Agnes Miegel - Nibelungenrezeption.de
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<strong>Agnes</strong> <strong>Miegel</strong><br />
<strong>Agnes</strong> <strong>Miegel</strong> (* 9.3.1879 in Königsberg – † 26.10.1964 in Bad Salzuflen). Für die Dichterin, <strong>de</strong>ren<br />
Gedichte und Novellen ihre ostpreußische Heimat thematisieren, bil<strong>de</strong>t das Nibelungen-Thema<br />
die Ausnahme. Doch stellt die 1905 geschaffene, von atmosphärischer Dichte zeugen<strong>de</strong> Balla<strong>de</strong><br />
„Die Nibelungen“ sicher einen <strong>de</strong>r Höhepunkte mo<strong>de</strong>rner Balla<strong>de</strong>ndichtung dar.<br />
GG<br />
Die Nibelungen<br />
In <strong>de</strong>r dunkeln<strong>de</strong>n Halle saßen sie,<br />
Sie saßen geschart um die Flammen,<br />
Hagen Tronje zur Linken, sein Schwert auf <strong>de</strong>m Knie,<br />
Die Könige saßen zusammen.<br />
Schön Kriemhild kauerte nah <strong>de</strong>r Glut.<br />
Von ihren schmalen Hän<strong>de</strong>n<br />
Zuckte <strong>de</strong>r Schein wie Gold und Blut<br />
Und sprang hinauf an <strong>de</strong>n Wän<strong>de</strong>n.<br />
1
König Gunter sprach: „Mein Herz geht schwer,<br />
Hör’ ich <strong>de</strong>n Ostwind klagen!<br />
Spielmann, lang <strong>de</strong>ine Fie<strong>de</strong>l her,<br />
Sing uns von frohen Tagen!“<br />
Aufflog ein jubeln<strong>de</strong>r Bogenstrich<br />
Und flatterte an <strong>de</strong>n Balken,<br />
Herr Volker sang: „Einst zähmte ich<br />
Einen e<strong>de</strong>len Falken ...“<br />
Die blon<strong>de</strong> Kriemhild blickte auf<br />
Und sprach mit Tränen und leise:<br />
„Spielmann, hör mit <strong>de</strong>m Lie<strong>de</strong> auf,<br />
Sing eine andre Weise!“<br />
Die braune Fie<strong>de</strong>l raunte alsbald<br />
Träumend und ganz versonnen,<br />
Herr Volker sang: „Im O<strong>de</strong>nwald<br />
Da fließt ein kühler Bronnen ...“<br />
Die blon<strong>de</strong> Kriemhild wandte sich<br />
Und sprach mit Tränen und bange:<br />
„Mein Herz schlägt laut und fürchtet sich<br />
Und bebt bei <strong>de</strong>inem Sange ...“<br />
Anhub die Fie<strong>de</strong>l zum drittenmal<br />
Aufweinend in Gram und Lei<strong>de</strong>,<br />
Herrn Volkers Stimme sang im Saal,<br />
Wie ein Vogel auf nächtiger Hei<strong>de</strong>:<br />
„Es glimmt empor aus ewiger Nacht<br />
Heißer als alle Feuersglut,<br />
Gelb wie das Aug <strong>de</strong>r Zwergenbrut,<br />
Das gierig seinen Glanz bewacht, –<br />
O weh <strong>de</strong>r Lust, die mich gezeugt!<br />
2
Wie Brunft nach Brunft im Forste schreit,<br />
Wie nach <strong>de</strong>r Lohe lechzt die Glut,<br />
So treibt die Gier nach Menschenblut<br />
Ans Licht <strong>de</strong>n Hort <strong>de</strong>r Dunkelheit, –<br />
O weh <strong>de</strong>m Schoß, <strong>de</strong>r mich gebar!<br />
Es ruft <strong>de</strong>n Neid, es weckt <strong>de</strong>n Mord,<br />
Stört auf die Drachen Trug und List,<br />
Hetzt Rachsucht, die die Rache frißt, –<br />
Und immer röter glüht <strong>de</strong>r Hort, –<br />
O weh <strong>de</strong>r Brust, die mich gesäugt!<br />
Es treibt und schwimmt im Purpurquell,<br />
Es trinkt <strong>de</strong>n Quell und lechzt nach mehr,<br />
Es braust und schäumt, die Flut steigt schnell,<br />
Breit wie die Donau strömt es her, –<br />
O weh <strong>de</strong>r Lieb, die lieb mir war!<br />
Es schäumt und braust, atmet und steigt,<br />
Schon bran<strong>de</strong>t’s draußen an die Tür,<br />
Es klopft und pocht, <strong>de</strong>r Riegel weicht,<br />
Nun flutet’s heiß und rot herfür, –<br />
Weh über mich, weh über euch!“<br />
Jäh bei <strong>de</strong>m letzten Bogenstrich<br />
Sprangen die Saiten und schrieen,<br />
Hagen von Tronje neigte sich<br />
Und wiegte sein Schwert auf <strong>de</strong>n Knieen.<br />
Die Könige saßen bleich und verstört,<br />
Doch die schöne Kriemhild lachte,<br />
Sie sprach: „Nie hab ich ein Lied gehört,<br />
Das mich lustiger machte!“<br />
3
Sie kniete nie<strong>de</strong>r und schürte die Glut.<br />
Von ihren schmalen Hän<strong>de</strong>n<br />
Zuckte <strong>de</strong>r Schein wie Gold und Blut<br />
Und sprang hinauf an <strong>de</strong>n Wän<strong>de</strong>n.<br />
Quelle:<br />
<strong>Agnes</strong> <strong>Miegel</strong>: Gedichte und Prosa. Auswahl von Inge Die<strong>de</strong>richs. Düsseldorf-Köln<br />
1977, S. 33 – 35.<br />
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