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Lehrbuch des Privatrechts - Mohr Siebeck Verlag

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§ 1 Einleitung 11<br />

aber nur ein Äquivalent für den Einstandsgedanken <strong>des</strong> anglo-amerikanischen<br />

Rechts. Tatsächlich besteht der Unterschied allein in der Benennung <strong>des</strong><br />

Problems. Denn dem in der Praxis vor allem bedeutsamen Fahrlässigkeitsvorwurf<br />

nach § 276 Abs. 2 unterliegt ein objektiver Maßstab, 42 mit dem dieselben<br />

Garantiezwecke 43 verfolgt werden wie mit dem anglo-amerikanischen Einstandsprinzip.<br />

Diesen Zusammenhang erläutert etwa Franz Exner im Jahr<br />

1910 so:<br />

„Die Bedürfnisse <strong>des</strong> Verkehrs erfordern es, dass jedermann ohne Schaden für sich selbst<br />

bei jedem dritten erwachsenen Menschen gewisse Durchschnittsqualitäten voraussetzen<br />

darf. Darum ist jeder im Verkehr Stehende verpflichtet, die daselbst erforderliche Sorgfalt<br />

anzuwenden […] Die Nichtbeachtung dieser Pflicht geht auf seine Gefahr. Wer auf ein<br />

durchschnittliches Wissen und Können beim anderen vertraut, darf keinen Nachteil erleiden,<br />

wenn seine Erwartungen nicht erfüllt werden.“ 44<br />

Die Grundelemente <strong>des</strong> Einstandsgedankens sind daher auch im Verschuldensprinzip<br />

<strong>des</strong> Bürgerlichen Gesetzbuches verwirklicht. 45 Weil aber § 276 „vor die Klammer gezogen<br />

wird“ und daher für vertragliche und deliktische Fälle gleichermaßen gilt, fällt die in ihm<br />

begründete Verantwortung paradoxerweise sogar noch strenger aus als in einem speziell<br />

vertragsrechtlichen Einstandsprinzip: Vertragliche Einstandspflichten nämlich hängen allein<br />

von dem ab, was die andere Partei, der Gläubiger, vom Schuldner erwarten darf; Sonderwissen,<br />

besondere Haftungserleichterungen usw. beeinflussen diesen Verantwortungsmaßstab<br />

von vornherein. Demgegenüber stellt § 276 den vertraglichen Schuldner in seiner<br />

Verantwortung zunächst dem deliktisch verantwortlichen Täter gleich und impliziert allenfalls<br />

die Möglichkeit, den allgemeinen Verantwortungsmaßstab nachträglich anzupassen<br />

und einzuschränken. Diesen Zusammenhang bringt Larenz so auf den Punkt:„So kann<br />

man vielleicht sagen, dass das heutige deutsche Recht vom Verschuldensgrundsatz ausgeht,<br />

ihn aber in verschiedener Hinsicht zugunsten einer im Schuldverhältnis sinngemäß gelegenen<br />

Garantie beschränkt, während das englische Recht umgekehrt vom Gedanken der Garantiepflicht<br />

ausgeht, diese aber zugunsten <strong>des</strong> Schuldners aus dem Inhalt <strong>des</strong> Versprechens<br />

wesentlich abmildert.“ 46<br />

Im Rahmen <strong>des</strong> § 276 geht es – jedenfalls soweit vertragliche Verantwortung betroffen<br />

ist – also nicht um einen „pönalen Atavismus“, 47 nicht um Sühne für<br />

Schuld wie im Gedankenmodell der Scholastik, sondern zentral um den Schutz<br />

<strong>des</strong> jeweiligen Gläubigervertrauens in Durchschnittsfähigkeiten.<br />

42 Larenz I, S. 278; Deutsch, Fahrlässigkeit und erforderliche Sorgfalt, 2. Aufl. 1995, passim;<br />

Kramer AcP 171 (1971) 422; Hübner, in: FS Kaser, 1976, S. 715ff.; Müller-Erzbach AcP 106<br />

(1910) 309, 342; Rümelin, Die Gründe der Schadenszurechnung und die Stellung <strong>des</strong> deutschen<br />

bürgerlichen Gesetzbuchs zur objektiven Schadensersatzpflicht, 1896, S. 68f.<br />

43 Zum Garantiezweck vor allem Larenz I, S. 278.<br />

44 Exner, Das Wesen der Fahrlässigkeit, 1910, S. 107. Vgl. Rümelin, Die Gründe der Schadenszurechnung<br />

und die Stellung <strong>des</strong> deutschen bürgerlichen Gesetzbuchs zur objektiven Schadensersatzpflicht,<br />

1896, S. 68f.<br />

45 Dazu Sutschet, Garantiehaftung und Verschuldenshaftung im gegenseitigen Vertrag, 2006,<br />

passim; vgl. teilweise skeptisch: Kirsten, Verschuldensunabhängige Schadensersatzhaftung für<br />

Sachmängel beim Warenkauf?, 2009, passim.<br />

46 Larenz I, S. 278.<br />

47 Vgl. die entsprechende Kritik Kramers AcP 171 (1971) 422, 428.

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