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Bericht (pdf) - Liechtenstein-Institut, Bendern

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gegenseitigen Seelsorge zu führen und die Dominanz angelernten Wissens sowie die konfessionell-theologischen<br />

Streitigkeiten in der Kirche zugunsten der frommen Praxis zu beenden.<br />

Die Hinführung des Menschen zu einer bewussten Bekehrungserfahrung, die ihm die Gewissheit<br />

zu verleihen vermochte, ein wiedergeborener Mensch zu sein, war eines der Hauptanliegen<br />

des Pietismus. Bekehrung und Wiedergeburt folgen einem ganz bestimmten Ablauf -<br />

vom Busskampf über den Entschluss bis zum Bruch mit dem alten Wesen - und werden als<br />

ein Geschenk des Glaubens durch Gott sowie als Beginn eines neuen Lebens gewertet.<br />

Die Wiedergeburt als Voraussetzung einer wahren Gottes-Beziehung entwickelte sich zum<br />

zentralen Ausdruck des pietistischen Selbstverständnisses. Die in der Wiedergeburt-Metapher<br />

enthaltene Analogie zur physischen Geburt und zum Leben kam dem Anspruch entgegen, das<br />

Leben und den Alltag nicht vom Glauben getrennt zu denken und vice versa, sondern den<br />

Glauben als erfahrbares Glaubensleben zu verstehen. Mit der Wiedergeburt eines Menschen<br />

zum Christen wurde der Startpunkt gesetzt für einen das Leben prägenden, tätigen Glauben.<br />

Wiedergeburt und Heiligung gehörten also zusammen, und der Glaube musste sichtbare Folgen<br />

zeigen, wenn er nicht zur Farce werden sollte. Die Akzentsetzung des Pietismus auf Aktivität<br />

und Pragmatik, auf ein entschiedenes und praktisches Christentum, welches nach Ansicht<br />

seiner Vertreter im Gewohnheits-, Kirchgangs- und Maul-Christentum nicht mehr länger<br />

erkennbar war, machte aus den Reformbemühungen ein Dauerunternehmen. Seine Relevanz<br />

stellte der Pietismus von Anfang an über den Rekurs auf die Ethik her. Schon Spener hatte<br />

von wahrem Christentum nur dort sprechen wollen, wo eine spezifisch christliche und eben<br />

nicht bloß bürgerliche oder natürliche Ethik eine Veränderung im Menschen hervorzubringen<br />

vermochte. Wo der “Kopf ins Herz“ gebracht und das Christentum ‘ausgeübt‘ wurde, da sah<br />

er einen lebendigen Glauben, da zeigte sich ihm der Mensch als ein Veränderter, weil Bekehrter<br />

und Wiedergeborener. Der wahre Glaube drückt sich in einem veränderten Verhalten des<br />

Menschen aus.<br />

Um nun die Relevanz des Christentums und die damit in Zusammenhang stehenden Anzeichen<br />

eines wahren Glaubens beim individuellen Menschen zu konkretisieren, praktikabel,<br />

nachvollziehbar und überprüfbar zu machen, wurden bestimmte Kriterien geschaffen, an denen<br />

sich die Einzelnen orientieren konnten bzw. mittels derer sie sich ihres rechtmäßigen<br />

Glaubens vergewissern konnten. Als Zeichen einer Wiedergeburt definierten die pietistischen<br />

Führer folgende Anhaltspunkte: Das unmittelbare Empfinden/Gefühl der göttlichen Gnade<br />

und das Gewahrwerden von Anfechtung, die sich im Gefühl der Gottverlassenheit oder<br />

auch in der Unfähigkeit zum Gebet äußern konnte. Nur wenn also Bekehrung als ein die eigene<br />

Natur überwindendes Ereignis auch tief empfunden wurde, schien ihre Echtheit und ihr<br />

göttlicher Ursprung gegeben. Die Tiefe der Bekehrungserfahrung ermöglicht eine klare Unterscheidung<br />

und Erfahrbarkeit des Lebens eines Menschen ‚unter der Sünde‘. und ‚unter der<br />

Gnade‘. Diese besondere Erfahrung konnte, so war man der Ansicht, am ehesten an der Intensität<br />

der Buße festgemacht werden, was ein Insistieren auf dem Sühneakt zur Folge hatte. Die<br />

Tiefe des Busskampfes entwickelte sich im Verlaufe der Zeit zum allgemeinen Kriterium für<br />

eine wahre Bekehrung, die gewissen Stadien bzw. Stufen zu folgen hatte: die Sündenerkenntnis,<br />

die Erkenntnis der eigenen Ohnmacht und des Zornes Gottes, der sich im Gebet ausdrückende<br />

Erlösungswunsch, das willentliche Ergreifen des Rechtfertigungsangebots und die<br />

fortlauernde Änderung des eigenen Willens. Diese Standardisierungen der Bedingungen und<br />

insbesondere der Anzeichen einer echten Bekehrungserfahrung zeigten sich ab Mitte des 17.<br />

Jahrhunderts auch in den Bekehrungszeugnissen. In ihnen erzählten die Gläubigen von ihrer<br />

Wiedergeburt, die sie als einen zeitlich datierbaren Durchbruch von einem Vorher in ein<br />

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