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XVIII Vorwort zur deutschen Übersetzung giöser Autoritäten leiten lasse, während der Protestant seine existenziellen Probleme aus eigener Kraft lösen solle, indem er die Empfehlungen der Heiligen Schrift selbst entschlüsselt. Daher greife Letzterer im Falle presönlichen Scheiterns mit größerer Wahrscheinlichkeit auf die „Lösung“ Selbstmord zurück. In den Elementaren Formen religiösen Lebens behauptet Durkheim, der Begriff der Seele scheine deshalb universell und dauerhafter als andere religiöse Konzepte zu sein, weil er eine symbolische Bedeutung habe, die allen einleuchtet. In jeder Gesellschaft, erklärt er, hat jedes Individuum ein Gespür dafür, dass bestimmte Verhaltensweisen legitim oder nicht legitim, gut oder nicht gut sind. In unserem modernen Vokabular ausgedrückt: Jedes Individuum hat einen Sinn für Werte. Jeder hat das Gefühl, dass die Werte, die er vertritt, konstitutiv für seine persönliche Identität sind, weiß aber auch, dass sie ihm von außen zugetragen werden, d. h. dass er nicht ihre Quelle ist. Folglich kommt kein Individuum umhin, ein Gefühl der Dualität seines Ichs zu verspüren. Laut Durkheim muss der Begriff der Seele als symbolischer Ausdruck dieser Dualität interpretiert werden. Verstehen als offenes Rationalitätskonzept Der Begriff des Verstehens im Weber’schen Sinne beinhaltet ferner ein drittes Kernprinzip, und zwar das Prinzip der Rationalität: Um dieses geht es im vorliegenden Buch. Das Rationalitätsprinzip liegt der Auffassung zugrunde, die Weber, Durkheim sowie die analytischen Soziologen unserer Zeit von der Soziologie als Wissenschaft haben. Für sie liegen die Ursachen, die erklären, warum sich ein idealtypisches Individuum auf eine bestimmte Art und Weise verhält oder an bestimmte Dinge glaubt, in den Gründen, die das Individuum bewegen. Genauer gesagt hängt ein idealtypisches Individuum dann einer bestimmten Überzeugung an, wenn es den Eindruck hat, dass diese im Rahmen eines Systems von Gründen, die es als akzeptabel wahrnimmt, fundiert ist. Im Allgemeinen werden diese Gründe durch den Kontext parametrisiert: So hatten die Sadduzäer nicht die gleichen Gründe wie die Pharisäer, an die Unsterblichkeit der Seele zu glauben. Durkheim wird in dieser Hinsicht sogar noch deutlicher als Weber. Er steht Autoren seiner Zeit äußerst kritisch gegenüber, die – wie Max Müller oder Lucien Lévy-Bruhl – religiöse Überzeugungen oder magische Rituale als Folge von Illusionen analysieren, die durch soziale Zwänge oder verborgene psychische Kräfte in die Köpfe der Individuen gelangt sind. Er postuliert explizit, dass dauerhafte Überzeugungen niemals als Illusionen erklärt werden dürfen. Er hätte also die marxistische Vorstellung abgelehnt, nach der die soziale Konditionierung die Individuen blind macht für die Gründe, aus denen sie das tun, was sie tun, und daran glauben, woran sie glauben: Eine Idee, die Soziologen mit

Vorwort zur deutschen Übersetzung XIX strukturalistischem Ansatz im Gegenteil für ein Fundamentalpostulat halten. Nichts davon findet sich bei Weber und Durkheim: Da das Individuum normalerweise eher die Ziele seiner Handlung als seine Beweggründe im Auge hat, ist es sich der Gründe, die es antreiben, im Allgemeinen nur halb bewusst. Doch es liegen Lichtjahre zwischen dieser banalen Bemerkung und der von den Strukturalisten übernommenen These von Marx und Karl Mannheim, derzufolge das Selbst- und das Weltbild des Individuums unter dem Einfluss eines solchen Sozialdeterminismus zwangsläufig verzerrt sind. Im Gegensatz zu dieser These spielen für Durkheim und Weber der gesunde Menschenverstand und der Common Sense 1 eine zentrale Rolle. Ein einfaches, Weber entlehntes Beispiel veranschaulicht die Idee, dass Überzeugungen durch die Gründe erklärt werden müssen, aus denen ihnen die Individuen anhängen, und zwar unter Berücksichtigung ihres jeweiligen Kontextes. Ein idealtypischer moderner Abendländer ist überrascht, wenn er feststellt, dass der „primitive Mensch“, wie man im 19. Jahrhundert sagte, offenbar an die Wirksamkeit von Regentanzritualen glaubt; nicht überrascht ist er hingegen angesichts der Tatsache, dass dieser zwei Holzstücke aneinander reibt, um Feuer zu erzeugen. Da der Abendländer die Gesetze der Energieumwandlung kennt, weiß er, dass sich kinetische Energie in thermische umwandelt. Daher wundert er sich nicht über den „Feuermacher“; das Verhalten des „Regenmachers“ hingegen erscheint ihm rätselhaft. Der „primitive Mensch“ selbst wiederum hat überhaupt keinen Grund, hier genauso zu differenzieren: Wie die Beobachtungen von Anthropologen zeigen, sind für ihn die Praktiken des „Feuermachers“ und des „Regenmachers“ gleichermaßen durch Theorien fundiert; diese werden vom Abendländer jedoch als „magisch“ wahrgenommen. In diesem Beispiel und in all seinen Analysen empfiehlt Weber, die übliche instrumentelle Konzeption von Rationalität durch eine kognitive zu ersetzen. Das Beispiel veranschaulicht mit anderen Worten die für Weber zentrale Idee, wonach eine individuelle Handlung, Überzeugung oder Verhaltensweise zu verstehen bedeutet, die Gründe für sie im Geiste des Individuums zu identifizieren – wobei die Entschlüsselung dieser Gründe selbstverständlich impliziert, dass der Forscher die Merkmale des sozialen und kognitiven Kontextes berücksichtigt, in dem das Individuum verortet ist. Die Theorie, die ich allgemeine Theorie der Rationalität oder auch Theorie der Alltagsrationalität nennen möchte, formalisiert die von Weber in seinen theoretischen Texten skizzierten und in seinen empirischen Analysen umgesetzten Ideen. Sie unterscheidet sich von der in den Sozialwissenschaften üb- 1 Anm. d. Übers.: Französisch „sens commun“, deutsch auch „Sensus communis“. Der Autor differenziert durchgehend zwischen dem gesunden Menschenverstand auf der Individualebene („le bon sens“), also der Vernunft jedes einzelnen, und dem „Common Sense“ auf der Makroebene, welcher den aggregierten gesunden Menschenverstand Aller, also eine Art kollektive Vernunft bezeichnet.

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Vorwort zur deutschen Übersetzung<br />

giöser Autoritäten leiten lasse, während der Protestant seine existenziellen Probleme<br />

aus eigener Kraft lösen solle, indem er die Empfehlungen der Heiligen<br />

Schrift selbst entschlüsselt. Daher greife Letzterer im Falle presönlichen Scheiterns<br />

mit größerer Wahrscheinlichkeit auf die „Lösung“ Selbstmord zurück.<br />

In den Elementaren Formen religiösen Lebens behauptet Durkheim, der Begriff<br />

der Seele scheine deshalb universell und dauerhafter als andere religiöse<br />

Konzepte zu sein, weil er eine symbolische Bedeutung habe, die allen einleuchtet.<br />

In jeder Gesellschaft, erklärt er, hat jedes Individuum ein Gespür dafür,<br />

dass bestimmte Verhaltensweisen legitim oder nicht legitim, gut oder nicht gut<br />

sind. In unserem modernen Vokabular ausgedrückt: Jedes Individuum hat einen<br />

Sinn für Werte. Jeder hat das Gefühl, dass die Werte, die er vertritt, konstitutiv<br />

für seine persönliche Identität sind, weiß aber auch, dass sie ihm von außen zugetragen<br />

werden, d. h. dass er nicht ihre Quelle ist. Folglich kommt kein Individuum<br />

umhin, ein Gefühl der Dualität seines Ichs zu verspüren. Laut Durkheim<br />

muss der Begriff der Seele als symbolischer Ausdruck dieser Dualität interpretiert<br />

werden.<br />

Verstehen als offenes Rationalitätskonzept<br />

Der Begriff des Verstehens im Weber’schen Sinne beinhaltet ferner ein drittes<br />

Kernprinzip, und zwar das Prinzip der Rationalität: Um dieses geht es im<br />

vorliegenden Buch. Das Rationalitätsprinzip liegt der Auffassung zugrunde,<br />

die Weber, Durkheim sowie die analytischen Soziologen unserer Zeit von der<br />

Soziologie als Wissenschaft haben. Für sie liegen die Ursachen, die erklären,<br />

warum sich ein idealtypisches Individuum auf eine bestimmte Art und Weise<br />

verhält oder an bestimmte Dinge glaubt, in den Gründen, die das Individuum<br />

bewegen. Genauer gesagt hängt ein idealtypisches Individuum dann einer bestimmten<br />

Überzeugung an, wenn es den Eindruck hat, dass diese im Rahmen<br />

eines Systems von Gründen, die es als akzeptabel wahrnimmt, fundiert ist. Im<br />

Allgemeinen werden diese Gründe durch den Kontext parametrisiert: So hatten<br />

die Sadduzäer nicht die gleichen Gründe wie die Pharisäer, an die Unsterblichkeit<br />

der Seele zu glauben.<br />

Durkheim wird in dieser Hinsicht sogar noch deutlicher als Weber. Er steht<br />

Autoren seiner Zeit äußerst kritisch gegenüber, die – wie Max Müller oder<br />

Lucien Lévy-Bruhl – religiöse Überzeugungen oder magische Rituale als Folge<br />

von Illusionen analysieren, die durch soziale Zwänge oder verborgene psychische<br />

Kräfte in die Köpfe der Individuen gelangt sind. Er postuliert explizit,<br />

dass dauerhafte Überzeugungen niemals als Illusionen erklärt werden dürfen.<br />

Er hätte also die marxistische Vorstellung abgelehnt, nach der die soziale Konditionierung<br />

die Individuen blind macht für die Gründe, aus denen sie das tun,<br />

was sie tun, und daran glauben, woran sie glauben: Eine Idee, die Soziologen mit

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