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Zwischen Resignation und neuem Aufbruch. Zur gegenwärtigen ...

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Hans Joachim Meyer<br />

<strong>Zwischen</strong> <strong>Resignation</strong> <strong>und</strong> <strong>neuem</strong> <strong>Aufbruch</strong>.<br />

<strong>Zur</strong> <strong>gegenwärtigen</strong> Situation der Katholischen Kirche<br />

(Hildesheim, 29. Januar 2014)<br />

Es ist leider wahr – zur <strong>Resignation</strong> hätten wir hinreichend Gr<strong>und</strong>.<br />

Das Maß unserer <strong>Resignation</strong> ist umgekehrt proportional zum Maß<br />

jenes großen <strong>Aufbruch</strong>s, den das II. Vatikanische Konzil für die<br />

Katholische Kirche bedeutete. Und viele von denen, zu deren<br />

Lebenserfahrung dieses erhoffte, aber bis dahin unvorstellbare<br />

Ereignis gehört, sehen in ihm bis heute einen wichtigen Kraftquell für<br />

ihren Glauben <strong>und</strong> für ihre Verb<strong>und</strong>enheit mit der Kirche. Ich<br />

erinnere nur an die wichtigen Beschlüsse des Konzils: die<br />

Offenbarungskonstitution Verbum Dei, die Kirchenkonstitution<br />

Lumen Gentium, die Pastoralkonstitution Gaudium et Spes, den<br />

Beschluss über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, den<br />

Beschluss über das Verhältnis zum Judentum <strong>und</strong> zu den anderen<br />

Religionen Nostra aetate <strong>und</strong> nicht zuletzt den entscheidenden<br />

Schritt zur Liturgiereform. Das Konzil hat mutig die geschichtlichen<br />

Herausforderungen seiner Zeit angenommen. Ja, im Blick auf die<br />

neuzeitliche Geschichte der politischen <strong>und</strong> kulturellen Freiheit war<br />

ein solches Konzil sogar überfällig.<br />

Als ein Zukunftsversprechen empfand ich in Lumen Gentium das Bild<br />

der Kirche als dem Volk Gottes. Ganz ausdrücklich schien den zum<br />

Konzil versammelten Bischöfen das Bild vom Volk Gottes in<br />

besonderer Weise geeignet, das Wesen <strong>und</strong> die innere Verfassung<br />

der Kirche zu beschreiben. Für mich klang das wie eine Absage an<br />

jene Vorstellung, die Kirche sei ein zentralistisch geleiteter klerikaler<br />

Apparat zur Führung <strong>und</strong> Kontrolle der Laien. So hat denn auch das<br />

Wort vom Volke Gottes große Erwartungen geweckt, nicht zuletzt in<br />

Bezug auf die Geschwisterlichkeit der Kirche. Gewiss hat diese<br />

Geschwisterlichkeit ihren Gr<strong>und</strong> darin, dass es Gott ist, der sich<br />

dieses Volk schuf, denn es kommt auf seinen Ruf hin zusammen. Es<br />

ist also eine Gemeinschaft, die sich nicht selbst konstituiert, sondern


2<br />

die ihre Gr<strong>und</strong>lage in Gottes Wahrheit <strong>und</strong> in Gottes Gebot hat. Der<br />

Gedanke liegt dennoch nahe, dass das Bild vom Volk Gottes auch<br />

eine Aussage darüber machen soll, wie die Kirche sich in der Welt<br />

verwirklicht <strong>und</strong> miteinander lebt. Und ebenso bedeutungsvoll ist die<br />

konziliare Aussage, dass sich dieses Volk durch die Geschichte <strong>und</strong><br />

mit der Geschichte bewegt, dass es unterwegs ist auf der Pilgerschaft<br />

zu Gottes ewigem Heil. Denn damit tritt neben das Moment der<br />

Geschwisterlichkeit das Moment des geschichtlichen Wandels, der<br />

Auseinandersetzung mit den Notwendigkeiten dieses Weges, mit der<br />

sich immer wieder neu setzenden Spannung zwischen der allen<br />

Zeiten gesagten Frohen Botschaft <strong>und</strong> der je konkreten<br />

geschichtlichen Zeit <strong>und</strong> deren Fragen <strong>und</strong> Herausforderungen. Erst<br />

auf dieser Gr<strong>und</strong>lage <strong>und</strong> in diesem Rahmen beschreibt Lumen<br />

Gentium die Ämter in der Kirche. Auch das ist eine bedeutsame<br />

Aussage. Denn die Frage stellt sich doch: Muss eine Kirche, die als<br />

Volk Gottes eine Weggemeinschaft ist, nicht auch eine<br />

Gesprächsgemeinschaft sein, um die Antworten des Glaubens auf die<br />

Fragen der Geschichte gemeinsam zu finden, ein, wie der junge Josef<br />

Ratzinger damals schrieb, ständiges Konzil Gottes?<br />

Das Bild vom pilgernden Volk Gottes <strong>und</strong> der sich daraus ergebene<br />

Gedanke der Communio in der Kirche bedürfen jedoch, um ihre<br />

gestaltende Kraft zu entfalten, konkreter Konsequenzen,<br />

insbesondere ihrer rechtlich‐strukturellen Umsetzung. Es ist gewiss<br />

wahr, dass Strukturen allein nichts bewirken. Aber ebenso ist wahr,<br />

dass Inhalte allein nichts bewirken. Nur im Zusammenhang von Inhalt<br />

<strong>und</strong> Form entfaltet Neues seine Kraft. Der gern vorgebrachte<br />

Einwand, die Kirche sei keine Demokratie, ist abwegig. Gewiss<br />

bekennt sich die Kirche als Volk Gottes zu Gottes Herrschaft. Daher<br />

kann sie sich nicht, wie eine politische Gemeinschaft, als<br />

Volksherrschaft verstehen. Aber da sich die Gestalt der Kirche im<br />

Verlauf der Geschichte wandelt, übernimmt sie auch immer wieder<br />

zeitbedingte Formen, die sie als nützlich ansieht. Niemand kann im<br />

Blick auf die Kirchengeschichte ernsthaft behaupten, die Form der<br />

absoluten Monarchie sei aus dem Wesen der Kirche erwachsen <strong>und</strong><br />

darum unveränderbar. Wesentlich für das Leben der Kirche waren


3<br />

bekanntlich viele Jahrh<strong>und</strong>erte hindurch Synoden <strong>und</strong> Konzilien. Ein<br />

sinnvoller Schritt wäre deshalb ein höheres Maß an Kollegialität im<br />

Verhältnis zwischen dem Papst <strong>und</strong> den Bischöfen <strong>und</strong> die damit<br />

verb<strong>und</strong>ene Stärkung der Ortskirchen. Nach aller Erfahrung wird<br />

Einheit durch eine überzogene Zentralisierung eher geschwächt statt<br />

ihr zu dienen. Auch wäre es der Bedeutung der Laien angemessen,<br />

wenn sie, wie in früheren Zeiten der Kirchengeschichte, an der Wahl<br />

ihres Bischofs beteiligt würden. Ganz generell täten vitale Formen<br />

der Beteiligung <strong>und</strong> Mitentscheidung der Kirche gut. Das haben die<br />

Gemeinsame Synode in Würzburg <strong>und</strong>, trotz der beengenden<br />

Umstände, auch die Dresdner Pastoralsynode bewiesen. Doch seit<br />

langem gibt es die Tendenz, die Ergebnisse der Gemeinsamen Synode<br />

in Würzburg in Vergessenheit geraten zu lassen oder ihre weitere<br />

Geltung offen zu leugnen, weil alles andere als schweigender<br />

Gehorsam zum (jeweiligen) Bischof Kirchenspaltung sei. Vollends<br />

absurd war es, dass Würzburg als Beginn der Protestantisierung der<br />

katholischen Kirche in Deutschland bezeichnet wurde.<br />

Seit dem Ende der Würzburger Synode, die für eine<br />

vorwärtsweisende Bewegung stand, scheint der Erneuerungsimpuls<br />

zu Ende. Einige der damals gefassten Beschlüsse <strong>und</strong> Anstöße warten<br />

bis heute auf ihre Umsetzung. Stattdessen muss man den Eindruck<br />

gewinnen, einflussreichen Repräsentanten des kirchlichen Amtes<br />

wäre die Entwicklung zu weit gegangen <strong>und</strong> diese bedürfe daher der<br />

Korrektur. Ich denke da z. B. an die sogenannte Laieninstruktion von<br />

1997, die von der realitätsfernen Fiktion ausgeht, die pastoralen<br />

Dienste der Laien in der Kirche seien nur eine vorübergehende<br />

Notmaßnahme bis wieder genug Priester vorhanden sind. Am<br />

gravierendsten scheint mir, dass die Betonung der Kollegialität des<br />

Bischofsamtes in der Leitung der Kirche durch das II. Vatikanum kaum<br />

wesentliche Konsequenzen hatte. Stattdessen wurden die schwachen<br />

strukturellen Ansätze zur bischöflichen Kollegialität in Gestalt der<br />

Bischofssynode durch neue Akzente des römischen Zentralismus<br />

marginalisiert. Dazu traten deutliche Maßnahmen zur geistigen<br />

Disziplinierung. Was nun gar neue <strong>und</strong> weitergehende Schritte<br />

anbelangt, etwa die Stellung der Laien in der Verantwortung für das


4<br />

kirchliche Leben oder gar die Rolle der Frau, so sind wir weit von dem<br />

entfernt, was sich aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit für die<br />

kirchliche Praxis wie auch für die kirchliche Ordnung als notwendig<br />

aufdrängt. Zu allen Zeiten war es aber die gesellschaftliche Realität,<br />

auf die die Kirche reagieren <strong>und</strong> die sie gleichsam in sich aufnehmen<br />

musste, damit das Evangelium das Leben der Menschen prägt <strong>und</strong> sie<br />

zum Zeugnis motiviert. Solche Bewegungen kamen übrigen meist aus<br />

der Mitte der Kirche, nicht von oben. Es liegt im Wesen von<br />

Amtsautorität, vor allem bewahrenden Charakter zu haben. Wird<br />

deren Führungsanspruch aber ausdrücklich betont, so dient dies<br />

meist dazu, für die Kirche dringend Notwendiges abzuwehren, ohne<br />

dass tatsächlich Wahrheiten des Glaubens in Rede stehen. Statt<br />

Kirchengeschichte als Quelle besserer Einsicht zu nutzen dient ihre<br />

selektive Sicht leider zu oft nur zur Selbstbestätigung.<br />

Freilich waren schon die Erwartungen, mit denen man dem Konzil<br />

entgegensah, gegensätzlicher Art: Für die einen war es die insgeheim<br />

erhoffte, aber tatsächlich nie für möglich gehaltene Erfüllung eines<br />

Traums von Kirche – einer Kirche, die ihre Ängste ablegt, ihre<br />

Festungsmauern schleift <strong>und</strong> den Glauben so sagt, das die Welt<br />

aufhorcht. Für die anderen war es ein unverantwortliches Wagnis,<br />

das den Katholiken die Sicherheit einer durch alle Stürme der Neuzeit<br />

nicht nur bewahrten, sondern sogar immer weiter perfektionierten<br />

Ordnung der Unveränderlichkeit <strong>und</strong> des Gehorsams nehmen <strong>und</strong> sie<br />

dem durch Protestantismus <strong>und</strong> Aufklärung geborenen Ungeist einer<br />

sich autonom setzenden Kritik ausliefern müsste. Dem entsprechen<br />

die heutigen Extreme in der Sicht auf die Folgen. Die einen beklagen,<br />

dass der Schwung des großen <strong>Aufbruch</strong>s so lange gebremst wurde,<br />

bis nichts mehr davon spürbar sei. Die anderen nutzen jede<br />

Gelegenheit, um die Reihen in Abwehr der bösen Welt wieder zu<br />

schließen <strong>und</strong> die alten Mauern wieder aufzurichten. Im Jahr 1983<br />

wurde dann ohnehin jedes Nachdenken über die rechtliche <strong>und</strong><br />

strukturelle Erneuerung der Kirche durch das neue kirchliche<br />

Gesetzbuch wie durch eine Betonplatte beendet. Da hätten sich die<br />

Konzilsväter doch eher für den „Schafsstall“ als passendes Bild für die<br />

Kirche entscheiden sollen.


5<br />

Eine schmerzliche <strong>und</strong> demütigende Erfahrung, die mich immer noch<br />

umtreibt, ist der gegen den Willen der Mehrheit der deutschen<br />

Bischöfe <strong>und</strong> der Mehrheit der deutschen Katholiken von Rom<br />

erzwungene Ausstieg unserer Kirche aus der gesetzlich geregelten<br />

Schwangerschaftskonfliktberatung. Wegen der Gefahr, die kirchliche<br />

Position in Bezug auf den unbedingten Schutz des Lebens könnte<br />

verdunkelt werden, wurde auf die wirksamste Möglichkeit verzichtet,<br />

Frauen in Not zu erreichen, sie für das Kind in ihrem Mutterleib zu<br />

gewinnen <strong>und</strong> so menschliches Leben zu retten. Zugleich führte diese<br />

römische Entscheidung zu einer bitteren Niederlage in der<br />

öffentlichen Auseinandersetzung um den Wert <strong>und</strong> den Schutz des<br />

ungeborenen Lebens. Inzwischen ist nämlich für die gesellschaftliche<br />

Mehrheit das Gesetz über die Schwangerschaftskonfliktberatung<br />

nichts anderes als eine Fristenlösung mit Pflichtberatung. Das<br />

B<strong>und</strong>esverfassungsgericht hatte aber in seiner damaligen<br />

Zusammensetzung daran festgehalten, ein Schwangerschaftsabbruch<br />

sei rechtswidrig <strong>und</strong> könne nur unter bestimmten Bedingungen,<br />

nämlich der Teilnahme an einer Beratung zum Leben hin, als straffrei<br />

gelten. Es ist dies ein Urteil, von dem man leider fürchten muss, dass<br />

es das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht in seiner heutigen<br />

Zusammensetzung nicht mehr fällen würde <strong>und</strong> das Urteil nicht<br />

wenige landauf <strong>und</strong> landab auch nicht mehr ernst nehmen.<br />

Die Wahrheit ist doch diese: Wir hätten daran festhalten müssen,<br />

dass unter allen realen Möglichkeiten die gesetzlich geregelte<br />

Schwangerschaftskonfliktberatung die einzige Chance bietet, mit<br />

Frauen in Not <strong>und</strong> vor allem mit ihren werdenden Kindern solidarisch<br />

zu sein. Jedenfalls gibt es nirgendwo eine bessere Möglichkeit, ganz<br />

gewiss nicht in den traditionell katholischen Ländern Europas oder in<br />

den USA. Wir hätten uns aber zugleich, statt uns innerkatholisch<br />

erbittert zu bekriegen, mit dieser Gesellschaft <strong>und</strong> der in ihr<br />

vorherrschenden Meinung, hier ginge es allein um das<br />

Selbstbestimmungsrecht der Frau <strong>und</strong> – was so gut wie niemand<br />

sagte, aber viele dachten – um die egoistische Bequemlichkeit der<br />

Männer, in aller Härte offensiv auseinander setzen müssen. Das


6<br />

öffentliche Bild wurde aber weithin bestimmt von selbstgerechten<br />

Eiferern, die uns vorwarfen, wir würden Tötungslizenzen ausgeben.<br />

Die meisten Katholiken trieb dagegen die Sorge um, ein mit großer<br />

Mühe erreichtes Gesetz, das den Schwangerschaftsabbruch im<br />

Unterschied zu den meisten Ländern nicht schlechthin legalisierte,<br />

durch kritische Forderungen <strong>und</strong> Aktionen zu gefährden. Durch die<br />

römische Entscheidung wurde es der Katholischen Kirche in<br />

Deutschland verboten, die realen Chancen dieser gesetzlichen<br />

Regelung für das ungeborene Leben zu nutzen. Doch das war den<br />

Scharfmachern noch nicht genug: Inzwischen ist es dahin gekommen,<br />

dass Katholiken, die sich vor ihrem Gewissen dazu verpflichtet fühlen,<br />

durch ihren persönlichen Einsatz bei Donum Vitae Frauen dazu zu<br />

helfen, sich auch in Schwierigkeiten zu ihrem noch ungeborenen Kind<br />

zu bekennen, <strong>und</strong> denen nachweisbar Tausende von Kindern ihr<br />

Leben verdanken, in der Katholischen Kirche ganz offiziell<br />

diskriminiert werden. Bei der Zusammenkunft des von den Bischöfen<br />

begonnenen Gesprächsvorgangs im Jahre 2012 in Hannover ist dies<br />

mit Recht eine offene W<strong>und</strong>e des deutschen Katholizismus genannt<br />

worden.<br />

Was heute viele Katholiken in Deutschland, Laien wie Priester,<br />

beschäftigt <strong>und</strong> oft mit Sorge erfüllt, sind die diözesanen<br />

Umstrukturierungsprozesse. Ihre Notwendigkeit ist leider<br />

unbestreitbar. Die Gründe dafür sind komplex. Einerseits ist es meine<br />

feste Überzeugung, dass der Pflichtzölibat junge Menschen daran<br />

hindert, sich für den priesterlichen Dienst zu entscheiden, <strong>und</strong><br />

geweihte Priester dazu bringt, ihren Dienst aufzugeben. Gewiss kann<br />

kein katholischer Christ den Wert des Zeugnisses der Ehelosigkeit<br />

bestreiten. Aber unbestreitbar ist auch, dass der kanonische Zwang<br />

zur priesterlichen Ehelosigkeit in der römisch‐katholischen Kirche erst<br />

in einer bestimmten historischen Situation erfolgte. Und überdies<br />

damals mit Argumenten begründet wurde, die mit dem Respekt vor<br />

dem Sakrament der Ehe nicht zu vereinbaren sind. Heute gibt es<br />

bedenkenswerte Vorschläge einer erprobenden Zulassung von<br />

Verheirateten zur Priesterweihe, etwa den der viri probati oder der<br />

vom Wiener Theologen Zulehner entwickelten Idee der


7<br />

Leutepriester. Was es nicht gibt, ist die Bereitschaft im Episkopat,<br />

darüber ernsthaft <strong>und</strong> öffentlich nachzudenken. Stattdessen werden<br />

die Gemeinden gefährdet. Oder man behauptet wider besseres<br />

Wissen, das sei nur ein Problem in Deutschland oder im westlichen<br />

Europa. Offenbar glaubt man allen Ernstes, man könne die Realität<br />

gleichsam aussitzen. Anders kann ich mir so dumme Sprüche, wie<br />

etwa, das seien doch alles alte Fragen, nicht erklären. Eine Frage<br />

erledigt sich eben nur durch eine überzeugende Antwort. Daran fehlt<br />

es aber bis heute.<br />

Andererseits sind zwei Gründe zu nennen, die allenfalls mittelbar<br />

Folgen kirchlichen Handelns sind, primär jedoch auf gesellschaftlich<br />

bedingte Entscheidungen von Menschen zurückgehen. Das sind<br />

erstens der deutlich gesunkene Stellenwert von Ehe <strong>und</strong> die viel zu<br />

geringe Zahl von Kindern in diesem Land. Hart gesagt gibt es in einem<br />

sterbenden Land eben auch eine sterbende Kirche. Und das ist<br />

zweitens die Tatsache, dass sich auch Katholiken zunehmend in ihrer<br />

Haltung zur Kirche von der gesellschaftlich vorherrschenden<br />

öffentlichen Meinung <strong>und</strong> der Dominanz individualistischer<br />

Einstellungen bestimmen lassen. Für eine Kirche in der Diaspora –<br />

<strong>und</strong> die deutschen Katholiken sind heute überall in der Diaspora – ist<br />

das verheerend. Denn eine Diaspora überlebt nur dann, wenn sie ein<br />

deutliches Gefühl für Innen <strong>und</strong> Außen hat. Es kann für denkende<br />

Menschen gar keine Situation geben, in der sie mit ihrer Kirche in<br />

allen Punkten einverstanden sind. Umso wichtiger ist Verb<strong>und</strong>enheit<br />

mit der Kirche als eine Gr<strong>und</strong>satzentscheidung. Wenn ich so manche<br />

Gründe höre, warum Menschen die Kirche verlassen, dann können<br />

sie eine solche Gr<strong>und</strong>satzentscheidung nie getroffen haben.<br />

Es gibt zwei Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit, die mich trotz<br />

meiner Gr<strong>und</strong>satzentscheidung für die Kirche wirklich getroffen<br />

haben. Das ist erstens der Missbrauchsskandal. Die Sache an sich ist<br />

schlimm genug. Aber das, jedenfalls in Deutschland, deren<br />

Aufklärung <strong>und</strong> die Sorge um die Opfer von Menschen der Kirche<br />

angestoßen <strong>und</strong> betrieben wurde, ist gut <strong>und</strong> aller Ehren wert.<br />

Jedenfalls braucht sich die Kirche mit ihrer Reaktion auf diesen


8<br />

Skandal im Vergleich mit anderen Institutionen <strong>und</strong> Organisationen,<br />

in denen es zu Missbrauch gekommen ist, nicht zu verstecken. Was<br />

mich dennoch umtreibt, ist der offenk<strong>und</strong>ige Zusammenhang mit<br />

einer leibfeindlichen <strong>und</strong> weltfremden, oft geradezu verbiesterten<br />

Einstellung zur Sexualität, verb<strong>und</strong>en mit einem übersteigerten <strong>und</strong><br />

autoritätsfixierten Schutzbedürfnis für die Institution. Das ist ein<br />

schwer lastendes Erbe.<br />

Die zweite mich geradezu verletzende Erfahrung war der Versuch, die<br />

sich in der Piusbruderschaft agierenden traditionalistischen<br />

Konzilsgegner um fast jeden Preis in die Kirche zurückzuholen. Wobei<br />

gleichzeitig durch gezieltes Handeln Roms eine innerkirchliche<br />

Atmosphäre in Kirche <strong>und</strong> Theologie erzeugt wurde, die jeden neuen<br />

Gedanken <strong>und</strong> jeden eigenständigen Schritt unter Verdacht stellte<br />

<strong>und</strong> mit Folgen für Amt <strong>und</strong> Ansehen belegte. Und das in einer<br />

Kirche, die aus der Zeit vor dem II. Vatikanum wusste, von welch<br />

elementarer Bedeutung für die Zukunft der Kirche geistige <strong>und</strong><br />

praktische Suchbewegungen nach vorn sind.<br />

Der entscheidende Gr<strong>und</strong> zur Hoffnung auf einen neuen <strong>Aufbruch</strong> ist<br />

daher für mich, dass mit Papst Franziskus wieder ein Geist der<br />

Offenheit <strong>und</strong> des freimütigen Nachdenkens zu wehen beginnt.<br />

Genauer gesagt: Es ist ein Bündel von Eindrücken, die mir das Gefühl<br />

geben, den Beginn eines neuen Kapitels der Kirchengeschichte zu<br />

erleben – ein Gefühl ähnlich dem, das ich bei den Anfängen des<br />

Pontifikats Johannes XXIII. spürte. Es entstand schon bei dem<br />

berührenden Bild, als der neu gewählte Papst auf die Loggia der<br />

Peterskirche trat, den Versammelten einen guten Abend wünschte,<br />

sich als der neue Bischof von Rom vorstellte <strong>und</strong> hinzufügte, er käme<br />

vom Ende der Welt. Dass er erstmalig Franziskus als Papstnamen<br />

wählte, war eindeutig als programmatisches Signal zu verstehen. Seit<br />

diesem Abend in Rom hat es eine Vielzahl von Aussagen, Gesten <strong>und</strong><br />

Handlungen gegeben, welche den Eindruck von <strong>neuem</strong> <strong>Aufbruch</strong><br />

verstärkten. Sie haben, jedenfalls in der Summe, die Sympathie für<br />

den italienischstämmigen Argentinier weit über die katholische<br />

Kirche hinaus stetig wachsen lassen. Ja, sie haben unserer Kirche,


9<br />

wenn wohl auch nicht aus der Krise herausgeholfen, aber ihr doch ein<br />

neues Ansehen gegeben. Freilich: Alle diese inzwischen kaum noch zu<br />

überblickenden Geschichten über das Denken <strong>und</strong> Handeln des<br />

neuen Papstes haben zwar einen Sympathie erweckenden<br />

Gr<strong>und</strong>tenor, aber sie ergeben allenfalls die Andeutung eines<br />

Programms. Und es gibt durchaus auch Gegenzeichen, wenn ich an<br />

manche Presseäußerung <strong>und</strong> Personalentscheidung denke.<br />

Im Folgenden will ich den natürlich unzulänglichen Versuch machen,<br />

aus zwei längeren Texten, nämlich dem großen Interview des Papstes<br />

mit Jesuitenzeitschriften <strong>und</strong> seinem Apostolischen Schreiben<br />

EVANGELII GAUDIUM, Elemente zu gewinnen, denen wohl ein<br />

programmatischer Charakter zugesprochen werden kann. Beginnen<br />

will ich allerdings mit der Charakterisierung eines Mannes, nämlich<br />

Peter Fabers, eines Gefährten des Ordensgründers Ignatius von<br />

Loyola, durch den Papst. In den Worten von Franziskus<br />

kennzeichnete diesen seinen Lieblingsjesuiten, „der Dialog mit allen,<br />

auch mit den Fernstehenden <strong>und</strong> Gegnern, die schlichte<br />

Frömmigkeit, vielleicht eine gewisse Naivität, die unmittelbare<br />

Verfügbarkeit, seine aufmerksame innere Unterscheidung, die<br />

Tatsache, dass er ein Mann großer <strong>und</strong> starker Entscheidungen <strong>und</strong><br />

zugleich fähig war, so sanftmütig … zu sein.“ Ist dies auch ein<br />

Selbstbild des Papstes?<br />

Beginnen will ich mit dem kritischen Blick des Papstes auf den<br />

derzeitigen Zustand unserer Welt: „Die Menschheit erlebt im<br />

Moment eine historische Wende, die wir an den Fortschritten<br />

ablesen können, die auf verschiedenen Gebieten gemacht werden.<br />

Lobenswert sind die Erfolge, die zum Wohl der Menschen beitragen,<br />

zum Beispiel auf dem Gebiet der Ges<strong>und</strong>heit, der Erziehung <strong>und</strong> der<br />

Kommunikation. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass der größte<br />

Teil der Männer <strong>und</strong> Frauen unserer Zeit in täglicher Unsicherheit<br />

lebt, mit unheilvollen Konsequenzen.“ (Ev.Gaud., 44) Die scharfen<br />

Worte des Papstes gegen die Vergötterung des Geldes <strong>und</strong> die soziale<br />

Ungleichheit haben einige sogar veranlasst zu fragen, ob er unsere<br />

Gesellschaftsordnung gr<strong>und</strong>sätzlich ablehnt. Dem ist von


10<br />

kompetenter Seite widersprochen worden. Der Papst steht auf dem<br />

Boden der Katholischen Soziallehre, aber er deutet sie auf dem<br />

Hintergr<strong>und</strong> seiner Erfahrungen mit der lateinamerikanischen<br />

Wirklichkeit.<br />

Vielleicht hat jedoch die kritische Reaktion aus dem konservativmarktwirtschaftlich<br />

denkenden Teil des Meinungsspektrums dazu<br />

geführt, dass linksliberale Kritiker bisher noch nicht mit dem üblichen<br />

Furor auf jene päpstlichen Äußerungen reagierten, in denen sich der<br />

Papst von den individualistischen Haltungen <strong>und</strong> Vorstellungen in der<br />

global vorherrschenden Kultur distanziert. So wenn er (S.7) schreibt:<br />

„Die große Gefahr der Welt von heute mit ihrem vielfältigen <strong>und</strong><br />

erdrückenden Konsumangebot ist eine individualistische Traurigkeit,<br />

die aus einem bequemen, begehrlichen Herzen hervorgeht, aus der<br />

krankhaften Suche nach oberflächlichen Vergnügungen, aus einer<br />

abgeschotteten Geisteshaltung.“ Oder wenn er (S.136) bedauert,<br />

dass „sogar die Menschenrechte als Rechtfertigung für eine<br />

erbitterte Verteidigung der Rechte des Einzelnen oder der Rechte der<br />

reichsten Völker genutzt werden“. Die Warnungen Benedikt XVI. vor<br />

Individualismus <strong>und</strong> Relativismus, so könnte man sagen, waren eher<br />

philosophisch‐theologisch gr<strong>und</strong>iert, während Franziskus von sozialen<br />

<strong>und</strong> sozialethischen Motiven bewegt wird. Mehr als eine<br />

unterschiedliche Akzentuierung des gleichen Anliegens wird man<br />

darin nicht sehen können, sehr wohl aber eine andere<br />

Schwerpunktsetzung in der Verkündigung <strong>und</strong> eine andere pastorale<br />

Strategie.<br />

Ähnliches gilt für das Eintreten für den Wert von Ehe <strong>und</strong> Familie.<br />

Auch hier redet Franziskus Klartext: „Die Familie macht eine tiefe <strong>und</strong><br />

kulturelle Krise durch wie alle Gemeinschaften <strong>und</strong> sozialen<br />

Bindungen. Im Fall der Familie wird die Brüchigkeit der Bindungen<br />

besonders ernst, denn es handelt sich um die gr<strong>und</strong>legende Zelle der<br />

Gesellschaft, um den Ort, wo man lernt, in der Verschiedenheit<br />

zusammen zu leben <strong>und</strong> anderen zu gehören, <strong>und</strong> wo die Eltern den<br />

Glauben an die Kinder weitergeben.“ Und: „Der postmoderne <strong>und</strong><br />

globalisierte Individualismus begünstigt einen Lebensstil, der die


11<br />

Entwicklung <strong>und</strong> die Stabilität der Bindungen zwischen den<br />

Menschen schwächt <strong>und</strong> die Natur der Familienbande zerstört.“<br />

Ebenso klar <strong>und</strong> entschieden tritt der Papst für den Schutz des<br />

ungeborenen Lebens ein. Von der Problematik des deutschen<br />

Gesetzes zur Schwangerenkonfliktberatung weiß er wahrscheinlich<br />

nichts.<br />

Die strategische Eigenart des neuen Papstes besteht offenbar nun<br />

darin, dass er nicht darauf setzt, zu ermahnen <strong>und</strong> Normen<br />

einzuschärfen, sondern dass er auf die gewinnende Kraft der Frohen<br />

Botschaft vertraut. Das charakterisiert zum Beispiel seine Haltung zur<br />

Homosexualität, die in seinen eigenen Worten von Achtung vor der<br />

Person <strong>und</strong> von Barmherzigkeit bestimmt ist. In seinem Interview<br />

sagt er: „Wir können uns nicht nur mit der Frage um die Abtreibung<br />

befassen, mit homosexuellen Ehen, mit Verhütungsmitteln.“ Und:<br />

„Im Übrigen kennt man ja die Ansichten der Kirche, Und ich bin ein<br />

Sohn der Kirche. Aber man kann nun nicht endlos davon sprechen.“<br />

Ist das nun die von manchen als typisch katholisch betrachtete<br />

Haltung, in der Theorie an jedem Jota festzuhalten, doch in der Praxis<br />

den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen? Ich sehe einen<br />

Gr<strong>und</strong>zug in der Haltung von Papst Franziskus, aus dem sich<br />

praktische Konsequenzen ergeben. Der Gr<strong>und</strong>zug ist, dass die Kirche<br />

Menschen für das Evangelium gewinnen muss, dass sie also<br />

missionarisch oder, wie er gern sagt, evangelisierend sein muss. Seine<br />

Haltung ist also alles andere als nachgebend <strong>und</strong> hinnehmend,<br />

sondern aufbrechend <strong>und</strong> einnehmend. Aber dabei ist er<br />

entschiedener Realist. Aus seinem Interview zitiere ich zwei, wie ich<br />

finde, charakteristische Sätze: „Die Lehren der Kirche – dogmatische<br />

wie moralische – sind nicht alle gleichwertig.“ Und: „Eine<br />

missionarische Verkündigung konzentriert sich auf das Wesentliche,<br />

auf das Nötige.“<br />

In Evangelii Gaudium wird dieser Gedanke immer wieder<br />

aufgenommen <strong>und</strong> variiert, was ich hier naturgemäß nur andeuten<br />

kann. So warnt er vor „dem Zwang der zusammenhanglosen


12<br />

Vermittlung einer Vielzahl von Lehren, die man durch unnachgiebige<br />

Beharrlichkeit aufzudrängen sucht“ (32). Man dürfe „einige Fragen,<br />

die zur Morallehre der Kirche gehören“ nicht „aus dem<br />

Zusammenhang“ reißen, „der ihnen Sinn verleiht“. „Das größte<br />

Problem entsteht, wenn die Botschaft, die wir verkünden, dann mit<br />

diesen zweitrangigen Aspekten gleichgesetzt wird, die, obwohl sie<br />

relevant sind, für sich allein nicht das Eigentliche der Botschaft Jesu<br />

Christi ausdrücken.“ Mit Entschiedenheit tritt Franziskus ein für die<br />

Hierarchie der Wahrheiten. „Alle offenbarten Wahrheiten<br />

entspringen aus derselben göttlichen Quelle <strong>und</strong> werden mit ein <strong>und</strong><br />

demselben Glauben geglaubt, doch einige von ihnen sind wichtiger,<br />

um unmittelbarer das Eigentliche des Evangeliums auszudrücken.“ (S.<br />

32) Gerade „Wenn die Predigttätigkeit treu gegenüber dem<br />

Evangelium ist, zeigt sich in aller Klarheit die Zentralität einiger<br />

Wahrheiten, <strong>und</strong> es wird deutlich, dass die christliche Morallehre<br />

keine stoische Ethik ist, dass sie mehr ist als eine Askese, dass sie<br />

weder ein bloße praktische Philosophie ist, noch ein Katalog von<br />

Sünden <strong>und</strong> Fehlern.“ (S. 34) Der Papst plädiert auch dafür, dass über<br />

die richtige Verkündigung von der Theologie wie auch von den<br />

Sozialwissenschaften „mit großer Freiheit geforscht <strong>und</strong> nachgedacht<br />

wird“. „Denjenigen, die sich eine monolithische, von allen ohne<br />

Nuancierungen verteidigte Lehre erträumen, mag das als<br />

Unvollkommenheit <strong>und</strong> Zersplitterung erscheinen. Doch in<br />

Wirklichkeit hilft diese Vielfalt, die verschiedenen Aspekte des<br />

unerschöpflichen Reichtums des Evangeliums besser zu zeigen <strong>und</strong> zu<br />

entwickeln.“ (S. 35) Schon im Einleitungskapitel seines Schreibens<br />

spricht der Papst von der unfassbaren Freiheit des Wortes Gottes,<br />

welche die Kirche akzeptieren muss. Dem Wahrheitsverständnis<br />

dieses Papstes entspricht sein Verständnis des Bußsakraments <strong>und</strong><br />

der Eucharistie: Der Beichtstuhl ist keine Folterkammer <strong>und</strong> die<br />

Eucharistie ist keine Belohnung der Vollkommenheit, sondern<br />

Heilmittel <strong>und</strong> geistliche Nahrung.<br />

So weit, so gut, bin ich versucht zu sagen. Jedenfalls werden die<br />

Worte von Papst Franziskus bei vielen, wenn nicht den meisten<br />

Katholiken in Deutschland auf freudige Zustimmung stoßen <strong>und</strong>


13<br />

große Erwartungen auslösen. Freilich hören <strong>und</strong> lesen wir sie im<br />

Kontext einer Gesellschaft, deren oberstes Beurteilungskriterium das<br />

der je eigenen Erfüllung <strong>und</strong> Verwirklichung ist. Und im Kontext einer<br />

Kirche, die gerade ihre dichte Gemeindestruktur abwickelt <strong>und</strong> durch<br />

großflächige Pastoralräume ersetzt. Das ist aber offenbar nicht der<br />

Kontext, in dem Papst Franziskus denkt <strong>und</strong> spricht. Für ihn, so sagt<br />

er in seinem Interview, hat Gott ein Volk erlöst, nicht isolierte<br />

Individuen. Adressat des päpstlichen Schreibens ist nicht primär der<br />

Einzelne, der durch sein Leben seinen Glauben bezeugt, sondern die<br />

evangelisierende Gemeinde, welche sich eben nicht auf die<br />

„Selbstbewahrung“ (S. 26) beschränkt. Auch Franziskus greift das<br />

Konzilswort von der Kirche als dem Volk Gottes auf. Doch deutet er<br />

dies primär nicht als „eine organische <strong>und</strong> hierarchische Institution“,<br />

sondern als Subjekt der Evangelisation: „Das ganze Volk Gottes<br />

verkündet das Evangelium“ (S. 82) Denn, so sein Gedankengang, das<br />

eine Volk Gottes ist ein Volk der vielen Gesichter. „Dieses Volk Gottes<br />

nimmt in den Völkern der Erde Gestalt an, <strong>und</strong> jedes dieser Völker<br />

besitzt seine eigene Kultur.“ Nach Franziskus „umfasst die Kultur die<br />

Gesamtheit des Lebens eines Volkes. Jedes Volk entwickelt in seinem<br />

geschichtlichen Werdegang die eigene Kultur in legitimer<br />

Autonomie.“ Franziskus betont damit die kulturelle Verschiedenheit<br />

in der einen weltweiten Kirche. Ein monokulturelles <strong>und</strong> eintöniges<br />

Christentum würde der Logik der Inkarnation nicht gerecht. Das ist<br />

bekanntlich eine lange geschichtliche Erfahrung der Kirche. Was aus<br />

unserer Sicht überraschen mag, ist, dass für den Sohn italienischer<br />

Einwanderer in Argentinien kulturelle Verschiedenheit von<br />

Katholiken innerhalb der gleichen Gesellschaft offenbar keine Rolle<br />

spielt, wohingegen sie für uns, bis in unsere katholischen Gemeinden<br />

hinein, eine Alltagserfahrung ist. Das ist insofern nicht ohne<br />

Bedeutung, als in den Überlegungen des Papstes zur Evangelisation<br />

die Volksfrömmigkeit ganz überwiegend positiv gesehen wird. Ihr<br />

spricht er eine evangelisierende Kraft zu (S.90). An anderer Stelle<br />

spricht er von einer evangelisierten Kultur, die viel mehr<br />

Möglichkeiten habe „als eine einfache Summe von Gläubigen, die<br />

den Angriffen des heutigen Säkularismus ausgesetzt ist“ (S. 55).<br />

Daneben stellt er in einem eigenen Abschnitt das Phänomen der


14<br />

Stadtkulturen. Große Städte beschreibt er einerseits als<br />

multikulturelle Bindegewebe, die Menschen gleicher Lebensträume<br />

<strong>und</strong> Vorstellungswelten zu unsichtbaren Städten<br />

zusammenschließen, andererseits aber als Orte menschlicher<br />

Gefährdung. Was ich hier nur andeuten kann, ist, dass ein Papst aus<br />

einem anderen Teil der Welt natürlich auch eine andere kulturelle<br />

<strong>und</strong> pastorale Erfahrung mitbringt. Jedenfalls könnte daraus sein<br />

lebenspraktisches Verständnis der alten theologischen Einsicht von<br />

der Hierarchie der Wahrheiten erwachsen sein. Was nun wiederum<br />

bedeuten könnte, dass man seine Position nicht individualistisch<br />

überfordern darf. Für Papst Franziskus ist Kultur nicht, wie für unser<br />

akademisches <strong>und</strong> publizistisches Establishment eine Sache der<br />

individuellen Differenz <strong>und</strong> das Lebensziel besteht nicht primär in je<br />

eigener Erfüllung, sondern er denkt gemeinschaftsbezogen <strong>und</strong><br />

pastoral‐praktisch. Für ihn ist, wie er in seinem Interview sagte, die<br />

Kirche ein Haus aller <strong>und</strong> nicht eine kleine Kapelle für ein Grüppchen<br />

ausgewählter Personen.<br />

An dieser Stelle muss ich vor zwei für viele von uns wichtigen, doch,<br />

weltkirchlich gesehen, wohl eher kurzatmigen Erwartungen warnen.<br />

Erstens: Für Papst Franziskus ist Priestermangel häufig „auf das<br />

Fehlen eines ansteckenden apostolischen Eifers in den Gemeinden“<br />

(S. 80) zurückzuführen. Innerkirchliche Laiendienste sieht er eher<br />

kritisch. Über den Zölibat spricht er gar nicht.<br />

Zweitens in Bezug auf die Rolle der Frau in der Kirche. Dieser Frage<br />

widmet sich Papst Franziskus ausführlicher – sowohl in seinem<br />

Interview als auch in seinem Apostolischen Schreiben. Einerseits<br />

verurteilt er jede Form von Gewalt <strong>und</strong> Ausgrenzung in der<br />

Gesellschaft. Eindrucksvoll würdigt er die besonderen Gaben der Frau<br />

<strong>und</strong> lobt, „wie viele Frauen pastorale Verantwortungen zusammen<br />

mit den Priestern wahrnehmen“ (S.78). Die Beanspruchung legitimer<br />

Rechte auf Gr<strong>und</strong> der gleichen Würde von Mann <strong>und</strong> Frau stelle die<br />

Kirche vor „tiefe Fragen“. Doch: „Das den Männern vorbehaltene<br />

Priestertum als Zeichen Christi, des Bräutigams, der sich in der<br />

Eucharistie hingibt, ist eine Frage, die nicht zur Diskussion steht, kann<br />

aber Anlass zu besonderen Konflikten geben, wenn die sakramentale


15<br />

Vollmacht zu sehr mit der Macht verwechselt wird.“ Wer Macht <strong>und</strong><br />

Vollmacht verwechselt, bleibt offen. Dass Maria, wie er betont,<br />

bedeutender sei als die Bischöfe, ist allerdings weder neu noch<br />

trostreich. Denn mit Maria ist auch schon die prinzipiell dienende<br />

Rolle der Frau in der Kirche gerechtfertigt worden. Gleichwohl weiß<br />

Papst Franziskus, dass etwas Neues geschehen muss. In seinem<br />

Interview sagt er: „Die Räume für eine wirkungsvolle weibliche<br />

Präsenz in der Kirche müssen weiter werden.“ Und: „Der weibliche<br />

Genius ist nötig an den Stellen, wo wichtige Entscheidungen<br />

getroffen werden.“ Und: „Die Herausforderung heute ist: reflektieren<br />

über den spezifischen Platz der Frau gerade auch dort, wo in den<br />

verschiedenen Bereichen der Kirche Autorität ausgeübt wird.“ Was<br />

offen bleibt, ist die Frage, wie das ohne geistliche Weihe geschehen<br />

soll.<br />

An den Schluss meiner Reflektion über den Zustand unserer Kirche<br />

zwischen <strong>Resignation</strong> <strong>und</strong> dem Gefühl von <strong>neuem</strong> <strong>Aufbruch</strong> nenne<br />

ich drei Hoffnungspunkte, die ich bei Papst Franziskus gef<strong>und</strong>en<br />

habe:<br />

Erstens: Für Franziskus war die Liturgiereform des II. Vatikanums<br />

„Dienst am Volk“. Von einer ostentativen Pflege der Liturgie hält er<br />

wenig, denn sie sei kein Museumsstück für einige wenige. Die<br />

Öffnung Benedikt XVI. für die Tridentinische Messe nennt er denn<br />

auch „klug abwägend … als Hilfe für einige Personen.“<br />

Zweitens: Papst Franziskus will ein neues Verhältnis zwischen dem<br />

Papst <strong>und</strong> den Bischöfen <strong>und</strong> damit zwischen der römischen Kurie<br />

<strong>und</strong> den Bischofskonferenzen. Schon in der Einleitung zu seinem<br />

Apostolischen Schreiben betont er, dass er dieses auf die Einladung<br />

der Synodenväter hin <strong>und</strong> auf der Gr<strong>und</strong>lage der Beratungen der<br />

Bischofssynode verfasst hat. Um dann gleich zu betonen, er glaube<br />

nicht, „dass man vom päpstlichen Lehramt eine endgültige oder<br />

vollständige Aussage zu allen Fragen erwarten muss, welche die<br />

Kirche <strong>und</strong> die Welt betreffen. Es ist nicht angebracht, dass der Papst<br />

die örtlichen Bischöfe in der Bewertung aller Problemkreise ersetzt,


16<br />

die in ihren Gebieten auftauchen. In diesem Sinn spüre ich die<br />

Notwendigkeit, in einer heilsamen ‚Dezentralisierung‘<br />

voranzuschreiten.“ (S.18/19)<br />

Diesen Gedanken der “Neuausrichtung des Papsttums“ nimmt er an<br />

einer späteren Stelle wieder auf <strong>und</strong> verbindet ihn mit einem<br />

kritischen Rückblick. Er erinnert nämlich an die Bitte von Johannes<br />

Paul II. in dessen Enzyklika „Ut unum sint“, ihm zu helfen, „eine Form<br />

der Primatsausübung zu finden, die zwar keineswegs auf das<br />

Wesentliche ihrer Sendung verzichtet, sich aber einer neuen<br />

Situation öffnet.“ Und Franziskus bemerkt kritisch: „In diesem Sinn<br />

sind wir wenig vorangekommen.“ Und er erinnert an den Wunsch des<br />

II. Vatikanums in Lumen gentium, dass die Bischofskonferenzen<br />

vielfältige <strong>und</strong> fruchtbare Hilfe leisten, um die kollegiale Gesinnung<br />

zu konkreter Verwirklichung zu führen. Ein Wunsch, der noch nicht<br />

erfüllt sei. Denn dann müssten die Bischofskonferenzen „Subjekte mit<br />

konkreten Kompetenzbereichen … einschließlich einer gewissen<br />

authentischen Lehrautorität“ sein. Die römischen Dikasterien sollten<br />

sowohl im Dienst des Papstes, als auch der Bischofskonferenzen<br />

stehen. Schließlich nennt er als Beispiel für den ökumenischen Dialog:<br />

„Im Dialog mit den orthodoxen Brüdern haben wir Katholiken die<br />

Möglichkeit, etwas mehr über die Bedeutung der bischöflichen<br />

Kollegialität <strong>und</strong> über ihre Erfahrung der Synodalität zu lernen.“ Mit<br />

dieser Hoffnung bleibt der Papst nicht auf der bischöflichen Ebene<br />

stehen. Schon in seiner Einleitung hatte er den Bischöfen gesagt, dass<br />

sie durchaus nicht immer an der Spitze des Volkes stehen, sondern<br />

auch in dessen Mitte <strong>und</strong> an dessen Ende, „weil die Herde selbst<br />

ihren Spürsinn besitzt, um neue Wege zu finden“. Ein Bischof müsse<br />

darum die kanonisch vorgesehenen „Mitspracheregelungen“ sowie<br />

andere Formen des pastoralen Dialogs anregen <strong>und</strong> suchen, um „alle<br />

anzuhören <strong>und</strong> nicht nur einige, die ihm Komplimente machen“.<br />

Mein dritter Gr<strong>und</strong> für ein Gefühl von <strong>Aufbruch</strong> mit dem neuen Papst<br />

ist dessen geschichtliche Sicht von Kirche <strong>und</strong> Evangelisation. Als<br />

Jesuit erinnert er in seinem Interview an die schwierigen Erfahrungen<br />

seines Ordens mit der Kirche – den erzwungenen Abbruch ihres


17<br />

hoffnungsvollen Experiments mit den chinesischen <strong>und</strong> den<br />

malabarischen Riten, die unsinnige Schließung der<br />

Jesuitenreduktionen in Paraguay, die Spannungen zwischen dem<br />

Jesuitengeneral Pedro Arupe <strong>und</strong> Johannes Paul II. in der<br />

Gehorsamsfrage. Darum weiß er: „Bei diesem Suchen <strong>und</strong> Finden<br />

Gottes in allen Dingen bleibt immer ein Bereich der Unsicherheit.“<br />

Für ihn zeigt sich Gott „in einer geschichtsgeb<strong>und</strong>enen Offenbarung,<br />

in der Zeit.“ „Der konkrete Gott ist heute.“ „Gott offenbart sich in der<br />

Zeit <strong>und</strong> ist gegenwärtig in den Prozessen der Geschichte.“ Darum ist<br />

unser Glaube „ein Glaube unterwegs, ein geschichtlicher Glaube.“<br />

Und darum ist für Franziskus „die Sicht der Kirche als Monolith, der<br />

ohne jeden Abstrich verteidigt werden muss, … ein Irrtum.“ Das ist<br />

nicht, wie manche meinen mögen, ein Wort des Abbruchs <strong>und</strong> des<br />

Rückzugs. Es ist, wie ich finde, ein Wort, das Zungen löst <strong>und</strong><br />

Gedanken frei setzt. Darum ist es ein Wort des <strong>Aufbruch</strong>s.

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