PDF (200 KB) - Mohr Siebeck Verlag
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Einführung: Eine Theorie der Rationalität für die Sozialwissenschaften<br />
Frankreich des 18. Jahrhunderts zu entschlüsseln, und zwar indem er sich damit<br />
begnügt, den Amerikanern und Franzosen eine möglichst einfache Psychologie<br />
zu unterstellen. Max Weber macht unzählige religiöse Phänomene transparent,<br />
nur indem er den Gläubigen die einfachste Psychologie attribuiert. Durkheim<br />
hat gezeigt, dass sich scheinbar völlig irrationale Überzeugungen – wie z. B.<br />
der Glaube an imaginäre Kausalbeziehungen, auf denen Praktiken der Magie<br />
basieren – viel besser erklären lassen, wenn man gerade von nicht-irrationalen<br />
Gläubigen ausgeht.<br />
Die Reaktion der Rational-Choice-Theorie<br />
Als Reaktion auf die Denkströmungen, die menschliches Handeln auf das Wirken<br />
überindividueller Kräfte zurückführen, waren die Sozialwissenschaften in<br />
den letzten Jahrzehnten vor allem vom beeindruckenden Siegeszug einer Theorie<br />
mit generalistischem Anspruch geprägt: der Theorie der rationalen Wahl<br />
oder Rational-Choice-Theorie. Diese hat in den letzten Jahren innerhalb der<br />
Sozialwissenschaften entscheidend an Einfluss gewonnen. Sie sieht den homo<br />
sociologicus als nahen Verwandten des homo oeconomicus und schlägt den Politik-<br />
und Sozialwissenschaften und insbesondere der Soziologie einen allgemeinen<br />
theoretischen Rahmen vor.<br />
Die Rational-Choice-Theorie kann unbestrittene und bedeutende Erfolge<br />
verbuchen. Sie hat es erlaubt, auf wissenschaftlich überzeugende Art und Weise<br />
eine große Zahl an Phänomenen aus der Welt der Ökonomie zu erklären, aber<br />
auch viele andere Phänomene, die nicht aus der Ökonomie stammen. Besonders<br />
beachtlich ist ihr Beitrag zur Erklärung von Phänomenen des politischen<br />
Lebens. Zu denken ist in diesem Zusammenhang insbesondere an die nunmehr<br />
klassischen Arbeiten von Anthony Downs, Mancur Olson, James Buchanan<br />
und Gordon Tullock, oder auch Anthony Oberschall und, unlängst, von Gary<br />
Becker (1996), James Coleman ([1990] 1991) sowie vielen anderen. Genauso hat<br />
sie sich besonders fruchtbar bei der Erklärung von Phänomenen der Delinquenz<br />
erwiesen, wie die Arbeiten von James Wilson (1975) oder Russell Hardin (1995)<br />
beweisen. Mit ihrer Hilfe ließen sich Phänomene von Menschenaufläufen erklären,<br />
wie James Coleman gezeigt hat.<br />
Die Rational-Choice-Theorie verdankt ihre Erfolge der Tatsache, dass sie<br />
Phänomene auf „individualistische“ Weise interpretiert, die auf den ersten<br />
Blick nicht in diesen Interpretationsrahmen passen. Seit Gustave Le Bon kehrt<br />
der Mythos einer kollektiven Psychologie, deren Mechanismen von der individuellen<br />
Psychologie völlig abgekoppelt seien, immer wieder auf die Tagesordnung<br />
zurück, sogar heute noch. Allgemein gesagt führt das Auftreten von verwirrenden<br />
oder anstößigen Ereignissen immer wieder zu Arbeiten, die diese<br />
Ereignisse auf eine tief sitzende Irrationalität des Menschen sowie auf Gesetze