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Vorwort zur deutschen Übersetzung<br />

XIX<br />

strukturalistischem Ansatz im Gegenteil für ein Fundamentalpostulat halten.<br />

Nichts davon findet sich bei Weber und Durkheim: Da das Individuum normalerweise<br />

eher die Ziele seiner Handlung als seine Beweggründe im Auge hat, ist<br />

es sich der Gründe, die es antreiben, im Allgemeinen nur halb bewusst. Doch es<br />

liegen Lichtjahre zwischen dieser banalen Bemerkung und der von den Strukturalisten<br />

übernommenen These von Marx und Karl Mannheim, derzufolge das<br />

Selbst- und das Weltbild des Individuums unter dem Einfluss eines solchen Sozialdeterminismus<br />

zwangsläufig verzerrt sind. Im Gegensatz zu dieser These<br />

spielen für Durkheim und Weber der gesunde Menschenverstand und der Common<br />

Sense 1 eine zentrale Rolle.<br />

Ein einfaches, Weber entlehntes Beispiel veranschaulicht die Idee, dass Überzeugungen<br />

durch die Gründe erklärt werden müssen, aus denen ihnen die Individuen<br />

anhängen, und zwar unter Berücksichtigung ihres jeweiligen Kontextes.<br />

Ein idealtypischer moderner Abendländer ist überrascht, wenn er feststellt,<br />

dass der „primitive Mensch“, wie man im 19. Jahrhundert sagte, offenbar an die<br />

Wirksamkeit von Regentanzritualen glaubt; nicht überrascht ist er hingegen angesichts<br />

der Tatsache, dass dieser zwei Holzstücke aneinander reibt, um Feuer<br />

zu erzeugen. Da der Abendländer die Gesetze der Energieumwandlung kennt,<br />

weiß er, dass sich kinetische Energie in thermische umwandelt. Daher wundert<br />

er sich nicht über den „Feuermacher“; das Verhalten des „Regenmachers“ hingegen<br />

erscheint ihm rätselhaft. Der „primitive Mensch“ selbst wiederum hat<br />

überhaupt keinen Grund, hier genauso zu differenzieren: Wie die Beobachtungen<br />

von Anthropologen zeigen, sind für ihn die Praktiken des „Feuermachers“<br />

und des „Regenmachers“ gleichermaßen durch Theorien fundiert; diese werden<br />

vom Abendländer jedoch als „magisch“ wahrgenommen.<br />

In diesem Beispiel und in all seinen Analysen empfiehlt Weber, die übliche<br />

instrumentelle Konzeption von Rationalität durch eine kognitive zu ersetzen.<br />

Das Beispiel veranschaulicht mit anderen Worten die für Weber zentrale Idee,<br />

wonach eine individuelle Handlung, Überzeugung oder Verhaltensweise zu<br />

verstehen bedeutet, die Gründe für sie im Geiste des Individuums zu identifizieren<br />

– wobei die Entschlüsselung dieser Gründe selbstverständlich impliziert,<br />

dass der Forscher die Merkmale des sozialen und kognitiven Kontextes berücksichtigt,<br />

in dem das Individuum verortet ist.<br />

Die Theorie, die ich allgemeine Theorie der Rationalität oder auch Theorie<br />

der Alltagsrationalität nennen möchte, formalisiert die von Weber in seinen<br />

theoretischen Texten skizzierten und in seinen empirischen Analysen umgesetzten<br />

Ideen. Sie unterscheidet sich von der in den Sozialwissenschaften üb-<br />

1<br />

Anm. d. Übers.: Französisch „sens commun“, deutsch auch „Sensus communis“. Der<br />

Autor differenziert durchgehend zwischen dem gesunden Menschenverstand auf der Individualebene<br />

(„le bon sens“), also der Vernunft jedes einzelnen, und dem „Common Sense“ auf<br />

der Makroebene, welcher den aggregierten gesunden Menschenverstand Aller, also eine Art<br />

kollektive Vernunft bezeichnet.

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