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Lehrbuch des Privatrechts - Mohr Siebeck Verlag

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§ 1 Einleitung 7<br />

sich damit auf der Grundlage einer einheitlichen europäischen dogmatischen<br />

Tradition bewegen, die auch für die Weiterbildung eines europaeinheitlichen<br />

Vertragsrechts maßgeblich werden dürfte (vgl. unten Rn. 48ff.).<br />

b) Das sog. „Willensdogma“<br />

In der traditionellen deutschen Rechtswissenschaft ist ein anderes Vorverständnis<br />

vom Vertrag prägend. Danach können vertragliche Verpflichtungen nur auf<br />

dem Willen der Parteien beruhen. Soweit Pflichten aus Vertrauensschutzüberlegungen<br />

heraus begründet werden, müssen sie nach diesem Systemdenken außervertraglicher<br />

Natur sein. Diese Lehre wird oft auf das System <strong>des</strong> römischen<br />

Rechts von Savignys zurückgeführt, „wo der Wille an sich als das einzig Wichtige<br />

und Wirksame gedacht“ wird. 23 Sie drückt dort einen letztlich in der Tradition<br />

der Aufklärungsphilosophie Kants stehenden Rechtsgedanken aus: Das<br />

selbstbestimmte Individuum soll nur durch seinen freien Willen verpflichtet<br />

werden oder durch das Gesetz. Diese scharfe Trennung hat einige für das deutsche<br />

Recht sehr charakteristische Konsequenzen: Normen wie § 437 (Mängelhaftung<br />

<strong>des</strong> Verkäufers) werden nicht aus Vertrauensschutzgesichtspunkten begründet,<br />

sondern auf den hypothetischen Willen der Parteien zurückgeführt;<br />

denn wenn als Vertragsrecht nur Normen in Betracht kommen, die auf dem<br />

Willen der Parteien beruhen, müssen auch die den Vertragsinhalt regelnden Gesetzesnormen<br />

auf den Parteiwillen zurückgeführt werden. Windscheid spricht<br />

insoweit vom „eigentlichen Willen“ der Parteien. Danach regelt das dispositive<br />

Vertragsrecht nur das, „was die Parteien selbst ausgesprochen haben würden,<br />

wenn sie gerade diesen Fall in den Bereich ihrer Festsetzung gezogen hätten“. 24<br />

Dies entspricht heute einem verbreiteten Verständnis, 25 das allerdings auch einige<br />

Folgeprobleme nach sich zieht: Es fällt schwer, den hypothetischen Willen<br />

der Parteien inhaltlich zu konkretisieren. Denn es handelt sich nicht um einen<br />

wirklichen Parteiwillen, sondern um das, was der Rechtsanwender rückblickend<br />

betrachtet zugunsten der Parteien für richtig hält. Dies hat aber mit einer<br />

Willensentscheidung der Parteien im Sinne von Savignys nichts zu tun. Das bedeutende<br />

<strong>Lehrbuch</strong> von Tuhrs zieht daraus zu Anfang <strong>des</strong> 20. Jahrhunderts eine<br />

radikale Konsequenz: Es lässt die Frage offen, ob das Regelungsprogramm der<br />

naturalia negotii überhaupt vertraglicher oder außervertraglicher Natur ist, 26<br />

und bahnt damit den Weg für das moderne Verständnis von <strong>des</strong>sen außervertraglicher<br />

Natur. 27<br />

6<br />

23 Vgl. von Savigny, System <strong>des</strong> heutigen römischen Rechts, Neudruck der Ausgabe Berlin<br />

1840, 1973, Bd. 3, S. 258.<br />

24 Windscheid/Kipp, <strong>Lehrbuch</strong> <strong>des</strong> Pandektenrechts, 9. Aufl. 1906, § 85 Fn. 1.<br />

25 Sandrock, Zur ergänzenden Vertragsauslegung im materiellen und internationalen Schuldvertragsrecht,<br />

1966, S. 44; zur Kritik: vgl. Stammler AcP 69 (1886) 1, 19ff., 28; Oechsler, Gerechtigkeit<br />

im modernen Austauschvertrag, 1997, S. 291.<br />

26 Von Tuhr, Der Allgemeine Teil <strong>des</strong> Deutschen Bürgerlichen Rechts, Bd. 2, Erste Hälfte,<br />

Nachdruck 1957, S. 194.<br />

27 Vgl. nur Flume, AT – Das Rechtsgeschäft, S. 80.

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