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Franz Kafka Das Schloß - Literaturwissenschaft-online

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Claus Michael Ort<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

Ringvorlesung im Wintersemester 2003/2004<br />

Romane des 20. Jahrhunderts<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong><br />

<strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

Claus Michael Ort<br />

02.12.2003<br />

1


Claus Michael Ort<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

Jetzt bin ich etwa eine Woche wieder hier, diese<br />

Woche habe ich nicht sehr lustig verbracht (denn ich<br />

habe die <strong>Schloß</strong>geschichte offenbar für immer liegen<br />

lassen müssen, konnte sie seit dem „Zusammenbruch“,<br />

der eine Woche vor der Reise nach Prag begann, nicht<br />

wieder anknüpfen, obwohl das in Planá Geschriebene<br />

nicht ganz so schlecht ist wie das, was Du kennst),<br />

nicht sehr lustig, aber sehr ruhig, ich wurde fast dick,<br />

[…].<br />

2


Claus Michael Ort<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

Die letzte Fotographie,<br />

Berlin 1923/1924<br />

3


Claus Michael Ort<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

<strong>Kafka</strong> auf dem Altstädter<br />

Ring in Prag, 1922<br />

4


Claus Michael Ort<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

Milena Jesenská-Pollak<br />

5


Claus Michael Ort<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

Die Verwandtschaft beider Werke ist sinnfällig. Nicht bloß die<br />

Namensgleichheit der Helden („Josef K.“ im Prozeß –„K.“ im<br />

<strong>Schloß</strong>) weist darauf hin. (Hier sei erwähnt, daß <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong> als<br />

Ich-Roman begonnen erscheint, später sind vom Dichter selbst<br />

die Anfangskapitel so umkorrigiert, daß überall K. an Stelle<br />

von „ich“ gesetzt ist, und die weiteren Kapitel sind schon von<br />

Grund aus so geschrieben.) Wesentlich ist, daß der Held im<br />

Prozeß von einer unsichtbaren geheimnisvollen Behörde<br />

verfolgt, vor Gericht geladen, im <strong>Schloß</strong> von einer<br />

ebensolchen Instanz abgewehrt wird. „Josef K.“ verbirgt sich,<br />

flieht – „K.“ drängt sich auf, greift an. Trotz der<br />

entgegengesetzten Richtung aber ist das Grundgefühl<br />

identisch. Denn was bedeutet das „<strong>Schloß</strong>“ mit seinen<br />

seltsamen Akten, seiner unerforschlichen Hierarchie von<br />

Beamten, mit seinen Launen und Tücken, seinem Anspruch<br />

(und durchaus gerechtfertigten Anspruch) auf unbedingte<br />

Achtung, unbedingten Gehorsam ?<br />

6


Claus Michael Ort<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

Ohne speziellere Deutungen auszuschließen, die […] von<br />

dieser umfassendsten eingehegt sind […], – dieses „<strong>Schloß</strong>“,<br />

zu dem K. keinen Zutritt erlangt, dem er sich<br />

unbegreiflicherweise nicht einmal richtig nähern kann, ist<br />

genau das, was die Theologen „Gnade“ nennen, die<br />

göttliche Lenkung menschlichen Schicksals (des Dorfes), die<br />

Wirksamkeit der Zufälle, geheimnisvollen Ratschlüsse, […],<br />

das Unverdiente und Unerwerbliche, […]. Somit wären im<br />

Prozeß und im <strong>Schloß</strong> die beiden Erscheinungsformen der<br />

Gottheit (im Sinne der Kabbala) – Gericht und Gnade –<br />

dargestellt.<br />

7


Claus Michael Ort<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

Es war spät abend als K. ankam. <strong>Das</strong> Dorf lag in<br />

tiefem Schnee. Vom <strong>Schloß</strong>berg war nichts zu sehen,<br />

Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der<br />

schwächste Lichtschein deutete das große <strong>Schloß</strong> an.<br />

Lange stand K. auf der Holzbrücke die von der<br />

Landstraße zum Dorf führt und blickte in die<br />

scheinbare Leere empor.<br />

[Orthographie und Interpunktion der Zitate aus <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

entsprechen der Originalfassung der Handschrift, 9. Auflage.<br />

Frankfurt/M.: Fischer 2003 (Tb. 12444); 1981 zuerst hrsg. von<br />

Malcolm Pasley]<br />

8


Claus Michael Ort<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

„Dieses Dorf ist Besitz des Schlosses, wer hier<br />

wohnt oder übernachtet, wohnt oder<br />

übernachtet gewissermaßen im <strong>Schloß</strong>. Niemand<br />

darf das ohne gräfliche Erlaubnis. […].“ K. hatte<br />

sich halbaufgerichtet, […], blickte die Leute von<br />

unten her an und sagte: „In welches Dorf habe<br />

ich mich verirrt? Ist denn hier ein <strong>Schloß</strong>?“<br />

„Allerdings“, sagte der junge Mann langsam, […],<br />

„das <strong>Schloß</strong> des Herrn Grafen Westwest.“<br />

9


Claus Michael Ort<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

Zwar heißt es, daß wir alle zum <strong>Schloß</strong> gehören<br />

und gar kein Abstand besteht und nichts zu<br />

überbrücken ist und das stimmt auch vielleicht für<br />

gewöhnlich, aber wir haben leider Gelegenheit<br />

gehabt, zu sehn, daß es gerade wenn es darauf<br />

ankommt, gar nicht stimmt.<br />

10


Claus Michael Ort<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

„Wie lange haben wir noch bis zum Frühjahr“ fragte K.<br />

„Bis zum Frühjahr?“ wiederholte Pepi, „der Winter ist<br />

bei uns lang, ein sehr langer Winter und einförmig.<br />

Darüber aber klagen wir unten nicht, gegen den Winter<br />

sind wir gesichert. Nun, einmal kommt auch das Frühjahr<br />

und der Sommer und es hat wohl auch seine Zeit, aber in<br />

der Erinnerung, jetzt, scheint Frühjahr und Sommer so<br />

kurz, als wären es nicht viel mehr als zwei Tage und<br />

selbst an diesen Tagen, auch durch den allerschönsten<br />

Tag fällt dann noch manchmal Schnee.“<br />

11


Claus Michael Ort<br />

<strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

≈<br />

nur ein recht elendes<br />

Städtchen<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

5<br />

Wirtshaus<br />

Herrenhof<br />

Frieda<br />

Gemeindevorsteher<br />

Fuhrmann Gerstäcker<br />

Gerber Lasemann<br />

?<br />

1<br />

3<br />

2<br />

Bote Barnabas<br />

Olga, Amalia<br />

4<br />

Schulhaus<br />

K., Frieda<br />

Dorf<br />

Wirtshaus zur Brücke<br />

Wirtin, K., Frieda<br />

Holzbrücke<br />

3<br />

Kirche<br />

12


Claus Michael Ort<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

Ich werde Ihnen einiges davon aufzählen was mich<br />

hier zurückhält: die Opfer, die ich brachte, um von<br />

zuhause fortzukommen, die lange schwere Reise, die<br />

begründeten Hoffnungen, die ich mir wegen der<br />

Aufnahme hier machte, meine vollständige<br />

Vermögenslosigkeit, die Unmöglichkeit jetzt wieder<br />

eine entsprechende Arbeit zuhause zu finden und<br />

endlich nicht zum wenigsten meine Braut, die eine<br />

Hiesige ist.<br />

13


Claus Michael Ort<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

Der direkte Verkehr mit Behörden war ja nicht allzu schwer, denn<br />

die Behörden hatten, so gut sie auch organisiert sein mochten,<br />

immer nur im Namen entlegener unsichtbarer Herren entlegene<br />

unsichtbare Dinge zu verteidigen, während K. für etwas lebendigst<br />

Nahes kämpfte, für sich selbst, überdies zumindest in der<br />

allerersten Zeit aus eigenem Willen, denn er war der Angreifer,<br />

[…].Dadurch nun aber, daß die Behörden K. von vornherein in<br />

unwesentlicheren Dingen […] weit entgegenkamen, nahmen sie<br />

ihm die Möglichkeit kleiner leichter Siege […] und die aus ihr sich<br />

ergebende gut begründete Sicherheit für weitere größere Kämpfe.<br />

[…] [sie] schalteten hier überhaupt jeden Kampf aus und verlegten<br />

ihn dafür in das außeramtliche, völlig unübersichtliche, trübe,<br />

fremdartige Leben. […]. […]. Nirgends noch hatte K. Amt und<br />

Leben so verflochten gesehen, wie hier, so verflochten, daß es<br />

manchmal scheinen konnte, Amt und Leben hätten ihre Plätze<br />

gewechselt.<br />

14


Claus Michael Ort<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

Im Ganzen entsprach das <strong>Schloß</strong>, wie es sich hier von der Ferne zeigte, K.’s<br />

Erwartungen. Es war weder eine alte Ritterburg, noch ein neuer Prunkbau,<br />

sondern eine ausgedehnte Anlage, die aus wenigen zweistöckigen, aber aus<br />

vielen eng aneinanderstehenden niedrigern Bauten bestand; hätte man nicht<br />

gewußt daß es ein <strong>Schloß</strong> ist, hätte man es für ein Städtchen halten können.<br />

Nur einen Turm sah K., ob er zu einem Wohngebäude oder einer Kirche<br />

gehörte war nicht zu erkennen. […].<br />

Die Augen auf das <strong>Schloß</strong> gerichtet, gieng K. weiter, nichts sonst kümmerte<br />

ihn. Aber im Näherkommen enttäuschte ihn das <strong>Schloß</strong>, es war doch nur ein<br />

recht elendes Städtchen, aus Dorfhäusern zusammengetragen,<br />

ausgezeichnet nur dadurch, daß vielleicht alles aus Stein gebaut war, aber<br />

der Anstrich war längst abgefallen, und der Stein schien abzubröckeln.<br />

Flüchtig erinnerte sich K. an sein Heimatstädtchen, es stand diesem<br />

angeblichen Schlosse kaum nach, wäre es K. nur auf die Besichtigung<br />

angekommen, dann wäre es schade um die lange Wanderschaft gewesen und<br />

er hätte vernünftiger gehandelt, wieder einmal die alte Heimat zu<br />

besuchen, wo er schon so lange nicht gewesen war. Und er verglich in<br />

Gedanken den Kirchturm der Heimat mit dem Turm dort oben. […].<br />

15


Claus Michael Ort<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

Der Turm hier oben […], der Turm eines Wohnhauses,<br />

wie sich jetzt zeigte, vielleicht des Hauptschlosses, war<br />

ein einförmiger Rundbau, zum Teil gnädig von Epheu<br />

verdeckt, mit kleinen Fenstern, die jetzt in der Sonne<br />

aufstrahlten – etwas Irrsinniges hatte das –und einem<br />

söllerartigen Abschluß, dessen Mauerzinnen unsicher,<br />

unregelmäßig, brüchig wie von ängstlicher oder<br />

nachlässiger Kinderhand gezeichnet sich in den blauen<br />

Himmel zackten.<br />

16


Claus Michael Ort<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

<strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong> dort oben, merkwürdig dunkel schon, das K. heute<br />

noch zu erreichen gehofft hatte, entfernte sich wieder. Als sollte<br />

ihm aber noch zum vorläufigen Abschied ein Zeichen gegeben<br />

werden, erklang dort ein Glockenton, fröhlich beschwingt, eine<br />

Glocke, die wenigstens einen Augenblick lang das Herz erbeben<br />

ließ, so als drohe ihm – denn auch schmerzlich war der Klang – die<br />

Erfüllung dessen, wonach er sich unsicher sehnte.<br />

Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96):<br />

<strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong> des Grafen stand ihnen wie ein Feengebäude vor der<br />

Seele, sie waren die glücklichsten und fröhlichsten Menschen von<br />

der Welt, und jeder knüpfte unterwegs an diesen Tag, […], eine<br />

Reihe von Glück, Ehre und Wohlstand.<br />

17


Claus Michael Ort<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

Božena Nemcová: Babička. Obrazy<br />

z venkoshékho života (Großmutter.<br />

Bilder aus dem Landleben. Roman.<br />

1855; Illustration von Adolf Kašpar<br />

zum 7. Kapitel; 50. Auflage. 1903<br />

18


Claus Michael Ort<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

Illustrationen zu <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong>, 1. Kapitel<br />

von Hans Fronius, Monotypie 1969.<br />

19


Claus Michael Ort<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

[…], sie rollten in einer Besinnungslosigkeit, aus der sich K.<br />

fortwährend aber vergeblich zu retten suchte, […], schlugen<br />

dumpf an Klamms Tür und lagen dann in den kleinen Pfützen<br />

Bieres und dem sonstigen Unrat, von dem der Boden bedeckt<br />

war. Dort vergiengen Stunden, Stunden gemeinsamen Atems,<br />

gemeinsamen Herzschlags, Stunden, in denen K. immerfort das<br />

Gefühl hatte, er verirre sich oder er sei soweit in der Fremde,<br />

wie vor ihm noch kein Mensch, eine Fremde, in der selbst die<br />

Luft keinen Bestandteil der Heimatluft habe, in der man vor<br />

Fremdheit ersticken müsse und in deren unsinnigen<br />

Verlockungen man doch nichts tun könne als weiter gehn,<br />

weiter sich verirren. Und so war es wenigstens zunächst für<br />

ihn kein Schrecken, sondern ein tröstliches Aufdämmern, als<br />

aus Klamms Zimmer mit tiefer befehlend-gleichgültiger<br />

Stimme nach Frieda gerufen wurde. "Frieda", sagte K. in<br />

Friedas Ohr und gab so den Ruf weiter. […].<br />

20


Claus Michael Ort<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

Und als sei Frieda gestärkt durch K.’s Zustimmung ballte sie die<br />

Faust, klopfte mit ihr an die Tür und rief: "Ich bin beim<br />

Landvermesser! Ich bin beim Landvermesser! " Nun wurde<br />

Klamm allerdings still. Aber K. erhob sich, kniete neben Frieda<br />

[…]. Was war geschehen? Wo waren seine Hoffnungen? Was<br />

konnte er nun von Frieda erwarten, da alles verraten war? Statt<br />

vorsichtigst entsprechend der Größe des Feindes und des Zieles<br />

vorwärtszugehn hatte er sich hier eine Nachtlang in den<br />

Bierpfützen gewälzt, […].<br />

21


Claus Michael Ort<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

„[…]. Nur eine Bitte habe ich. Gebrauchen Sie nicht<br />

Klamms Namen. Nennen Sie ihn ‚er’ oder sonstwie,<br />

aber nicht beim Namen.“<br />

“Gern", sagte K., „aber was ich von ihm will, ist<br />

schwer zu sagen. Zunächst will ich ihn in der Nähe<br />

sehn, dann will ich seine Stimme hören, dann will<br />

ich von ihm wissen, wie er sich zu unserer Heirat<br />

verhält; um was ich ihn dann vielleicht noch bitten<br />

werde, hängt vom Verlauf der Unterredung ab. Es<br />

kann manches zur Sprache kommen, aber das<br />

Wichtigste ist doch für mich, daß ich ihm<br />

gegenüberstehe. Ich habe nämlich noch mit keinem<br />

wirklichen Beamten unmittelbar gesprochen.“<br />

22


Claus Michael Ort<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

[…], da schien es K. als habe man nun alle<br />

Verbindung mit ihm abgebrochen und als sei er nun<br />

freilich freier als jemals und könne hier auf dem<br />

ihm sonst verbotenen Ort warten solange er wolle<br />

und habe sich diese Freiheit erkämpft wie kaum<br />

ein anderer es könnte und niemand dürfe ihn<br />

anrühren oder vertreiben, ja kaum ansprechen,<br />

aber – diese Überzeugung war zumindest ebenso<br />

stark – als gäbe es gleichzeitig nichts Sinnloseres,<br />

nichts Verzweifelteres als diese Freiheit, dieses<br />

Warten, diese Unverletzlichkeit.<br />

23


Claus Michael Ort<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

„Nein“, sagte Momus, "[…]. Es handelt sich mir nur darum, für die<br />

Klammsche Dorfregistratur eine genaue Beschreibung des heutigen<br />

Nachmittags zu erhalten. Die Beschreibung ist schon fertig, nur zwei<br />

drei Lücken sollen Sie noch ausfüllen, der Ordnung halber, […].“<br />

„[…]. Für ihn handelt es sich wie er sagte nur um eine Beschreibung<br />

des heutigen Nachmittags, der Ordnung halber, […].“ „Wird denn,<br />

Herr Sekretär“, fragte K., „Klamm dieses Protokoll lesen?“ „Nein“,<br />

sagte Momus, „warum denn? Klamm kann doch nicht alle Protokolle<br />

lesen, er liest sogar überhaupt keines, ‚Bleibt mir vom Leib mit<br />

Eueren Protokollen!’ pflegt er zu sagen.“ „[…]. Ist es denn nötig oder<br />

auch nur wünschenswert, daß Klamm dieses Protokoll liest und von<br />

den Nichtigkeiten Ihres Lebens wortwörtlich Kenntnis bekommt,<br />

wollen Sie nicht lieber demütigst bitten, daß man das Protokoll vor<br />

Klamm verbirgt, eine Bitte übrigens, die ebenso unvernünftig wäre<br />

wie die frühere, denn wer kann vor Klamm etwas verbergen, […].“<br />

24


Claus Michael Ort<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

„Sag doch, worin verberge ich Dir etwas? Daß ich zu<br />

Klamm gelangen will, weißt Du, daß Du mir dazu nicht<br />

verhelfen kannst und daß ich es daher auf eigene<br />

Faust erreichen muß, weißt Du auch, daß es mir<br />

bisher noch nicht gelungen ist, siehst Du. Soll ich nun<br />

durch Erzählen der nutzlosen Versuche, die mich<br />

schon in der Wirklichkeit reichlich demütigen, doppelt<br />

mich demütigen?“<br />

25


Claus Michael Ort<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

„Mit wem Barnabas dort spricht, weiß ich nicht, vielleicht ist jener Schreiber<br />

der niedrigste der Diener, aber auch wenn er der niedrigste ist kann er zu<br />

dem nächst höheren führen und wenn er nicht zu ihm führen kann, so kann er<br />

ihn doch wenigstens nennen und wenn er ihn nicht nennen kann so kann er<br />

doch auf jemanden verweisen, der ihn wird nennen können. Der angebliche<br />

Klamm mag mit dem wirklichen nicht das Geringste gemeinsam haben, die<br />

Ähnlichkeit mag nur für die vor Aufregung blinden Augen des Barnabas<br />

bestehn, er mag der niedrigste der Beamten, er mag noch nicht einmal<br />

Beamter sein, aber irgendeine Aufgabe hat er doch bei jenem Pult,<br />

irgendetwas liest er in seinem großen Buch, irgendetwas flüstert er dem<br />

Schreiber zu, irgendetwas denkt er, wenn einmal in langer Zeit sein Blick auf<br />

Barnabas fällt, und selbst wenn das alles nicht wahr ist und er und seine<br />

Handlungen gar nichts bedeuten, so hat ihn doch jemand dort hingestellt und<br />

hat dies mit irgendeiner Absicht getan. Mit dem allen will ich sagen, daß<br />

irgendetwas da ist, irgendetwas dem Barnabas angeboten wird, wenigstens<br />

irgendetwas und daß es nur die Schuld des Barnabas ist, wenn er damit nichts<br />

anderes erreichen kann, als Zweifel, Angst und Hoffnungslosigkeit.“<br />

26


Claus Michael Ort<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

Zwar blieb sich K. dessen bewußt, daß seine Müdigkeit<br />

ihm heute mehr geschadet hatte, als alle Ungunst der<br />

Verhältnisse, aber warum konnte er, der geglaubt hatte<br />

sich auf seinen Körper verlassen zu können und der ohne<br />

diese Überzeugung sich gar nicht auf den Weg gemacht<br />

hätte, warum konnte er einige schlechte und eine<br />

schlaflose Nacht nicht ertragen, warum wurde er gerade<br />

hier so unbeherrschbar müde, wo niemand müde war<br />

oder wo vielmehr jeder und immerfort müde war, ohne<br />

daß dies aber die Arbeit schädigte, ja es schien sie<br />

vielmehr zu fördern. Daraus war zu schließen, daß es in<br />

ihrer Art eine ganz andere Müdigkeit war als jene K.’s.<br />

27


Claus Michael Ort<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

Klamms erster Brief an K.:<br />

„Sehr geehrter Herr!<br />

Sie sind, wie Sie wissen, in die herrschaftlichen Dienste<br />

aufgenommen. Ihr nächster Vorgesetzter ist der<br />

Gemeindevorsteher des Dorfes, der Ihnen auch alles Nähere über<br />

Ihre Arbeit und die Lohnbedingungen mitteilen wird und dem Sie<br />

auch Rechenschaft schuldig sein werden. Trotzdem werde aber<br />

auch ich Sie nicht aus den Augen verlieren. Barnabas, der<br />

Überbringer dieses Briefes, wird von Zeit zu Zeit bei Ihnen<br />

nachfragen, um Ihre Wünsche zu erfahren und mir mitzuteilen. Sie<br />

werden mich immer bereit finden, Ihnen soweit es möglich ist,<br />

gefällig zu sein. Es liegt mir daran zufriedene Arbeiter zu haben.“<br />

Die Unterschrift war nicht leserlich, beigedruckt aber war ihr: Der<br />

Vorstand der X. Kanzlei.<br />

[…].<br />

[…], er wollte mit dem Brief eine Zeitlang allein sein.<br />

28


Claus Michael Ort<br />

Die Bäume (entstanden 1907)<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

Denn<br />

wir sind wie Baumstämme im Schnee<br />

≈<br />

Scheinbar<br />

liegen sie glatt auf,<br />

und mit kleinem Anstoß sollte man<br />

sie wegschieben können.<br />

Nein<br />

das kann man nicht<br />

denn<br />

sie sind fest mit dem<br />

Boden verbunden<br />

Aber sieh,<br />

sogar das ist nur<br />

scheinbar.<br />

29


Claus Michael Ort<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Schloß</strong><br />

„Ich weiß warum Du mich mitnehmen willst“, sagte nun<br />

endlich K. Gerstäcker war es gleichgültig, was K. wußte.<br />

„Weil Du glaubst, daß ich bei Erlanger etwas für Dich<br />

durchsetzen kann.“ „Gewiß“, sagte Gerstäcker, „was<br />

läge mir sonst an Dir.“ K. lachte, hing sich in Gerstäckers<br />

Arm und ließ sich von ihm durch die Finsternis führen.<br />

Die Stube in Gerstäckers Hütte war nur vom Herdfeuer<br />

matt beleuchtet und von einem Kerzenstumpf, bei dessen<br />

Licht jemand in einer Nische gebeugt unter den dort<br />

vortretenden schiefen Dachbalken in einem Buche las. Es<br />

war Gerstäckers Mutter. Sie reichte K. die zitternde Hand<br />

und ließ ihn neben sich niedersetzen, mühselig sprach<br />

sie, man hatte Mühe sie zu verstehn, aber was sie sagte<br />

30

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