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Carlo Collodi: Pinocchio - Literaturwissenschaft-online

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Klassiker der Kinderliteratur<br />

1<br />

VI. <strong>Carlo</strong> <strong>Collodi</strong>: <strong>Pinocchio</strong><br />

<strong>Carlo</strong> <strong>Collodi</strong>: <strong>Pinocchio</strong><br />

Am 7. Juli 1881 ist in Rom eine neue Kinderzeitschrift mit dem<br />

Titel Giornale per i bambini erschienen, deren Gründung auf<br />

Ferdinando Martini zurückgeht. Unter den dort veröffentlichten<br />

Texten findet sich der Anfang einer Storia di un burratino<br />

(dt.: Geschichte eines Hampelmanns) von <strong>Carlo</strong> Lorenzini (1826-<br />

1890), der sich ab 1860 als Pseudonym den Namen der Ortschaft<br />

<strong>Collodi</strong> ausersehen hatte. Die Gebrüder Paggi, Florentiner<br />

Verleger und Buchhändler, veranlassten ihn zu einer<br />

italienischen Übersetzung der Contes (dt.: Märchen) des<br />

französischen Schriftstellers Charles Perrault (1628-1703),<br />

die 1875 erschienen ist. <strong>Collodi</strong>, der zu diesem Zeitpunkt<br />

neben Artikeln zu tagespolitischen und kulturellen Fragen<br />

humoristische Texte für Zeitschriften verfasste, war in<br />

Journalistenkreisen eine bekannte Persönlichkeit. Seine<br />

Reisebeschreibungen hängen mit der Rezeption von Laurence<br />

Sterne (1713-1768) in Italien zusammen, machen sich aber<br />

gleichzeitig über die damals herrschende Sterne-Mode lustig.<br />

<strong>Collodi</strong> kam also durch die Perrault-Übersetzung auf den<br />

Gedanken, die humoristische Schreibweise auch in die<br />

Kinderliteratur zu übertragen; für Schulzwecke hatte er<br />

bereits eine Reihe von humoristischen Sachbüchern geschrieben,<br />

die den Bereich der Geografie und den Sprachunterricht<br />

betreffen und mit der Gestalt des Giannettino verbunden sind.<br />

Die >Geschichte eines Hampelmanns< begann er auf Anregung<br />

seines Freundes Guido Biagi, der gleichzeitig zu den<br />

Mitbegründern des Giornale per i bambini gehörte, schriftlich<br />

niederzulegen. <strong>Collodi</strong>s Storia d’un burattino erschien in<br />

Fortsetzungen 1881-1883. Die Veröffentlichung der ersten<br />

Buchausgabe mit Illustrationen (Federzeichnungen) von Enrico<br />

Mazzanti ist auf den Februar des Jahres 1883 datiert. Die<br />

erfolgreichste deutsche Übersetzung von Anton Grumann kam 1913<br />

im Herder-Verlag (Freiburg im Breisgau) heraus. Die<br />

bekannteste Verfilmung des Stoffes ist neben der von E.<br />

Pasquali (1911) die von Walt Disney (1939).


Klassiker der Kinderliteratur<br />

2<br />

VI. <strong>Carlo</strong> <strong>Collodi</strong>: <strong>Pinocchio</strong><br />

Ausschnitt aus der Walt Disney-Verfilmung<br />

Bis zu <strong>Collodi</strong>s Tod im Jahre 1890 erlebte sein <strong>Pinocchio</strong> noch<br />

vier Auflagen in Buchform, deren eine heute nicht mehr<br />

auffindbar ist. <strong>Collodi</strong> hatte zwar als Journalist einen guten<br />

Namen, seine Bücher glichen jedoch lediglich Sammlungen von<br />

Zeitungsartikeln. Dieses Phänomen lässt sich auch am Aufbau<br />

des <strong>Pinocchio</strong> beobachten.<br />

Die <strong>Literaturwissenschaft</strong> hat sich dieses Werkes lange Zeit<br />

wenig angenommen. Erst in den letzten Jahrzehnten schenkte man<br />

ihm vermehrt Beachtung, wie die 1995 in der Prunkreihe I<br />

Meridiani erschienene einbändige Werkausgabe mit einem<br />

Kommentar von Daniella Marcheschi belegt. Dieser Kommentarteil<br />

vermittelt eine vage Vorstellung von der Vielzahl an<br />

Interpretationsversuchen, die <strong>Pinocchio</strong> autoritär oder<br />

antiautoritär auslegen.<br />

Angesichts der komplexen Druckgeschichte ist es nicht<br />

verwunderlich, dass der Text Ungereimtheiten und Widersprüche<br />

enthält, die in der Forschung zu der Diskussion führten, ob es<br />

sich überhaupt um eine einheitliche, in sich geschlossene<br />

Geschichte handelt. Der Forscher Emilio Garroni hat diese<br />

Frage verneint und für eine Zweiteilung des <strong>Pinocchio</strong><br />

(<strong>Pinocchio</strong> I: Kap. 1-15 und <strong>Pinocchio</strong> II: Kap. 15-36)<br />

plädiert.<br />

Im Kontext der philologischen Problematik stellt sich des<br />

Weiteren die Frage nach den Varianten des Textes. In der Tat<br />

hat Ornella Castellani Polidori im Auftrag der Fondazione<br />

<strong>Carlo</strong> <strong>Collodi</strong> (dt.: <strong>Carlo</strong>-<strong>Collodi</strong>-Stiftung) eine kritische


Klassiker der Kinderliteratur<br />

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VI. <strong>Carlo</strong> <strong>Collodi</strong>: <strong>Pinocchio</strong><br />

Ausgabe hergestellt, die nunmehr die Grundlage<br />

wissenschaftlicher Forschung bildet.<br />

Trotz allen Moralisierens ist <strong>Pinocchio</strong> ein respektloses und<br />

gewagtes Buch. Bereits im ersten Kapitel stellt <strong>Pinocchio</strong> als<br />

unbehandelter Holzscheit seine Frechheit unter Beweis, indem<br />

er seinen Schöpfer Geppetto wegen dessen gelber Perücke als<br />

Polendina (nach dem Maisgericht Polenta) beschimpft. Im<br />

Glauben, sein Kollege Ciliegia (dt.: Kirsche, eine Anspielung<br />

auf die >Säufernase< des Schnitzers) habe ihn so gerufen,<br />

zettelt Geppetto eine handfeste Prügelei an. <strong>Collodi</strong> gestaltet<br />

diese Episode als Schwankszene des Volkstheaters, die er den<br />

sprachlichen Klischees der komischen Oper à la Rossini<br />

annähert. Die kritische, ins Komische verzerrte Darstellung<br />

der Welt der Erwachsenen muss vor dem Hintergrund der gängigen<br />

Jugend- und Kinderliteratur des 19. Jahrhunderts als völlig<br />

ungewöhnlich eingestuft werden. Die Welt des Kindes wird<br />

jedoch nicht minder komisch vorgestellt. <strong>Collodi</strong> erlaubt<br />

seinem <strong>Pinocchio</strong> Freiheiten, von denen ungezogene kleine<br />

Kinder vielleicht träumen, die ihnen normalerweise aber<br />

während ihrer Sozialisation abgewöhnt werden. <strong>Pinocchio</strong>s<br />

Widerspenstigkeit, sein Widerstand gegen alle<br />

Disziplinierungsmaßnahmen, seine Arbeitsunwilligkeit, seine<br />

Abneigung gegen Schule und Lernen, sein Freiheitsdrang und<br />

sein impulsives Verhalten sind indes nur die eine Seite des<br />

Charakters, die zu immer neuen Komplikationen und Abenteuern<br />

führt.


Klassiker der Kinderliteratur<br />

4<br />

VI. <strong>Carlo</strong> <strong>Collodi</strong>: <strong>Pinocchio</strong><br />

Illustration – <strong>Pinocchio</strong> mit Fuchs und Katze<br />

Die Geschichte des <strong>Pinocchio</strong> folgt einem sehr einfachen<br />

Schema: Am Anfang steht immer ein Element der Verführung.<br />

Entweder erscheint <strong>Pinocchio</strong> selbst eine Sache als äußerst<br />

begehrenswert oder es malt ihm ein Partner wie z.B. der Fuchs<br />

oder die Katze etwas so aus, dass er es für begehrenswert<br />

hält. Obgleich er sich über die Tragweite seines Handelns im<br />

Klaren ist, tut <strong>Pinocchio</strong> das Falsche, wofür er auch prompt<br />

bestraft wird. Die enge Verbindung von Versuchung, Übertretung<br />

des Verbots und Strafe wird von den Interpreten häufig auf die<br />

katholische Erziehung <strong>Collodi</strong>s zurückgeführt, die sich<br />

besonders in den häufig vorkommenden Szenen des<br />

Schuldbekenntnisses und der Reue erkennen lässt. Derselbe<br />

Mechanismus wiederholt sich bis zum Ende des Textes.<br />

Die Übersetzungsproblematik spiegelt die unterschiedlichen<br />

Tendenzen der Interpretation des ganzen Werkes wider. Die<br />

einen Interpreten halten sich mehr an den durchgehend<br />

moralisierenden Faden, die anderen weisen mit Recht darauf<br />

hin, dass die moralisierende Intrige von der literarischen<br />

Gestaltung des gesamten Handlungsgeschehens weitgehend<br />

überwuchert ist. Die bereits angesprochene Wendung ins<br />

Komische ist eines dieser Verfahren, mittels derer der<br />

Verfasser sich zwar nie vollkommen von der pädagogischen


Klassiker der Kinderliteratur<br />

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VI. <strong>Carlo</strong> <strong>Collodi</strong>: <strong>Pinocchio</strong><br />

Intention löst, sich jedoch über sie erhebt. <strong>Collodi</strong> hat mit<br />

der Komplizenschaft des Lesers gerechnet, wenn er etwa das<br />

sprachliche Ungeschick des Hampelmanns einsetzt, um Strategien<br />

der Selbstverteidigung ins Komische zu lenken und mit<br />

Ungeschicklichkeiten kindlichen Sprechens zu veranschaulichen.<br />

An anderen Stellen des <strong>Pinocchio</strong> greift <strong>Collodi</strong> die Rede- und<br />

Antwortform der Schulbücher auf und parodiert sie. Er benutzt<br />

oft toskanische Varianten des Italienischen, um so die<br />

umgangssprachliche Form des Sprechens in der Toskana<br />

abzubilden. Dieses Spiel mit der toskanischen Umgangssprache<br />

verleiht dem <strong>Pinocchio</strong> für den italienischen Leser zumindest<br />

eine besonders humoristische Note.<br />

Diese fortwährende Wendung ins Komische ist letzten Endes<br />

dafür ausschlaggebend, dass sich <strong>Pinocchio</strong> einer<br />

Klassifizierung als Märchen oder gar als Fabel verweigert.<br />

<strong>Collodi</strong> greift zwar alle typischen Konventionen dieser<br />

Erzählformen auf, distanziert sich aber umso nachhaltiger von<br />

ihnen. Das erklärt wohl auch die breite Wirkung dieses Textes,<br />

die die Figur des <strong>Pinocchio</strong> zu einem bevorzugten Gegenstand<br />

von Künstlern hat werden lassen.


Klassiker der Kinderliteratur<br />

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VI. <strong>Carlo</strong> <strong>Collodi</strong>: <strong>Pinocchio</strong><br />

Longoni, Cassinelli, Fanelli

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