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Periphere Neuropathie und Herzinsuffizienz – rasch behandelt ...

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DER BESONDERE FALL<br />

<strong>Periphere</strong> <strong>Neuropathie</strong> <strong>und</strong> <strong>Herzinsuffizienz</strong> <strong>–</strong><br />

<strong>rasch</strong> <strong>behandelt</strong><br />

Fabienne Jenni, Heinz Pfluger, Reto Baldinger<br />

Innere Medizin <strong>und</strong> Neurologie, Spital Bülach<br />

Die Autoren haben<br />

keine finanzielle<br />

Unterstützung <strong>und</strong><br />

keine anderen<br />

Interessenkonflikte<br />

im Zusammenhang<br />

mit diesem Beitrag<br />

deklariert.<br />

Fallbeschreibung<br />

Der 53-jährige Patient wurde vom Hausarzt wegen seit<br />

mehreren Wochen langsam progredienter Gangstörung,<br />

Muskelschwäche sowie zunehmender Belastungsdyspnoe<br />

<strong>und</strong> Beinödemen zugewiesen. Der alleinlebende<br />

Patient verneinte B-Symptome, Nykturie oder pektanginöse<br />

Beschwerden. Er gab an, täglich vier Liter Bier zu<br />

trinken, wobei dies einem bereits reduzierten Konsum<br />

entspreche, seit Jahren zu rauchen <strong>und</strong> nur selten für<br />

sich zu kochen. Vorgängige Abklärungen hatten in<br />

einem CT-Thorax keine Lungenembolie, ein MRI des<br />

Schädels keine Auffälligkeiten nachgewiesen.<br />

Im Status zeigte sich ein übergewichtiger Patient in reduziertem<br />

Allgemeinzustand, normoton (BD 130/50 mm Hg),<br />

tachykard (105/min) <strong>und</strong> afebril. Kardial bestanden<br />

ein 3/6 Systolikum über A ohne Ausstrahlung sowie<br />

periphere Beinödeme. Neurologisch war der Patient<br />

orientiert, leicht aufmerksamkeitsgemindert, <strong>und</strong> es lag<br />

eine beidseitige Abduzensparese mit horizontalem,<br />

blickparetischem Nystagmus vor. In vertikaler Blickrichtung<br />

bestand kein Nystagmus. Ausserdem bestand<br />

eine schwere beinbetonte Tetraparese mit Stand- <strong>und</strong><br />

Gangunfähigkeit <strong>und</strong> eine Areflexie. Berührungs-, Temperaturempfinden<br />

<strong>und</strong> Pallästhesie waren normal. Eine<br />

über die Parese hinausgehende Dysmetrie lag nicht vor.<br />

Ein Enzephalopathie-Syndrom bestand nicht, <strong>und</strong> Hinweise<br />

für eine Merkfähigkeitsstörung fehlten.<br />

Elektrodiagnostisch liess sich eine sensomotorische,<br />

primär demyelinisierende Polyradikuloneuropathie mit<br />

mässigen akuten axonalen Schädigungszeichen nachweisen.<br />

Die Lumbalpunktion war unauffällig, <strong>und</strong> insbesondere<br />

lagen mit einer fehlenden Proteinerhöhung<br />

keine Hinweise für eine dysimmune <strong>Neuropathie</strong> (wie<br />

ein Guillain-Barré-Syndrom) vor. Die Gangliosid-Antikörper<br />

(GM1, GM2 <strong>und</strong> GD1) im Serum waren ebenfalls<br />

negativ. Ein MRI der gesamten Wirbelsäule zeigte keine<br />

Myelitis oder Myelonkompression.<br />

Laborchemisch lagen eine Dyselektrolytämie mit leichtgradiger<br />

Hyponatriämie, Hypokaliämie, Hypomagnesiämie<br />

<strong>und</strong> Hypokalziämie sowie eine Hepatopathie vor,<br />

es bestanden jedoch keine Hinweise auf metabolische<br />

oder endokrinologische Störungen, das Lactat war<br />

normwertig. Das Pro-BNP war mit 1560 ng/l erhöht, in<br />

der Echokardiographie zeigte sich eine exzentrische<br />

Hypertrophie des linken Ventrikels mit erhaltener systolischer<br />

Funktion. Eine arterielle Hypertonie war nicht<br />

bekannt, <strong>und</strong> die Blutdruckwerte zeigten sich stets im<br />

idealen Bereich.<br />

Die Verdachtsdiagnose eines «feuchten Beriberi» mit<br />

Kardiomyopathie, peripherer <strong>Neuropathie</strong> <strong>und</strong> partiellem<br />

Wernicke-Syndrom bei ausgeprägter Mangelnutrition<br />

wurde gestellt <strong>und</strong> eine intravenöse hochdosierte<br />

Thiamin-Substitution (1500 mg/24 h) begonnen. Ausserdem<br />

wurde Magnesium substituiert <strong>und</strong> Torasemid<br />

10 mg täglich zur Ödemmobilisation verabreicht. Nach<br />

einer Woche war die Abduzensparese in Remission,<br />

<strong>und</strong> es liess sich eine deutliche klinische <strong>und</strong> elektrodiagnostische<br />

Besserung der <strong>Neuropathie</strong> erkennen<br />

(Tab. 1 ). Der anfänglich immobile Patient war unterdessen<br />

mit einem Rollator mobil. Das Pro-BNP war auf<br />

354 ng/l regredient <strong>und</strong> die Anstrengungsdyspnoe<br />

remittiert.<br />

Kommentar<br />

Die Beriberi-Krankheit (Beri = singhalesisch für Schwäche)<br />

wurde bereits 2697 v. Chr. in China beschrieben<br />

[1]. Sie kommt vor allem in Asien vor, wo viel geschälter<br />

Reis konsumiert wird. Bei Beriberi liegt ein Mangel des<br />

wasserlöslichen Vitamins B 1 (Thiamin) vor, das vor<br />

allem in Hülsenfrüchten, Schweinefleisch <strong>und</strong> Vollreis<br />

vorkommt <strong>und</strong> durch hohe Temperaturen denaturiert<br />

wird. Nach Aufnahme im Dünndarm wird Thiamin in<br />

die aktive Form (Thiaminpyrophosphat) konvertiert,<br />

wozu ein magnesiumabhängiger aktiver Transporter<br />

notwendig ist. Thiamin findet sich in hohen Konzentrationen<br />

insbesondere in Skelettmuskulatur, Leber, Herz,<br />

Nieren <strong>und</strong> Gehirn [2]. Die Halbwertszeit des Thiamins<br />

beträgt ca. 10<strong>–</strong>20 Tage. Es ist ein wichtiger Co-Faktor<br />

von Enzymen im Aminosäuren- <strong>und</strong> Kohlehydratmetabolismus<br />

<strong>und</strong> katalysiert die Konversion von Pyruvat zu<br />

Acetyl-CoA. Ausserdem spielt es eine unabhängige Rolle<br />

in der Initiierung <strong>und</strong> Weiterleitung von Nervenimpulsen.<br />

Die Beriberi-Krankheit kann in eine infantile <strong>und</strong> eine<br />

adulte Form mit weiterer Differenzierung von «trocken»<br />

<strong>und</strong> «feucht» eingeteilt werden. Die schwerste Form<br />

wird Shoshin-Beriberi genannt <strong>und</strong> ist gekennzeichnet<br />

durch biventrikuläres Herzversagen, metabolische<br />

Azi dose <strong>und</strong> periphere Zyanose.<br />

Ein Thiaminmangel kann ausserdem zu einem Wernicke-<br />

Syndrom führen. Dieses ist durch Ausfälle des zentralen<br />

Nervensystems gekennzeichnet <strong>und</strong> präsentiert sich<br />

klassischerweise mit einer Trias aus ophthalmologischen<br />

Störungen mit Nystagmus <strong>und</strong> Ophthalmoplegie (in der<br />

Regel N.-abducens- <strong>und</strong> N.-oculomotorius-Paresen),<br />

Ataxie <strong>und</strong> verändertem Mentalstatus. Die vollständige<br />

Trias wird beim Wernicke-Syndrom jedoch nur in 20%<br />

der Fälle beobachtet [3].<br />

Für ein klassisches feuchtes Beriberi werden gemäss<br />

Givertz et al. folgende Kriterien vorgeschlagen:<br />

Schweiz Med Forum 2013;13(49):1020<strong>–</strong>1021<br />

1020


DER BESONDERE FALL<br />

Tabelle 1<br />

Ausgewählte klinisch-neurologische <strong>und</strong> elektrodiagnostische Bef<strong>und</strong>e vor <strong>und</strong> nach<br />

hochdosierter, intravenöser Thiaminsubstitution.<br />

Tag 1 Tag 6<br />

Einzelkraftprüfung (rechts/links)<br />

Radiale Handgelenksextension M4/M4 M5/M4<br />

Fingerspreizen M4/M4 M4+/M4+<br />

Hüftflexion M3/M3 M4<strong>–</strong>/M4<br />

Knieextension M2/M2 M4<strong>–</strong>/M4<br />

Nervenleitgeschwindigkeit (m/s)<br />

N. ulnaris am Vorderarm rechts 48 54<br />

N. ulnaris am Vorderarm links 50 53<br />

N. medianus am Vorderarm links 44 51<br />

<strong>–</strong> thiamindefiziente Ernährung über mindestens drei<br />

Monate<br />

<strong>–</strong> periphere Ödeme<br />

<strong>–</strong> periphere <strong>Neuropathie</strong><br />

<strong>–</strong> vergrössertes Herz mit Sinusrhythmus<br />

<strong>–</strong> unspezifische EKG-Veränderungen<br />

<strong>–</strong> Ansprechen auf Thiamin-Substitution [4].<br />

Das trockene Beriberi ist durch die fehlende kardiale<br />

Mitbeteiligung charakterisiert.<br />

Risikofaktoren für einen Thiaminmangel sind in den<br />

Industrieländern vor allem Malnutrition bei Alkoholabusus,<br />

Essstörungen <strong>und</strong> chronischen Krankheiten.<br />

Ausserdem sind dialysepflichtige Patienten, Patienten<br />

mit Malabsorptionssyndrom sowie in neuerer Zeit Patienten<br />

nach bariatrischen Eingriffen gefährdet. Es gibt<br />

verschiedene Tests, um einen Thiaminmangel festzustellen.<br />

Am häufigsten wird die Erythrozyten-Transketolase-Aktivität<br />

oder die Thiaminausscheidung im Urin<br />

angewendet. Ein Transketolase-Aktivitäts-Koeffizient<br />

von >15<strong>–</strong>20% ist suggestiv für einen Thiaminmangel,<br />

die Spezifität des Tests ist jedoch gering [2]. Häufig wird<br />

(wie auch bei unserem Patienten) auf eine Bestimmung<br />

verzichtet <strong>und</strong> die Diagnose aufgr<strong>und</strong> des klinischen<br />

Ansprechens auf eine Thiamin-Substitution gestellt.<br />

Zur Deckung des Thiaminbedarfs benötigen Männer<br />

täglich 1,2 mg, Frauen 1,1 mg. Bei symptomatischem<br />

Thiaminmangel wird bei Nicht-Alkoholkranken eine<br />

tägliche Dosierung von 100<strong>–</strong>200 mg, bei Alkoholkranken<br />

wegen der Thiamin-absorptionshemmenden Wirkung<br />

des Alkohols im Gastrointestinaltrakt eine Dosierung<br />

von 3× 500 mg täglich empfohlen [3]. Für die Diagnose<br />

Beriberi braucht es einen hohen Verdacht, <strong>und</strong> insbesondere<br />

bei Menschen mit den genannten Risikofaktoren<br />

sollte <strong>rasch</strong> daran gedacht werden, da eine Thiaminsubstitution<br />

in den gegebenen Situationen wirkungsvoll,<br />

nebenwirkungsarm <strong>und</strong> kostengünstig ist.<br />

Korrespondenz:<br />

Dr. med. Reto Baldinger<br />

Spital Bülach<br />

Spitalstrasse 24<br />

CH-8180 Bülach<br />

reto.baldinger[at]spitalbuelach.ch<br />

Literatur<br />

1 Tanphaichitr V. Modern Nutrition in Health and Medicine, 9th, Shils<br />

M (Ed) Lippincott, Philadelphia 2000. P. 381.<br />

2 Osiezagha K, Ali S, Freeman C, Barker NC, Jabeen S, Maitra S, Olagbemiro<br />

Y, Richie W, Bailey RK. Thiamine Deficiency and Delirium. Innov<br />

Clin Neurosci. 2013 Apr;10(4):26<strong>–</strong>32.<br />

3 Chisolm-Straker M, Cherkas D. Altered and Unstable: Wet Beriberi, a<br />

Clinical Review. J Emerg Med. 2013 Jul 9. pii: S0736<strong>–</strong>4679(13)00465<strong>–</strong>4.<br />

4 Givertz M, Haghighat A. High-output cardiac failure. In: Gottlieb S,<br />

Yeon SB, eds. UpToDate. Waltham, MA: UpToDate; 2013.<br />

Schweiz Med Forum 2013;13(49):1020<strong>–</strong>1021 1021

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