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Vorwort zur deutschen Übersetzung<br />

XVII<br />

Methodologischer Individualismus<br />

Der methodologische Singularismus ist die erste Regel, die allen wissenschaftlichen<br />

Erklärungen der Sozialwissenschaften gemein ist. Max Weber und nach<br />

ihm Joseph Schumpeter haben eine zweite Regel identifiziert und ihr den Namen<br />

methodologischer Individualismus gegeben. Der Begriff wurde später<br />

durch Karl Popper populär. Max Weber betrachtete den methodologischen Individualismus<br />

als Basisprinzip dessen, was er verstehende Soziologie nannte:<br />

„Die verstehende Soziologie, in unserem Sinne, behandelt das Einzelindividuum<br />

und sein Handeln als unterste Einheit, als ihr ‚Atom‘“ ( Weber [1922]<br />

1988: 415). Man kann sich kaum klarer ausdrücken: Der methodologische Individualismus<br />

ist das Grundprinzip der verstehenden Soziologie, weil individuelle<br />

Handlungen die einzig möglichen Gründe für soziale Phänomene sind.<br />

Weber bekräftigt das noch einmal in einem bekannten Brief vom 9. März 1920<br />

an den Ökonom Robert Liefmann: „Soziologie auch muss strikt individualistisch<br />

in der Methode betrieben werden“ (Mommsen 1965). Bedauerlicherweise<br />

ziehen zahlreiche Lehrbücher den methodologischen Individualismus mit dem<br />

Vorwurf ins Lächerliche, er ignoriere, dass Individuen in Institutionen eingebettet<br />

sind, einem sozialen Kontext angehören und eine Lerngeschichte haben.<br />

Selbst der Begriff der verstehenden Soziologie wird oft missverstanden. Daher<br />

präzisiert Weber im ersten oben zitierten Beitrag, er verstehe den Begriff in<br />

seinem eigenen Sinne. Nicht wenige Soziologen seiner Zeit schrieben ihm nämlich<br />

einen holistischen und nicht einen individualistischen Sinn zu. Sogar heute<br />

noch stellen etliche wissenschaftliche Werke die verstehende Soziologie als jene<br />

Soziologie dar, die auf die Beschreibung charakteristischer Merkmale bestimmter<br />

Gesellschaften oder bestimmter Epochen abzielt – wie früher Dilthey oder<br />

Burckhardt und heute Ulrich Beck oder Zygmunt Baumann.<br />

Um solchen Missverständnissen zu begegnen, verteidigte Weber ausdrücklich<br />

die Idee, dass das Hauptziel der Soziologie in der Erklärung singulärer Phänomene<br />

bestehe; da soziale Phänomene durch individuelle menschliche Handlungen<br />

verursacht seien, setze eine solche Erklärung voraus, dass der Soziologe<br />

in der Lage sei, die Ursachen dieser Handlungen zu bestimmen. Genau das tut<br />

Weber, wenn er erklärt, warum die Pharisäer an die Unsterblichkeit der Seele<br />

glaubten und die Sadduzäer nicht. Die Ursache für diesen makrosoziologischen<br />

Unterschied steckt in den Gründen, aus denen ein idealtypischer Pharisäer für<br />

diese Vorstellung empfänglicher war als ein idealtypischer Sadduzäer.<br />

Auch Durkheim hat sich implizit zum Prinzip des methodologischen Individualismus<br />

bekannt, ungeachtet des vagen Charakters seiner Überlegungen<br />

zur Mikro-Makro-Verbindung (Borlandi 2011). So erklärt er im Selbstmord das<br />

Makrophänomen höherer Selbstmordraten unter Protestanten mit Hilfe der<br />

Hypothese, dass sich der idealtypische Katholik von den Instruktionen reli-

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