Keine unmenschlichen Haftbedingungen für einen Arm- amputierten
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NLMR 2/2013-EGMR<br />
<strong>Keine</strong> <strong>unmenschlichen</strong> <strong>Haftbedingungen</strong> <strong>für</strong> <strong>einen</strong> <strong>Arm</strong><strong>amputierten</strong><br />
Zarzycki gg. Polen, Urteil vom 12.3.2013, Kammer IV, Bsw. Nr. 15.351/03<br />
Leitsatz<br />
Im Falle der Inhaftierung einer körperlich behinderten<br />
Person müssen die Behörden sich bemühen, Bedingungen<br />
zu gewährleisten, die den aus der Behinderung<br />
resultierenden besonderen Bedürfnissen entsprechen.<br />
Um festzustellen, ob die Inhaftierung mit seinem<br />
Gesundheitszustand vereinbar ist, sind die körperliche<br />
Verfassung des Häftlings, die Qualität der vorhandenen<br />
medizinischen Versorgung und die Frage der Dauer der<br />
Inhaftierung zu berücksichtigen.<br />
Rechtsquellen<br />
Art. 3 EMRK<br />
Vom GH zitierte Judikatur<br />
▸▸<br />
Price/GB v. 10.7.2001<br />
▸▸<br />
Farbtuhs/LV v. 2.12.2004<br />
▸▸<br />
Vincent/F v. 24.10.2006<br />
= NL 2006, 254<br />
▸▸<br />
Kaprykowski/PL v. 3.2.2009<br />
Schlagworte<br />
Behandlung, unmenschliche oder erniedrigende;<br />
Behinderung, körperliche; <strong>Haftbedingungen</strong>; Versorgung,<br />
medizinische<br />
Sachverhalt<br />
Sabine Scharnagl<br />
Der 1976 geborene Bf. verlor 1996 bei einem Unfall beide<br />
Unterarme. Ihm wurde eine Behinderung ersten Grades<br />
bescheinigt, welche die Unterstützung durch Dritte<br />
erfordert.<br />
1. Untersuchungshaft und Strafverfahren<br />
Am 19.6.2002 wurde der Bf. auf Anordnung des Bezirksgerichts<br />
Szczytno in Untersuchungshaft genommen, da<br />
er in Verdacht stand, mehrere Straftaten begangen zu<br />
haben. Diese Entscheidung wurde am 12.7.2002 vom<br />
Landesgericht Olsztyn bestätigt. Anträge des Bf. auf Aufhebung<br />
der Untersuchungshaft bzw. auf Ersatz durch<br />
eine andere vorläufige Maßnahme wurden abgewiesen.<br />
Am 30.8.2002 wurde der Bf. unter anderem wegen<br />
Erpressung eines Minderjährigen angeklagt. Seine<br />
Untersuchungshaft wurde durch Entscheidungen des<br />
Bezirksgerichts vom 5.8., 6.9. und 31.10.2002 verlängert,<br />
was durch das Landesgericht jeweils bestätigt wurde.<br />
Zwischenzeitlich wurde auch der Antrag des Bf. auf Aufhebung<br />
der Untersuchungshaft aus humanitären Gründen<br />
abgewiesen.<br />
Der Bf. wurde am 31.10.2002 vom Bezirksgericht zu<br />
drei Jahren Haft verurteilt. Am 17.1.2003 entschied das<br />
Landesgericht, die Haft aufgrund des noch anhängigen<br />
Berufungsverfahrens zu verlängern. Am 19.2.2003 bestätigte<br />
das Landesgericht die erstinstanzliche Entscheidung.<br />
Dieses Urteil wurde dem Bf. am 26.5.2003 zugestellt.<br />
Eine Revision wurde nicht eingelegt.<br />
2. <strong>Haftbedingungen</strong><br />
Der Bf. war von 19.6.2002 bis 21.10.2006, bis zu seiner<br />
bedingten Entlassung, abwechselnd in den Untersuchungsgefängnissen<br />
Szczytno und Olsztyn inhaftiert.<br />
Im Untersuchungsgefängnis Szczytno war der Bf. in<br />
verschiedenen Gemeinschaftszellen im allgem<strong>einen</strong><br />
Trakt untergebracht. Trotz des Gutachtens eines Orthopäden<br />
einer örtlichen Spezialklinik vom 15.3.2002,<br />
wonach der Bf. weder selbständig leben könne noch<br />
haftfähig sei, richtete die medizinische Abteilung<br />
der Haftanstalt im August 2002 <strong>einen</strong> Bericht an den<br />
Anstaltsdirektor, demzufolge eine Verlegung des Bf. aufgrund<br />
seiner guten gesundheitlichen Verfassung nicht<br />
notwendig sei. Beschwerden des Bf. gegen seine <strong>Haftbedingungen</strong><br />
blieben erfolglos.<br />
Am 13.10.2002 stellte der Bf. <strong>einen</strong> Antrag auf <strong>Arm</strong>prothesen.<br />
Der staatliche Gesundheitsfonds bewilligte<br />
am 23.1.2003 eine Erstattung der Kosten <strong>für</strong> einfache<br />
mechanische Prothesen in Höhe von ca. € 860,–. Vor<br />
der Inhaftierung des Bf. im Juli 2001 hatte er Prothesen<br />
ohne jegliche Einschränkung bewilligt, doch scheiterte<br />
es danach an einem Mangel an Mitteln. Am 5.3.2003<br />
wurde der Bf. in das Untersuchungsgefängnis Olsztyn<br />
gebracht, um die einfachen Prothesen anzupassen. Als<br />
diese nicht passten, beantragte er am 28.3.2003 biome-<br />
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NLMR 2/2013-EGMR<br />
chanische (kinetische) Prothesen, deren Kosten sich auf<br />
ca. € 12.000,– beliefen, wovon der staatliche Gesundheitsfonds<br />
nur ca. € 860,– zu erstatten bereit war.<br />
Am 7.7.2003 wurde die Haftstrafe des Bf. wegen einer<br />
festgestellten Depression, die auf die Schwierigkeiten<br />
beim Erhalt der Prothesen zurückgeführt wurde,<br />
zunächst <strong>für</strong> sechs Monate, später bis 7.7.2004 ausgesetzt,<br />
um außerhalb der Haftanstalt orthopädische Versorgung<br />
zu erhalten. Im März 2004 erhielt der Bf. zwei<br />
einfache mechanische Unterarmprothesen sowie eine<br />
Physiotherapie.<br />
Da er am 7.7.2004 nicht in die Haftanstalt zurückkehrte,<br />
wurde er am 13.7.2004 festgenommen und in<br />
das Untersuchungsgefängnis Szczytno gebracht. Am<br />
26.11.2004 beantragte der Direktor der Haftanstalt beim<br />
Bezirksgericht, den Bf. <strong>für</strong> eine weitere Physiotherapie<br />
in eine andere Haftanstalt verlegen zu dürfen, was aufgrund<br />
des in Szczytno noch anhängigen Strafverfahrens<br />
abgelehnt wurde. Ein durch das Gericht beantragtes<br />
Sachverständigengutachten vom 21.6.2005 stellte fest,<br />
dass der Bf. sich gut an seine Behinderung angepasst<br />
habe, er insgesamt haftfähig, jedoch auf die Hilfe Dritter<br />
angewiesen sei.<br />
Im Untersuchungsgefängnis Olsztyn war der Bf. in<br />
einer Viermann-Zelle im Trakt A untergebracht, der<br />
nicht auf Häftlinge mit speziellen Bedürfnissen ausgerichtet<br />
war. Zahlreiche Beschwerden des Bf. seine <strong>Haftbedingungen</strong><br />
betreffend blieben erfolglos.<br />
Rechtsausführungen<br />
Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 3 EMRK (hier: Verbot<br />
der <strong>unmenschlichen</strong> oder erniedrigenden Behandlung<br />
oder Strafe) durch die <strong>Haftbedingungen</strong> in den Untersuchungsgefängnissen<br />
Szczytno und Olsztyn.<br />
I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK<br />
Der Bf. behauptet, dass seine lange Anhaltung unter<br />
den Bedingungen in den Untersuchungsgefängnissen<br />
angesichts seiner Behinderung und seiner besonderen<br />
Bedürfnisse Art. 3 EMRK widersprach.<br />
1. Zur Zulässigkeit<br />
Die Regierung bringt vor, der Bf. habe den innerstaatlichen<br />
Instanzenzug nicht ausgeschöpft.<br />
Der Bf. hat zahlreiche Beschwerden aus humanitären<br />
Gründen bezüglich seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft<br />
sowie bezüglich seiner Inhaftierung bzw. der<br />
Gewährung spezieller Versorgung bei der Verwaltung des<br />
Untersuchungsgefängnisses Szczytno, den nationalen<br />
Gerichten und Justizbehörden erhoben. Er beschwerte<br />
sich darüber hinaus bei mehreren nationalen Behörden<br />
Zarzycki gg. Polen<br />
über die Schwierigkeiten, die er bezüglich des Erhalts<br />
seiner <strong>Arm</strong>prothesen hatte. Der GH ist der Ansicht, dass<br />
der Bf. seine Situation vor den zuständigen Behörden in<br />
ausreichendem Maße vorgebracht und sich um eine Verbesserung<br />
seiner <strong>Haftbedingungen</strong> bemüht hat.<br />
Im ersten Jahr hielten die Behörden die Anordnung<br />
der Haft aufrecht, da der Bf. als haftfähig eingestuft worden<br />
war. In der Folge wurde ihm eine einjährige Aussetzung<br />
der Strafe gewährt, um orthopädische Versorgung<br />
zu erhalten. Die zweite Phase der Haft dauerte bis zur<br />
bedingten Entlassung trotz der Diskrepanzen zwischen<br />
verschiedenen medizinischen Gutachten zwei Jahre und<br />
drei Monate.<br />
Der GH nimmt die von der Regierung vorgebrachten<br />
Beispiele mehrerer innerstaatlicher Fälle zur Kenntnis,<br />
in denen Häftlinge auf dem Zivilrechtsweg erfolgreich<br />
Ersatz <strong>für</strong> immaterielle Schäden wegen Passiv-Rauchens,<br />
Lebensmittelvergiftungen oder eines tatsächlichen Risikos<br />
einer HIV-Infektion erlangt hatten. Diese Urteile<br />
ergingen jedoch nach der Erhebung der Beschwerde<br />
des Bf. vor dem GH. Die Frage der Effektivität der polnischen<br />
zivilrechtlichen Rechtsbehelfe wurde vom GH<br />
bereits im Fall Kaprykowski/PL geprüft, in dem sich ein<br />
epileptischer Häftling über unzureichende Versorgung<br />
beschwert hatte. Der GH begrüßt zwar die Fortschritte<br />
der nationalen Rechtsprechung im Zusammenhang<br />
mit den Persönlichkeitsrechten, ist jedoch nicht davon<br />
überzeugt, dass die Urteile, auf die sich die Regierung<br />
bezieht, <strong>einen</strong> Einfluss auf Klagen haben können, die<br />
sich auf eine unzureichende medizinische Versorgung<br />
in der Haft beziehen, und dass sie als Beispiele <strong>für</strong> eine<br />
allgemeine und gefestigte Praxis anzusehen sind.<br />
Im vorliegenden Fall ist zu beachten, dass der Bf. während<br />
seiner Haft nicht an einer Krankheit litt, die eine<br />
medizinische Überwachung oder Behandlung erforderte.<br />
Er hat eine ernste körperliche Behinderung, die es<br />
ihm unmöglich macht, sich ohne die Hilfe anderer zu<br />
versorgen, was eine besondere Pflege erforderte. Daher<br />
kann nicht festgestellt werden, dass eine zivilrechtliche<br />
Klage im Mai 2003, als der Bf. die Beschwerde beim GH<br />
einbrachte, die Aussicht auf angemessenere <strong>Haftbedingungen</strong><br />
oder besondere Versorgung während der Haft<br />
gebracht hätte.<br />
Der GH ist daher nicht überzeugt, dass die zivilrechtlichen<br />
Rechtsbehelfe im vorliegenden Fall im Zusammenhang<br />
mit der Beschwerde des Bf. angemessen und effektiv<br />
waren. Darüber hinaus hat die Regierung auch kein<br />
anderes effektives innerstaatliches Rechtsmittel aufgezeigt,<br />
das <strong>für</strong> den Bf. hätte Abhilfe schaffen können.<br />
Die Einrede der Regierung ist folglich zurückzuweisen.<br />
Da dieser Beschwerdepunkt weder offensichtlich unbegründet<br />
noch aus einem anderen Grund unzulässig ist,<br />
muss er <strong>für</strong> zulässig erklärt werden (einstimmig).<br />
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Zarzycki gg. Polen<br />
2. In der Sache<br />
Inhaftierte Personen befinden sich in einer verletzlichen<br />
Position und den Behörden kommt eine besondere<br />
Schutzpflicht zu. Im Falle der Entscheidung, eine körperlich<br />
behinderte Person zu inhaftieren, müssen die Behörden<br />
sich darum bemühen, Bedingungen zu garantieren,<br />
die den aus der Behinderung resultierenden besonderen<br />
Bedürfnissen entsprechen. In einem Fall wie dem vorliegenden<br />
muss der GH drei Faktoren berücksichtigen, um<br />
festzustellen, ob die Inhaftierung eines Bf. mit seinem<br />
Gesundheitszustand vereinbar ist: die Verfassung des<br />
Häftlings, die Qualität der vorhandenen Versorgung und<br />
die Frage, ob ein Bf. im Hinblick auf den Gesundheitszustand<br />
weiterhin inhaftiert bleiben soll.<br />
Unter Anwendung dieser Prinzipien hat der GH<br />
bereits festgestellt, dass es einer <strong>unmenschlichen</strong><br />
Behandlung gleichkommt, Personen mit einer körperlichen<br />
Behinderung unter ihrem Gesundheitszustand<br />
nicht entsprechenden Bedingungen zu inhaftieren oder<br />
solche Personen der Unterstützung durch ihre Mithäftlinge<br />
zu überlassen. Der GH muss nun untersuchen, ob<br />
die anhaltende Inhaftierung des Bf. mit seiner Behinderung<br />
vereinbar war und ob seine Situation <strong>einen</strong> ausreichenden<br />
Schweregrad erreichte, um in den Anwendungsbereich<br />
von Art. 3 EMRK zu fallen.<br />
Bezüglich der Verfassung des Häftlings ist unbestritten,<br />
dass der Bf., dem beide Unterarme amputiert wurden,<br />
auf die Hilfe Dritter angewiesen war und zunächst<br />
als nicht in der Lage, selbständig zu leben, bzw. als haftunfähig<br />
eingestuft wurde. Später wurde festgestellt, dass<br />
der Bf. keine medizinische Hilfe benötige und seine<br />
Behinderung ihn nicht haftunfähig mache. Seine physische<br />
Verfassung machte seine Haft jedoch sehr schwierig,<br />
insbesondere während der dreizehn Monate, in<br />
denen er keine <strong>Arm</strong>prothesen hatte. Er brachte vor, dass<br />
er während der beiden Haftphasen nicht in der Lage<br />
war, tägliche Dinge zu verrichten wie beispielsweise zu<br />
essen, sich zu waschen oder anzuziehen. Der GH beobachtet,<br />
dass laut einer Reihe medizinischer Gutachten,<br />
die erstellt wurden, nachdem der Bf. mit Prothesen ausgestattet<br />
worden war, dieser weder selbständig leben<br />
konnte noch haftfähig war. Die Prothesen halfen ihm<br />
zwar bei alltäglichen Dingen wie essen oder Zähne putzen,<br />
ermöglichten ihm jedoch keine präzisen Bewegungen<br />
wie sich zu waschen oder zu rasieren. Im April 2005<br />
wurde festgestellt, dass er aufgrund der Art seiner Behinderung<br />
keine angemessene Versorgung oder Behandlung<br />
im Gefängnis erhalten könne.<br />
Zu der Qualität der vorhandenen Versorgung nimmt<br />
der GH zur Kenntnis, dass die Behörden in der ersten<br />
Haftphase zweifellos Bemühungen unternahmen, um<br />
eine angemessene Behandlung des Bf. zu gewährleisten.<br />
Zunächst versuchte der Haftanstaltsdirektor, den Bf. in<br />
eine besondere medizinische Anstalt zu verlegen, wo<strong>für</strong><br />
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jedoch kein hinreichender gesundheitlicher Grund<br />
durch die medizinische Abteilung des Gefängnisses<br />
festgestellt wurde. Folglich blieb der Bf. in dem Untersuchungsgefängnis,<br />
wo spezielle Regelungen getroffen<br />
wurden, um ihm die Umstände der Haft zu erleichtern.<br />
Er durfte beispielsweise öfter als andere Häftlinge<br />
duschen, wurde von der Pflicht, seine Zelle zu reinigen,<br />
befreit oder konnte öfter und länger von seiner Familie<br />
besucht werden. Zudem steht fest, dass die nationalen<br />
Behörden den Bf. aktiv dabei unterstützten, Prothesen<br />
zu erhalten. Die Anträge wurden durch Gefängnisärzte<br />
gestellt, der volle Kostenersatz wurde durch den staatlichen<br />
Gesundheitsfonds gewährt und der Bf. wurde zu<br />
verschiedenen Haftanstalten gebracht, wo seine Prothesen<br />
angefertigt und angepasst werden konnten. Als sich<br />
herausstellte, dass er keine Prothesen eines bestimmten<br />
biomechanischen Typs erhalten würde, wurde seine<br />
Haftstrafe ausgesetzt, um außerhalb der Haftanstalt<br />
orthopädische Versorgung zu bekommen.<br />
Während der zweiten Haftphase konnte der Bf. einfache<br />
mechanische Prothesen benutzen, die ihm jedoch<br />
– wie erwähnt – keine präzisen Bewegungen ermöglichten.<br />
Folglich wurde empfohlen, dem Bf. eine gewisse<br />
Unterstützung in s<strong>einen</strong> täglichen Angelegenheiten zu<br />
geben. Ob in der zweiten Haftphase dieselben Regelungen<br />
wie in der ersten Phase <strong>für</strong> den Bf. galten, ist unklar.<br />
Der GH nimmt zur Kenntnis, dass der Bf. eine vom<br />
Gefängnis veranlasste Physiotherapie aus unbekannten<br />
Gründen ablehnte.<br />
In beiden Haftphasen unternahmen die Behörden<br />
Schritte, um sicherzustellen, dass der Bf. von s<strong>einen</strong> Mithäftlingen<br />
unterstützt wird. Ein Dokument des Gefängnisdirektors<br />
vom 17.1.2005 bestätigt, dass Regelungen<br />
zwischen den Behörden und der Gefängnisleitung<br />
bestanden, dass der Bf. seine Mithäftlinge um Hilfe bitten<br />
könne, wenn es nötig sei. Aufgrund dieser Tatsachen<br />
kann nicht behauptet werden, dass die Behörden gegen<br />
ihre Verpflichtung gegenüber dem Bf. verstoßen und<br />
ihn völlig der Verfügbarkeit und dem Wohlwollen seiner<br />
Mithäftlinge überlassen haben.<br />
Der GH beobachtet auch, dass die Verfassung des<br />
Bf. eindeutig keine besondere Krankenpflege erforderte.<br />
Er war größtenteils selbständig, insbesondere nach<br />
Erhalt der Prothesen, und die benötigte Unterstützung<br />
beschränkte sich auf allgemeine Angelegenheiten wie<br />
waschen und anziehen. Oft hat es der GH kritisiert,<br />
wenn die Versorgung von körperlich behinderten Häftlingen<br />
bei alltäglichen Angelegenheiten Mithäftlingen<br />
überlassen wird, selbst wenn dies freiwillig geschieht<br />
oder ihre Hilfe erbeten wurde, weil die Krankenanstalt<br />
des Gefängnisses geschlossen war. Unter den besonderen<br />
Umständen des vorliegenden Falles sieht der GH<br />
jedoch k<strong>einen</strong> Grund, das Vorgehen der Behörden, das<br />
eine angemessene und notwendige Hilfe <strong>für</strong> den Bf.<br />
garantieren sollte, zu missbilligen.<br />
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Der GH ist der Ansicht, dass die Möglichkeit des Bf.,<br />
täglich und zeitlich unbegrenzt duschen zu können,<br />
eine ideale Lösung der hygienischen Probleme darstellte.<br />
Andererseits ist er sich auch der praktischen Schwierigkeiten<br />
bewusst, die im Zusammenhang mit der Kontrolle<br />
verschiedener Gruppen von Häftlingen und dem<br />
Versuch, deren persönliche Bedürfnisse mit den Erfordernissen<br />
der Gefängnissicherheit in Einklang zu bringen,<br />
bestehen. Es muss zur Kenntnis genommen werden,<br />
dass die Duschmöglichkeiten des Bf. die eines<br />
gewöhnlichen Häftlings bei weitem überstiegen und <strong>für</strong><br />
seine Körperhygiene ausreichten. Die Erlaubnis, sechsmal<br />
pro Woche duschen zu können, stellt somit eine<br />
angemessene Erfüllung der besonderen Bedürfnisse<br />
des Bf. durch die Behörden dar.<br />
Es ist unbestritten, dass die Untersuchungsgefängnisse<br />
Olsztyn und Szczytno nicht <strong>für</strong> Häftlinge mit besonderen<br />
Bedürfnissen ausgerichtet waren. Andererseits stellten<br />
architektonische oder technische Hindernisse <strong>für</strong><br />
den Bf. keine Probleme dar, da er nicht in seiner Bewegungsfreiheit<br />
eingeschränkt war und Zugang zu den<br />
medizinischen und anderen Bereichen der Anstalt, zum<br />
Außenbereich und zu frischer Luft hatte.<br />
Schließlich muss der GH prüfen, ob es die Justizbehörden<br />
versäumten, den Bf. mit den <strong>für</strong> ihn notwendigen<br />
Unterarmprothesen auszustatten. Während seiner<br />
Haft im Jahr 2002 wurde er durch die Justizbehörden<br />
sowie andere Einrichtungen aktiv dabei unterstützt, Prothesen<br />
zu erhalten. Durch den staatlichen Gesundheitsfonds<br />
wurden der volle Kostenersatz <strong>für</strong> den Basistyp der<br />
Prothesen ohne unangemessene Verzögerung genehmigt<br />
sowie die nötigen Informationen <strong>für</strong> die Finanzierung<br />
biomechanischer Prothesen gegeben. Schließlich<br />
erhielt der Bf. einfache mechanische Prothesen und<br />
eine Physiotherapie. Der GH ist somit davon überzeugt,<br />
dass die Justizbehörden sich aktiv, erfolgreich und ohne<br />
unangemessene Verzögerung darum bemühten, eine<br />
geeignete Lösung <strong>für</strong> die Situation des Bf. zu finden.<br />
Bezüglich der Beschwerde des Bf., dass der Staat die<br />
Kosten <strong>für</strong> biomechanische Prothesen nicht in vollem<br />
Umfang übernommen hat, beobachtet der GH, dass<br />
der Fall sich nicht auf ein systembedingtes Problem<br />
bezieht, das durch Mängel im Krankenversicherungssystem<br />
bezüglich der Gewährung orthopädischer Versorgung<br />
<strong>für</strong> Häftlinge ohne finanzielle Mittel hervorgerufen<br />
wird. Darüber hinaus kann nach der polnischen<br />
Gesetzgebung jeder Patient, der biomechanische Prothesen<br />
beantragt, lediglich <strong>einen</strong> sehr geringen Kostenersatz<br />
beanspruchen und muss den verbleibenden<br />
Teil selbst zahlen. Unter Berücksichtigung der Tatsachen,<br />
dass der Basistyp der Prothesen erhältlich war<br />
und dem Bf. ohne Einschränkungen gewährt wurde und<br />
ein geringer Kostenersatz <strong>für</strong> biomechanische Prothesen<br />
ebenfalls möglich war, kann nicht festgestellt werden,<br />
dass der verantwortliche Staat im vorliegenden Fall<br />
Zarzycki gg. Polen<br />
gegen seine Verpflichtungen aus Art. 3 EMRK verstoßen<br />
hat, indem er nicht die gesamten Kosten <strong>für</strong> Prothesen<br />
eines fortschrittlicheren Typs erstattete.<br />
Der GH stellt zusammenfassend eine aktive Haltung<br />
der Gefängnisverwaltung gegenüber dem Bf. fest. Ihm<br />
kam regelmäßige und angemessene Unterstützung zu,<br />
die s<strong>einen</strong> besonderen Bedürfnissen entsprach. Darüber<br />
hinaus besteht kein Hinweis auf den Willen, den<br />
Bf. zu demütigen oder zu erniedrigen. Auch wenn ein<br />
Häftling mit <strong>amputierten</strong> Unterarmen in einer besonders<br />
verletzlichen Position ist, erreicht die Behandlung<br />
des Bf. im vorliegenden Fall nicht den Schweregrad, den<br />
eine erniedrigende Behandlung iSd. Art. 3 EMRK voraussetzt.<br />
<strong>Keine</strong> Verletzung von Art. 3 EMRK (5:2 Stimmen;<br />
Sondervotum der Richterinnen Ziemele und Kalaydjieva).<br />
II.<br />
Zu den anderen behaupteten Verletzungen<br />
Der Bf. beschwert sich weiters gemäß Art. 5 Abs. 1 und<br />
Abs. 3 EMRK, dass seine Untersuchungshaft rechtswidrig<br />
und unangemessen lang gewesen sei. Die Untersuchungshaft<br />
wurde durch das Bezirksgericht Szczytno<br />
am 19.6.2002 angeordnet und am 12.7.2002 durch das<br />
Landesgericht Olsztyn bestätigt. Nach nationalem Recht<br />
gab es keine andere Möglichkeit, die fragliche Haftanordnung<br />
anzufechten. Darüber hinaus endete die Untersuchungshaft<br />
gemäß Art. 5 Abs. 3 EMRK am 31.10.2002<br />
mit der Verurteilung des Bf. Im Hinblick darauf, dass<br />
dieser seine Beschwerde beim GH am 2.5.2003 erhob,<br />
wurden die Beschwerden bezüglich Art. 5 EMRK nicht<br />
innerhalb der Frist eingebracht und müssen gemäß<br />
Art. 35 Abs. 1 und Abs. 4 EMRK als unzulässig zurückgewiesen<br />
werden (einstimmig).<br />
Schließlich beschwert sich der Bf. gemäß Art. 6 Abs. 1<br />
EMRK über den Ausgang der strafrechtlichen Verfahren<br />
und bringt vor, dass diese unfair gewesen seien. Es steht<br />
fest, dass der Bf. keine Revision gegen das Urteil des<br />
Landesgerichts Olsztyn vom 19.2.2003 einlegte. Dieser<br />
Beschwerdepunkt ist somit mangels Ausschöpfens des<br />
innerstaatlichen Instanzenzuges gemäß Art. 35 Abs. 1<br />
und Abs. 4 EMRK als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).<br />
•<br />
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Österreichisches Institut <strong>für</strong> Menschenrechte © Jan Sramek Verlag