br />
Die aufwändige prozedurale Logistik einerseits<br />
und die limitierte Fallfrequenz andererseits<br />
(nur ca. 20 % proximale Gefäßverschlüsse)<br />
sind Argumente für die Etablierung regionaler<br />
Interventionszentren.<br />
Der aktuellen Entwicklung Folge tragend hat<br />
sich zwischenzeitlich in nahezu jedem österreichischen<br />
Bundesland ein Interventionszentrum<br />
etabliert. Zusätzlich scheint die Schaffung<br />
abteilungsübergreifender Kooperationsstrukturen<br />
zielführend zur Minimierung des<br />
therapiefreien Intervalls.<br />
In Oberösterreich ist seit Jänner 2011 ein<br />
Interventionsnetzwerk aktiv. Um individuelle<br />
Therapieoptionen möglichst zu standardisieren,<br />
wurde auf Basis klinischer und radiologischer<br />
Befunde (NIHSS, Bildgebung<br />
vor Ort) ein Schlaganfall-Szenarienmodell (1<br />
bis 4) erarbeitet. Anhand dessen wird die<br />
Entscheidung zwischen konventioneller i. v.<br />
Lyse vor Ort oder Sekundärtransport zum<br />
Interventionszentrum getroffen. Im Zentrum<br />
erfolgt in Kooperation mit der Anästhesiologie<br />
das periprozedurale Management.<br />
Nach abgeschlossener Behandlung<br />
wird der/die PatientIn ehestmöglich rücktransferiert<br />
(üblicherweise innerhalb 48<br />
Stunden). Die Behandlungsdaten werden in<br />
einem prospektiven Register erfasst, halbjährlich<br />
werden „Netzwerktreffen“ abgehalten.<br />
Mit dieser Struktur gelang es, die<br />
monatliche Interventionsfrequenz von 2,2<br />
(2009 und 2010) auf 7 Fälle (Jänner bis August<br />
2011) zu verdreifachen. Hohe Interventionsfrequenzen<br />
in standardisierten Prozessen<br />
führen zu einer signifikanten Verkürzung<br />
des therapiefreien Intervalls und<br />
damit zu einer höheren Behandlungsqua -<br />
lität.<br />
n<br />
NEUROLOGIE AKTUELL<br />
Schmerz<br />
Zusammengestellt im Namen des Beirats „Schmerz“:<br />
Prim. Priv.-Doz. Dr. Christian Lampl<br />
Abteilung für Allgemeine <strong>Neurologie</strong> und Schmerzmedizin, Spital der Barmherzigen Brüder, Linz<br />
EUROlight-Studie<br />
Kopfschmerzen und Migräne –<br />
unterschätzt und vernachlässigt<br />
Kopfschmerzen und Migräne sind weit verbreitet,<br />
werden jedoch nicht ausreichend<br />
anerkannt, diagnostiziert und behandelt.<br />
Darauf weist die Weltgesundheitsorganisation<br />
(WHO) in einem neuen Bericht hin,<br />
der das vom Centre de Recherche Public<br />
de la Santé, Luxemburg geleitete europäische<br />
Forschungsprojekt „EUROlight“ ergänzt.<br />
Im Rahmen eines WHO-Workshops wurden<br />
im Mai 2011 die ersten Ergebnisse der groß<br />
angelegten EUROlight-Studie präsentiert,<br />
welche die Prävalenz von Kopfschmerzen und<br />
Migräne sowie Behandlung, Lebensqualität<br />
der Patienten und sozioökonomischen Auswirkungen<br />
untersuchte und von 16 Ländern<br />
und 25 Institutionen unterstützt wurde.<br />
In Europa leiden 47 % der Erwachsenen unter<br />
Kopfschmerzen oder Migräne, 10 % haben<br />
wiederkehrende oder ständig beeinträchtigende<br />
Kopfschmerzen. Migräne wird nicht<br />
nur angesichts ihrer großen Verbreitung unzulänglich<br />
behandelt, sondern verursacht<br />
auch beträchtliche Kosten: In Europa werden<br />
die jährlichen (direkten und indirekten) Kos -<br />
ten auf 155 Millionen Euro geschätzt, 190<br />
Millionen Arbeitstage gehen jedes Jahr aufgrund<br />
von Migräne verloren. Im WHO-Workshop<br />
wurde hervorgehoben, dass nur bei<br />
einer Minderheit der Betroffenen eine angemessene<br />
Diagnose gestellt wird. Weltweit behandeln<br />
ca. 50 % der Migränebetroffenen<br />
ihre Migräne selbst, ohne sich an einen<br />
Arzt/eine Ärztin zu wenden. Nur 10 % konsultieren<br />
NeurologInnen, wobei die Zahlen in<br />
Afrika und Südostasien noch niedriger sind.<br />
E-TEACCH: Im Anschluss an das EUROlight-<br />
Projekt werden die Bemühungen fortgesetzt,<br />
die medizinische Betreuung von MigränepatientInnen<br />
zu verbessern. Ein neues,<br />
auf 3 Jahre angelegtes Projekt hat zum Ziel,<br />
das erste Ausbildungstool „E-TEACCH (Electronic<br />
– Educational, Training and Assessment<br />
Competence Center for Headache)“<br />
zu ent wickeln.<br />
Für die Entwicklung eines solchen elektronischen<br />
Ausbildungszentrums wurde<br />
wieder um Unterstützung durch wissenschaftliche<br />
Organisationen, Patienten -<br />
organisationen und Partner von EUROlight<br />
angesucht, damit ÄrztInnen in ihrer Behandlungs-<br />
und BeraterInnenrolle unterstützt<br />
und PatientInnen geschult werden<br />
können.<br />
n<br />
96
NEUROLOGIE AKTUELL<br />
Neuromuskuläre Erkrankungen<br />
Biennial Meeting of the<br />
Peripheral Nerve Society 2011<br />
Die Peripheral Nerve Society (PNS) ist eine internationale Organisation, die sich der Erforschung von<br />
Erkrankungen des peripheren Nervensystems widmet. In 2-Jahres-Abständen werden internationale<br />
Treffen veranstaltet, deren Ziel es ist, klinische Expertise mit Erkenntnissen der Grundlagenforschung<br />
zusammenzuführen.<br />
BBeim diesjährigen Treffen der PNS im Juni in<br />
Potomac, Maryland, USA, wurde unter der<br />
Organisation von David R. Cornblath, Johns<br />
Hopkins University, USA, und Präsidentschaft<br />
von Douglas W. Zochodne, University of Calgary,<br />
Kanada, der Themenschwerpunkt auf<br />
immunmediierte Neuropathien, Nervenregeneration,<br />
diabetische Neuropathien und neuropatischen<br />
Schmerz gelegt, welche in Plenarvorträgen,<br />
Workshops, freien Vorträgen<br />
und zahlreichen Postern behandelt wurden.<br />
Guillain-Barré-Syndrom (GBS)<br />
und chronisch inflammatorische<br />
demyelinisierende Neuropathie<br />
(CIDP)<br />
Bernd C. Kieseier, Heinrich-Heine-Universität<br />
Düsseldorf, brachte in einer Plenarsitzung<br />
einen Überblick über pathogenetische Konzepte<br />
immunmediierter Neuropathien. Das<br />
GBS manifestiert sich zumeist als akute generalisierte<br />
Schwäche, der häufig Infekte der<br />
oberen Atemwege oder des Gastrointestinaltraktes<br />
vorausgehen. Durch Oberflächenantigene<br />
der Erreger, z. B. Campylobacter jejuni,<br />
wird eine Immunreaktion getriggert, die bei<br />
einigen PatientInnen nach einer Latenz von<br />
2–3 Wochen mit körpereigenen Glykolipiden,<br />
sog. Gangliosiden, an Myelinscheiden und<br />
Axonen kreuzreagiert.<br />
Die pathogene Rolle von Antikörpern gegen<br />
Ganglioside, z. B. GM1 oder GQ1b, ist besonders<br />
bei axonalen Subtypen des GBS und<br />
beim Miller-Fisher-Syndrom etabliert, hingegen<br />
sind sie bei der klassischen demyelinisierenden<br />
Form (AIDP) selten nachweisbar. Neue<br />
Ergebnisse deuten darauf hin, dass hier eine<br />
Antikörperproduktion gegen Gangliosidkomplexe<br />
stattfinden könnte, die in Standardtests<br />
dem Nachweis entgehen. In der Gruppe um<br />
Hugh J. Willison, University of Glasgow, werden<br />
mittels Glycoarray Seren von GBS-PatientInnen<br />
auf bisher unbekannte Antikörper<br />
gegen Glykolipidkomplexe gescreent, und in<br />
der Folge wird deren Relevanz für die Krankheitsentstehung<br />
untersucht. Neue Aspekte<br />
bieten auch Ergebnisse von Kazim A. Sheikh,<br />
University of Texas Health Sciences Center<br />
Houston, USA, die zeigen, dass Anti-Gangliosid-Antikörper<br />
nicht nur eine Schädigung peripherer<br />
Nerven verursachen, sondern auch<br />
aktiv deren Regeneration hemmen können.<br />
Die Rolle von T-Zellen beim GBS wird noch<br />
wenig verstanden, obwohl sie in experimentellen<br />
Modellen die Immunantwort dominieren<br />
und auch im humanen peripheren Nervengewebe<br />
besonders im Subakutstadium<br />
des GBS nachweisbar sind. Die Hypothese,<br />
dass eine Depletion regulatorischer<br />
CD4+CD25+FoxP3+T-Zellen für die Chronifizierung<br />
von Immunreaktionen gegen das PNS<br />
von Bedeutung ist, kann anhand der aktuellen<br />
Datenlage nicht bestätigt werden.<br />
Eduardo Nobile-Orazio, Universität Mailand,<br />
stellte eine prospektive, randomisierte Therapiestudie<br />
bei CIDP vor, bei der 46 PatientInnen<br />
über einen Zeitraum von 6 Monaten entweder<br />
mit intravenösen Immunglobulinen<br />
(IVIg, 2 g/kg) oder intravenösem Methylprednisolon<br />
(IVMP, 2 g) jeweils über 4 konsekutive<br />
Tage pro Monat behandelt wurden. 31 PatientInnen<br />
vollendeten die Studie und wurden<br />
nach 15 Tagen, 2 Monaten und 6 Monaten<br />
kontrolliert. In der IVMP-Gruppe schied<br />
ein höherer Anteil der PatientInnen aufgrund<br />
von Nebenwirkungen oder Ineffektivität der<br />
Behandlung aus. Nach 6 Monaten Beobachtungszeitraum<br />
zeigte jedoch in der IVIg-Gruppe<br />
ein höherer Anteil der PatientInnen eine<br />
Verschlechterung und benötigte eine weitere<br />
Therapie.<br />
Grundlagenforschung<br />
Marc Tessier-Lavigne, Rockefeller University<br />
New York, USA, bot im Rahmen der Richard<br />
P. Bunge Memorial Lecture einen faszinieren-<br />
FOTO: DWIGHT9592 - FOTOLIA.COM<br />
98
Zusammengestellt für den Beirat<br />
„Neuromuskuläre Erkrankungen“:<br />
OÄ Dr. Julia<br />
Wanschitz<br />
Abteilung für<br />
<strong>Neurologie</strong>, Medizinische<br />
Universität Innsbruck<br />
Dr. Bernadette<br />
Calabek<br />
Abteilung für<br />
<strong>Neurologie</strong>, Kaiser-<br />
Franz-Josef-Spital,<br />
Wien<br />
den Einblick in die molekularen Mechanismen<br />
der neuronalen Entwicklung und Regulation<br />
einer gerichteten Aussprossung von Axonen.<br />
Unter anderem wurde kürzlich ein Rezeptor<br />
Robo3/Rig-1 entdeckt, der präzerebellären<br />
Neuronen das Kreuzen der Mittellinie ermöglicht.<br />
Tatsächlich existiert eine humane Erkrankung<br />
mit horizontaler Blickparese und<br />
progressiver Skoliose, der eine Mutation von<br />
Robo3/Rig-1 zugrunde liegt. Bei diesen PatientInnen<br />
verlaufen motorische und sensible<br />
Bahnen ungekreuzt.<br />
Diabetische Neuropathie<br />
Diabetes mellitus ist die häufigste Ursache<br />
peripherer Neuropathien, und die Prävalenz<br />
ist aufgrund der weltweit zunehmenden<br />
Neuerkrankungen an Diabetes mellitus steigend.<br />
Hyperglykämie induziert oxidativen<br />
Stress in Neuronen und resultiert in einer<br />
Aktivierung verschiedener biochemischer<br />
„pathways“, die wiederum zur Schädigung<br />
des Nerven systems beitragen. Die Frage, ob<br />
ein ver minderter Glukosemetabolismus (abnorme<br />
Nüchternglukose und verminderte<br />
Glukosetoleranz werden unter diesem Begriff<br />
zusammengefasst) eine diabetische Polyneuropathie<br />
(DPN) und andere diabetische<br />
Komplikationen (Retinopathie und Nephropathie)<br />
verursachen kann, wird bisher kontroversiell<br />
diskutiert.<br />
James B. Dyck, Mayo Clinic, Minnesota, USA,<br />
präsentierte die Ergebnisse seiner Studie (Rochester<br />
Diabetic Neuropathy Study of IGM<br />
Patients), die im April 2004 gestartet wurde.<br />
Das Studiendesign war eine prospektive, doppelblinde,<br />
populationsbasierte Studie, welche<br />
die Prävalenz der erwähnten diabetischen<br />
Komplikationen an PatientInnen mit vermindertem<br />
Glukosemetabolismus (= IGM) und<br />
PatientInnen ohne IGM untersuchte. 300 Personen<br />
pro Gruppe wurden hierfür 3 Jahre<br />
getestet. IGM alleine brachte keine erhöhte<br />
Prävalenz der DPN. Diese Ergebnisse befreien<br />
IGM nicht von seiner Rolle als „Precursor“<br />
für DM, allerdings müssen in Zukunft auch<br />
andere Erklärungen für die Ätiologie der<br />
schmerzhaften DPN bei PatientInnen mit IGM<br />
herangezogen werden. Übergewicht und<br />
Dyslipidämie sind kürzlich als zusätzliche Risikofaktoren<br />
bei mikrovaskulären Komplikationen<br />
identifiziert worden.<br />
Gene Profiling bei DPN<br />
Junguk Hur aus der Gruppe von Eva Feldman,<br />
University of Michigan, USA, stellte eine rezente<br />
Studie über molekulare Mechanismen<br />
vor, welche die Entwicklung und Progression<br />
der diabetischen Neuropathie beeinflussen.<br />
Unter Verwendung von DNA-Microarrays<br />
wurden Genexpressionsmuster verglichen.<br />
Microarrays von 54 Proben humaner Suralnerven<br />
wurden analysiert. Mit Hilfe der Bioinformatik<br />
wurden verschiedene Genexpressionen<br />
analysiert und so genannte Gen -<br />
netzwerke und „pathways“ identifiziert, die<br />
möglicherweise für die Progression der DPN<br />
verantwortlich sein könnten. 532 unterschiedlich<br />
exprimierte Gene zwischen den PatientInnenproben<br />
mit fortschreitender und nichtfortschreitender<br />
DPN wurden identifiziert. Diese<br />
Gene waren in erster Linie in Entzündungsprozesse<br />
und Lipidmetabolismus involviert.<br />
Durch Identifizierung einer „Gensignatur“ bei<br />
PatientInnen mit fortschreitender DPN könnte<br />
in Zukunft die Entwicklung neuer diagnos -<br />
tischer und therapeutischer Mittel gelingen.<br />
Schmerz und Diabetes<br />
Ralf Baron, Universitätsklinik Schleswig-Holstein,<br />
Kiel, Deutschland, brachte einen aktualisierten<br />
Überblick über die Multicenter-<br />
Studie des Deutschen Forschungsverbandes<br />
Neuropathischer Schmerz (DFNS). Es wurden<br />
2000 PatientInnen untersucht, die an neuropathischen<br />
Schmerzen unterschiedlicher<br />
Genese leiden. Hierfür wurde einerseits eine<br />
Datenbank über epidemiologische und klinische<br />
Daten angelegt, andererseits eine standardisierte<br />
QST (= quantitativ sensorische<br />
Tes tung) etabliert. Die standardisierte QST-<br />
Batterie des DFNS umfasst 7 Tests und ein<br />
einfaches Instrumentarium wie Stimmgabel,<br />
Pinsel und Wattebausch. Erfasst werden die<br />
Wahrnehmungs- und Schmerzschwellen für<br />
Kälte, Wärme und diverse mechanische<br />
Reize. Damit erlaubt die QST nach dem Protokoll<br />
des DFNS Aussagen darüber, ob ein<br />
neuropathischer Schmerz vorliegt. Baron betonte,<br />
dass die standardisierte QST künftig<br />
als Basis für Therapiestudien bei schmerzhaften<br />
Neuropathien herangezogen werden<br />
sollte.<br />
Conclusio<br />
Das PNS-Meeting bietet eine sehr gute Möglichkeit,<br />
sich über aktuelle Entwicklungen auf<br />
dem Gebiet der peripheren <strong>Neurologie</strong> zu informieren.<br />
Hervorzuheben ist die ungezwungene<br />
und freundschaftliche Atmosphäre, die<br />
es auch jungen KollegInnen ermöglicht, mit<br />
renommierten WissenschaftlerInnen und KlinikerInnen<br />
auf diesem Gebiet in Kontakt zu<br />
treten. Dies ist ein besonderes Anliegen der<br />
<strong>Gesellschaft</strong> und wird durch die zahlreichen<br />
Fellowships unterstrichen, die an junge KollegInnen<br />
für die Präsentation ihrer Forschungsergebnisse<br />
vergeben wird. n<br />
99
NEUROLOGIE AKTUELL<br />
Multiple Sklerose<br />
Zusammengestellt für den Beirat „Multiple Sklerose“:<br />
Priv.-Doz. Dr. Fahmy Aboul-Enein<br />
Neurologische Abteilung, SMZ Ost – Donauspital Wien<br />
Neuromyelitis optica (NMO) –<br />
Epidemiologie-Studie 2011<br />
Sehr geehrte Frau Kollegin, sehr geehrter Herr Kollege!<br />
Die ARGE NMO möchte sich zuerst einmal<br />
bei Ihnen für Ihre bisherige Zusammenarbeit<br />
und Einsendung von Proben bedanken!<br />
Wie bereits in <strong>neurologisch</strong> 4/10 angekündigt,<br />
möchten wir Sie nun herzlichst einladen,<br />
an der ersten epidemiologischen Studie von<br />
NMO-PatientInnen in Österreich teilzunehmen.<br />
Ziel ist es, nach Möglichkeit alle NMO-<br />
PatientInnen in Österreich (NMO-Antikörper-<br />
„positive“ und -„negative“ NMO-PatientInnen)<br />
zu erfassen.<br />
Der große Vorteil einer solchen epidemiologischen<br />
Erfassung in Österreich liegt<br />
1. in der geringen Größe und<br />
EinwohnerInnenzahl von Österreich,<br />
2. in der sehr guten spezialisierten<br />
<strong>neurologisch</strong>en Versorgung in Österreich<br />
und<br />
3. in der Möglichkeit einer zentralen<br />
NMO-Antikörper/Aquaporin-4-Antikörper-Bestimmung<br />
an der Universitätsklinik<br />
für <strong>Neurologie</strong> Innsbruck.<br />
Das Konzept der geplanten Studie wurde bereits<br />
bei der Tagung der Deutschen <strong>Gesellschaft</strong><br />
für <strong>Neurologie</strong> (September 2010), bei<br />
der Tagung der Österreichischen <strong>Gesellschaft</strong><br />
für <strong>Neurologie</strong> (März 2011) und beim ersten<br />
European NMO Meeting in London (Juni<br />
2011) vorgestellt und diskutiert. Auf Wunsch<br />
stellen wir gerne die entsprechende Literatur<br />
zur Verfügung.<br />
In der Zwischenzeit haben Sie vielleicht auch<br />
bereits via E-Mail unsere Aussendungen und<br />
Aufforderungen zur Teilnahme an dieser Studie<br />
erhalten, vielleicht auch schon das ausgefüllte<br />
Datenblatt via E-Mail, Fax oder Post<br />
retourniert, hierfür bedanken wir uns herzlich!<br />
Falls Sie bislang noch keine Information zur<br />
Studie erhalten haben, stehen Ihnen hiermit<br />
auch die Datenblätter zum Heraustrennen zur<br />
Verfügung. Sie können gerne auch im Informationsverteiler<br />
der ARGE NMO aufgenommen<br />
werden. Hierfür schreiben Sie uns bitte<br />
an: fahmy.aboulenein@meduniwien.ac.at<br />
Das Datenblatt enthält alle für uns notwendigen<br />
Basisdaten, und wir bitten Sie, es sorgfältig<br />
auszufüllen. Falls Sie bislang PatientInnen<br />
betreu(t)en, bei denen Sie den hochgradigen<br />
Verdacht haben, dass eine NMO<br />
vorliegen könnte, jedoch noch nicht die<br />
NMO-Antikörper (AQP4-Antikörper) bestimmen<br />
haben lassen, bitten wir Sie, mit Univ.-<br />
Prof. Dr. Markus Reindl der Universitätsklinik<br />
für <strong>Neurologie</strong> Innsbruck Kontakt aufzunehmen<br />
(markus.reindl@i-med.ac.at).<br />
Der Abschluss der Datenerfassung ist am<br />
15. Oktober 2011.<br />
Alle, die an dieser Studie teilnehmen, werden<br />
selbstverständlich ausnahmslos bei der geplanten<br />
Publikation aufscheinen. Wir bitten<br />
auch, zusätzlich zum Vermerk „betreuende/r<br />
Arzt/Ärztin“ in dem Datenblatt alle gewünschten<br />
AutorInnen komplett mit Vor- und<br />
Zunamen und E-Mail-Adresse zu nennen.<br />
Die Daten werden selbstverständlich auch<br />
den TeilnehmerInnen für zukünftige eigene<br />
wissenschaftliche Projekte zur Verfügung gestellt<br />
werden können.<br />
Wir bedanken uns bereits jetzt für<br />
Ihre/Eure Mitarbeit!<br />
Mit vielen freundlichen Grüßen,<br />
Fahmy Aboul-Enein<br />
(i. A. der ARGE NMO)<br />
Univ.-Prof. Dr. Thomas Berger<br />
Univ.-Prof. Dr. Markus Reindl<br />
Univ.-Doz. Dr. Wolfgang Kristoferitsch<br />
Univ.-Prof. Dr. Maria Storch<br />
100
✁<br />
Neuromyelitis optica (NMO) Register Österreich – im Auftrag der ARGE NMO<br />
Bitte per E-Mail an fahmy.aboulenein@meduniwien.ac.at, per Fax an: 01/288 02-4280 oder<br />
per Post an: Priv.-Doz. Dr. Fahmy Aboul-Enein, SMZ Ost – Donauspital, Abteilung für <strong>Neurologie</strong>, Langobardenstraße 122, 1220 Wien<br />
Bitte tragen Sie alle für die epidemiologische Studie erforderlichen Daten ein:<br />
Titel Vorname Nachname Adresse (inkl. Telefonnummer) E-Mail-Adresse<br />
I<br />
Betreuende/r<br />
Arzt/Ärztin:<br />
II<br />
Betreuende/r<br />
Arzt/Ärztin:<br />
Die unter „betreuende ÄrztInnen“ angeführten KollegInnen werden in der geplanten wissenschaftlichen Veröffentlichung angeführt (in der Regel pro PatientIn max. 2 KollegInnen). Bitte nennen Sie Ihre komplette Affiliation (Universität, Klinik, Spital, Abteilung, Ordination<br />
(oder Praxis) Straße, Postleitzahl, Ort, Land, Telefonnummer). Weitere Informationen diesbezüglich finden Sie in <strong>neurologisch</strong> 4/2010 bzw. beigefügt.<br />
PatientIn<br />
Krankheitbeginn<br />
DIAGNOSE NMO (und NMO-Spektrum Erkrankungen)<br />
Barkhof-<br />
Erste Erste<br />
LETM 5 ON 6 MRT Schädel<br />
NMO-<br />
Kriterien Antikörper<br />
Symptomatik Diagnose „negativ“ 7 erfüllt? im Serum 8<br />
Initialen Geb.-<br />
Datum<br />
(V/N) 1 (T/M/J) 2 welche? 3 (T/M/J) 4 welche? 3 (T/M/J) 2 (Ja/Nein) (Ja/Nein) (Ja/Nein) (Ja/Nein) (Ja/Nein)<br />
Freitext/Anmerkungen:<br />
Erste Symptomatik:<br />
Erste Diagnose:<br />
NMO-Antikörper (erste Bestimmung[en]):<br />
Andere Autoimmunerkrankungen:<br />
Weiteres:<br />
1 V = Vorname; N = Nachname; 2 T = Tag; M = Monat; J = Jahr; 3 wenn dieses Feld nicht ausreicht, bitte in das Feld Freitext/Anmerkungen weitere Kommentare eintragen; z. B. Erste Symptomatik: sensomotorische Hemisymptomatik rechts, Erste Diagnose: z. B. MS, spinal<br />
betont; (parainfektiöse) Myelitis; Lupus-Myelitis usw.; 4 wenn möglich, bitte genaue Angabe auch des Tages, zumindest des Monats; 5 LETM = longitudinale extensive transverse Myelitis; 6 ON = Optikusneuritis; 7 „negativ“ = keine für multiple Sklerose typischen zerebralen<br />
Läsionen; 8 bitte um Angabe des Labors, in dem die ersten NMO-Ak-Bestimmungen erfolgten: z. B. Mayo Clinic, USA; Universitätsklinik <strong>Neurologie</strong> Innsbruck, Österreich; University of Oxford, Oxford, UK; Labor Seelig und Partner, Karlsruhe, Deutschland.
Neuromyelitis optica (NMO) Register Österreich – im Auftrag der ARGE NMO<br />
Bitte per E-Mail an fahmy.aboulenein@meduniwien.ac.at, per Fax an: 01/288 02-4280 oder<br />
per Post an: Priv.-Doz. Dr. Fahmy Aboul-Enein, SMZ Ost – Donauspital, Abteilung für <strong>Neurologie</strong>, Langobardenstraße 122, 1220 Wien<br />
Schübe<br />
Behandlung der Schübe<br />
Lokalisation Beginn-<br />
(ON, LETM,<br />
bei ON<br />
andere) 2 , bei LETM 3 , Datum<br />
1<br />
bei anderen Läsionen 4 (T/M/J) 5<br />
ivMP 6 PLEX 7<br />
(Ja/Nein) (Ja/Nein)<br />
Datum (von, bis): Kommentare<br />
8 :<br />
01<br />
02<br />
03<br />
04<br />
05<br />
06<br />
07<br />
08<br />
09<br />
10<br />
1 ON = Optikusneuritis; LETM = longitudinal extensive transverse Myelitis; andere: wenn andere, dann bitte Feld genau spezifizieren (wenn das Feld nicht ausreicht, bitte unter Kommentare); 2 Bitte um Angabe von rechts/links/bds. bei ON,<br />
3 Bitte um Angabe der longitudinalen Ausdehnung in WK-Segmente (z. B. C8-T5); 4 Lokalisation anderer Läsionen, z. B. Tumor like lesion parieto-occipital bds. oder Hirnstamm, Hypothalamus, Hypophyse etc. 5 T = Tag; M = Monat; J = Jahr;<br />
6 ivMP = intravenöses Methylprednisolon, hoch dosiert intravenös Steroid (falls Dexamethason o. a. verabreicht wurde, bitte spezifizieren); 7 PLEX = Plasmapherese); 8 unter Kommentare bitte jedenfalls die Schubtherapie (z. B. 1 g i. v. MP/die, oder 16 mg Dexamethason/die;<br />
PLEX ? Zyklen à ? Tage und ? ml/kgKG) konkret anführen bzw. die Lokalisation von entzündlichen sonstigen (nicht LETM und ON) NMO-Läsionen in cerebro. Falls IVIG verwendet wurden, bitte diese ebenfalls mit der genauen Dosierung und Zeitraum angeben.<br />
✃
✁<br />
Neuromyelitis optica (NMO) Register Österreich – im Auftrag der ARGE NMO<br />
Bitte per E-Mail an fahmy.aboulenein@meduniwien.ac.at, per Fax an: 01/288 02-4280 oder<br />
per Post an: Priv.-Doz. Dr. Fahmy Aboul-Enein, SMZ Ost – Donauspital, Abteilung für <strong>Neurologie</strong>, Langobardenstraße 122, 1220 Wien<br />
Intervalltherapie<br />
Präparat 1 Datum<br />
Dosis<br />
EDSS bzw. Kommentar zum klinischen Verlauf<br />
(von … bis …)<br />
2<br />
01<br />
02<br />
03<br />
04<br />
05<br />
06<br />
07<br />
08<br />
09<br />
10<br />
1 Präparat: Interferon 1-a 1-mal/Wo i. m.; Interferon 1-a 22µg 3-mal/Wo s. c.; Interferon 1-a 44 µg 3-mal /Wo s. c.; Interferon 1-b jeden 2. Tag s. c.; Glatirameracetat; IVIG (intravenöse Immunglobuline); Azathioprin; perorales Steroid; Cyclophosphamid;<br />
Mitoxantron; Mycophenolat; Cyclosporin; Natalizumab etc.; 2 EDSS bzw. Kommentar zu etwaigen Behinderungsgrad und Verlauf, stabil(?) unter Intervalltherapie.
Neuromyelitis optica (NMO) Register Österreich – im Auftrag der ARGE NMO<br />
Bitte per E-Mail an fahmy.aboulenein@meduniwien.ac.at, per Fax an: 01/288 02-4280 oder<br />
per Post an: Priv.-Doz. Dr. Fahmy Aboul-Enein, SMZ Ost – Donauspital, Abteilung für <strong>Neurologie</strong>, Langobardenstraße 122, 1220 Wien<br />
Liquor cerebrospinalis bei der 1. (evtl. 2./3. Lumbalpunktion)<br />
Datum Zellzahl<br />
(T/M/J) 1 [/3]<br />
Glukose-<br />
Gesamtprotein IgG- IgA- IgM- OKB 3 ,<br />
Zellbild (v. a. Neutrophile, Eosinophile) index 2<br />
(L/S)<br />
[mg/dl] Index Index Index Typ 1–5<br />
01<br />
02<br />
03<br />
Anmerkungen:<br />
1 T = Tag; M = Monat; J = Jahr; 2 Glukoseindex (Glukose im Liquor)/(Glukose im Serum); 3 OKB = Oligoklonale Bande, bitte wenn möglich um Angabe des Bandentyps nach Anderson et al., 1994, modifiziert durch Wurster und Mitarbeiter 2002; ansonsten um Angabe von<br />
OKB „positiv“ oder „negativ“: Typ 1: keine Bande im Liquor; Typ 2a: 1–3 Bande nur im Liquor; Typ 2b: > 3 Banden nur im Liquor; Typ 3a: Serumidentische Bande im Liquor plus 1–3 Extrabande im Liquor; Typ 3b: Serumidentische Bande im Liquor plus > 3 Extrabande im<br />
Liquor; Typ 4a: 1–3 identische Bande im Liquor und Serum; Typ 4b: > 3 identische Bande im Liquor und Serum; Typ 5: Paraproteinämie.<br />
Weitere Anmerkungen und Kommentare:<br />
✃
NEUROLOGIE AKTUELL<br />
Demenz<br />
Zusammengestellt für den Beirat „Demenz“:<br />
Univ.-Prof. Dr. Kurt A. Jellinger,<br />
Institute of Clinical Neurobiology, Wien<br />
EFNS-Richtlinien für die Diagnose<br />
und Therapie der Demenzen<br />
DDemenzielle Syndrome nehmen mit steigendem<br />
Anteil betagter Menschen an Häufigkeit<br />
rasch zu und stellen ein wachsendes Problem<br />
der Altersmedizin dar. Die Diagnose der Alzheimer-Krankheit<br />
(AK) und deren Abgrenzung<br />
von anderen Demenzprozessen ist klinisch<br />
unter Anwendung moderner bildgebender<br />
Verfahren und Biomarker mit etwa<br />
90 % Treffsicherheit möglich, doch ist die<br />
Frühdiagnose dieser Prozesse schwierig. Die<br />
Validierung von Richtlinien für die Diagnose<br />
demenzieller Syndrome steht daher heute<br />
im Mittelpunkt der neurobiologischen Forschung.<br />
Von der EFNS Task Force erarbeitete<br />
Richtlinien für die Diagnose und Behandlung<br />
der AK und anderer mit Demenzen verbundenen<br />
Erkrankungen wurden 2007 veröffentlicht<br />
1 , und eine auf Evidenz basierende revidierte<br />
Fassung 2010 wurde vorgelegt 2 .<br />
Die Diagnose stützt sich auf:<br />
• Erhebung der Krankengeschichte mit<br />
PatientIn und unabhängigen Infor -<br />
mantInnen (Level A)<br />
• <strong>neurologisch</strong>e und körperliche Unter -<br />
suchung (Level A)<br />
• Erfassung der kognitiven Funktionen<br />
durch quantitative neuropsychologische<br />
Tests (Level A oder B)<br />
• Verhaltensstörungen und psychologische<br />
Symptome (Level A)<br />
• Aktivitäten des täglichen Lebens<br />
• Komorbiditäten (Level C)<br />
• Blutuntersuchungen (Blutbild, Elektrolyte,<br />
Vitamine, Leber- und Nierenfunktion etc.<br />
• Elektroenzephalographie (Rhythmusstörungen,<br />
Ausschluss anderer Störungen)<br />
(Level B)<br />
• bildgebende Verfahren: Computertomographie<br />
(Hirnatrophie, Ausschluss<br />
anderer, etwa vaskulärer Läsionen),<br />
strukturelle Magnetresonanztomographie/MRI<br />
(Früherfassung mediotemporaler/Hippokampusatrophie)<br />
(Level B),<br />
funktionelle MRI, SPECT- und PET-<br />
Untersuchungen (Früherfassung von<br />
Störungen der Sauerstoffaufnahme und<br />
des Glukosestoffwechsels) (Level B)<br />
• Liquoranalyse: Bestimmung des Gehalts<br />
an -Amyloid (A); Gesamt- und<br />
hyperphosphoryliertem Tau-Protein (t-tau,<br />
p-tau) – Abnahme von A und<br />
Zunahme von Tau stützen AK-Diagnose<br />
(Level B); 14-3-3-Protein (Ausschluss von<br />
Creutzfeldt-Jakob-Syndrom) (Level B);<br />
moderne Protein- und Proteomanalysen<br />
• Gentestung: Mutationen von APP, PSEN<br />
1 und PSEN 2 erklären etwa 50 %<br />
familiärer, früh einsetzender AK-Formen.<br />
ApoE4-Allel liegt gehäuft bei<br />
Spätformen vor, ist aber für die<br />
Diagnosestellung weder notwendig noch<br />
gerechtfertigt (Level B). Ausschluss<br />
anderer Demenzformen, etwa CADASIL<br />
(Mutationen am Notch-3-Gen auf<br />
Chromosom 19q12), Prionenkrankheiten.<br />
• Hirnbiopsien sind nur bei sehr früh<br />
auftretenden, rasch progredienten und<br />
seltenen Demenzformen ethisch<br />
gerechtfertigt, zeigen aber relativ<br />
geringe Trefferquoten.<br />
Die Erfassung und Auswertung der Symptome<br />
und Befunddaten bei Erstellung der klinischen<br />
Diagnose der AK und anderer demenzieller<br />
Syndrome erfordern die interdisziplinäre<br />
Zusammenarbeit von erfahrenen<br />
GutachterInnen sowie Validierungsstudien an<br />
prospektiven PatientInnengruppen, um die<br />
Sensitivität, Spezifität und Genauigkeit der<br />
diagnostischen Kriterien zu erhöhen.<br />
Ähnliche Forschungskriterien für die Diagnose<br />
der AK, deren präklinische Vorstadien, zur<br />
Revision der alten NINCDS-ADRDA-Kriterien<br />
wurden von der International Working Group<br />
for New Research Criteria for AD 2007 vorgelegt<br />
3 und 2010 von der International Working<br />
Group for New Research Criteria for AD<br />
unter Einschluss präklinischer, atypischer und<br />
Mischformen revidiert 4 . In letzter Zeit legten<br />
mehrere US-Arbeitsgruppen Entwürfe 5 für<br />
operationalisierte diagnostische Kriterien für<br />
AK und andere alters-bezogene kognitive<br />
Störungen vor 6–8 , deren Ergebnisse abgewartet<br />
werden müssen.<br />
Die Behandlung demenzieller Syndrome umfasst<br />
neben der exakten Erkennung und<br />
(Früh-)Diagnose der Störungen eine Primärund<br />
Sekundärprävention (Ausschaltung und<br />
Behandlung von Risikofaktoren), medikamentöse<br />
Therapie mit Cholinesterasehemmern,<br />
Memantin bzw. deren Kombination<br />
(Level A und B) sowie anderen Substanzen<br />
(Level B und C). Die Behandlung von Verhaltens-<br />
und psychologischen Störungen sowie<br />
nichtpharmakologische Maßnahmen, wie kognitive,<br />
psychologische, psychosoziale, Beschäftigungs-<br />
und Motivationstherapie, sind<br />
im Konsensusstatement „Demenz 2010“ der<br />
Österreichischen Alzheimer <strong>Gesellschaft</strong> zusammengefasst<br />
9 . Eine medikamentöse Therapie<br />
der milden kognitiven Beeinträchtigung<br />
(MCI) und anderen Frühformen wird kritisch<br />
diskutiert.<br />
n<br />
1 Waldemar G et al., Recommendations for the diagnosis<br />
and management of Alzheimer’s disease and other disorders<br />
associated with dementia: EFNS guideline. Eur J<br />
Neurol 2007; 14:e1–26<br />
2 Hort J et al., EFNS guidelines for the diagnosis and<br />
management of Alzheimer’s disease. Eur J Neurol 2010;<br />
17:1236–1248<br />
3 Dubois B et al., Research criteria for the diagnosis of<br />
Alzheimer’s disease: revising the NINCDS-ADRDA criteria.<br />
Lancet Neurol 2007; 6:734–746<br />
4 Dubois B et al., Revising the definition of Alzheimer’s<br />
disease: a new lexicon. Lancet Neurol 2010;<br />
9:1118–1127<br />
5 Seshadri S et al., Operationalizing diagnostic criteria for<br />
Alzheimer’s disease and other age-related cognitive<br />
impairment-Part 2. Alzheimers Dement 2011; 7:35–52<br />
6 Mayeux R et al., Operationalizing diagnostic criteria for<br />
Alzheimer’s disease and other age-related cognitive<br />
impairment-Part 1. Alzheimers Dement 2011; 7:15–34<br />
7 DeKosky ST et al., Revision of the criteria for Alzheimer’s<br />
disease: A symposium. Alzheimers Dement 2011;<br />
7:e1–12<br />
8 Sperling RA et al., Toward defining the preclinical stages<br />
of Alzheimer's disease: recommendations from the<br />
National Institute on Aging-Alzheimer's Association<br />
workgroups on diagnostic guidelines for Alzheimer's<br />
disease. Alzheimers Dement 2011; 7:280-292<br />
9 Schmidt R et al., Konsensusstatement „Demenz 2010“.<br />
Neuropsychiatr 2010; 24:67–87<br />
105
NEUROLOGIE AKTUELL<br />
Autonome Störungen<br />
Häufig werden PatientInnen<br />
mit Schweißsekretionsstörungen<br />
in Labors für autonome<br />
Funktionsdiagnostik vorgestellt.<br />
Wenn man als Ursache eine<br />
„Small fibre“-Neuropathie<br />
vermutet, so ist die Sicherung der<br />
Diagnose eine Herausforderung.<br />
Zur Verfügung stehen die<br />
quantitative sensorische Testung<br />
(QST) oder der quantitative<br />
sudomotorische Axonreflextest<br />
(QSART). Eine exaktere Diagnose<br />
ist allerdings über die Hautbiopsie<br />
möglich. Während QST und<br />
QSART nur in wenigen Labors<br />
zur Verfügung steht, wird die<br />
Hautbiopsie von DermatologInnen<br />
häufig durchgeführt.<br />
Dr. Casanova-Mollá und Dr. Josep<br />
Valls-Solé haben die Diagnostik<br />
der Hautbiopsie in den letzten<br />
Jahren verfeinert und präsentieren<br />
eine kurzen Überblick über diese<br />
Technik.<br />
Dr. Walter Struhal<br />
Cutaneous nerve evaluation<br />
Among the different techniques used for the assessment of painful peripheral neuropathies,<br />
the skin biopsy has experienced the biggest growth over the past 15 years. It allows<br />
us to identify the axons of the sensory nerve endings in the skin. The most commonly<br />
used marker is pan-axonal protein gene product 9.5 (PGP 9.5), a ubiquitin C-terminal hydroxylase<br />
that is found in axons. 1 Quantitative and qualitative evaluations of cutaneous<br />
nerves can give support to the clinical diagnosis of small-fibre neuropathies. 2, 3 However,<br />
as it is applicable to other peripheral neuropathies, to autonomic disorders, and to the<br />
study of neuropathic pain, this makes the skin biopsy a powerful tool for the future.<br />
The quantification of intra-epidermal nerve<br />
fibres (IENFs) follows specific precepts that<br />
have been defined through a consensus of<br />
experts. The recommendations published by<br />
the European Federation of Neurological Societies<br />
Task Force 4 have been found to be<br />
very reliable, and to have high inter-observer<br />
and intra-observer agreement coefficients. 5<br />
Briefly, IENFs are counted only when they<br />
cross or originate at the dermal–epidermal<br />
junction, with secondary branching excluded<br />
from this quantification. The skin surface is<br />
measured and the mean of three skin sections<br />
provides the IENF density (IENFD) per linear<br />
millimetre for the subject under study. Normative<br />
values have been published, as adjusted<br />
for age and gender. 6, 7 The IENFD cutoff<br />
values of 7.63 /mm and
Zusammengestellt für den Beirat<br />
„Autonome Störungen“:<br />
Dr. Jordi<br />
Casanova-Mollá<br />
Dr. Josep<br />
Valls-Solé<br />
Department of Neurology, Hospital Clínic, Barcelona, Spain<br />
Fig.: Examples of 50-µm skin sections immunostained for the panaxonal<br />
marker PGP 9.5<br />
studies, in order to determine the reliability<br />
of the data.<br />
In conclusion, calculating the IENFD provides<br />
an estimation of the real spread of axons in<br />
the skin, and in other structures that are accessible<br />
through a skin biopsy. Quantitative<br />
methods are useful tools to approach the<br />
diagnosis of peripheral nerve damage, al -<br />
though they still have some limitations. A<br />
more complete assessment of the utility and<br />
reliability of newly developed methods should<br />
provide more information on possible dam -<br />
age to skin axon terminals, which will aid<br />
clinicians in their diagnosis of small-fibre neuropathy.<br />
n<br />
formance similar to that of conventional<br />
methods (ROC AUC, 0.84 vs. 0.90, respectively).<br />
11<br />
One of the major challenges facing experts<br />
in this field is the evaluation of autonomic<br />
structures, including sweat glands, blood vessels,<br />
erector pili muscles, and hair follicles. 12<br />
Their innervation can be detected using antibodies<br />
against adrenergic, noradrenergic<br />
and cholinergic sympathetic fibres. The pres -<br />
ence of sweat gland sections is a common<br />
finding in skin samples, and various studies<br />
have applied various different methods to<br />
quantify this type of innervation. In one such<br />
The intra-epidermal nerve<br />
fibres are counted if they<br />
cross the dermo-epidermal<br />
junction as indicated by the<br />
arrows in the sample from a<br />
healthy subject (A). The autonomic<br />
innervation of sweat<br />
glands is shown in (B) for a<br />
healthy subject, and in (C) for<br />
a patient with small-fibre<br />
neuropathy. Note the de -<br />
creased innervation density in<br />
the patient with small-fibre<br />
neuro pathy. Scale bar, 10 µm.<br />
study, Dabby and colleagues (2007) counted<br />
the ratio between the number of nerve fibres<br />
and the number of nuclei comprising the<br />
structure. 13<br />
More recently, Gibbons et al. (2009) introduced<br />
the term sweat gland nerve fibre density,<br />
where they counted the intersections<br />
between the nerve fibres and a grid placed<br />
over the sweat gland. 14 Also, Nolano and<br />
colleagues (2010) reported a methodology<br />
to quantify the pilomotor nerves. 15 In spite<br />
of these efforts, normative data are still lack -<br />
ing. The validation of the various methods<br />
proposed will need to be done in multicentre<br />
1. Wilkinson KD et al., The neuron-specific protein PGP<br />
9.5 is a ubiquitin carboxyl-terminal hydrolase. Science<br />
1989; 246:670–3<br />
2. Lauria G et al. Expression of capsaicin receptor<br />
immunoreactivity in human peripheral nervous system<br />
and in painful neuropathies. J Periph Nerv Sys 2006;<br />
11:262–71<br />
3. Sommer C. Skin biopsy as a diagnostic tool. Curr Opin<br />
Neurol 2008; 21:563–8<br />
4. Lauria G et al., European Federation of Neurological<br />
Societies/ Peripheral Nerve Society Guidelines on the<br />
use of skin biopsy in the diagnosis of small-fibre<br />
neuropathy. Report of a joint Task Force of the European<br />
Federation of Neurological Societies and the Peripheral<br />
Nerve Society. Eur J Neurol 2010; 17:903–12<br />
5. Goransson LG et al., Intra-epidermal nerve fibre<br />
densities in chronic inflammatory autoimmune<br />
diseases. Arch Neurol 2006; 63:1410–3<br />
6. Bakkers M et al., Intra-epidermal nerve fibre density<br />
normative values and its application in sarcoidosis.<br />
Neurology 2009; 73:1142–8<br />
7. Lauria G et al., Intra-epidermal nerve fibre density at<br />
the distal leg: a worldwide normative reference study.<br />
J Peripher Nerv Syst 2010; 15:202–7<br />
8. Devigili G et al., The diagnostic criteria for small-fibre<br />
neuropathy: from symptoms to neuropathology.<br />
Brain 2008; 131:1912–25<br />
9. Vlckova-Moravcova E et al., Diagnostic validity of<br />
epidermal nerve fibre densities in painful sensory<br />
neuropathies. Muscle Nerve 2008; 37:50–60<br />
10. Lauria G et al., Morphometry of dermal nerve fibres<br />
in human skin. Neurology 2011; 77:242–9<br />
11. Casanova-Molla J et al., Axonal fluorescence quanti -<br />
fication provides a new approach to assess cutaneous<br />
innervation. J Nerosci Methods 2011; 200:190–8<br />
12. Lauria G et al., Skin biopsy for the diagnosis of peripheral<br />
neuropathy. Histopathology 2008; 54:273–85<br />
13. Dabby R et al., Evaluation of cutaneous autonomic<br />
innervation in idiopathic sensory small-fibre neuro -<br />
pathy. J Periph Nerv Sys 2007; 12:98–101<br />
14. Gibbons CH et al., Quantification of sweat gland<br />
innervation. A clinical-pathological correlation.<br />
Neurology 2009; 72:1479–86<br />
15. Nolano M. Quantification of pilomotor nerves: a new<br />
tool to evaluate autonomic involvement in diabetes.<br />
Neurology 2010; 75:1089–97<br />
109
NEUROLOGIE AKTUELL<br />
Neurogeriatrie<br />
Zusammengestellt im Namen des Beirates „Neurogeriatrie“:<br />
Prim. Univ.-Prof. Dr. Gerhard Ransmayr<br />
Abteilung für <strong>Neurologie</strong> und Psychiatrie, AKH Linz<br />
Körperliche Aktivität und Risiko<br />
für klinisch stumme Hirninfarkte<br />
Es gibt zunehmend Hinweise, dass das<br />
Schlaganfallrisiko bei betagten Personen<br />
durch mittelgradige bis intensive körperliche<br />
Aktivität reduziert werden kann. So zeigten<br />
Assoziationsstudien, dass – unabhängig von<br />
den Risikofaktoren koronare Herzerkrankung,<br />
Hypertonie, Diabetes, Rauchen, Alkoholkonsum,<br />
Übergewicht und medizinische Gründe<br />
für Bewegungsarmut – intensive und andauernde<br />
körperliche Aktivität (Sport) mit einem<br />
reduzierten Schlaganfallrisiko einhergeht.<br />
Das Schlaganfallrisiko und Residuen nach<br />
Schlaganfällen sind auch abhängig vom Ausmaß<br />
mikrovaskulärer zerebraler Veränderungen,<br />
wie Leukenzephalopathie oder lakunäre<br />
Infarkte. Mikrovaskuläre zerebrale Veränderungen<br />
sind auch ohne manifeste Schlafanfälle<br />
von funktioneller Bedeutung (Kognition,<br />
Motorik, Verhalten).<br />
Northern<br />
Manhattan Study<br />
Langzeit-Verlaufsuntersuchungen<br />
zur Frage des Effektes<br />
von Sport auf die zerebrale<br />
Durchblutung sind selten. Die<br />
Northern Manhattan Study<br />
(NOMAS) 1–3 , eine populationsbasierte<br />
prospektive Kohortenstudie,<br />
untersuchte 3298<br />
TeilnehmerInnen, die bei Studieneinschluss<br />
eine negative<br />
Schlaganfallanamnese aufwiesen<br />
und mittels eines Fragebogens<br />
hinsichtlich sportlicher<br />
Aktivitäten (Metabolic<br />
Equivalent Score, MET) evaluiert<br />
wurden. Der MET zeigt<br />
eine gute Korrelation mit der<br />
Einschätzung der körperlichen<br />
Aktivität durch Angehörige,<br />
Body-Mass-Index und Alltagsaktivitäten.<br />
Durchschnittlich 6 Jahre nach Erstuntersuchung<br />
und Erhebung der physischen Aktivitäten<br />
wurde bei 1226 Personen ein MRI (1,5<br />
Tesla) durchgeführt und auf die Zielparameter<br />
klinisch stumme Infarkte ( 3 mm messende<br />
Gewebsdefekte, FLAIR) sowie Volumen von<br />
Hyperintensitäten der weißen Substanz untersucht<br />
1 .<br />
Ergebnis: In der von Personen hispanischer<br />
Abkunft dominierten Kohorte, in der generell<br />
Frauen weniger Sport betrieben als Männer,<br />
zeigten sich im MRI klinisch stumme Infarkte<br />
bei 16 %. Personen mit der obersten<br />
Quartile der Intensität körperlicher Betätigung<br />
(intensiver Sport) hatten ein um 40 %<br />
geringeres Risiko für klinisch stumme In -<br />
farkte, vor und nach Berücksichtigung der<br />
vaskulären Risikofaktoren Insulinresistenz,<br />
Tabakkonsum, Hypertonie, Alkohol und Nierenfunktion,<br />
während dieser Effekt für Personen<br />
mit geringerer oder keiner körperlichen<br />
Aktivität nicht festzustellen war. Das<br />
Intervall zwischen der Feststellung der körperlichen<br />
Aktivität und der MRI-Untersuchung<br />
beeinflusste die Resultate nicht. Sport<br />
zeigte keinen Effekt auf das Volumen von<br />
Läsionen der weißen Substanz (Leukoaraiose).<br />
PatientInnen mit schlechtem Versicherungsstatus<br />
hatten durch sportliche Aktivität<br />
eine geringere positive Assoziation mit den<br />
Zielparametern.<br />
Kommentar: Die Studie zeigt, dass bei Personen,<br />
die sich intensiv sportlich betätigen,<br />
neben manifesten Hirninfarkten auch klinisch<br />
stumme Infarkte signifikant seltener zu beobachten<br />
sind. Sport könnte unabhängig von<br />
der Behandlung oder Vermeidung vaskulärer<br />
Risikofaktoren einen protektiven Faktor für klinisch<br />
manifeste, aber auch stumme Infarkte<br />
darstellen. Zu bedenken sind die methodischen<br />
Grenzen der Studie, wie das Intervall<br />
zwischen Feststellung der Intensität sportlicher<br />
Aktivitäten und vaskulärer Risikofaktoren<br />
und die Untersuchung der Zielparameter der<br />
Studie (MRI) von durchschnittlich 6 Jahren.<br />
Außerdem handelt es sich um eine Assoziationsstudie,<br />
und Assoziation muss nicht Kausalität<br />
bedeuten. Die Summe der Publikationen<br />
zu diesem Themenbereich 4 weisen aber<br />
stark in Richtung eines schlaganfallverhindernden<br />
Effektes von Sport, wobei die protektiven<br />
Mechanismen noch unklar sind. n<br />
1 Willey JZ et al., Lower prevalence of silent brain infarcts<br />
in the physically active: the Northern Manhattan Study.<br />
Neurology 2011; 76:2112–18<br />
2 Willey JZ et al., Physical activity and risk of ischemic<br />
stroke in the Northern Manhattan Study. Neurology<br />
2009; 73:1774–79<br />
3 Sacco RL et al., Leisure-time physical activity and<br />
ischemic stroke risk: the Northern Manhattan Stroke<br />
Study. Stroke 1998; 29:380–87<br />
4 Lee CD et al., Physical activity and stroke risk:<br />
a meta-analysis. Stroke 2003; 34:2475–81<br />
FOTO: GINA SANDERS - FOTOLIA.COM<br />
110
NEUROLOGIE AKTUELL<br />
Neuroonkologie<br />
Zusammengestellt von<br />
Prim. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Grisold<br />
Kaiser-Franz-Josef-Spital Wien<br />
Chemotherapieinduzierte Neuropathien<br />
Chemotherapieinduzierte Neuropathien<br />
(CIPN) gewinnen zunehmend an Bedeutung.<br />
Im US-amerikanischen NIH (National Institutes<br />
of Health, Washington) fand eine Sitzung<br />
mit ca. 80 internationalen ExpertInnen zu diesem<br />
Thema statt, bei der die Bedeutung, klinische<br />
Aspekte, Differenzialdiagnosen und<br />
Grundlagen in Workshops bearbeitet wurden.<br />
Das NIH investiert jährlich 120 Mio. Euro<br />
die Erforschung von Neuropathien wie neuropathischer<br />
Schmerz, Trauma der peripheren<br />
Nerven, systemische Polyneuropathien wie<br />
Diabetes und HIV und hereditäre Neuropathien.<br />
Bisher wurden noch keine Mittel für<br />
die Erforschung der CIPN bereitgestellt.<br />
Die CIPN werden aufgrund der immer häufiger<br />
angewandten Tumortherapie zunehmend<br />
wichtiger. Es handelt sich um dosislimitierende<br />
Nebenwirkungen, die einerseits<br />
zu Gefühlsstörungen und Schmerzen, andererseits<br />
zu Funktionseinschränkungen führen.<br />
Es ist davon auszugehen, dass etwa 25 %<br />
der ca. 1 Million Krebspatienten in den USA<br />
betroffen sind. Daten aus den USA zeigen,<br />
dass jährlich zwischen 390.500 und 465.400<br />
PatientInnen eine CIPN entwickeln, die Kosten<br />
belaufen sich auf 2,39–2,73 Milliarden<br />
Dollar.<br />
Ein wichtiger Beitrag beschäftigte sich mit<br />
den Fragen der Therapie, einerseits im Sinn<br />
der Prophylaxe, andererseits symptomatisch.<br />
Während die Prophylaxe weiterhin ungelöst<br />
ist, sind zahlreiche symptomatische Therapien<br />
bei Schmerzen oder Parästhesien möglich.<br />
Auch die Behandlung der Akuttoxizität von<br />
Oxaliplatin hat Fortschritte gemacht. Ein nicht<br />
zu unterschätzender und wenig bearbeiteter<br />
Aspekt ist die potenzielle Reversibilität der<br />
CIPN und das Fortdauern der Beschwerden<br />
auch über Jahre nach Beendigung der Chemotherapie.<br />
Klinische Aspekte<br />
Die Erfassung der CIPN ist ein großes ungelöstes<br />
Problem. Bei den verfügbaren Skalen<br />
bestehen große Unterschiede, wobei auf der<br />
einen Seite die onkologischen Toxizitätsskalen,<br />
auf den <strong>neurologisch</strong>en Seite komplexere<br />
Skalen wie der TNS (Total Neuropathy Score)<br />
stehen. Eine sehr intensive Entwicklung wird<br />
durch ein europäisches Konsortium im Rahmen<br />
des Projektes „Perinoms“ durchgeführt.<br />
Die Verbesserung der derzeitigen Erfassung<br />
und Einführung von gut verwendbaren und<br />
leicht anwendbaren Skalen sollte auch von<br />
OnkologInnen leicht durchführbar sein.<br />
Eher kritisch wird die Rolle der Elektrophysiologie<br />
gesehen, die nur sehr ungenau mit<br />
den klinischen Symptomen korreliert. Nervenbiopsien<br />
sind ausschließlich im Rahmen von<br />
Studien möglich, die Rolle der Hautbiopsie<br />
könnte zunehmen.<br />
Einige der verwendeten Substanzen können<br />
auch mit neuropathischen Schmerzen einhergehen.<br />
Besonders bei der akuten Oxaliplatin-<br />
Nebenwirkung scheint die Aufregulierung<br />
von TRP-Rezeptoren eine Rolle zu spielen.<br />
Substanzen wie spezifische Rezeptorantagonisten<br />
könnten therapeutisch eingesetzt werden.<br />
Anhand von hereditären neuropathischen<br />
Schmerzsyndromen und damit verbundenen<br />
nachgewiesenen Kanalerkrankungen<br />
wird die Problematik verglichen.<br />
Experimentell werden von zahlreichen Zentren<br />
Tierversuche (vorwiegend mit Ratten, nunmehr<br />
zunehmend mit Mäusen) durchgeführt.<br />
Es wurde auch hingewiesen, dass Versuchstiere<br />
mit definierten Tumoren zunehmend verwendet<br />
werden. Von den Tiermodellen ist das<br />
wlds/C57BL/Ola-Mausmodell („slow wallerian<br />
degeneration“) zu erwähnen, bei dem auch<br />
nach der klassischen Nervendurchtrennung<br />
zunächst keine distale Wallersche Degeneration<br />
auftritt, sondern die distalen Axone als<br />
auch Mitochondrien längere Zeit überleben.<br />
Eine andere Richtung sind Drosophila-Tiermodelle,<br />
bei denen sowohl die Toxizität als auch<br />
mutagene Veränderungen analysiert werden<br />
können. Auch Laboruntersuchungen wie Mikrofluid-Kammern<br />
machen es möglich, Stoffwechselvorgänge<br />
an Axonen zu erforschen<br />
und Tierversuche zu reduzieren.<br />
Die Rolle der Mitochondrien scheint eine der<br />
Entwicklungsrichtungen der geplanten Forschungen<br />
zu sein. Besonders bei Bortezomib,<br />
Paclitaxel und Vincaalkaloiden kommt es experimentell<br />
bald zu einer Reduktion der Beweglichkeit<br />
der Mitochondrien. Strukturelle<br />
Veränderungen wie Vakuolisierung und<br />
Membrandefekte werden bei Platin-Derivaten<br />
beschrieben. Andererseits kommt es mit<br />
zunehmendem Alter auch zu zunehmenden<br />
DNA-Veränderungen der Mitochondrien.<br />
Auch wird beschrieben, dass die Mitochondriopathien<br />
in den distalen Abschnitten der<br />
peripheren Nerven besonders ausgeprägt ist.<br />
Bortezomib hingegen hat einen deutlichen<br />
Effekt auf die Mikrotubuli. Die Transportmechanismen<br />
von Chemotherapien in und aus<br />
den Neuronen und Axonen sind nicht geklärt,<br />
und es werden mehrere Transportmechanismen<br />
diskutiert (MDR P, CTR, OCT, CTR-1).<br />
Dieses erste Treffen zum Thema der CIPN im<br />
NIH unterstrich die Wichtigkeit dieser substanzabhängigen<br />
Krankheitsbilder und verdeutlichte<br />
auch, dass trotz klinisch guter Charakterisierung<br />
der verschiedenen Typen der<br />
CIPN wichtige Grundlagen zu deren Entstehung<br />
fehlen, welche die Grundlage zur Prophylaxe<br />
und Therapie sein sollten. Ein Grundlagenpapier<br />
zum Thema CIPN wird vom NIH<br />
erstellt und soll die Basis für weitere Entwicklungen<br />
sein.<br />
n<br />
111
NEUROLOGIE AKTUELL<br />
Neurochirurgie<br />
Sind tubuläre Spreizersysteme in der spinalen<br />
Neurochirurgie sinnvoll und nützlich?<br />
In der spinalen Neurochirurgie werden zunehmend tubuläre Spreizersysteme eingesetzt. Eine aktuelle Arbeit<br />
in Neurosurgery vergleicht tubuläre Diskektomien mit konventionellen Mikrodiskektomien beim lumbalen<br />
Bandscheibenvorfall 1 . Die 2-Jahres-Ergebnisse dieser randomisierten Doppelblindstudie zeigen keine Vorteile<br />
für tubuläre Spreizersysteme. Wird dies die Philosophie für die Operationszugänge beim lumbalen Bandscheibenvorfall<br />
wieder ändern? Wahrscheinlich ja, aber in mehrerlei Hinsicht und mit durchaus positivem Effekt.<br />
Die Überlegungen für den Einsatz tubulärer<br />
Spreizersysteme in der spinalen Neurochirurgie<br />
basieren auf der Annahme, dass transmuskuläre<br />
Dilatationssysteme das zugangsbedingte<br />
Gewebstrauma verringern können<br />
und daher geringere postoperative Schmerzen<br />
auftreten und damit auch eine frühere<br />
Mobilisierung und ein kürzerer Spitalsaufenthalt<br />
möglich sind.<br />
Studienergebnisse<br />
Die eingangs erwähnte aktuelle randomisierte<br />
Doppelblindstudie 1 aus Holland vergleicht<br />
die Daten von 166 PatientInnen nach tubulärer<br />
Diskektomie mit den Daten von 159 PatientInnen<br />
nach konventioneller Mikrodi s -<br />
kektomie. Nach 2 Jahren zeigte sich bei 71 %<br />
der tubulären Diskektomie-Gruppe ein gutes<br />
Ergebnis („good recovery“) gegenüber 77 %<br />
der PatientInnen aus der konventionellen Mikrodiskektomie-Gruppe.<br />
PatientInnen aus der<br />
tubulären Diskektomie-Gruppe berichteten<br />
häufiger über Bein- und Rückenschmerzen<br />
als die PatientInnen nach konventioneller<br />
Mikrodiskektomie. Im Hinblick auf die Spitalsaufenthaltsdauer<br />
(3,3 Tage einschließlich<br />
zumeist einem präoperativen Tag) zeigte sich<br />
kein Unterschied. 46 % aus der tubulären<br />
Diskektomie-Gruppe konnten bereits am<br />
OP-Tag mobilisiert werden gegenüber 51 %<br />
aus der konventionellen Mikrodiskektomie-<br />
Gruppe.<br />
Nervenwurzelverletzungen traten in beiden<br />
Gruppen bei jeweils 2 % auf, Duraverletzungen<br />
(Dural Tear) bei 8,4 % bei tubulärer Diskektomie<br />
versus 4,4 % bei konventioneller<br />
Mikrodiskektomie. Die Rezidivrate im 2-Jahres-Beobachtungszeitraum<br />
(OP-pflichtig) betrug<br />
9,6 % versus 5,7 %. In 2 Fällen musste<br />
der Versuch einer tubulären Diskektomie als<br />
konventionelle Mikrodiskektomie fortgesetzt<br />
werden.<br />
Diskussion<br />
„Umwegrentabilität“ für die<br />
konventionelle Mikrodiskektomie<br />
Diese Ergebnisse zeigen klar, dass in der operativen<br />
Behandlung des lumbalen Bandscheibenvorfalles<br />
transmuskuläre Dilatationssysteme<br />
keine Vorteile gegenüber der konventionellen<br />
Mikrodiskektomie bringen und die<br />
Erwartungen im Zusammenhang mit dem<br />
Abb.: 33-jähriger Patient mit sequestriertem Diskusprolaps L3/4: (A) MR sagittal präoperativ; (B) MR axial präoperativ;<br />
(C) MR axial 4 Jahre nach konventioneller Mikrodiskektomie: zartes interarcuäres Fenster links, keine relevante<br />
epidurale Narbenformation, keine Denervation bzw. Atrophie der Rückenmuskulatur.<br />
A B C<br />
112
Zusammengestellt im Namen des Beirats „Neurochirurgie“:<br />
Prim. Univ.-Doz. Dr. Manfred Mühlbauer<br />
SMZ Ost, Donauspital, Wien<br />
vermuteten geringeren Gewebstrauma nicht<br />
erfüllt wurden.<br />
Dennoch sollten diese Daten zu einem weiteren<br />
Fortschritt in der lumbalen Diskuschirurgie<br />
führen: In der vorliegenden Studie<br />
wurde bei beiden Patientengruppen ein medianer<br />
Hautschnitt über der Zielregion von<br />
etwa 2,5 cm angelegt. Es ist also offensichtlich,<br />
dass hier auch bei der konventionellen<br />
Mikrodiskektomie sehr zarte Spreizersysteme<br />
verwendet wurden und ein solcher Eingriff<br />
durchaus als „minimalinvasiv“ bezeichnet<br />
werden kann.<br />
Man könnte die Ergebnisse dieser Studie also<br />
auch so interpretieren, dass konventionelle<br />
Mikrodiskektomien in minimalinvasiver Technik<br />
mit ebenso geringem Gewebstrauma vorgenommen<br />
werden können wie tubuläre Diskektomien<br />
(Abb.).<br />
Frühe Mobilisierung: Die vorliegende Studie<br />
zeigt auch, dass es die Infrastruktur in<br />
mittel- und westeuropäischen Ländern<br />
durchaus erlaubt, bei lumbalen Diskektomien<br />
den gesamten Spitalsaufenthalt einschließlich<br />
einem präoperativen Tag im<br />
Durchschnitt auf 3,3 Tage zu senken und<br />
viele PatientInnen bereits am Operationstag<br />
zu mobilisieren. Um diese medizinisch und<br />
ökonomisch sinnvolle Reduktion der Liegezeiten<br />
zu erreichen, muss aber angedacht<br />
werden, zumindest einen Teil der lumbalen<br />
Mikrodiskektomien – so wie dies häufig bei<br />
tubulären Diskektomien üblich ist – in Spinalanästhesie<br />
durchzuführen. Auch in dieser<br />
Hinsicht konfrontiert uns die aktuelle Studie<br />
mit der Frage, ob wir möglicherweise in der<br />
operativen Behandlung lumbaler Bandscheibenvorfälle<br />
noch immer zu konventionell<br />
denken und im Glauben verhaftet sind: „so<br />
wie es immer war ist es für immer gut“?<br />
Eine damit erzielbare frühe Mobilisierung bereits<br />
am Operationstag wäre vielleicht auch<br />
ein probates Mittel, die PatientInnen weniger<br />
dahingehend zu stigmatisieren „ich bin operiert<br />
und muss/darf daher jetzt leiden …“<br />
Und der Spitalsaufenthalt nach lumbalen Diskektomien<br />
kann mit den heutigen Möglichkeiten<br />
einer oralen Analgesie ohne Nachteile<br />
für die PatientInnen ebenfalls vernünftig kurz<br />
gehalten werden.<br />
Komplikationsrate: Natürlich werden lumbale<br />
Bandscheibenoperationen durch kleine<br />
gewebeschonende Zugänge auch technisch<br />
anspruchsvoller, aber die höhere Komplikationsrate<br />
in der tubulären Diskektomie-Gruppe<br />
in der vorliegenden Studie zeigt, dass die<br />
konventionelle Mikrodiskektomie auch hier<br />
im Vorteil ist. Tubuläre Spreizersysteme formen<br />
einen starren Operationskanal und<br />
erzeugen so mehr „tote Winkel“ im Operationsareal.<br />
Bei der konventionellen Mikrodiskektomie<br />
wird der Operationskanal zumindest<br />
teilweise von Weichteilen begrenzt, sodass<br />
flexiblere Winkel der Instrumente bei<br />
der Präparation in der Tiefe möglich sind.<br />
Dies ist allerdings entscheidend abhängig<br />
vom verwendeten Spreizersystem.<br />
Reoperationsrate: Bemerkenswert erscheinen<br />
die in der Studie angegebene Erfolgsrate<br />
(good outcome) von lediglich 77 % nach<br />
konventioneller Mikrodiskektomie (71 %<br />
nach tubulärer Diskektomie) sowie die hohen<br />
Reoperationsraten innerhalb des 2-Jahres-Beobachtungszeitraumes<br />
von 15 % bei tubulärer<br />
Mikrodiskektomie und 10 % bei konventioneller<br />
Mikrodiskektomie. Tatsache ist,<br />
dass die PatientInnen dieser Studie innerhalb<br />
von 2 Jahren zu 9 Nachuntersuchungen gebeten<br />
wurden. Kein erfahrener Bandscheibenoperateur<br />
wird widersprechen, dass Diskuspatienten<br />
durch 9 Nachuntersuchungen<br />
in 2 Jahren permanent auf ihr Rückenproblem<br />
fokussiert bleiben und sich der Gedanke „ich<br />
bin gesund, und mir geht es gut“ erst gar<br />
nicht entwickeln kann. Auch die AutorInnen<br />
der Studie räumen selbst ein, dass aufgrund<br />
der engen Kontrollintervalle wesentlich häufiger<br />
bereits bei geringen Restbeschwerden<br />
MRT-Untersuchungen durchgeführt wurden<br />
und dann bei Bekanntwerden der Diagnose<br />
„Rezidivdiskusprolaps“ oft auch bei nur geringer<br />
klinischer Relevanz eine neuerliche<br />
Operation eingefordert wurde.<br />
Neue Spreizersysteme: Offen bleibt die<br />
Frage, wie sinnvoll und nützlich neue expandierbare<br />
tubuläre Spreizersysteme für rekonstruktive<br />
Eingriffe an der Wirbelsäule sind und<br />
ob damit die Denervation der Rückenmuskulatur,<br />
wie sie häufig nach konventionellen makroskopischen<br />
dorsalen Zugängen gesehen<br />
wird, tatsächlich vermieden werden kann? Es<br />
besteht aber kein Zweifel, dass durch die Einführung<br />
dieser innovativen Spreizersysteme<br />
auch ein Umdenken in der rekonstruktiven<br />
spinalen Neurochirurgie stattgefunden hat.<br />
Auch hier sind nun gewebeschonende Operationszugänge<br />
– unabhängig vom verwendeten<br />
Spreizersystem – ein Thema, ebenso<br />
wie das Streben, die Innervation der Rückenmuskulatur<br />
bestmöglich zu erhalten.<br />
Für die Neurochirurgie jedenfalls bieten diese<br />
Spreizersysteme nicht unwesentliche Vorteile<br />
gegenüber C-Bogen-assistierten perkutanen<br />
Techniken: Die Strahlenexposition – vor allem<br />
die kumulierte Strahlenexposition für die<br />
OperateurInnen – ist wesentlich geringer, die<br />
bei neurochirurgischen PatientInnen fast<br />
immer indizierte Dekompression des Spinalkanales<br />
ist in gewohnter mikrochirurgischer<br />
Technik möglich, und auch das Einbringen<br />
der Implantate und eventuelle Repositionsmanöver<br />
gestalten sich weniger komplex als<br />
bei rein perkutanen Techniken. Daher könnten<br />
diese neuen expandierbaren tubulären<br />
Spreizersysteme in der rekonstruktiven spinalen<br />
Neurochirurgie durchaus von Vorteil sein,<br />
allerdings sind sie unglaublich teuer …<br />
Fazit<br />
Zusammenfassend zeigt die vorliegende Studie<br />
aus Holland zwar keinen unmittelbaren<br />
Vorteil für tubuläre Spreizersysteme in der<br />
lumbalen Diskuschirurgie, allerdings hat sie<br />
aus meiner Sicht eine wertvolle „Umwegrentabilität“<br />
für medizinisch und ökonomisch interessante<br />
Weiterentwicklungen bei der konventionellen<br />
Mikrodiskektomie.<br />
n<br />
1<br />
Arts MP, Brand R, van den Akker ME, Koes BW, Bartels<br />
RH, Tan W, Peul WC, Tubular Discectomy vs Conventional<br />
Microdiskectomy for the Treatment of Lumbar Disc<br />
Herniation: 2-Year Results of a Double-Blind Randomized<br />
Controlled Trial. Neurosurgery 2011; 69(1):135–144<br />
113
NEUROLOGIE AKTUELL<br />
Neuroimaging<br />
Magnetresonanztomographie<br />
Diagnose und Verlaufsbeobachtung<br />
von Hirntumoren<br />
Hirntumoren sind intrakranielle Raumforderungen<br />
unterschiedlicher Lokalisation, Biologie<br />
und Prognose, die entweder primär innerhalb<br />
des Schädels entstehen oder ausgehend<br />
von systemischen malignen Tumoren in<br />
das Gehirn oder die daran angrenzenden<br />
Strukturen metastasieren.<br />
Die biologische Aktivität von Hirntumoren ergibt<br />
sich aus mehreren Faktoren. Diese sind<br />
der histologische Grad, das infiltrative Wachstum<br />
bestimmter Hirntumoren, die Lokalisation<br />
des Tumors innerhalb eines spezifischen<br />
Hirnareals oder der Schädelhöhle, die sekundären<br />
Folgen von Hirntumoren wie Ödem<br />
oder Blutung sowie die beschränkte Möglichkeit<br />
der geschlossenen Schädelhöhle zur<br />
Anpassung an einen gesteigerten intrakraniellen<br />
Druck. Prognostische Prädiktoren für<br />
das Ansprechen auf Therapien (Operation,<br />
Radiotherapie, Chemotherapie, molekulargenetische<br />
Therapie) sind neben Histologie, Tumorgrad,<br />
Alter und Allgemeinzustand auch<br />
das molekulargenetische Profil des Tumors.<br />
Konventionelle Bildgebung<br />
Obschon die Computertomographie (CT) in<br />
der Akutabklärung <strong>neurologisch</strong>er Symptome<br />
wegen der besseren Verfügbarkeit meistens<br />
als erste Modalität eingesetzt wird, ist die<br />
Magnetresonanztomographie (MRT) bei der<br />
Diagnose von intrakraniellen Neoplasien die<br />
Methode der Wahl. Sie ist sensitiver in der<br />
Darstellung und Abgrenzung von Hirntumoren<br />
als die CT. Verschiedene Sequenzen (z. B.<br />
T1-, T2-, protonengewichtete Sequenzen,<br />
FLAIR-Sequenzen oder Gradientenechosequenzen)<br />
visualisieren unterschiedliche Komponenten<br />
einer Läsion.<br />
So zeigt eine Kontrastmittelaufnahme innerhalb<br />
eines Tumors den Verlust der Blut-Hirn-<br />
Schranke durch pathologische Blutgefäße an.<br />
Das Fehlen von Kontrastmittelaufnahme<br />
schließt jedoch einen Hirntumor nicht aus,<br />
weil diffuse Gliome eine funktionell intakte<br />
Blut-Hirn-Schranke haben. Da bestimmte Tumoren<br />
spezifische und manchmal pathognomische<br />
Gewebskomponenten haben, erlaubt<br />
die Zusammenschau von verschiedenen Sequenzen<br />
und der Einsatz von Kontrastmittel<br />
eine ausgezeichnete Charakterisierung von<br />
Tumortyp und Tumorgrad.<br />
Die Möglichkeit der multiplanaren Bildgebung<br />
erlaubt darüber hinaus eine eindeutige Unterscheidung<br />
zwischen intra- und extrazerebraler<br />
Lokalisation der Läsion und ermöglicht<br />
eine gute Abgrenzung der Läsion zu neuro -<br />
anatomischen Strukturen und Gefäßen. Zusätzliche<br />
Informationen über die Lokalisation<br />
des Tumors innerhalb des Schädels, das Alter<br />
und das Geschlecht der PatientInnen lassen<br />
eine Annäherung an die histopathologische<br />
Diagnose zu. Die MRT zeigt auch das Ausmaß<br />
von Hirnödem und Raumforderung auf,<br />
wobei aber bei diffus infiltrierenden Hirntumoren<br />
fließende Übergänge zwischen Tumor -<br />
infiltration und Ödem bestehen (Abb. 1).<br />
Präoperatives Imaging zur<br />
Planung von Biopsie und Resektion<br />
In gliomatösen Tumoren kann es ein Neben-<br />
Abb. 1: Extra- vs. intraaxiale Raumforderung<br />
Abb. 2: fMRI<br />
Mit freundlicher Genehmigung Univ.-Prof. Dr. F. Ebner und Mag. Karl<br />
Koschutnig (Universitätsklinik für Radiologie Graz, Klinische Abteilung<br />
für Neuroradiologie)<br />
Links: Meningeom WHO Grad I. KM-aufnehmende Expansion mit<br />
Ödem und Raumfor derung. Rechts: Glioblastoma multiforme WHO<br />
Grad IV. Expansion mit irregulärer KM-Aufnahme, zystischen Anteilen,<br />
Ödem und Raumforderung.<br />
Handaktivierung bei Tumor cerebri im Gyrus praecentralis rechts.<br />
Motorisches Paradigma (Schwellenwert p < 0,01). Verlagerung<br />
des funktionellen motorischen Areales an die kaudale Tumorbegrenzung.<br />
DTI (links unten): bogiger Verlauf der absteigenden langen Bahnen im DTI<br />
im Randbereich des Tumors.<br />
114
Zusammengestellt für den Beirat „Neuroimaging“:<br />
Dr. Franz Payer<br />
Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong> und Universitätsklinik für Radiologie, Medizinische Universität Graz<br />
einander von Anteilen mit unterschiedlichem<br />
Malignitätsgrad geben. Mit steigender Malignität<br />
kommt es zu Gefäßproliferation und<br />
Neovaskularisation. Höhergradige Gliome<br />
haben nicht nur eine Störung der Blut-Hirn-<br />
Schranke, sondern auch eine stärkere Durchblutung<br />
in der MR-Perfusion als niedriggradige<br />
Gliome. Damit können präoperativ höhergradige<br />
Tumoranteile innerhalb eines<br />
primär benigne erscheinenden, nicht kontrastmittelaufnehmenden<br />
Tumors gezeigt<br />
werden. Dies ist essenziell für die Planung<br />
einer stereotaktischen Biopsie, da bei einem<br />
Nebeneinander von benignen und malignen<br />
Tumoranteilen der Zielpunkt der Biopsie der<br />
malignere, biologisch aktivere Tumoranteil<br />
sein muss.<br />
Bei der Resektion von Hirntumoren sollten<br />
mögliche Auswirkungen auf Funktionen wie<br />
Motorik, Sensorik und Sprache beachtet werden.<br />
Die entsprechenden Hirnregionen sollten<br />
möglichst geschont und erhalten werden.<br />
Mittels funktioneller MRT (fMRT) können<br />
durch Aktivierung spezifische Funktionsareale<br />
und deren räumliche Beziehung zum Tumor<br />
dargestellt werden. Diffusion-Tensor-Imaging<br />
(DTI) stellt die Lokalisation und den Verlauf<br />
von Bahnsystemen im Marklager des Gehirns<br />
dar und macht deren Beziehung zum Tumor<br />
sichtbar. Dadurch kann bereits präoperativ<br />
das exakte Ausmaß der Tumorresektion geplant<br />
werden (Abb. 2).<br />
Verlaufsbeobachtung<br />
unter Therapie<br />
Die Methode der Wahl zur Beurteilung des<br />
Ansprechens auf die Therapie bei Hirntumoren<br />
war bis vor Kurzem der radiologische Respons<br />
basierend auf der Größe des KM-aufnehmenden<br />
Anteils des Tumors mittels konventioneller<br />
MRT (MacDonald-Kriterien).<br />
Einschränkend muss jedoch betont werden,<br />
dass die Kontrastmittelaufnahme nicht immer<br />
das gesamte Ausmaß der Tumorinfiltration<br />
und die Aktivität des Tumors reflektiert. Eine<br />
Änderung der KM-Aufnahme kann auch Ausdruck<br />
anderer Phänomene sein. Verstärkte<br />
KM-Aufnahme findet sich postoperativ im<br />
Bereich des Resektionsrandes, bei therapiebedingter<br />
Entzündung, Ischämie und manchmal<br />
in epileptischen Foci. Auch Reaktionen<br />
auf Radio-Chemotherapie können zu verstärkter<br />
KM-Aufnahme, Ödem und Raumforderung<br />
führen. Kommt es innerhalb von 3<br />
bis 6 Monaten ohne spezifische Tumortherapie<br />
zur Rückbildung oder Stabilisierung, wird<br />
diese Veränderung als Pseudoprogression bezeichnet<br />
(Abb. 3).<br />
Im Gegensatz dazu können antiangiogenetische<br />
Therapien die Permeabilität von Tumorgefäßen<br />
normalisieren und damit die KM-<br />
Aufnahme innerhalb des Tumors und das begleitende<br />
Ödem im Sinne eines so genannten<br />
Pseudorespons reduzieren, obwohl Tumorzellen<br />
weiterhin entlang normaler Gefäßstrukturen<br />
und Bahnsystemen ins angrenzende<br />
Hirngewebe infiltrieren (Abb. 4).<br />
Vor allem wegen dieser Einschränkung muss<br />
zusätzlich zur KM-Aufnahme auch die Signalabnormität<br />
in der T2-gewichteten oder<br />
FLAIR-Sequenz zur Beurteilung herangezogen<br />
werden (RANO-Kriterien). Darüber hinaus<br />
sollten im Rahmen der Therapie von Hirntumoren<br />
neben der konventionellen MRT<br />
auch funktionell bildgebende Verfahren wie<br />
MR-Perfusion, MR-Diffusion und MR-Spektroskopie<br />
in die Verlaufsbeobachtung mit einbezogen<br />
werden.<br />
n<br />
Abb. 3: Pseudoprogression bei Glioblastoma multiforme<br />
Abb. 4: Pseudorespons unter antiangiogenetischer<br />
Therapie<br />
Links: 24 Stunden nach Operation. Mitte: 3 Monate nach Radio-Chemo -<br />
therapie. Zunahme von KM-Aufnahme, Ödem und Raumforderung.<br />
Rechts: 6 Monate nach Radio-Chemotherapie. Abnahme von KM-Aufnahme,<br />
Ödem und Raumforderung.<br />
Links: Rezidivtumor mit KM-Aufnahme und Ödem vor Therapie.<br />
Rechts: Abnahme von KM-Aufnahme und Ödem, jedoch Zunahme<br />
der Tumorinfiltration in rechter Hemisphäre nach 9 Monaten Therapie.<br />
115
Service –Veranstaltungstermine<br />
Jahrestagung der<br />
Österreichischen Parkinson <strong>Gesellschaft</strong><br />
13.–15. Oktober<br />
Congress Center, Villach<br />
Information: pco tyrol congress, Rennweg 3, 6020 Innsbruck<br />
Webinfo: www.parkinson.at<br />
5 th World Congress on Controversies in Neurology<br />
13.–16. Oktober<br />
Beijing, China<br />
Webinfo: comtecmed.com/cony/2011/<br />
Kurs „Praktische Demenzdiagnostik“<br />
14.–15. Oktober<br />
LKH Innsbruck, FKK-Gebäude<br />
Seminarraum 8. Stock<br />
Anichstraße 35, 6020 Innsbruck<br />
Information: Univ.-Prof. Dr. Thomas Benke<br />
E-Mail: thomas.benke@i-med.ac.at<br />
Ultraschallkurse der ARGE Neurosonologie<br />
15.–16. Oktober<br />
Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong><br />
6020 Innsbruck<br />
Information: Sekretariat des Neurosonologischen Labors<br />
Tel.: +43 (0)512(504 23871<br />
Innsbrucker Neurosonokurse „Kurs 1“<br />
15.–16. Oktober<br />
Information: Dr. Christoph Schmidauer<br />
E-Mail: christoph.schmidauer@uki.at<br />
Facharztausbildungsseminar WS 2011<br />
20.–22. Oktober<br />
Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong>, Innsbruck<br />
Information: ÖGN-Sekretariat<br />
7 th International Congress on Vascular Dementia<br />
20.–23. Oktober<br />
Riga, Latvia<br />
Information: Congress Secretariat<br />
Tel.: +41 (0)22/908 04 88<br />
Fax: +41 (0)22/906 91 40<br />
E-Mail: vascular@kenes.com<br />
Webinfo:<br />
www.kenes.com/vascular2011/mailshots/ms5.htm?ref5=db1<br />
1 st European NeuroRehabiliation Congress<br />
20.–22. Oktober<br />
Kurhaus Meran<br />
I-39012 Meran, Freiheitsstraße 33 Corso Libertà<br />
Information:<br />
E-Mail: enrc2011@come-innsbruck.at<br />
Webinfo: www.enrc2011.eu<br />
2. Grazer Neurogeriatrisches Symposium<br />
22. Oktober<br />
Albert-Schweitzer-Klinik<br />
8020 Graz, Albert-Schweitzer-G. 36<br />
Information: OA Dr. Ronald Saurugg, Abteilung für <strong>Neurologie</strong><br />
Fax: +43 (0)316/70 60-1319<br />
E-Mail: ronald.saurugg@stadt.graz.at<br />
12. Linzer Schlaganfallkurs<br />
28. Oktober<br />
Ausbildungszentrum der<br />
OÖ Landes-Nervenklinik Wagner-Jauregg<br />
Niedernharter Straße 20, 4020 Linz<br />
Information:<br />
Ramona Steinkellner, Landes-Nervenklinik Wagner-Jauregg<br />
Tel.: +43 (0)50/554 62-25701<br />
E-Mail: neurologiesekr.wj@gespag.at<br />
Schmerzakademie Modul 1<br />
28.–30. Oktober<br />
Hotel Friesacher, Anif<br />
Information: ÖGN-Sekretariat<br />
9. Südtiroler Neurophysiologisches Wochenende<br />
28.–30. Oktober<br />
Sand in Taufers/Campo Tures<br />
Information: Frau Schleyer, Care Fusion Germany 234<br />
Training Center, 97204 Höchberg, Leibnizstraße 7<br />
„Neurologischer Donnerstag“<br />
3. November<br />
Landes-Nervenklinik Wagner-Jauregg, Ausbildungszentrum<br />
Niedernharter Straße 20, 4020 Linz<br />
Information:<br />
Univ.-Prof. Prim. Dr. Franz Aichner<br />
Landes-Nervenklinik Wagner-Jauregg<br />
Tel.: +43 (0)50/554 62-25701<br />
E-Mail: franz.aichner@gespag.at<br />
2. Nationaler Fachkongress Telemedizin<br />
3.–4. November<br />
Ellington Hotel, Saal Femina, Nürnberger Straße 50–55,<br />
10789 Berlin<br />
Webinfo: www.telemedizinkongress.de<br />
Akademie Neurologische Gutachter<br />
4. November<br />
Ort: Hotel Gut Brandhof, Saalfelden<br />
Information: ÖGN-Sekretariat<br />
MS-Usermeeting<br />
4. November<br />
Hotel Gut Brandlhof, Saalfelden<br />
Information: ÖGN-Sekretariat<br />
Plattform Niedergelassene NeurologInnen<br />
4.–5. November<br />
Hotel Gut Brandlhof, Saalfelden<br />
Information: ÖGN-Sekretariat<br />
121
Service –Veranstaltungstermine<br />
19. Jahrestagung der Deutschen <strong>Gesellschaft</strong> für<br />
Schlafforschung und Schlafmedizin<br />
10.–12. November<br />
Mannheim<br />
Information: Deutsche <strong>Gesellschaft</strong> für Schlafforschung<br />
und Schlafmedizin<br />
E-Mail: dgsm@conventus.de<br />
Webinfo: www.dgsm2011.de<br />
XX th World Congress of Neurology<br />
12.–17. November<br />
Marrakesh, Morocco<br />
Information: Kenes International, CH-1211 Geneva 1<br />
Switzerland, 1-3 rue de Chantepoulet, P.O. Box 1726<br />
Tel: +41 (0)22/908 04 88<br />
Fax: +41 (0)22/906 91 40<br />
E-Mail: wcn@kenes.com<br />
Webinfo: www.kenes.com/404a.htm<br />
19. Jahrestagung der Österreichischen <strong>Gesellschaft</strong><br />
für Neuroradiologie<br />
17.–19. November<br />
Stift Klosterneuburg<br />
Webinfo: www.perfusion.at<br />
Ultraschalldiagnostik der hirnversorgenden<br />
Arterien – A Einführungs-Aufbaukurs<br />
19.–20. November<br />
Hotel Mercure, Waltendorfer Gürtel 8–10, 8010 Graz<br />
Information:<br />
Univ.-Prof. Dr. Kurt Niederkorn<br />
Reitschulgasse 18, 8010 Graz<br />
E-Mail: office@niederkorn.at<br />
„Neurologischer Donnerstag“<br />
24. November<br />
AKH Linz, Med. Ausbildungszentrum, Hörsaal 1 bzw. 3a/b<br />
Paula Scherleitner Weg 3, 4020 Linz<br />
Information:<br />
Univ.-Prof. Dr. Gerhard Ransmayr, AKH Linz<br />
Tel.: +43 (0)732/78 06-6811<br />
E-Mail: gerhard.ransmayr@akh.linz.at<br />
Curriculum Neurorehabilitation – Modul 4<br />
25. November<br />
Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong> Graz<br />
Information: ÖGN-Sekretariat<br />
ÖGN-Schmerzakademie Modul 2<br />
25.–27. November<br />
Hotel Friesacher, Anif<br />
Information: ÖGN-Sekretariat<br />
Jahrestagung der Österreichischen <strong>Gesellschaft</strong><br />
für Neurorehabilitation<br />
ACHTUNG: verschoben auf 2012<br />
Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong>, Graz<br />
Information: Univ.-Doz. Dr. Christian Enzinger<br />
E-Mail: chris.enzinger@medunigraz.at<br />
ÖGN-Sekretariat: Tanja Weinhart<br />
Garnisongasse 7/22, 1090 Wien<br />
Tel.: +43 (0)1/512 80 91-19<br />
E-Mail: weinhart@admicos.com<br />
Innere Medizin Update – Refresher<br />
30. November bis 4. Dezember<br />
Aula der Wissenschaften, Wien<br />
Information: Forum für medizinische Fortbildung<br />
Tel.: +43 (0)2252/263 263-10<br />
Fax: +43 (0)2252/263 263-40<br />
E-Mail: info@fomf.at<br />
Webinfo: www.fomf.at<br />
2 nd World Congress of Clinical NeuroMusicology<br />
2.–3. Dezember<br />
Hotel Sacher, Wien<br />
E-Mail: neuromusicology2011@medacad.org<br />
6. Deutscher Wirbelsäulenkongress<br />
8.–10. Dezember<br />
Congress Centrum Hamburg<br />
Information: Justus G. Appelt<br />
Tel.: +49 (0)3641/311 63 11<br />
Fax: +49 (0)3641/311 62 40<br />
E-Mail: dwg@conventus.de<br />
Webinfo: www.dwg2011.de<br />
7. Internationales Curriculum „Funktionelle<br />
Bildgebung des Gehirns“ – Grundkurs<br />
9. Dezember<br />
AKH Wien, Jugendstilhörsaal, Bauteil 88, Ebene 02, Stiege 8<br />
Spitalgasse 23, 1090 Wien<br />
Information:<br />
DI Alexander Geißler, PhD, AG klinische fMRT<br />
Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong>, Exzellenzzentrum Hochfeld<br />
MR, Med. Univ. Wien, Währinger Gürtel 18–20, 1090 Wien<br />
E-Mail: alexander.geissler@meduniwien.ac.at<br />
MS-Akademie<br />
9.–10. Dezember<br />
Seminarhotel Lengbachhof, Steinhäusl 8, 3033 Altlengbach<br />
Information: ÖGN-Sekretariat<br />
11. Österreichisches fMRT Symposium<br />
10. Dezember<br />
AKH Wien, Jugendstilhörsaal, Bauteil 88, Ebene 02, Stiege 8<br />
Spitalgasse 23, 1090 Wien<br />
Information:<br />
DI Alexander Geißler, PhD, AG klinische fMRT<br />
Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong>, Exzellenzzentrum Hochfeld<br />
MR, Med. Univ. Wien, Währinger Gürtel 18–20, 1090 Wien<br />
E-Mail: alexander.geissler@meduniwien.ac.at<br />
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