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XX Vorwort zur deutschen Übersetzung licherweise herangezogenen Rational-Choice-Theorie. Diese postuliert, dass die Gründe, welche die Individuen antreiben, egoistischer und instrumenteller Natur sind; in der allgemeinen Theorie der Rationalität können sie auch überindividueller und kognitiver Art sein. Beispielsweise sind die Gründe, die erklären, warum Abendländer das Verhalten des „Regenmachers“ im Gegensatz zum Verhalten des „Feuermachers“ als seltsam betrachten, überindividuell und kognitiv. Diese allgemeine Theorie der Rationalität fußt letztlich auf einem Prinzip, dass ich Prinzip des kognitiven Gleichgewichts nennen möchte. Es besagt: Ein Individuum glaubt erst von dem Augenblick an, dass X wahr, akzeptabel, gut, legitim usw. ist, in dem es den Eindruck hat, dass dieses Urteil auf einem System akzeptabler Gründe beruht. Die Rational-Choice-Theorie und die allgemeine Theorie der Rationalität widersprechen sich in einem ganz entscheidenden Punkt: Die Rational-Choice-Theorie sieht den homo sociologicus als Solipsisten, die allgemeine Theorie der Rationalität als verbunden mit Anderen. Man kann in der Tat nicht der Überzeugung sein, dass X wahr, richtig, gut, legitim usw. ist, ohne gleichzeitig das Gefühl zu haben, dass andere diese Überzeugung teilen müssten. Neben dem methodologischen Singularismus und dem methodologischen Individualismus ist schließlich das Prinzip des kognitiven Gleichgewichts das dritte Prinzip, welches meiner Ansicht nach implizit jenes Paradigma definiert, das von den Gründervätern der Soziologie und ebenso von vielen modernen Soziologen – insbesondere den Verfechtern der sog. analytischen Soziologie – benutzt wird. Weil es so erklärungsstark und einleuchtend ist, wurde dieses Paradigma schon seit jeher angewendet und unter verschiedenen Bezeichnungen geführt: verstehende Soziologie, erklärende Soziologie, analytische Soziologie oder auch middle-range theory (Pawson 2009). Ich meinerseits habe vorgeschlagen, dieses Paradigma als Definiens der Soziologie als Wissenschaft zu präsentieren, um zu unterstreichen, dass es in allen wissenschaftlichen Disziplinen gilt. Alle, ob Physik, Biologie oder Soziologie, versuchen singuläre Phänomene zu erklären, indem sie zu deren letzten Ursachen vordringen. Natürlich machen sich nicht alle Soziologen das durch die oben genannten drei Prinzipien definierte Paradigma zu eigen. Der Kontrast zwischen der individualistischen Soziologiekonzeption in der Tradition Webers, Durkheims und ihrer Nachfolger sowie der von Le Bon und heute von Ulrich Beck oder Zygmunt Bauman vertretenen holistischen Konzeption zeigt hinreichend, dass die holistische Orientierung anderen Prinzipien gehorcht. Daneben existieren außerdem eine deskriptive Soziologie, die bestenfalls literarischen Wert hat; eine kritische Soziologie, die gern nach Theorien sucht, die zur Verteidigung dieser oder jener Sache genutzt werden können; und schließlich eine szientistische Soziologie, die sorgfältig von der Soziologie als Wissenschaft zu unterschei-
Vorwort zur deutschen Übersetzung XXI den ist. Sie wird durch die strukturalistische Soziologie, durch die Soziobiologie oder durch jene Soziologie illustriert, die all ihre Hoffnungen auf die Entwicklung der Neurowissenschaften setzt. Diese Varianten haben eines gemeinsam: Sie gehen alle davon aus, dass das menschliche Verhalten das Produkt sozialer, psychologischer oder biologischer Ursachen ist, die sich, ähnlich wie die Ursachen menschlicher Verdauungsmechanismen, vollständig der Kontrolle durch den menschlichen Geist und das menschliche Bewusstsein entziehen (Boudon 2012). Müssen die Geisteswissenschaften das Menschliche wirklich über Bord werfen, um wissenschaftlich zu sein? Raymond Boudon, Oktober 2012 Literatur Beck, Ulrich 1986: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Borlandi, Massimo 2011: Durkheim et la psychologie, in: Boudon, Raymond (Hrsg.): Durkheim fut-il durkheimien?, Paris: Colin: S. 55–80. Boudon, Raymond 2012: Croire et savoir: penser le politique, le moral et le religieux, Paris: Presses Universitaires de France. Demeulenaere, Pierre (Hrsg.) 2012: Analytical Sociology and Social Mechanisms, Cambridge: Cambridge University Press. Durkheim, Émile [1897] 1983: Der Selbstmord, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Le Bon, Gustave 1895: Psychologie des foules, Paris: Aclan. Deutsche Ausgabe 2008: Die Psychologie der Massen, Stuttgart: Kröner. Lepenies, Wolf 1985: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München: Hanser. Mommsen, Wolfgang 1965: Max Weber’s Political Sociology and his Philosophy of World History, in: International Social Science Journal 17 (1): S. 23–45. Pawson, Ray 2009: On the Shoulders of Merton. Boudon as the modern Guardian of Middle-Range Theory, in: Cherkaoui, Mohamed/Hamilton, Peter (Hrsg.): Raymond Boudon: A Life in Sociology, Band 4, Oxford: Bardwell Press: S. 317–334. Tocqueville, Alexis de [1840] 1987: Über die Demokratie in Amerika. Zweiter Teil, Zürich: Manesse. von Mises, Ludwig [1949] 1998: Human Action. A Treatise on Economics, Auburn: Ludwig von Mises Institute. Weber, Max [1921] 1988: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie III, Tübingen: Mohr. Weber, Max [1922] 1988: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 7. Auflage, Tübingen: Mohr Siebeck. Wiggershaus, Rolf 2008: Die Frankfurter Schule: Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung, 7. Auflage, München: Deutscher Taschenbuch Verlag.
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