PDF (200 KB) - Mohr Siebeck Verlag
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Misserfolge der Rational-Choice-Theorie<br />
5<br />
einer kollektiven Psychologie zurückführen, die allerdings erst noch nachzuweisen<br />
wären. Nicht nur Attentate von Fundamentalisten, sondern auch die<br />
Launen der Börse oder die Entwicklung der „Dotcom-Blase“ haben schon genügt,<br />
um irrationalistischen Verhaltenstheorien neues Leben einzuhauchen.<br />
Zwangsläufig ist diese Kollektivpsychologie – deren Gegenstandbereich laut<br />
deren Vertretern natürlich gänzlich verschieden von jenem der individuellen<br />
Psycho logie ist – stets eine hohle Beschwörungsformel geblieben.<br />
Die Rational-Choice-Theorie bediente eine bestimmte Erwartungshaltung:<br />
Soziologen hatten seit einiger Zeit immer klarer die Unzulänglichkeiten jener<br />
Konzeption erkannt, die den Menschen als Spielball anonymer Kräfte sozialer,<br />
kultureller oder biologischer Art sieht, den „sozialen Strukturen“ oder den in<br />
einem Milieu geltenden Normen, dem Gesetz der biologischen Evolution oder<br />
bestimmten Instinkten wie dem Nachahmungstrieb unterworfen. Die unbestrittenen<br />
wissenschaftlichen Erfolge der Rational-Choice-Theorie sowie die<br />
Tatsache, dass sie eine Alternative zu dem beschriebenen anfechtbaren Verhaltenskonzept<br />
bietet, sind die beiden Faktoren, die ihren Einfluss erklären.<br />
Misserfolge der Rational-Choice-Theorie<br />
Allerdings bin ich nicht davon überzeugt, dass die Rational-Choice-Theorie einen<br />
theoretischen Rahmen für die Sozialwissenschaften bietet, der allgemein genug<br />
ist. Das wird dort deutlich, wo sie keine Erklärung für allgemein bekannte<br />
Phänomene liefern kann. Sie kann nicht erklären, warum Menschen wählen gehen.<br />
Sie ist hilflos angesichts negativer Gefühle, die durch bestimmte, allgemein<br />
geächtete Handlungen provoziert werden. Sie ist unfähig, so wichtige Phänomene<br />
wie die Entwicklung des moralischen Empfindens oder der Religiosität<br />
abendländischer Gesellschaften während der letzten Jahrhunderte bzw. Jahrzehnte<br />
zu erklären. Die Vorhersagen der Rational-Choice-Theorie werden von<br />
der Realität zuweilen mit einer spektakulären Härte widerlegt. So zeigen Experimente<br />
aus dem Bereich der Neurowissenschaften, dass sich unter bestimmten<br />
Umständen Versuchspersonen nur dann gemäß der Rational-Choice-Theorie<br />
verhalten, wenn die normale Funktion bestimmter, genau definierter Bereiche<br />
ihres Gehirns zuvor ausgeschaltet wurde (Knoch et al. <strong>200</strong>6, vgl. auch Henderson<br />
<strong>200</strong>6). Das heißt, ein normal funktionierender Mensch folgt nicht notwendigerweise<br />
den Grundsätzen der Rational-Choice-Theorie. Diese Befunde<br />
widersprechen der seitens der Rational-Choice-Theorie oft proklamierten Ambition,<br />
dank ihrer Formalisierung eine starke Prognosekraft zu besitzen.<br />
Aufgrund dieser erwiesenen Unzulänglichkeiten muss die Rational-Choice-<br />
Theorie wichtige Kategorien von Verhaltensweisen notgedrungen irrationalistischen<br />
Erklärungen überlassen, die wiederum anonyme biologische, kulturelle,<br />
soziale oder psychologische Kräfte heraufbeschwören. So kehrt sie aber zu der