Festschrift für Jan Schröder - Mohr Siebeck Verlag
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<strong>Festschrift</strong> <strong>für</strong> <strong>Jan</strong> <strong>Schröder</strong>
<strong>Festschrift</strong> <strong>für</strong> <strong>Jan</strong> <strong>Schröder</strong><br />
zum 70. Geburtstag<br />
am 28. Mai 2013<br />
herausgegeben von<br />
Arndt Kiehnle, Bernd Mertens<br />
und Gottfried Schiemann<br />
<strong>Mohr</strong> <strong>Siebeck</strong>
ISBN 978-3-16-152658-9<br />
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie;<br />
detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb. dnb.de abrufbar.<br />
© 2013 <strong>Mohr</strong> <strong>Siebeck</strong> Tübingen. www.mohr.de<br />
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung<br />
außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des <strong>Verlag</strong>s unzulässig<br />
und strafbar. Das gilt insbesondere <strong>für</strong> Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen<br />
und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />
Das Buch wurde von Textservice Zink in Schwarzach aus der Garamond gesetzt, von Gulde-<br />
Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei<br />
Spinner in Ottersweier gebunden.
Vorwort<br />
Am 28. Mai 2013 vollendet <strong>Jan</strong> <strong>Schröder</strong>, ordentlicher Professor <strong>für</strong> Deutsche<br />
Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht an der Universität Tübingen und<br />
seit 2009 im Ruhestand, sein 70. Lebensjahr. Diese <strong>Festschrift</strong> vereint 40 Beiträge<br />
von Freunden, Schülern und Kollegen aus dem In- und Ausland. Sie gliedert<br />
sich in drei Abteilungen. Die erste Abteilung ist speziell der Methodengeschichte<br />
des Rechts gewidmet, die zweite etwas allgemeiner der juristischen<br />
Wissenschafts- und Dogmengeschichte und die dritte bietet einen Einblick in<br />
die Vielfalt neuzeitlicher Rechtsgeschichte. Damit sind zugleich die Forschungsschwerpunkte<br />
des Jubilars umrissen. <strong>Jan</strong> <strong>Schröder</strong>s intensive Beschäftigung<br />
mit der Rechtsgeschichte begann, nachdem die Promotion in Hamburg<br />
noch ein strafrechtliches Thema zum Gegenstand hatte, in seiner Assistentenzeit<br />
bei Gerd Kleinheyer in Regensburg und Bonn. Hier wurde der Grundstein<br />
gelegt <strong>für</strong> die nüchtern-unprätentiöse, präzise, dichte und quellengesättigte<br />
Arbeitsweise, die alle Werke <strong>Jan</strong> <strong>Schröder</strong>s in unverwechselbarer Weise<br />
prägt. Hier entstanden auch die ersten Auflagen jenes Taschenbuchs, das wohl<br />
von allen seinen Werken die größte Verbreitung auch bei Studenten, praktisch<br />
tätigen Juristen und Nichtjuristen gefunden hat: Die Sammlung von Biographien<br />
deutscher (und später auch europäischer) Juristen aus fünf (später neun)<br />
Jahrhunderten, die er zusammen mit Gerd Kleinheyer herausgibt und die auch<br />
ins Japanische und Chinesische übersetzt wurde.<br />
Mit der Habilitationsschrift von 1978 war eines seiner großen Themenfelder<br />
bereits weit durchmessen: die Wissenschaftsgeschichte und die Frage des<br />
Übergangs der Jurisprudenz zur Rechtswissenschaft. Der Schlüssel hierzu<br />
liegt in der juristischen Methode und Rechtsquellenlehre, in deren geschichtliche<br />
Genese <strong>Jan</strong> <strong>Schröder</strong> in den folgenden Jahrzehnten immer tiefer und facettenreicher<br />
eindringen sollte. Diese Arbeiten gipfelten in dem Werk „Recht als<br />
Wissenschaft“, das in seiner 2001 erschienenen ersten Auflage die Geschichte<br />
der juristischen Methode vom Humanismus bis zur historischen Schule erstmals<br />
umfassend darstellt. Die zweite Auflage 2011 führt diese monumentale<br />
Darstellung weiter bis in das frühe 20. Jahrhundert. Wer sich einen Überblick<br />
über die ganze Breite seiner rechtshistorischen Arbeiten verschaffen will, der<br />
greife zu der 2010 ebenfalls im <strong>Verlag</strong> <strong>Mohr</strong> <strong>Siebeck</strong> erschienenen Aufsatzsammlung<br />
(<strong>Jan</strong> <strong>Schröder</strong>, Rechtswissenschaft in der Neuzeit. Geschichte, Theorie,<br />
Methode. Ausgewählte Aufsätze 1976-2009), der auch ein vollständiges<br />
Schriftenverzeichnis beigefügt ist.<br />
Viele Auszeichnungen zeugen von dem hohen Ansehen, das der Jubilar im<br />
In- und Ausland genießt. Er ist ordentliches Mitglied der Akademie der Wis-
VI<br />
Vorwort<br />
senschaften und der Literatur in Mainz und Ehrendoktor der Universität<br />
Stockholm. In Tübingen errichtete und leitete er die Forschungsstelle <strong>für</strong> Geschichte<br />
der Rechtswissenschaft, die der Förderung des wissenschaftlichen<br />
Austausches zur Geschichte der neuzeitlichen Rechtswissenschaft dient. Die<br />
Herausgeber und Autoren möchten mit dieser <strong>Festschrift</strong> Dank sagen dem<br />
Freund, Lehrer und Kollegen <strong>Jan</strong> <strong>Schröder</strong>, dem sie alle auf die eine oder andere<br />
besondere Weise verbunden sind und dem sie viele weitere erfüllte Lebensjahre<br />
an der Seite seiner Frau Erika <strong>Schröder</strong> wünschen. Dieser Dank ist<br />
auch ein ganz persönlicher, denn wer <strong>Jan</strong> <strong>Schröder</strong> kennt, schätzt ihn nicht nur<br />
als hervorragenden Wissenschaftler, sondern auch als sehr bescheidenen, stets<br />
tatkräftig hilfsbereiten Menschen mit fein- und zugleich tiefsinnigem Humor.<br />
Der Dank der Herausgeber gilt natürlich auch allen, die bei der Entstehung<br />
dieser <strong>Festschrift</strong> mitgewirkt haben. Wer jemals versucht hat, die Beiträge von<br />
vierzig verschiedenen Autoren aus ganz unterschiedlichen Ländern rechtzeitig<br />
zu erlangen und zu einem homogenen Ganzen zu verschmelzen, mag ermessen,<br />
wie viel Mühe, Geduld und freundliche Bestimmtheit da<strong>für</strong> nötig ist.<br />
Großen Dank schulden die Herausgeber hierbei Frau Christiane Höhne, wissenschaftliche<br />
Mitarbeiterin am Erlanger Lehrstuhl <strong>für</strong> Bürgerliches Recht,<br />
Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte, deren sorgfältige redaktionelle<br />
Bearbeitung der Beiträge nicht unmaßgeblich zum einheitlichen Erscheinungsbild<br />
beigetragen hat. Unser Dank gilt auch einem anonymen Spender<br />
aus der schwäbischen mittelständischen Wirtschaft, der die Drucklegung<br />
großzügig gefördert hat. Dem <strong>Verlag</strong> <strong>Mohr</strong> <strong>Siebeck</strong> danken wir, dass er aus<br />
dem umfangreichen Manuskript und den vielen Korrekturen in gewohnt zuverlässiger,<br />
zügiger und reibungsloser Manier ein schönes Buch gemacht hat,<br />
das – wie wir hoffen – dem Jubilar und allen Lesern Freude bereiten wird.<br />
Erlangen/Tübingen, im November 2012<br />
Arndt Kiehnle<br />
Bernd Mertens<br />
Gottfried Schiemann
Inhaltsverzeichnis<br />
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />
V<br />
A. Methodengeschichte<br />
Christian Baldus<br />
Verfahren, Wahnsinn und Methode – Modestin D. 27,8,27pr.<br />
und die politische Methodengeschichte der Jurisprudenz . . . . . . . . 3<br />
Thomas Finkenauer<br />
Die Redaktion des zweiten Entwurfs eines BGB und die historische<br />
Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21<br />
Christian Hattenhauer<br />
Ad totius iuris cognitionem. Zum Systemverständnis bei<br />
Hugo Donellus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51<br />
Hans Hattenhauer<br />
Zur Rezeption der Lehre von der authentischen Interpretation . . . . 69<br />
Peter Landau<br />
Kritische Bemerkungen zu Thomas Simons Bestreitung<br />
der gesetzespositivistischen Umwälzung des hohen Mittelalters . . . . 81<br />
Bernd Mertens<br />
Die Fürstbischöfe von Bamberg als aufklärerisch-absolutistische<br />
Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99<br />
Karin Nehlsen-von Stryk<br />
„Consuetudo quando dicatur rationabilis“ – Zur Rationabilität<br />
der Gewohnheit in den Observationen des Andreas Gaill . . . . . . . 123<br />
Marie Sandström<br />
Friedrich Carl von Savigny und die „juristische“<br />
rechtswissenschaftliche Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145<br />
Andreas Thier<br />
Ius canonicum positivum, demonstratio und Vernunftrecht:<br />
Wandlungen in der Ordnung des kirchlichen Rechtswissens<br />
im Zeitalter der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
VIII<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
<strong>Jan</strong> Thiessen<br />
Gute Sitten und „gesundes Volksempfinden“ – Vor-, Miss- und<br />
Nachklänge in und um RGZ 150, 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187<br />
Stefan Vogenauer<br />
Zivilprozessuale Folgen subjektiver und objektiver Interpretationslehren:<br />
Das Reichsgericht und die Revisibilität der Auslegung<br />
von Willenserklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221<br />
B. Wissenschafts- und Dogmengeschichte<br />
Wilhelm Brauneder<br />
Eine Pfandherrschaft Kaiser Maximilians I. im 20. Jahrhundert .... 249<br />
Gerhard Dilcher<br />
Otto von Gierkes soziales Genossenschaftsdenken und<br />
die NS-Rechtsideologie – eine Kontinuität? . . . . . . . . . . . . . . . . 255<br />
Ulrich Eisenhardt<br />
Sittenwidrigkeit und Wucher – Zur Entstehungsgeschichte<br />
des § 138 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289<br />
Wolfgang Ernst<br />
Abstimmen nach den Gründen oder nach dem Endresultat –<br />
Eine Prozessrechtskontroverse im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . 309<br />
Wolfgang Forster<br />
Die Person und ihr Ansehen – acceptio personae bei<br />
Domingo de Soto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335<br />
Hans-Peter Haferkamp<br />
Reformbestrebungen innerhalb der Historischen Schule:<br />
Das Rheinische Museum <strong>für</strong> Jurisprudenz . . . . . . . . . . . . . . . . 351<br />
Masasuke Ishibe<br />
Die Naturrechtslehre im Preußen der Restaurationszeit . . . . . . . . 369<br />
Bernd-Rüdiger Kern<br />
Die Königsberger Historische Rechtsschule . . . . . . . . . . . . . . . . 383<br />
Arndt Kiehnle<br />
Der gutgläubige Erwerb im württembergischen Mobiliarsachenrecht<br />
des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401<br />
Diethelm Klippel<br />
Die Allgemeine Staatslehre um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
Inhaltsverzeichnis<br />
IX<br />
Heiner Lück<br />
Zwischen modus legendi und modus vivendi – Ein Beitrag zur<br />
Geschichte des Rechtsunterrichts an der Universität Wittenberg<br />
im Reformationsjahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443<br />
Knut Wolfgang Nörr<br />
Henry Vizioz und René Morel: zwei Erneuerer der französischen<br />
Zivilprozessrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469<br />
Gerhard Otte<br />
Ungleichheit durch Gleichheit – Zur Einführung des BGB-Pflichtteilsrechts<br />
in der ehemaligen DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479<br />
Claes Peterson<br />
Daniel Boëthius und das Kantsche Dilemma – Zur Frage der<br />
Entwicklung des juristischen Wissenschaftsbegriffes . . . . . . . . . . . 497<br />
Eduard Picker<br />
Die insolvenzrechtliche Aussonderung aufgrund obligatorischer<br />
Rechte oder: Vom Sinn geschichtlicher Rechtswissenschaft . . . . . . . 517<br />
Karl Otto Scherner<br />
Rechtswissenschaft als Orientierung in unbekanntem Gelände . . . . 547<br />
Gottfried Schiemann<br />
Doppelverwandtschaft nach Adoption – Über gesetzliche Fiktionen<br />
und ihre Grenzen im Familienrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569<br />
Mathias Schmoeckel<br />
Zum Ende konfessioneller Prägungen – Franz Schmier,<br />
Karl Anton v. Martini und die Pufendorf-Rezeption in Österreich . . 585<br />
C. Vielfalt der neuzeitlichen Rechtsgeschichte<br />
Daniel Damler<br />
Harmonie und Melodie im Staatsdenken der Neuzeit . . . . . . . . . . 609<br />
Franz Dorn<br />
Von Hofkomödianten, Privilegien, ehelicher Vormundschaft und<br />
einem unwillkommenen Vergleich – Friederike Caroline Neubers<br />
Kampf um „ihr“ Theater im Fleischhaus zu Leipzig . . . . . . . . . . . 633<br />
Martin Heckel<br />
Von Luthers Reformation zum ius reformandi des Reichskirchenrechts<br />
– Rechtliche Perspektiven der Adelsschrift Luthers 1520 . . . . 661
X<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
Heinz Holzhauer<br />
Der „Beidler-Prozess“ des Jahres 1914 – Isolde Beidler gegen<br />
ihre Mutter Cosima Wagner wegen ihrer Anerkennung als Tochter<br />
Richard Wagners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683<br />
Gerd Kleinheyer<br />
Ein Reichshofratsprozess an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert 699<br />
Adolf Laufs<br />
Das Jüngste Gericht in der Rechtsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . 709<br />
Louis Pahlow<br />
Internationales Kartellrecht und europäische Wirtschaftspolitik<br />
in der Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 725<br />
Clausdieter Schott<br />
„Erubescimus sine lege loqui“ – ein Juristensprichwort . . . . . . . . . 743<br />
Werner Schubert<br />
„Die Weisungsfreiheit bei der Richterarbeit“ (1941) – Ein Referat<br />
von Wilhelm Schwister (Präsident des OLG Düsseldorf von 1933–1943)<br />
<strong>für</strong> das Reichsjustizministerium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 771<br />
Michael Stolleis<br />
Blaise Pascal – Gedanken zur Ungewissheit des Rechts . . . . . . . . . 787<br />
Dietmar Willoweit<br />
Der „neue Naturalismus“ und das Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . 799<br />
Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 809
A. Methodengeschichte
Verfahren, Wahnsinn und Methode<br />
Modestin D. 27,8,27pr. und<br />
die politische Methodengeschichte der Jurisprudenz *<br />
Christian Baldus<br />
I. Einleitung<br />
Der Jubilar, so lässt sich ohne Übertreibung sagen, hat der Methodenlehre einen<br />
besseren Platz in der Rechtsgeschichte verschafft – und der Rechtsgeschichte,<br />
so ist zu hoffen, einen besser sichtbaren in der Methodenlehre. Er hat<br />
damit zugleich zu jener gegenwärtigen Renaissance der deutschen Methodendiskussion<br />
beigetragen, die – von europäischen Herausforderungen angestoßen<br />
– 1 alle Teilgebiete des Rechts erfasst. Er hat die rechtspraktische und<br />
rechtspolitische Relevanz von Methodenfragen ebenso herausgearbeitet wie<br />
den Einfluss philosophischer und rhetorischer Strömungen auf die Normdeutung.<br />
Er ist gerade dadurch dem verbreiteten Vorurteil entgegen getreten, Auslegung<br />
sei beliebig, nichts als bestenfalls ein Glasperlenspiel, typischerweise<br />
ein Produkt kontingenter Interessen.<br />
1<br />
* Die Quelle war zwischen 2010 und 2012 Gegenstand unterschiedlich zugeschnittener<br />
Vorträge u.a. in Siena und Palermo. Einige Ergebnisse daraus werden hiermit vorgelegt. Den<br />
Kollegen Emanuele Stolfi und Mario Varvaro danke ich <strong>für</strong> Einladungen und Diskussionen. Einige<br />
Spezialfragen philologischer, römischrechtlicher oder rechtsphilosophischer Art werden<br />
<strong>für</strong> die Zwecke dieses Beitrages übergangen. Wertvolle Hinweise verdanke ich namentlich Frau<br />
Kollegin Ulrike Babusiaux, Zürich; Frau Kollegin Fara Nasti, Montecassino; Herrn Kollegen<br />
Gert Ueding und Herrn Thomas Zinsmaier, Tübingen; Herrn Kollegen Clemens Zintzen,<br />
Köln/Mainz. – Bei Abschluss des Typoskripts erreicht mich ein Artikel zur selben Stelle: Andrea<br />
Trisciuoglio, Dispersione delle ceneri del cadavere: considerazioni romanistiche in margine<br />
a Mod. 8. resp. D. 28.7.27.pr., in: Teoria e storia del diritto privato 2012, nur online verfügbar:<br />
http://www.teoriaestoriadeldirittoprivato.com/media/rivista/2012/contributi/<br />
2012_Contributi_Trisciuoglio_Ceneri.pdf. Dieser Exegese konnte ich leider nur noch in einzelnen<br />
Fußnoten Rechnung tragen.<br />
1<br />
Zu diesen vgl. nur Karl Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre. Handbuch <strong>für</strong><br />
Ausbildung und Praxis, 2. Aufl., Berlin 2010; Details und Nachweise zum Folgenden dort bei<br />
Christian Baldus, § 3: Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie: Römische Grundlagen und<br />
Bedeutung des 19. Jahrhunderts, S. 26–111 (36–44, Rn. 22–37); Martin Gebauer, Kap. 4, in:<br />
ders./Thomas Wiedmann (Hrsg.), Zivilrecht unter europäischem Einfluss, 2. Aufl., Stuttgart<br />
2010, S. 111–139. Neuestens zum geltenden Recht das Methoden-Sonderheft der RabelsZ (H. 4<br />
des Jahrgangs 75/2011), gleichfalls mwN.
4 Christian Baldus<br />
Wo der Jurist seine eigene Rolle in der Rechtsanwendung bedenkt, da<br />
nimmt er zugleich seine spezifische Verantwortung <strong>für</strong> die Wirksamkeit und<br />
die Wirkungen des Rechts wahr. Die Gegenauffassung, die in Methodenlehre<br />
bestenfalls eine Legitimationsideologie sieht, steckt in vielen Köpfen, wird<br />
aber selten theoretisch hergeleitet. 2 So soll sie im Folgenden auch nicht theoretisch<br />
bekämpft, sondern an einem historischen Beispiel gemessen werden, einer<br />
selten behandelten Quelle des römischen Juristen Herennius Modestinus<br />
(3. Jahrhundert n. Chr.) 3 : Rechtsgeschichte ist oft zunächst Betrachtung der<br />
dogmatischen Praxis. Zugleich aber kann sie damit Analyse der praktischen<br />
Überzeugungskraft und Wirkmächtigkeit theoretischer Ansätze sein.<br />
II. Juristenmethode und Rolle der Juristen<br />
Für Rom ist vielfach beschrieben worden, wie die iuris consulti langsam in den<br />
Bannkreis der kaiserlichen Macht gerieten, nachdem sie in der Republik noch<br />
primär aus privater auctoritas heraus Recht geschaffen und fortentwickelt hatten.<br />
Die in Deutschland traditionelle Gliederung nach Früh-, Hoch- und Spätklassik<br />
(entsprechend ungefähr dem ersten und dem zweiten Jahrhundert nach<br />
Christus sowie der ersten Hälfte des dritten) orientiert sich zwar primär an<br />
den Arbeitsformen der Juristen. Sie reflektiert aber bis zu einem bestimmten<br />
Punkt auch die Phasen des Annäherungsprozesses zwischen politischer Macht<br />
und jurisprudentieller Rechtsgewinnung.<br />
1. Früher und hoher Prinzipat<br />
Bekanntlich gehen die ersten Maßnahmen zur behutsamen Einbindung der Juristen<br />
in das Herrschaftssystem des Prinzipats bereits von Augustus aus. Zu<br />
2 Mehr als andernorts in Italien: der nichilismo giuridico, wie ihn – im Anschluss an die Ontologie<br />
und Epistemologie von Emanuele Severino – vor allem Natalino Irti vertritt. Vgl. nur<br />
Natalino Irti, Art. Nichilismo giuridico, in: XXI secolo, 7° appendice della Enciclopedia Italiana,<br />
Roma 2006, hier zit. nach ders., Il salvagente della forma (Roma/Bari 2007), S. 99–105. Das<br />
Echo ist durchweg kritisch; statt aller Luigi Mengoni, Ermeneutica e dogmatica giuridica, Milano<br />
1996; ders., Diritto e tecnica, in Riv. trim dir. proc. civ. 55 (2001), S. 1–9; Ottavio De Bertolis,<br />
Il „nichilismo giuridico“, in: La Civiltà Cattolica 2005, S. 399–410; Filippo Gallo, L’interpretazione<br />
del diritto è affabulazione?, Milano 2005; zuletzt mwN. Giovanni Bianco, Capograssi,<br />
Kelsen e il nichilismo giuridico. Aspetti dell’attuale crisi della scienza giuridica,<br />
Diritto@Storia 2009 (http://www.dirittoestoria.it/8/). Irti selbst sieht sich gezwungen, auch auf<br />
der Grundlage seiner Lehre die Verantwortung des Juristen herauszustreichen.<br />
3 Forschungsstand zu Leben und Werk: Gloria Viarengo, Studi su Erennio Modestino. Profili<br />
biografici (Torino 2009). Zur Quelle zuletzt näher Trisciuoglio (wie Fn. *) und beiläufig<br />
Martin Avenarius, Römisches Erbrecht und Religion: Interdependenzen von Herrschafts-,<br />
Vermögens- und Kultperpetuierung in Pontifikaljurisprudenz sowie Dogmatik und Praxis des<br />
ius civile, in: Reinhard Zimmermann (Hrsg.), Der Einfluss religiöser Vorstellungen auf die Entwicklung<br />
des Erbrechts, Tübingen 2012, S. 7–78, hier: S. 70 f.
Verfahren, Wahnsinn und Methode 5<br />
nennen ist namentlich das ius respondendi ex auctoritate principis. 4 Die auch<br />
formelle Integration nahezu aller wichtigen Juristen in dieses System hingegen<br />
lässt sich erst seit den Verwaltungsreformen Hadrians 5 belegen, also <strong>für</strong> die<br />
erste Hälfte des 2. Jahrhundert n. Chr. Die großen Juristennamen aus der Zeit<br />
der Adoptivkaiser sind zumeist Namen von Kanzleivorstehern bzw. Mitgliedern<br />
des kaiserlichen consilium.<br />
Auch bei diesen Juristen freilich finden wir durchgängig eine Fortsetzung<br />
der privaten Gutachtertätigkeit, der wir die dogmengeschichtlich maßgeblichen<br />
Quellen verdanken; und wir finden – bis in sprachliche Details hinein –<br />
eine Tendenz dazu, auf der Unabhängigkeit und Kreativität dieser Gutachtertätigkeit<br />
zu bestehen, auch wenn längst akzeptiert war, dass der Kaiser Zivilrecht<br />
schaffen konnte und durch die Hand derselben Juristen schuf. 6 Das Ende<br />
des Adoptivkaisertums in der Herrschaft des Commodus (180–192) 7 verändert<br />
auch dieses Zusammenspiel, in dem Kaiser und Juristen jeweils klug genug<br />
waren, gewachsene Sphären und praktische Notwendigkeiten zu respektieren.<br />
8 Die Zeit danach, die der severischen Jurisprudenz, ist zwar die in den<br />
4<br />
Darüber mehrfach Javier Paricio: El ,ius publice respondendi ex auctoritate principis‘, in:<br />
ders. (dir.), Poder político y derecho en la Roma clásica, Madrid 1996, S. 85–105 = ders., De la<br />
justicia y el derecho. Escritos misceláneos romanísticos, Madrid 2002, S. 111–138; ders., Sobre<br />
los primeros juristas con „ius publice respondendi“, in: Fides Humanitas Ius. Studii in onore di<br />
Luigi Labruna, Napoli 2007, VI, S. 4006–4018; zuletzt ders., Génesis histórica concreta del ius<br />
publice respondendi ex auctoritate principis: Dos interpretaciones alternativas, in: ders., Poder,<br />
juristas, proceso. Cuestiones jurídico-políticas de la Roma clásica, Madrid/Barcelona/Buenos<br />
Aires 2012, S. 137–155. Aus der deutschen Lit. etwa Martin Avenarius, Rechtswissenschaft und<br />
„Cäsarenwahnsinn“. Gedanken zu Sueton, Caligula 34,2 und zum ius respondendi im frühen<br />
Prinzipat in: Fakultätsspiegel (der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln),<br />
Sommersemester 2005, hrsg. vom Verein zur Förderung der Rechtswissenschaft, S. 61–82<br />
(http://jura-foerderverein.uni-koeln.de/publikationen/fakultaetsspiegel_ss2005.pdf).<br />
5<br />
Die neuere Forschung tendiert dazu, diese Reformen in einen längeren Prozess einzuordnen:<br />
Christer Bruun, Die Kaiser, die republikanischen Institutionen und die kaiserliche Verwaltung,<br />
in: Aloys Winterling (Hrsg.), Zwischen Strukturgeschichte und Biographie. Probleme<br />
und Perspektiven einer neuen Römischen Kaisergeschichte 31 v. Chr. – 192 n. Chr., München<br />
2011, S. 162–179, hier: S. 168.<br />
6<br />
Vgl. Christian Baldus, „Historische Auslegung“ in Rom? Der Umgang römischer Juristen<br />
mit dem Normtext als Methodenfrage, in: Seminarios Complutenses de Derecho Romano 20–<br />
21 (2007–2008) (Gedenkschrift zum 100. Geburtstag von D. Ursicino Álvarez Suárez), S. 85–<br />
110. Jetzt Massimo Brutti, Gaio e lo ius controversum, in: Annali Palermo 2012, im Druck.<br />
7<br />
Die Kaiserbilder in den Quellen sind selbstverständlich auch <strong>für</strong> diese Zeit mit Vorsicht zu<br />
genießen: Olivier Hekster, Emperors and Empire. Marcus Aurelius and Commodus, in: Aloys<br />
Winterling (Hrsg.), Zwischen Strukturgeschichte und Biographie. Probleme und Perspektiven<br />
einer neuen Römischen Kaisergeschichte 31 v. Chr. – 192 n. Chr., München 2011, S. 317–328.<br />
Weiterhin Thomas Finkenauer, Die Rechtsetzung Mark Aurels zur Sklaverei, Mainz und Stuttgart<br />
2010, S. 7–12, S. 87–91.<br />
8<br />
Eine zusammenfassende Darstellung fehlt. Unentbehrlich: Giovanni Gualandi, Legislazione<br />
imperiale e giurisprudenza (Milano 1963; rist. a cura di Gianni Santucci e Nicoletta Sarti:<br />
Bologna 2012, im Druck). In der neueren Lehrbuchlit. setzt Akzente beim Verhältnis von Juristen-<br />
und Kaiserrecht etwa Massimo Brutti, Il diritto privato nell’antica Roma, 2. ed., Torino<br />
2011.
6 Christian Baldus<br />
Digesten 9 bestdokumentierte; doch sie stellt keine schlichte Fortsetzung des<br />
bis zu Mark Aurel Prägenden dar, sondern weist Eigenheiten auf, die auch unsere<br />
Quelle beleuchten mögen. 10<br />
2. Severische Jurisprudenz<br />
Kurz nach der severischen Dynastie endet Mitte des dritten Jahrhunderts n.<br />
Chr. auch die Periode, aus der wir Juristen namentlich kennen. Einer der letzten<br />
ist der Autor unseres Textes, Herennius Modestinus, Ulpianschüler und<br />
noch unter Gordian dokumentiert. 11 Sein Lehrer Domitius Ulpianus, praefectus<br />
praetorio und damit bis zu seinem Tode 223 12 über Jahre hinweg an der<br />
Spitze des Gemeinwesens, verkörpert einen ganzen Juristentypus: primär mit<br />
Verwaltung und Regierung sowie den daraus resultierenden Rechtsfragen befasst<br />
und doch als Schriftsteller außerordentlich produktiv, sammelnd und<br />
ordnend in Kommentaren, aber auch monographisch aktiv; auch Interessen<br />
philosophischer Art sind erkennbar. 13 Die neuere Forschung diskutiert, inwieweit<br />
seine Positionen Rückschlüsse grundsätzlicher Art auf das Verhältnis von<br />
Macht und Recht in seiner Zeit eröffnen; darauf wird zurückzukommen sein<br />
(IV.). Unsere Quelle stammt also aus einer Zeit, in der die führenden Juristen<br />
wissenschaftlich noch über die gesamte Tradition verfügten, aber von einem<br />
bisher nie da gewesenen Maß an Einbindung in die politische Macht auszugehen<br />
hatten. Das konnte nicht ohne methodische Folgen bleiben.<br />
9 Die prosopographische Überlieferung hingegen ist <strong>für</strong> das 2. Jh. oft besser: Viarengo (wie<br />
Fn. 3), S. 3.<br />
10 Vgl. Fara Nasti, L’attività normativa di Severo Alessandro. I: Politica di governo, riforme<br />
amministrative e giudiziarie, Napoli 2006.<br />
11 Vgl. die ausdrückliche Erwähnung Modestins in C. 3,42,5 (Gord., a. 239), dazu Viarengo<br />
(wie Fn. 3), S. 181–186; weiterhin S. 187–205 zu denkbaren indirekten Schlüssen.<br />
12 Oder erst 228; zum Problem etwa Viarengo (wie Fn. 3), S. 69 ff.<br />
13 Aus der unübersehbaren Literatur: Ulrich Manthe, Beiträge zur Entwicklung des antiken<br />
Gerechtigkeitsbegriffes. II: Stoische Würdigkeit und die iuris praecepta Ulpians, in: SZ 114<br />
(1997), S. 1–26; Valerio Marotta, Ulpiano e l’impero I/II, Napoli, 2000/2004; Fergus Millar, Government<br />
and Law: Ulpian, a Philosopher in Politics?, in: Gillian Clark/Tessa Rajak (orgs.),<br />
Philosophy and Power in the Graeco-Roman World. Essays in Honour of Miriam Griffin, Oxford<br />
2002, S. 69–87; Tony Honoré, Ulpian. Pioneer of Human Rights, 2. Aufl., Oxford 2002;<br />
Giuseppe Falcone, Un’ipotesi sulla nozione ulpianea di ius publicum, in: Luigi Labruna (dir.),<br />
Cosimo Cascione/Maria Pia Baccari (a cura di), Tradizione romanistica e Costituzione II, Napoli<br />
2006, S. 1167–1195; Valerio Marotta, Iustitia, vera philosophia e natura. Una nota sulle Institutiones<br />
de Ulpiano, Seminarios Complutenses de Derecho Romano 19 (2006), S. 285–334<br />
(auch in: Dario Mantovani/Aldo Schiavone, a cura di, Testi e problemi del giusnaturalismo romano,<br />
Pavia 2007, S. 563–601); Cosima Möller, Die Zuordnung von Ulpian und Paulus zu den<br />
kaiserzeitlichen Rechtsschulen, in: Karlheinz Muscheler (Hrsg.), Römische Jurisprudenz –<br />
Dogmatik, Überlieferung, Rezeption. <strong>Festschrift</strong> <strong>für</strong> Detlef Liebs zum 75. Geburtstag, Berlin<br />
2011, S. 455–468; Dietmar Schanbacher, Ulpians Lehre vom error in substantia und die stoische<br />
Ontologie, aaO. S. 521–541.
Verfahren, Wahnsinn und Methode 7<br />
Für Modestin selbst können wir freilich allenfalls Vermutungen hinsichtlich<br />
seiner vor- und außerrechtlichen Überzeugungen anstellen, schon weil wir<br />
weitaus weniger Quellen von ihm besitzen als von Ulpian. Texte, die solche<br />
Rückschlüsse ermöglichen könnten, sind daher rar; möglicherweise hilft der<br />
sogleich zu besprechende weiter.<br />
1. Text<br />
III. Fall<br />
D. 28,7,27pr. (Modestinus libro 8. responsorum)<br />
Quidam in suo testamento heredem scripsit sub tali condicione ,si reliquias eius in mare<br />
abiciat‘: quaerebatur, cum heres institutus condicioni non paruisset, an expellendus est<br />
ab hereditate. Modestinus respondit: laudandus est magis quam accusandus heres, qui<br />
reliquias testatoris non in mare secundum ipsius voluntatem abiecit, sed memoria humanae<br />
condicionis sepulturae tradidit. sed hoc prius inspiciendum est, ne homo, qui talem<br />
condicionem posuit, neque compos mentis esset. igitur si perspicuis rationibus haec suspicio<br />
amoveri potest, nullo modo legitimus heres de hereditate controversiam facit scripto<br />
heredi.<br />
Modestin im achten Buch seiner Rechtsgutachten.<br />
Jemand setzte in seinem Testament einen Erben unter der Bedingung ein „wenn er<br />
meine sterblichen Überreste ins Meer wirft“. Es wurde gefragt, ob der eingesetzte Erbe<br />
der Erbschaft verlustig gehe, weil er der Bedingung nicht gehorcht habe. Modestin gab<br />
zum Gutachten: Der Erbe ist zu loben, nicht anzuklagen, weil er die sterblichen Überreste<br />
des Testators nicht nach dessen eigenem Willen ins Meer warf, sondern eingedenk<br />
der Tatsache, dass es sich um einen Menschen handelte, der Bestattung zuführte. Doch<br />
ist zunächst zu prüfen, ob ein Mensch, der eine solche Bedingung aufstellte, nicht geisteskrank<br />
war. Wenn daher dieser Verdacht mit einsichtigen Gründen ausgeräumt werden<br />
kann, dann kann der gesetzliche Erbe dem eingesetzten Erben in keiner Weise die<br />
Erbschaft streitig machen.<br />
Die Quelle gibt einige textkritische Zweifel auf, die aber nach heute gesicherter<br />
Auffassung nicht die Substanz betreffen. 14 So wird der Testator kaum geschrieben<br />
haben „eius“, wenn er von sich selbst schrieb; die Bearbeitung ändert<br />
aber nichts am Inhalt.<br />
2. Überblick: Aufbau und Inhalt<br />
Der Testator hatte verfügt, man möge seine sterblichen Überreste ins Meer<br />
werfen, und diese Verfügung durch eine Bedingungskonstruktion abgesichert.<br />
14 Auf romanistische Spezialfragen ist hier nicht einzugehen, s. bereits oben Fn. *. Zum Problem<br />
unten Fn. 41, 43, 47.
8 Christian Baldus<br />
Der eingesetzte Erbe führte die Verfügung nicht aus, wollte aber erben; der gesetzliche<br />
Erbe wollte genau dies verhindern. Modestin lobt zunächst 15 den eingesetzten<br />
Erben <strong>für</strong> seinen Umgang mit dem Leichnam des de cuius, zieht daraus<br />
aber nicht ohne weiteres den Schluss, dass es bei der Einsetzung bleibe.<br />
Vielmehr verlangt er eine vorrangige Prüfung der Testierfähigkeit, was tendenziell<br />
dem gesetzlichen Erben entgegenkommen musste. Schließlich gibt er Anforderungen<br />
<strong>für</strong> die Prüfung der Geisteskrankheit an und benennt hypothetisch<br />
die Rechtsfolge. Dieser Aufbau wird noch aufzugreifen sein (unten 4.,<br />
IV.2.). Was zunächst ins Auge springt, ist der Sachverhalt.<br />
Der Wunsch nach einer „Seebestattung“ ist im Geltungsbereich des römischen<br />
Rechts durchaus unüblich. Selbst wenn man die im zweiten und dritten<br />
Jahrhundert n. Chr. stark wachsende kulturelle Diversität in der Metropole<br />
einbezieht und auch mit Blick darauf, dass spätestens mit der Constitutio Antoniniana<br />
von 212, die das römische Bürgerrecht auf alle freien Reichsbewohner<br />
ausdehnte, zahlreiche Angehörige anderer Kulturen dem römischen Recht<br />
unterlagen: Wir haben keine Belege da<strong>für</strong>, dass je ein Römer solche Wünsche<br />
geäußert hätte.<br />
Ganz im Gegenteil strebte man traditionell nach gloria und memoria, wo<strong>für</strong><br />
der überkommene Totenkult vorzügliche Gelegenheiten bot, nämlich Leichenzüge,<br />
die Rang und Leistungen der Familie in Erinnerung riefen. 16 Erblasser<br />
machten die Errichtung mehr oder minder pompöser Grabdenkmäler bisweilen<br />
zur Bedingung testamentarischer Bedenkung. Sakralrechtlich waren<br />
nicht solche Akte vorgeschrieben, wohl aber, dass wenigstens ein Stück Knochen<br />
(os resectum) von Erde bedeckt sein musste, unabhängig davon, wie die<br />
Bestattung im Übrigen aussah. 17 Das bereitete bei Versterben auf See bisweilen<br />
15 Mit einem adversativen magis quam. Zu dieser Wendung ist eine Heidelberger Dissertation<br />
in Arbeit.<br />
16 Vgl. aus der althistorischen Literatur Karl-Joachim Hölkeskamp, Rekonstruktionen einer<br />
Republik, München 2004, S. 97 ff. mwN.; Harriet I. Flower, Der Leichenzug – die Ahnen kommen<br />
wieder, in: Elke Stein-Hölkeskamp/Karl-Joachim Hölkeskamp (Hrsg.), Erinnerungsorte<br />
der Antike. Die römische Welt, München 2006, S. 321–339.<br />
17<br />
Vgl. aus der neueren, teilweise kontroversen Sekundärlit. Olivier Estiez, La translatio<br />
cadaveris. Le transport des corps dans l’antiquité romaine, in: François Hinard (éd.), La mort<br />
au quotidien dans le monde romain. Actes du colloque organisé par l’Université de Paris IV<br />
(Paris – Sorbonne 7–9 octobre 1993), Paris 1995, S. 101–108; Lucienne Deschamps, Rites<br />
funéraires de la Rome républicaine, aaO., S. 171–180, hier: S. 178 f.; Hugh Lindsay, Deathpollution<br />
and funerals in the city of Rome, in: Valerie M. Hope/Eireann Marshall (eds.),<br />
Death and disease in the Ancient city, London/New York 2000, S. 152–173, hier: S. 168; Andrew<br />
R. Dyck, A Commentary on Cicero, De Legibus, Ann Arbor 2003, S. 397 ff.; Stefan<br />
Schrumpf, Bestattung und Bestattungswesen im Römischen Reich. Ablauf, soziale Dimension<br />
und ökonomische Bedeutung der Toten<strong>für</strong>sorge im lateinischen Westen, Göttingen<br />
2006, S. 68 ff. Zusammenhang, Hintergründe, weitere Lit.: John Scheid, Quando fare è<br />
credere. I riti sacrificali dei Romani, Roma/Bari 2011 (gegenüber dem frz. Original aktualisiert).
Verfahren, Wahnsinn und Methode 9<br />
Probleme. 18 Jemandes Leiche in den Tiber zu werfen, war gerade deshalb eine<br />
besonders grobe Form politischer Auseinandersetzung, weil dann keine regelkonforme<br />
Bestattung stattfinden konnte. Die Furcht davor, Schiffbruch zu erleiden<br />
und unbestattet zu bleiben, war ein wiederkehrendes literarisches Motiv.<br />
19 All dies hatte nicht mit subjektiven Jenseitsvorstellungen zu tun (die der<br />
einzelne haben mochte oder nicht), sondern mit dem rituellen Charakter der<br />
römischen Religion. 20<br />
Substantielle Abweichungen von diesem Bild sind nicht bekannt, und Modestin<br />
legt sie auch nicht zugrunde: Eine Besonderheit der Stelle könnte<br />
durchaus darin liegen, dass hier ein Anhänger einer exotischen Sekte oder Philosophie<br />
verfügt hatte. Dies wird aber nicht als entscheidungsrelevanter Umstand<br />
vermerkt. 21 Danach war es weder abwegig, den Testator verrückt, noch<br />
die Bedingung sittenwidrig zu finden. Was aber folgte jeweils aus diesen Annahmen,<br />
warum insistiert Modestin auf der Prüfungsreihenfolge und warum<br />
betont er bestimmte Aussagen so auffällig?<br />
3. Prozessuale Situation<br />
Wir wissen nicht, wer gegen wen klagte oder klagen wollte und wer die Nachlassgegenstände<br />
in Besitz hatte. 22 Nullo modo controversiam facere im letzten<br />
Satz spricht da<strong>für</strong>, dass der gesetzliche Erbe, etwa der Sohn, Möglichkeiten<br />
einer Klage gegen den testamentarischen Erben prüfen ließ. Nahe läge dann<br />
die Erbschaftsherausgabeklage, die hereditatis petitio. Denkbar ist auch, dass<br />
einer der Prätendenten die bonorum possessio beantragen wollte, die Einwei-<br />
18 Vgl. Cic. de leg. 2,22,57. Hier geht es nur um Pontifikalrecht: Ferdinando Bona, Sulla<br />
fonte di Cicero, De oratore, 1, 56, 239–240 e sulla cronologia dei ,decem libelli‘ di P. Mucio Scevola,<br />
in: SDHI 39 (1973), S. 425–480, hier: S. 459. Über das Verhältnis ius pontificium/ius civile<br />
jetzt grundsätzlich Anna Seelentag, Ius pontificium cum iure civili coniunctum. Das Recht der<br />
Arrogation in klassischer Zeit, Baden-Baden 2012 (im Druck).<br />
19 Vgl. Plin. mai. NH 19,1,6: Nulla exsecratio sufficit contra inuentorem (dictum suo loco nobis),<br />
cui satis non fuit hominem in terra mori, nisi periret et insepultus. Die Konsequenzen, die<br />
Schrumpf (wie Fn. 17), S. 67 f., aus Petr. 115,17; Prop. 3,7,25s.; Sen. exc. controv. 8,4 zieht, sind<br />
hier nicht zu diskutieren.<br />
20 Scheid (wie Fn. 17), S. 141 (vgl. auch S. 47, 158): „(…) per la maggior parte dei romani la<br />
morte e i funerali non avevano nulla a che fare con la credenza nella vita eterna né con la salvezza<br />
dell’anima. Dal punto di vista religioso, i riti della morte consistevano unicamente nella<br />
celebrazione di riti ancestrali. Tutto il resto era oggetto di speculazioni libere e personali.“<br />
21 Dies ist auch <strong>für</strong> eine duplex interpretatio, also <strong>für</strong> eine Parallelbetrachtung aus justinianischer<br />
Sicht, von Interesse: Eine moralische Betrachtung des Falles aus christlicher Sicht hätte<br />
sich <strong>für</strong> Justinian geradezu aufgedrängt, und so sollte später auch das mittelalterliche Recht verfahren,<br />
vgl. Laurent Mayali, La folie et la norme dans la science juridique au Moyen Age, in: RJ<br />
1987, S. 211–229, hier: S. 222 f. – Weil textliche Indizien fehlen, lässt sich wohl nicht fruchtbar<br />
machen, was jüngst Jörg Rüpke angesprochen hat (Aberglauben oder Individualität?, Tübingen<br />
2011): die beginnende Öffnung der römischen Rechtsordnung <strong>für</strong> religiösen Individualismus.<br />
22 Trisciuoglio (wie Fn. *), S. 8 f. vermutet, dass der bedingt Eingesetzte sich im Besitz des<br />
Nachlasses befand und der gesetzliche Erbe bei Modestin angefragt hatte.
10 Christian Baldus<br />
sung in den Nachlassbesitz. Vielleicht war das Verfahren aber auch schon im<br />
Gange, und einer der Beteiligten oder das Gericht wollte Modestins Gutachten<br />
haben.<br />
Jedenfalls konnte der heres legitimus nur gewinnen, wenn es ihm gelang, das<br />
Testament aus dem Wege zu räumen. Denn waren Testament und Bedingung<br />
wirksam, dann hätte der gesetzliche Erbe dem eingesetzten vorwerfen müssen,<br />
die Bedingung nicht erfüllt zu haben: ein mit der pietas unter Verwandten nach<br />
römischen Vorstellungen kaum vereinbarer Vortrag. War die Bedingung unwirksam,<br />
das Testament aber wirksam, so erbte der Eingesetzte. Das Testament<br />
musste <strong>für</strong> den heres legitimus also unwirksam sein.<br />
Denken könnte man noch an die querela inofficiosi testamenti, 23 eine Vorform<br />
des Pflichtteilsrechts: Wer ohne nachvollziehbaren Grund seinen engsten<br />
Verwandten nicht wenigstens einen Teil des Erbes hinterlassen hatte (nach eingespielter<br />
Praxis ein Viertel), der hatte das officium, die moralische Pflicht,<br />
verletzt, pietas der Familie gegenüber zu üben, 24 und sein Testament konnte<br />
kassiert werden. Das rhetorische Standardargument war der color insaniae:<br />
Nur in einer Art geistiger Verwirrung könne jemand seine Kinder grundlos<br />
übergehen. 25 Mit Geisteskrankheit im technischen Sinne ist das nicht zu verwechseln;<br />
26 gemeint ist vielmehr unbeherrschtes, unangemessenes Verhalten<br />
jenseits des noch Tolerierbaren.<br />
Allein von solchen Thesen ist in der Quelle nicht die Rede. Überdies<br />
brachte die Querel das Risiko mit sich, dass das Vermögen nicht an die gesetzlichen<br />
Erben fiel, sondern dem fiscus verfiel. 27 Zwar suchten immer wieder<br />
Kaiser gegenüber ihren als willkürlich handelnd dargestellten Vorgängern größere<br />
Rechtssicherheit zu schaffen, indem sie weniger Nachlässe einzogen. 28<br />
Das prinzipielle Risiko aber, durch eine Querel im Ergebnis das Familienvermögen<br />
an den fiscus zu verlieren, bestand fort. Überdies wird im 3. Jahrhundert<br />
das Verhältnis von pietas und Querel unklar. 29 Übersehen hätte Modestin<br />
23 Dazu monographisch Serena Querzoli, I testamenta e gli officia pietatis. Tribunale centumvirale,<br />
potere imperiale e giuristi tra Augusto e i Severi, Napoli 2000.<br />
24 Zur Verbindung zwischen querela und pietas vgl. Querzoli (wie Fn. 23), S. 41 und durchgängig<br />
(ab S. 189 <strong>für</strong> die hier besonders interessierenden Severer). Die propagandistische Bedeutung<br />
der pietas als Kaisertugend änderte sich mit den Dynastien, was nicht ohne Folgen <strong>für</strong><br />
die Querel blieb.<br />
25 Querzoli (wie Fn. 23), S. 150. Zur Juristendogmatik ab S. 151, zur Rezeption des color insaniae<br />
bei den Juristen v.a. S. 162–171.<br />
26 Nachweise aus der nichtjuristischen Lit. bei Querzoli (wie Fn. 23), S. 162 f. Entscheidend<br />
ist das quasi in D. 5,2,5 (Marcell. 3. dig.): quasi non sanae mentis fuisse. Vgl. D. 5,2,2 (Marci. 4.<br />
inst.) und dazu Querzoli, S. 231.<br />
27 Die pietas war auch Kaisertugend und auch dem Kaiser geschuldet. Das bot dem Kaiser<br />
Eingriffsmöglichkeiten. Zur Gefahr einer Anklage wegen impietas im Gefolge einer Querel <strong>für</strong><br />
das späte 1. Jh. Querzoli (wie Fn. 23), S. 71–79.<br />
28 Vgl. <strong>für</strong> Traian (gegenüber Domitian) Querzoli (wie Fn. 23), S. 112.<br />
29 Vgl. Querzoli (wie Fn. 23), S. 41.
Verfahren, Wahnsinn und Methode 11<br />
die Möglichkeit einer Querel gewiss nicht: Von ihm stammt eine einschlägige<br />
Monographie. 30<br />
Nach alldem haben wir jedenfalls keinen positiven Anhaltspunkt <strong>für</strong> eine<br />
Querel, sodass sich <strong>für</strong> den gesetzlichen Erben am ehesten eine Prozessstrategie<br />
aufdrängte: den Erblasser <strong>für</strong> geisteskrank im technischen Sinne zu erklären,<br />
nicht <strong>für</strong> moralisch zweifelhaft.<br />
4. Lösung des Juristen<br />
Dass der Erblasser verrückt gewesen sei, hält Modestin durchaus <strong>für</strong> denkbar.<br />
Er will den Geisteszustand zunächst überprüft sehen: prius inspiciendum est.<br />
Die folgende Wendung ähnelt einer Vermutung: Nur perspicuis rationibus<br />
kann der Verdacht der Geisteskrankheit ausgeräumt werden. Es gibt also nicht<br />
etwa eine Vermutung <strong>für</strong> die Testierfähigkeit (wie sie hingegen <strong>für</strong> das BGB einigermaßen<br />
pauschal behauptet wird) 31 . Das kommt dem gesetzlichen Erben<br />
zugute. Ist aber die suspicio beseitigt, dann gibt es keinen Weg mehr <strong>für</strong> ihn:<br />
nullo modo kann er klagen – und der eingesetzte Erbe gewinnt. Denn die Bedingung,<br />
sofern überhaupt in einem wirksamen Testament enthalten, bindet<br />
nicht. Sie ist, so wird man interpretieren dürfen, 32 nichtig; 33 mit der Folge einer<br />
bloßen Teilnichtigkeit, 34 sodass die Erbeinsetzung erhalten bleibt. In diesem<br />
Fall gewinnt also der eingesetzte Erbe, obwohl er den Erblasserwillen missachtet<br />
hat.<br />
30 Über diesen de inofficioso testamento liber singularis weiß man freilich so gut wie nichts:<br />
Querzoli (wie Fn. 23), S. 210, 221 f.<br />
31 Zur Bedenklichkeit dieser Auffassung vgl. Christian Baldus, in: NomosKommentar<br />
BGB, Bd. 1, 2. Aufl., Baden-Baden 2012, § 104 Rn. 60–80.<br />
32 Die Aussage ist weniger trivial als sie klingt: Rom kennt keine einheitlich durchgebildete<br />
Vorstellung von der Nichtigkeit (Andreas Staffhorst, Die Teilnichtigkeit von Rechtsgeschäften<br />
im klassischen römischen Recht, Berlin 2006, S. 16 ff. schon zur Begrifflichkeit). – Meinungsstand<br />
zur Beurteilung der in der Quelle genannten Klausel jetzt bei Trisciuoglio (wie Fn.*),<br />
S. 18 ff.<br />
33 Die Frage einer Nichtigkeit wegen Verstoßes gegen moralische Verpflichtungen den Eltern<br />
gegenüber hat die Jurisprudenz gerade um die Wende von der Hochklassik zur Spätklassik<br />
beschäftigt. Vgl. ohne Anspruch auf Vollständigkeit: D. 28,7,9 (Paul. 54. ed.): Condiciones, quae<br />
contra bonos mores inseruntur, remittendae sunt, veluti ,si ab hostibus patrem suum non redemerit‘,<br />
,si parentibus suis patronove alimenta non praestiterit‘. Generalisierend in didaktischem<br />
Zusammenhang zu den Nichtigkeitsgründen D. 28,7,14 (Marci. 4. inst.); derselbe Autor bezieht<br />
die unmoralischen Bedingungen (turpe aliquid) ein: D. 30,112,3 (Marci. 6. inst.). Weiterhin<br />
D. 28,7,15 (Pap. 16. quaest.), wo der Eingesetzte freilich auch potentieller gesetzlicher Erbe<br />
war: Filius, qui fuit in potestate, sub condicione scriptus heres, quam senatus aut princeps improbant,<br />
testamentum infirmat patris, ac si condicio non esset in eius potestate: nam quae facta laedunt<br />
pietatem existimationem verecundiam nostram et, ut generaliter dixerim, contra bonos<br />
mores fiunt, nec facere nos posse credendum est. Zur Stelle Ulrike Babusiaux, Papinians Quaestiones.<br />
Zur rhetorischen Methode eines spätklassischen Juristen, München 2011, S. 236 ff.<br />
34 Monographisch zur Figur Staffhorst (wie Fn. 32).
12 Christian Baldus<br />
IV. Deutung<br />
1. Tendenzen und Werte im responsum<br />
Das responsum ist sorgfältig komponiert. Am Anfang steht, was in der Prüfung<br />
erst am Ende Bedeutung erlangen kann: die Bewertung der Bedingung.<br />
Diese Bewertung ist durch das durchaus untypische, 35 römischer Prozessrechtsdogmatik<br />
freilich nicht ganz fremde 36 Werturteil magis laudandus est betont,<br />
umso mehr, als Modestin ausdrücklich die sachlich mindestens ebenso<br />
untypische 37 Aussage anschließt, es sei gegen den Willen des Verstorbenen zu<br />
werten. Die Prüfung der Geisteskrankheit ist dem logisch vorgeordnet und<br />
wird durch die Regieanweisung prius inspiciendum est betont. 38 Zentral ist<br />
dann die Frage, ob die Bedingung wirksam sei; Modestin spricht nicht ausdrücklich<br />
von Nichtigkeit, spricht aber mit der condicio humana in auffälliger<br />
Weise 39 ein wertendes Element an. Die Verknüpfung beider Fragen schließlich<br />
erfolgt wiederum unter doppelter und gegenläufiger Betonung: perspicuis rationibus<br />
(diese Erhöhung der Schwelle begünstigt den gesetzlichen Erben) –<br />
nullo modo (diese den eingesetzten). Wir finden also eine Struktur, die nach<br />
der textlichen Reihenfolge der Wendungen etwa so aussieht:<br />
1 pro herede scripto (weil der Wegfall der Bedingung ihm nützte)<br />
2 pro herede legitimo (weil der Wegfall des ganzen Testaments diesem<br />
nützte)<br />
3a pro herede legitimo (weil perspicuae rationes <strong>für</strong> die Annahme geistiger Gesundheit<br />
des Erblassers verlangt werden)<br />
3b pro herede scripto (weil in Anwesenheit solcher perspicuae rationes alle<br />
denkbaren Klagen des gesetzlichen Erben abzuweisen sind).<br />
35 Ebenso wie der Gebrauch von accusare in diesem Zusammenhang. – Trisciuoglio (wie<br />
Fn.*), S. 12–16 ventiliert die Möglichkeit einer accusatio expilatae hereditatis.<br />
36 Vgl. (mit ausdrücklicher Parallelisierung zu unserer Quelle) Éva Jakab, Vinum effundere,<br />
SZ 116 (1999), S. 71–111, hier: S. 102, 108 f., zu D. 18,6,1,3 (Ulp. 28. Sab.): Hier schätzt Ulpian<br />
die Erfolgsaussichten eines Beklagten ab; es geht dabei nicht etwa um eine Bewertung nach der<br />
bona fides.<br />
37 Freilich ist der Gedanke, unangemessene Bestattungsanordnungen dürften missachtet<br />
werden, bereits vor Modestin auch verallgemeinert worden: D. 30,113,5 (Marci. 7. inst. unter<br />
Berufung auf Pap. 3. resp.). Weitere Quellen bei Pietro De Francisci, La misura delle spese ripetibili<br />
coll’actio funeraria, in: Rendiconti Ist. Lombardo, serie II, 48 (1915), S. 295–307, hier:<br />
S. 300 ff., 301 mit pauschaler Interpolationsbehauptung zu D. 28,7,27pr.<br />
38 Bisweilen deutet diese Wendung auf eine Ausdehnung der zu prüfenden Fragen hin: Roberto<br />
Scevola, ,Negotium mixtum cum donatione‘. Origini terminologiche e concettuali, Padova<br />
2008, S. 166, Fn. 8.<br />
39 Die Wendung ist in den Digesten selten; s. sogleich im Sachtext. Diverse Quellen enthalten<br />
die beiden Elemente getrennt. – Trisciuoglio (wie Fn.*), S. 21–27 arbeitet nunmehr die Verbindung<br />
von memoria und condicio humana heraus (auch in Abgrenzung zur pietas). Sollte dies<br />
zutreffen, enthielte die Quelle möglicherweise auch ein Wortspiel mit memoria; zu demjenigen<br />
mit condicio vgl. u. bei Fn. 46.
Verfahren, Wahnsinn und Methode 13<br />
2. Sinn des Aufbaus<br />
Der Aufbau lässt spontan an rhetorische Schemata denken. Eines, das genau<br />
passen würde, scheint in den überlieferten zeitgenössischen Handbüchern<br />
aber nicht zu stehen; lediglich ähnliche Figuren erklären die Stelle vermutlich<br />
nicht. 40 Das spricht übrigens da<strong>für</strong>, hinter der Quelle einen realen Sachverhalt<br />
(und keinen Übungsfall) zu vermuten. 41 Vorbehaltlich weiterer Erkenntnisse<br />
zur Rhetorik darf man also auch in anderer, nämlich philosophischer 42 Richtung<br />
suchen: Führt der Hinweis auf die condicio humana weiter?<br />
Diese Wendung erscheint in den Digesten selten, 43 außer in unserer Stelle<br />
nur zweimal als Hinweis auf die physischen Grenzen der menschlichen Natur,<br />
einmal bei Ulpian und einmal bei Cervidius Scaevola. 44 Das lässt immerhin erkennen,<br />
dass es sich vermutlich nicht um einen ganz traditionellen juristischen<br />
Topos handelt – generell folgt allein aus der Zugehörigkeit einer bestimmten<br />
Denkfigur zur antiken Allgemeinbildung noch nicht, dass sie auch Teil des juristischen<br />
Argumentationshaushaltes gewesen wäre. Anderes gilt <strong>für</strong> die humanitas/humanior<br />
interpretatio, 45 aber Modestin spricht eben ausdrücklich<br />
40 Dies bleibt zu prüfen, vgl. nochmals Fn. *.<br />
41 In diesem Sinne Pasquale Voci, Diritto ereditario romano. Parte speciale. Successione ab<br />
intestato. Successione testamentaria, 2. Aufl., Milano 1963, S. 799: Die Stelle sei überarbeitet,<br />
ursprünglich habe sie erkennen lassen, dass beim Prätor im Einzelfall Befreiung von als „stravaganti“<br />
empfundenen Bedingungen zu beantragen gewesen sei; näher Vittorio Scialoja, Sulle<br />
condizioni impossibili nei testamenti. Nuove considerazioni, in: BIDR 14 (1901, aber 1902),<br />
S. 5–46, hier: S. 34 ff., 36. Sicher ist dies natürlich nicht. Im Hintergrund steht namentlich die<br />
hier nicht zu lösende Frage, ob etwas Einschlägiges im Edikt stand. Die jüngste Forschung unterstellt<br />
derjenigen Digestenkommission, die unter anderem unsere Stelle zu bearbeiten hatte,<br />
eine gewisse Tendenz zum Theoretisieren: Tony Honoré, Duplicate texts and the compilation of<br />
the Digest, in: Karlheinz Muscheler (Hrsg.), Römische Jurisprudenz – Dogmatik, Überlieferung,<br />
Rezeption. <strong>Festschrift</strong> <strong>für</strong> Detlef Liebs zum 75. Geburtstag, Berlin 2011, S. 261–274<br />
(S. 263; 274: „more academic and less oriented towards practice than the other committees“).<br />
„In some ways the Digest reflects the difference between imperial administration of the law and<br />
teaching“, fährt Honoré fort. Möglicherweise weist jedoch gerade unsere Quelle in die Gegenrichtung<br />
(s.u. im Sachtext).<br />
42 Rhetorik und Philosophie stehen während der juristischen Klassik in einem Konkurrenzverhältnis.<br />
Zu dieser Konkurrenz bei Quintilian vgl. Vincenzo Scarano Ussani, Al servizio del<br />
potere, in: ders., Il retore e il potere, Napoli 2008, S. 57–87. Vgl. die Rez. Ulrike Babusiaux, in:<br />
SZ 127 (2010), S. 491–494.<br />
43 Häufiger in der Nachklassik und bereits mit Diokletian. Unechtheit muss daraus nicht<br />
folgen (zumal Diokletians Kanzlei weithin klassischen Regeln folgte). Vgl. Fn. 14, 41, 47.<br />
44 D. 34,2,38,2 (Scaev. 3. resp.): si mihi per condicionem humanam contigerit, ipsa faciam; vgl.<br />
Schermaier (wie Fn. 45), S. 347; D. 29,2,30,6 (Ulp. 8.Sab.): nec per naturam humanae condicionis<br />
alium partum formare potest.<br />
45 Quellen bei Antonio Palma, Humanior interpretatio. ,Humanitas‘ nell’interpretazione e<br />
nella normazione da Adriano ai Severi, Torino 1992, vgl. die teils krit. Rez. von M.J. Schermaier,<br />
in: Iura 44 (1993, aber 1996), S. 343–351; Johannes Michael Rainer, in: SZ 112, 1995, S. 586 ff.,<br />
Rolf Rilinger, in: Klio 77 (1995), S. 526 ff.; Mario Talamanca, in: BIDR 96/97 (1993/94, aber<br />
1997), S. 785–797. Weiterhin Christian Baldus, Regelhafte Vertragsauslegung nach Parteirollen<br />
im klassischen römischen Recht und in der modernen Völkerrechtswissenschaft. Zur Rezep-
14 Christian Baldus<br />
von der condicio, vielleicht mit dem gleichlautenden Wort <strong>für</strong> „Bedingung“<br />
spielend. 46 Wie dem auch sei, eine philosophische Erklärung <strong>für</strong> den Aufbau<br />
der Quelle ist ebenfalls nicht ersichtlich.<br />
Vorliegend können wir also ein außerrechtliches Schema, dem die Quelle<br />
sozusagen phänotypisch folgte, nicht ausmachen. Will man aus der starken<br />
Präsenz wertender Elemente nicht folgern, dass der Text von Justinians Kompilatoren<br />
völlig entstellt sei, 47 so muss man fragen, ob die Lösung und ihre<br />
Struktur sich sachlich als juristisch einsichtig darstellen. Damit sind wir wieder<br />
bei dem prius inspiciendum.<br />
Aufbau- und Regieanweisungen sind in Rom alles andere als üblich oder gar<br />
trivial. Responsa (oder jedenfalls das, was von ihnen überliefert ist) 48 beziehen<br />
sich zumeist knapp auf den oder die entscheidenden Punkte; sie geben hingegen<br />
selten an, was wie zu untersuchen sei. Hier hingegen wird genau dies vorgegeben,<br />
und zwar in einem Fall, in dem ein sozial ungewöhnliches Verhalten<br />
zu beurteilen war, freilich nur in seinen Konsequenzen <strong>für</strong> Dritte.<br />
3. Gesellschaft, Recht, Jurist<br />
Modestin stand vor der Notwendigkeit, einerseits angemessen mit der Missachtung<br />
von Sakralrecht und mos maiorum durch den Erblasser umzugehen,<br />
46<br />
tionsfähigkeit römischen Rechtsdenkens, Frankfurt a.M. u.a. 1998, S. 623–681: Instrument zur<br />
Modernisierung bestimmter Lösungen vor allem in Missbrauchsfällen; differenzierter neuerdings<br />
Tobias Kleiter, Entscheidungskorrekturen mit unbestimmter Wertung durch die klassische<br />
römische Jurisprudenz, München 2010 nach Reg., vgl. Zusammenfassung S. 220 f.: Die humanitas<br />
habe der Modifizierung bestimmter Prinzipien dort gedient, wo es um Individualinteressen<br />
gegangen sei. Zu diesem Werk vgl. die im Druck befindlichen Rez. von Andreas Nitsch,<br />
in: Anuario de la Facultade de Derecho de la Universidade de La Coruña 15 (2011); Ulrike Babusiaux,<br />
in: SZ 129 (2012). Weiterhin Gianfranco Purpura, Brevi riflessioni sull’humanitas,<br />
Ann. Palermo 53 (2009), S. 289–298 (vgl. aber http://www.unipa.it/dipstdir/portale/): <strong>für</strong><br />
grundsätzliche Echtheit der humanitas als Kategorie bereits der Klassiker und mit dem Hinweis<br />
darauf, dass die spätere Christianisierung des römischen Rechts nicht etwa zur Übernahme<br />
der jüdisch-christlichen Idee von einer theologischen Prägung der Gesellschaftsordnung<br />
führte.<br />
46 Hier nicht zu klären. Vgl. auch o. Fn. 39.<br />
47 Das entspricht nicht mehr heutigen methodischen Standards; vgl. zum Stand der Textkritik<br />
Massimo Miglietta/Gianni Santucci (a cura di), Problemi e prospettive della critica testuale. Atti<br />
del Convegno Trento 2007, Trento 2011. Der Ind. itp. weist zahlreiche, unterschiedlich begründete<br />
Zweifel nach: Ernst Levy/Ernst Rabel (Hrsg.), Index interpolationum quae in Iustiniani digestis<br />
inesse dicuntur, t. II (Weimar 1931) a.h.l. (Sp. 205); paradigmatisch Eisele, Beiträge zur Erkenntniss<br />
der Digesteninterpolationen, in: SZ 31 (1897), S. 1–43, hier: S. 30 f., dem folgt, unter<br />
der Annahme christlichen Einflusses, noch Max Kaser, Das römische Privatrecht. Zweiter Abschnitt.<br />
Die nachklassischen Entwicklungen, 2. Aufl., München 1975, § 203 (S. 97, Fn. 14). In<br />
neuerer Zeit: vorsichtig Staffhorst (wie Fn. 32), S. 211, Fn. 290 („sofern die Entscheidung hier im<br />
Kern bewahrt worden ist“); s. weiterhin o. Fn. 14, 41, 43. – Vgl. Trisciuoglio (wie Fn. *), S. 6 f.<br />
48 Zur Problematik zuletzt mwN. Christian Baldus, ¿Hacia un nuevo concepto de Textstufen?<br />
Sobre unas eventuales huellas de „escalones clásicos“ en Cervidio Escévola, in: Seminarios<br />
Complutenses de Derecho Romano (SCDR) 23–24 (2010–2011), S. 75–102.
Verfahren, Wahnsinn und Methode 15<br />
andererseits die Interessen der beiden Erbprätendenten richtig zu gewichten.<br />
Hier das traditionelle gesellschaftliche Werturteil über die Amoralität einer<br />
solchen Bestattungsanordnung unmittelbar durchschlagen zu lassen, nämlich<br />
durch die schlichte Aussage, die condicio sei nichtig, hätte bedeutet, differenzierte<br />
juristische Kontrollmöglichkeiten <strong>für</strong> den Einzelfall aufzugeben. Modestin<br />
kommt diesen Wertvorstellungen zumindest rhetorisch entgegen und<br />
bekennt sich sogar gegen den Erblasserwillen zu ihnen. Er schreibt aber zugleich<br />
fest, wer die Entscheidungen trifft und wie: die Juristen.<br />
In dieser Sicht ist es kein Zufall, dass zuerst nach der geistigen Gesundheit<br />
zu fragen ist. Diese Frage scheint uns Heutigen logisch vorrangig, weil unsere<br />
Rechtsgeschäftslehre (die römische Elemente aufnimmt) entsprechend aufgebaut<br />
ist. Für die Römer ist entsprechendes Vorgehen gleichfalls nicht unlogisch,<br />
es gab aber keine Regel, die es verboten hätte, sofort nach der Sittenwidrigkeit<br />
zu fragen. Nur: Genau das will Modestin nicht.<br />
Denn an dieser Stelle könnten gesellschaftliche Konflikte in das Rechtssystem<br />
importiert werden. Im frühen 3. Jahrhundert gab es genug Menschen im<br />
Reich (und auch in der Stadt Rom selbst), denen überkommenes Sakralrecht<br />
völlig fremd war, weil sie aus anderen Reichsteilen stammten und neuen Weltanschauungen<br />
anhingen. Unter diesen Menschen waren in erheblichem Umfang<br />
Soldaten, also Mitglieder einer von den Kaisern durchweg privilegierten<br />
Gruppe. Diese Fremdheit gegenüber dem Sakralrecht war aus römischrechtlicher<br />
Sicht kein religiöses Problem und sollte auch keines werden, sondern sozusagen<br />
eines der öffentlichen Ordnung: Römische religio verlangt Beachtung<br />
von Riten, nicht Glauben im jüdisch-christlichen Sinne. 49 Aus dieser Wurzel<br />
stammt das römische Recht, es hat einen gewissen Formalismus nie aufgegeben,<br />
50 und eine Subjektivierung des Religionsrechts, eine Aufladung der<br />
Rechtsordnung mit Konfliktpotential lag nicht im öffentlichen Interesse. Gerade<br />
dies drohte aber, je weiter sich Kulte und Lehren ausbreiteten, <strong>für</strong> die beispielsweise<br />
die Frage der Bestattungsart inhaltlich bedeutsam war.<br />
Das Recht kam nicht umhin, Grenzen zu ziehen, und Modestin tut dies<br />
auch: <strong>für</strong> den Fall, dass entschieden werden müsse, wie die Bedingung zu bewerten<br />
sei. Vorgeschaltet aber war die weitaus technischere Frage nach dem<br />
Wahn. Natürlich steckt eine Wertung in der Aussage, talis condicio lege eine<br />
49 Vgl. nochmals Scheid (wie Fn. 17) und Rüpke (wie Fn. 21), jeweils passim.<br />
50 Was nicht heißt, dass keine inhaltliche Freiheit der Rechtsgestaltung eingeführt worden<br />
wäre, namentlich im Bereich des ius gentium. Vgl. zu diesem Phänomen zuletzt Roberto Fiori,<br />
Bonus vir. Politica filosofia retorica e diritto nel de officiis di Cicerone, Napoli 2011, S. 132–139<br />
u.ö.; Christian Baldus, Art. ius gentium, in: Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu<br />
Mainz (Hrsg.), Handwörterbuch der antiken Sklaverei, im Druck auf CD-ROM. Die Form<br />
hatte zunächst die Emanzipation des Rechts aus sozialen Ordnungsmechanismen ermöglicht,<br />
dann wurde sie Schritt <strong>für</strong> Schritt erweitert oder abgelegt, soweit dies tunlich erschien. Klassisch<br />
Fritz Schulz, Prinzipien des römischen Rechts. Vorlesungen von Fritz Schulz (1934, Ndr.<br />
Berlin 1954), S. 57–73.