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2 Einführung: Eine Theorie der Rationalität für die Sozialwissenschaften Bedeutung, wenn man die Idee nicht akzeptiert, dass der Mensch fähig ist, mit Hilfe seiner Vernunft über Fragen zu urteilen, die seine Interessen oder Leidenschaften nicht gefährden und in denen er die nötige Sachkenntnis besitzt. Wenn man die Bedeutung des gesunden Menschenverstandes im demokratischen Alltag nicht akzeptiert, reduziert sich dieser zwangsläufig auf das Hobbes’sche Bild des Krieges aller gegen alle: die Konfrontation von Interessen und Leidenschaften. Bleibt also nur noch, „gesunden Menschenverstand“ zu definieren. Wie wir sehen werden, existiert eine analytische Definition. Der wiederholte Rekurs auf den Begriff des gesunden Menschenverstandes unter verschiedenen anderen Bezeichnungen bei Smith, Rousseau und Rawls beweist dessen theoretische Bedeutung. Man könnte zwar behaupten, dass dadurch ein etwas zu theoretisches Menschenbild gezeichnet wird, doch jede wissenschaftliche Disziplin verwendet theoretische Konzepte. Die Frage ist lediglich, ob diese tatsächlich auch eine Erkenntnisquelle sind und ob sie es erlauben, Wirkungsmechanismen zu formulieren. Wie schon erwähnt, kann auch der Name Durkheims in die Reihe dieser Autoren aufgenommen werden. Tatsächlich nämlich steht bereits in seinem ersten Buch, dass „der Individualismus und das freie Denken […] nirgendwo anfangen, sondern […] sich unaufhaltsam die ganze Geschichte hindurch entwickelt [haben]“ (Durkheim [1893] 1992: 226 f.). Diese Formulierung unterstellt klar, dass der Mensch autonom ist und über gesunden Menschenverstand verfügt: ein Menschenbild, das den inhaltlichen Analysen des großen französischen Soziologen ebenso stetig zugrunde liegt wie allen großen Werken der Soziologie. Was nun den Gemeinsinn oder „Common Sense“ 5 anbetrifft, ist jener nichts anderes als die Aufsummierung des gesunden Menschenverstandes eines jeden. „Der Begriff, der ursprünglich für wahr gehalten wurde, weil er kollektiv ist, neigt dazu, nur unter der Bedingung kollektiv zu werden, dass er für wahr gehalten wird: Wir verlangen seine Richtigkeit, ehe wir ihm unser Vertrauen schenken“, präzisiert Durkheim ([1912] 1984: 585) noch einmal in seinem letzten Buch. Eine Vorstellung setzt sich – zumindest in langfristiger Sicht – als Common Sense nur dann durch, wenn jeder objektive Gründe dafür hat, ihr zuzustimmen. Der Bruch mit der Philosophie der Aufklärung Konträr zu der durch den Begriff des gesunden Menschenverstandes repräsentierten Tradition sind im 19. Jahrhundert einflussreiche Denkströmungen entstanden, die sich im 20. Jahrhundert weiter entfaltet haben. Diese streiten nicht 5 Vgl. Fußnote 1 im Vorwort zur deutschen Übersetzung, Anm. d. Übers.

Der Bruch mit der Philosophie der Aufklärung 3 nur die Existenz eines gesunden Menschenverstandes ab, sondern behaupten sogar, der Mensch werde ausschließlich von seinen Interessen, Leidenschaften und Vorurteilen geleitet. Sie gehen sogar noch weit darüber hinaus, wenn sie fordern, die Vorstellungen des Menschen in erster Linie als das Ergebnis kultureller, sozialer, biologischer oder psychologischer Kräfte oder Zwänge zu sehen, die sich seiner Kontrolle und sogar seinem Bewusstsein entziehen. Positivismus, Marxismus, Freudianismus oder andere moderatere Denkrichtungen wie der Kulturalismus und der Strukturalismus haben bei allen Unterschieden gemeinsam, dass sie ein radikal neues Menschenbild entwerfen. Die gesamte abendländische Denktradition – einschließlich der Philosophie der Aufklärer – hat immer die Autonomie des Menschen im Hinblick auf die Gedankenfreiheit und sein Urteilsvermögen betont, dabei aber durchaus die Bedeutung von Leidenschaften, Interessen und Vorurteilen in der menschlichen Psyche anerkannt. Das Denken Kants, der stets die Rationalität und die Autonomie des Menschen hervorgehoben hat, zieht sich konstant durch das Werk Max Webers genauso wie durch jenes von Emile Durkheim. Im Gegensatz dazu haben die im 19. und 20. Jahrhundert florierenden irrationalistischen Denkschulen ein fundamental heteronomes Menschenbild entworfen. Ihr Einfluss auf weite Bereiche der Geistes- und Sozialwissenschaften und dadurch auch auf das Bildungswesen, die Medien und – in geringerem Umfang – auf die Öffentlichkeit braucht nicht betont zu werden. Sie haben ein naturalistisches Menschenbild legitimiert, welches zwangsläufig in eine relativistische Philosophie münde. Sobald angenommen wird, dass ein Mensch ein bestimmtes Werturteil, also ein Urteil der Art „das ist gut, legitim usw.“, unter dem Einfluss sozialer, kultureller, psychologischer oder biologischer Kräfte oder Zwänge trifft, die mehr oder weniger mechanisch wirken, kann man unmöglich behaupten, dass das Urteil des einen Menschen besser begründet oder fundiert ist als das eines anders Urteilenden. Letztlich folgt aus dem naturalistischen Menschenbild notwendigerweise auch, dass alles nur Meinung ist, dass alle Meinungen gleichwertig sind, und auch, dass alle „Kulturen“ gleichwertig sind. Was aber nun Zweifel an der Gültigkeit der von diesen Denkströmungen übernommenen Modelle aufwirft, ist insbesondere die Tatsache, dass die bedeutendsten Soziologen sie in keinster Weise benutzt haben. Tocqueville, Weber und Durkheim, um nur die größten zu nennen, halten sich an die klassische Konzeption des Menschen, und dies übrigens ganz im Gegensatz zu dem, was uns die Vertreter, die durch die naturalistische Brille schauen, weismachen wollen. Für Tocqueville, Weber und Durkheim ist der Mensch mit einem gesunden Menschenverstand ausgestattet und nicht anonymen Kräften unterworfen, wobei der gesunde Menschenverstand sicherlich durch Leidenschaften und Vorurteile eingetrübt werden kann. Mit Hilfe dieses Modells erklären sie die komplexesten Makrophänomene. Tocqueville gelingt es, das Mysterium des Sonderwegs der amerikanischen Religion oder des „Kultes der Vernunft“ im

Der Bruch mit der Philosophie der Aufklärung<br />

3<br />

nur die Existenz eines gesunden Menschenverstandes ab, sondern behaupten<br />

sogar, der Mensch werde ausschließlich von seinen Interessen, Leidenschaften<br />

und Vorurteilen geleitet.<br />

Sie gehen sogar noch weit darüber hinaus, wenn sie fordern, die Vorstellungen<br />

des Menschen in erster Linie als das Ergebnis kultureller, sozialer, biologischer<br />

oder psychologischer Kräfte oder Zwänge zu sehen, die sich seiner Kontrolle<br />

und sogar seinem Bewusstsein entziehen. Positivismus, Marxismus, Freudianismus<br />

oder andere moderatere Denkrichtungen wie der Kulturalismus und<br />

der Strukturalismus haben bei allen Unterschieden gemeinsam, dass sie ein radikal<br />

neues Menschenbild entwerfen. Die gesamte abendländische Denktradition<br />

– einschließlich der Philosophie der Aufklärer – hat immer die Autonomie<br />

des Menschen im Hinblick auf die Gedankenfreiheit und sein Urteilsvermögen<br />

betont, dabei aber durchaus die Bedeutung von Leidenschaften, Interessen und<br />

Vorurteilen in der menschlichen Psyche anerkannt. Das Denken Kants, der stets<br />

die Rationalität und die Autonomie des Menschen hervorgehoben hat, zieht sich<br />

konstant durch das Werk Max Webers genauso wie durch jenes von Emile Durkheim.<br />

Im Gegensatz dazu haben die im 19. und 20. Jahrhundert florierenden irrationalistischen<br />

Denkschulen ein fundamental heteronomes Menschenbild<br />

entworfen. Ihr Einfluss auf weite Bereiche der Geistes- und Sozialwissenschaften<br />

und dadurch auch auf das Bildungswesen, die Medien und – in geringerem<br />

Umfang – auf die Öffentlichkeit braucht nicht betont zu werden. Sie haben ein<br />

naturalistisches Menschenbild legitimiert, welches zwangsläufig in eine relativistische<br />

Philosophie münde. Sobald angenommen wird, dass ein Mensch ein<br />

bestimmtes Werturteil, also ein Urteil der Art „das ist gut, legitim usw.“, unter<br />

dem Einfluss sozialer, kultureller, psychologischer oder biologischer Kräfte<br />

oder Zwänge trifft, die mehr oder weniger mechanisch wirken, kann man unmöglich<br />

behaupten, dass das Urteil des einen Menschen besser begründet oder<br />

fundiert ist als das eines anders Urteilenden. Letztlich folgt aus dem naturalistischen<br />

Menschenbild notwendigerweise auch, dass alles nur Meinung ist, dass alle<br />

Meinungen gleichwertig sind, und auch, dass alle „Kulturen“ gleichwertig sind.<br />

Was aber nun Zweifel an der Gültigkeit der von diesen Denkströmungen<br />

übernommenen Modelle aufwirft, ist insbesondere die Tatsache, dass die bedeutendsten<br />

Soziologen sie in keinster Weise benutzt haben. Tocqueville, Weber<br />

und Durkheim, um nur die größten zu nennen, halten sich an die klassische<br />

Konzeption des Menschen, und dies übrigens ganz im Gegensatz zu dem, was<br />

uns die Vertreter, die durch die naturalistische Brille schauen, weismachen wollen.<br />

Für Tocqueville, Weber und Durkheim ist der Mensch mit einem gesunden<br />

Menschenverstand ausgestattet und nicht anonymen Kräften unterworfen,<br />

wobei der gesunde Menschenverstand sicherlich durch Leidenschaften und<br />

Vorurteile eingetrübt werden kann. Mit Hilfe dieses Modells erklären sie die<br />

komplexesten Makrophänomene. Tocqueville gelingt es, das Mysterium des<br />

Sonderwegs der amerikanischen Religion oder des „Kultes der Vernunft“ im

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