PDF (200 KB) - Mohr Siebeck Verlag
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Einführung: Eine Theorie der Rationalität für die Sozialwissenschaften<br />
natürlicher Mechanismen gemacht wurde, auf die das Individuum selbst keinerlei<br />
Einfluss hatte. Vielleicht hat die Rationalität des Menschen für die Herausbildung<br />
der Existenz eines Gerechtigkeitssinns bei den meisten Menschen<br />
überhaupt keine Rolle gespielt. Die Neurowissenschaften lehren uns, dass bestimmte<br />
Veränderungen des Gehirns eine Störung des normalen Zusammenspiels<br />
von Emotionen, Urteilen und Verhaltensweisen provozieren können. Für<br />
die Sozialwissenschaften können diese Befunde nur interessant sein. Es ist jedoch<br />
nicht ersichtlich, welchen Beitrag sie für sich genommen zur wissenschaftlichen<br />
Klärung dieser intraindiviuellen Mechanismen leisten können.<br />
2. Wiederum andere Sachverhalte, so vor allem Friedrich von Hayek ([1973–<br />
1979] <strong>200</strong>3), ergeben sich ohne Zweifel durch eine Adaptationsreaktion des<br />
Menschen, der hier als handelndes Subjekt verstanden wird. Der Umstand, dass<br />
der Mensch einem gegebenen Wort einen Wert beimisst, rührt nach Ansicht<br />
des österreichischen Ökonomen, Soziologen und Philosophen vielleicht aus der<br />
Einsicht her, dass der Respekt vor dem gegebenen Wort den Tausch unter Menschen<br />
erleichtert. So hat der Mensch in ferner Vergangenheit den Nutzen des<br />
Tauschs konstatiert und anschließend erkannt, dass sich ein Tausch zwischen<br />
Individuen nur dann wiederholen lässt, wenn sie sich gegenseitig vertrauen. Die<br />
fundamentalen moralischen Regeln wären nach Hayek letztlich das Ergebnis<br />
der Praxis des Tauschs. In diesem Fall hätte der Mensch die Rolle eines handelnden<br />
Subjekts gespielt. Die hier anklingende Rationalität ist eine Rationalität der<br />
Adaptation. Hayek knüpft an dieser Stelle an die Spencer’sche Tradition an, die<br />
in der Adaptation den fundamentalen Mechanismus der moralischen, sozialen<br />
und politischen Evolution sieht. Gleiches gilt für Jean Piaget: In einem bestimmten<br />
Entwicklungsstadium versteht das Kind, dass Mogeleien besser aufgegeben<br />
werden, denn sie zerstören das Interesse am Spiel. Doch der Adaptationsmechanismus<br />
ist hier weder intraindividuell noch anonym. Er gehorcht einer<br />
instrumentellen Rationalität: Das Subjekt entscheidet sich für eine bestimmte<br />
Art zu handeln, weil sie ihm positive Konsequenzen verspricht. Sobald weitere<br />
Akteure der gleichen Logik folgen, produziert der bestreffende Mechanismus<br />
kollektive Effekte. Die Spencer’sche Tradition entpuppt sich in diesem Fall als<br />
ein Modell, das eigentlich als Rational-Choice-Theorie oder auch Modell des<br />
subjektiv erwarteten Nutzens zu bezeichnen wäre.<br />
3. In wiederum anderen Fällen wird vorgebracht, dass der Mensch auch die<br />
Fähigkeit besitzt, Leitprinzipien zu entwickeln, sich Werte anzueignen und<br />
Programme zu entwerfen, die erst vage sind und sich dann im Laufe ihrer Umsetzung<br />
konkretisieren. So stellt die Entwicklung des Konzepts der Staatsbürgerschaft<br />
im 1. Jahrhundert n. Chr. – wie Max Weber ([1921] 1988) erklärt –<br />
eine grundlegende Innovation dar, obgleich sie eigentlich nur dem Bestreben<br />
zu verdanken war, die Streitigkeiten zwischen den religiösen Sekten des mittleren<br />
Ostens zu beenden. Das Konzept der Staatsbürgerschaft hat ein Programm<br />
begründet, das, so Max Weber, die gesamte Geschichte der abendländischen