Phoolan Devi - Laika Verlag
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Bibliothek des Widerstands<br />
<strong>Phoolan</strong> <strong>Devi</strong><br />
Die Rebellin<br />
LAIKA VERLAG
<strong>Phoolan</strong> <strong>Devi</strong><br />
Die Rebellin<br />
LAIKA-<strong>Verlag</strong>
Inhalt<br />
Michaela Karl<br />
<strong>Phoolan</strong> <strong>Devi</strong> – Die Legende einer indischen Sozialrebellin. . . . . . . . . . . . . .9<br />
Hilmar König<br />
<strong>Phoolan</strong> <strong>Devi</strong> – Hunger nach Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .39<br />
Catherine Pawasarat<br />
Das Kastensystem muss verschwinden – es verdirbt alles . . . . . . . . . . . . . 87<br />
Hilmar König<br />
Die Naxaliten: Indiens Guerilla . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101<br />
Annette Schiffmann<br />
Widerstand in Pink – Die Gulabi Gang in Uttar Pradesh. . . . . . . . . . . . . . 151<br />
Filmografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167<br />
Biografisches. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171<br />
Inhalt der DVDs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176<br />
5
<strong>Phoolan</strong> <strong>Devi</strong> im Februar 1983.
Michaela Karl<br />
<strong>Phoolan</strong> <strong>Devi</strong> – Die Legende einer<br />
indischen Sozialrebellin<br />
Die Rache der Sklaven ist schrecklich,<br />
die Rancune der Herren aber unsäglich<br />
Gustav Landauer<br />
Der Bandit ist immer der Held, der Beschützer, der Rächer des<br />
Volkes, der unversöhnliche Feind jedes Staats, ob ein bürgerliches<br />
oder soziales Regime, ein Kämpfer auf Leben und Tod<br />
gegen die Zivilisation von Staat, Aristokratie, Bürokratie und<br />
Klerus« 1 schrieb dereinst Michael Bakunin. So weit wie Bakunin<br />
würden wohl viele nicht gehen und kurzerhand alle Banditen zu Helden erklären.<br />
Allerdings herrscht weitgehende Einigkeit darin, dass es durchaus Banditen<br />
gab, die das Zeug zum Helden hatten. Allen voran natürlich Robin Hood,<br />
der König der Diebe, der Rächer der Witwen und Waisen. Robin Hood ist ein<br />
Mythos, ganz gleich, ob Legendenbildung hierbei eine weitaus größere Rolle<br />
spielt als historische Tatsachen. Mündliche Überlieferungen, Romane und nicht<br />
zuletzt das Kino haben Robin Hood zum Archetypus aller Sozialrebellen werden<br />
lassen. Er gilt als der Prototyp des edlen Räubers, der die Reichen bestiehlt<br />
und den Armen gibt und niemals Gewalt anwendet, außer beim Kampf um die<br />
Freiheit oder aus gerechter Rache. Der unerschrockene Held aus dem Sherwood<br />
Forest wurde zum imaginären Vorreiter aller mutigen Einzelkämpfer aus der<br />
ländlichen Unterschicht, die sich gegen Unrecht, Elend und Unterdrückung zur<br />
Wehr setzten.<br />
9
<strong>Phoolan</strong> <strong>Devi</strong> – Die Rebellin<br />
Räuber finden sich in Europa zwischen dem 18. und dem beginnenden 20. Jahrhundert<br />
en masse. Aus keiner anderen Zeit sind so viele Räuber- und Banditengeschichten<br />
überliefert wie aus diesen Umbruchsjahren, die als Paradezeitalter für Räuber,<br />
Banditen und Sozialrebellen gelten. Überall tauchten damals Gestalten wie der<br />
französische Räuberhauptmann Louis Dominique Cartouche, der Italiener Angelo<br />
Giuseppe Duca oder der Schinderhannes auf, die mit ihren Männern ganze Gegenden<br />
in Angst und Schrecken versetzten und dabei dennoch ob ihrer Waghalsigkeit<br />
gewisse Bewunderung ernteten.<br />
Neben unzähligen kriminellen Banditen gab es immer auch eine andere Art von<br />
Bandit und Räuber: den Sozialrebellen à la Robin Hood. Dieser war ein Bauernbandit,<br />
der ähnlich dem kriminellen Banditen einen Gesetzesbruch beging, in den Augen<br />
einer ländlichen Bevölkerung aber kein Gesetzesbrecher, sondern ein Rebell war.<br />
Sein Wirken war Ausdruck einer spezifischen Form von unorganisiertem, sozialem<br />
Protest und seine Lebensweise wurde als eine Art Stellvertreterkrieg gegen die Obrigkeit<br />
verstanden. Besonders von den sozial Benachteiligten wurde er als Volksheld<br />
bewundert und aktiv unterstützt.<br />
Ebenso wie Räuber in der historischen Forschung lange Zeit kaum thematisiert<br />
wurden, wurde auch das Phänomen des bäuerlichen Sozialbanditen lange vernachlässigt<br />
oder tauchte nur im Zuge der Kriminalitätsforschung auf. Erst der englische<br />
Historiker Eric Hobsbawm interpretierte in den Sechziger Jahren mit einer grundlegenden<br />
Forschungsarbeit unter dem Titel Sozialrebellen das Sozialbanditentum als<br />
eine archaische Form der Sozialbewegung. Mit seinem Buch legte er die erste und bis<br />
heute gültige Definition dieses Phänomens vor:<br />
Das Sozialbanditentum, ein allgemeines und eigentlich gleichbleibendes<br />
Phänomen, ist wenig mehr als ein lokaler und endemischer Protest der Bauern<br />
gegen Unterdrückung und Armut: ein Racheschrei gegen die Reichen<br />
und die Unterdrücker, ein vager Traum, ihnen Schranken zu setzen, eine<br />
Wiedergutmachung persönlichen Unrechts. Seine Ziele sind bescheiden: die<br />
Bewahrung einer traditionellen Welt, in der die Menschen gerecht behandelt<br />
werden, nicht etwa eine neue und vollkommenere. Soziales Banditentum<br />
wird eher epidemisch als endemisch, wenn eine bäuerliche Gesellschaft, die<br />
keine besseren Mittel der Selbstverteidigung kennt, unter Bedingungen einer<br />
außerordentlichen Spannung und Spaltung gerät. Sozialbanditentum hat so<br />
gut wie keine Organisation oder Ideologie und ist völlig außerstande, sich<br />
einer modernen sozialen Bewegung anzupassen. Seine am höchsten entwi-<br />
10
Michaela Karl · <strong>Phoolan</strong> <strong>Devi</strong> – Die Legende einer indischen Sozialrebellin<br />
ckelten Formen, die an nationalen Guerillakrieg grenzen, sind selten und,<br />
auf sich selbst gestellt, unwirksam. 2<br />
Hobsbwam hat zur Untermauerung seiner Thesen das Leben und Wirken verschiedener<br />
Räuber herangezogen, sich dabei allerdings auf Männer beschränkt. Dafür<br />
hatte er gute Gründe. Zwar gab es auch unter Räubern Frauen, doch vielfach<br />
handelte es sich bei ihnen um sogenannte Räuberbräute, die vor allem kriminelle<br />
Hilfsfunktionen übernahmen, also überwiegend als Kundschafterinnen tätig waren<br />
oder als Sackgreiferinnen und Marktdiebinnen für den Unterhalt der Familie<br />
sorgten. Interessanterweise herrschte auch innerhalb der Räuberbanden die gesellschaftlich<br />
vorgelebte Aufgabenteilung zwischen den Geschlechtern vor. Frauen kümmerten<br />
sich vorwiegend um Kinder und Küche, während die Männer auf Beutezug<br />
waren. Zwar gab es vereinzelt auch Frauen, die Anführerinnen von Banden wurden,<br />
dies blieb jedoch ein rares Phänomen.<br />
Noch seltener schafften es diese Frauen, innerhalb der Bevölkerung zu Heldinnen<br />
zu mutieren. Dem Bild des Flintenweibs haftete auch in den Unterschichten ein<br />
negatives Image an. Frauen im Zusammenhang mit verübter Gewalt zu betrachten,<br />
fiel damals so schwer wie heute. Frauen nicht nur als Opfer, sondern auch als Täterinnen<br />
zu sehen, stellte ein fest gefügtes Weltbild auf den Kopf. Männer, die Gewalt<br />
anwenden, können durchaus Helden werden, Frauen, die zur Gewalt greifen, gelten<br />
als fanatisch oder schlicht als verrückt. Radikale Frauen machen seit jeher Angst,<br />
steht das Weibliche doch für die friedlichen Mittel in der Auseinandersetzung. Frauen<br />
sollen dulden oder sich zumindest mit humanen Mitteln wehren – selbst gegen<br />
Inhumanität. Feldzüge für die Gerechtigkeit gesteht die Gesellschaft ihnen nicht zu.<br />
Ein Denkmuster, das erfolgreich verhinderte, dass Frauen als Rebellinnen gesehen<br />
werden konnten. Doch keine Regel ohne Ausnahme. Piratinnen wie Anne Bonny<br />
und Mary Read ernteten für ihren Mut und ihre Waghalsigkeit offene Bewunderung.<br />
Und auch die Frau, von der im Folgenden die Rede sein wird, erlangte weltweite<br />
Bekanntheit als eine Mischung aus Robin Hood und der hinduistischen Rachegöttin<br />
Durga: <strong>Phoolan</strong> <strong>Devi</strong>.<br />
Weit über Indien hinaus wurde die mutige Frau, die sich mit Waffengewalt gegen<br />
die patriarchale Unterdrückung der Frauen wehrte, bekannt. Von frühester Kindheit<br />
an lehnte sie sich gegen das geltende Kastensystem auf und trat unerschrocken für<br />
die Entrechteten ein. Als Erwachsene verbreitete sie Furcht, weil sie das Gewaltmonopol<br />
der Männer durchbrach und sich mit Militanz wehrte. Als Königin der Banditen,<br />
Menschenrechtlerin, Feministin und Politikerin wurde sie weltberühmt. Da-<br />
11
<strong>Phoolan</strong> <strong>Devi</strong> – Die Rebellin<br />
bei hatte sie nichts anderes getan, als sich gegen die fortwährende Erniedrigung zu<br />
wehren, die ihr und anderen Frauen angetan wurde – mit einer Gnadenlosigkeit, die<br />
man einer Frau nicht zugestehen wollte. Was als persönlicher Rachefeldzug begann,<br />
erhielt im Laufe der Zeit unübersehbar eine politische Bedeutung, die <strong>Phoolan</strong> <strong>Devi</strong><br />
zu einer der großen Sozialbanditinnen des 20. Jahrhunderts werden ließ.<br />
Eric Hobsbawm hat das Phänomen des Sozialrebellentums in Europa zeitlich in<br />
den Umbruchsjahren des 19. und 20. Jahrhunderts verankert. In Übergangsphasen,<br />
in denen sich eine traditionelle Gesellschaft langsam auflöst und eine moderne sich<br />
zu entwickeln beginnt, tritt der Idealtypus des Sozialrebellen auf: der an die Scholle<br />
gebundene Bauernbandit, der, verwurzelt in seiner Heimat, einer bäuerlichen Werteordnung<br />
treu bleibt und nicht zuletzt deshalb von der Bevölkerung unterstützt wird.<br />
In Europa ging mit dem endgültigen Ende der »guten alten Zeit« und dem Anbruch<br />
einer neuen Zeit, in welcher der Mensch in den Mittelpunkt des Denkens rückte und<br />
die soziale Frage zum wichtigsten Tagesordnungspunkt der Politik wurde, die Zeit<br />
der klassischen Sozialrebellen zu Ende. Mit dem Eintritt in die Moderne wurden traditionelle<br />
Randgruppen integriert und die Marginalisierung, die sich in den Jahren<br />
der Sozialrebellen noch beobachten ließ, nahm langsam ab. Die Mobilität zwischen<br />
den Schichten wurde größer, die traditionellen Gesellschaftsstrukturen lösten sich<br />
auf und aus einer statischen Gesellschaft wurde eine moderne und dynamische. Mit<br />
der zunehmenden Verstädterung wurde den ländlichen Bauernbanditen der soziale<br />
Nährboden zur Rekrutierung entzogen. Die Kriminalität des 20. Jahrhunderts war<br />
eine städtische Kriminalität und auch der Protest verlagerte sich vorwiegend in die<br />
Städte. Mit der Sicherung der Versorgung aller Bevölkerungsteile und der endgültigen<br />
Zurückdrängung des Massenelends entfiel eine der Hauptursachen des Widerstandes.<br />
Die neue Zeit gab zumindest rein formal allen die gleiche Möglichkeit, sich<br />
gegen erlittenes Unrecht zur Wehr zu setzten. Der Gerechtigkeitsfeldzug von Sozialrebellen<br />
ob der Unmöglichkeit von Satisfaktion erschien überflüssig. Neue Herausforderungen<br />
schufen neue Arten von Rebellen, der klassische Sozialbandit hatte den<br />
Problemen der Moderne nichts entgegenzusetzen und verschwand.<br />
Allerdings gab es auch im späten 20. Jahrhundert Gegenden auf der Welt, in denen<br />
die Menschen unter ähnlichen Bedingungen lebten wie die Menschen in Europa<br />
im Zeitalter der Sozialrebellen. Das Leben von <strong>Phoolan</strong> <strong>Devi</strong> unterschied sich kaum<br />
vom rechtlosen und wehrlosen Leben eines Angehörigen der damaligen ländlichen<br />
Unterschicht. Auch ihr Werdegang weist erstaunliche Parallelen zum Werdegang<br />
klassischer europäischer Sozialrebellen auf. Nach Hobsbawm ist dies keineswegs<br />
verwunderlich: »Die überraschendste Eigenschaft des Sozialbanditentums ist seine<br />
12
Michaela Karl · <strong>Phoolan</strong> <strong>Devi</strong> – Die Legende einer indischen Sozialrebellin<br />
bemerkenswerte Uniformität und Standardisierung.« 3 Das Phänomen Sozialrebell<br />
entwickelt sich stets innerhalb statischer Gesellschaften, in denen die Angehörigen<br />
eines Standes, einer Klasse oder einer Kaste den gleichen Erfahrungen unterworfen<br />
sind. Eine Tatsache, die ganz wesentlich zur Verehrung des Sozialrebellen innerhalb<br />
einer bestimmten Bevölkerungsgruppe beiträgt.<br />
Das Indien, in das <strong>Phoolan</strong> <strong>Devi</strong> hineingeboren wird, ist durch das Kastenwesen<br />
strukturiert. Ein System, das zusätzlich zum Patriarchat weitere Unterdrückungsmechanismen<br />
für Frauen beinhaltet. <strong>Phoolan</strong> gehört zur Kaste der Mallahs, der Fischerund<br />
Bootsleute, einer der niedrigsten Kasten Indiens. Aufgewachsen in ärmlichsten<br />
Verhältnissen sind ihre frühesten Erfahrungen Hunger, Not, Gewalt und Tod; eine<br />
Kindheit, geprägt von harter Arbeit und der frühen Trennung von den Eltern durch<br />
eine erzwungene Ehe. Während es in den Städten zugleich ein anderes, modernes<br />
Indien gibt, bleibt die besitzlose Landbevölkerung von allen Reformen unberührt.<br />
<strong>Phoolan</strong> und ihre Familie sind Teil einer statischen, in sich hierarchisch strukturierten<br />
bäuerlichen Gesellschaft. Die Kaste, der sie angehören, steht an letzter Stelle<br />
in dieser bäuerlichen Hierarchie und sichert ihr Überleben, indem sie gegen einen<br />
Hungerlohn ihre Arbeitskraft an Angehörige der Landbesitzerkaste der Thakurs verkauft.<br />
Eine Situation, die <strong>Phoolan</strong> klaglos akzeptiert, bis sie entdeckt, dass ihr reicher<br />
Nachbar stets genug zu essen hat, während ihre Familie trotz harter Arbeit meist<br />
hungert: »Manchmal kam es mir so vor, als wäre ich immerzu hungrig, und es gab<br />
nie genug zu essen. Ich aß gerne Linsen und Mangos, aber oft hatten wir nur Kartoffeln.<br />
[…] Für ein wenig Weizen oder ein kleines Töpfchen Ghee musste mein Vater<br />
einen ganzen Tag irgendwelche Arbeiten im Haus einer reichen Familie erledigen.« 4<br />
Auch die Kinder müssen arbeiten. <strong>Phoolan</strong> muss dem Dorfoberhaupt den Kopf massieren.<br />
Als sie ihn dabei einmal schüchtern um eine Mango von seinem Baum bittet,<br />
ohrfeigt er sie brutal. Sie weigert sich daraufhin, ihm weiter zu dienen, doch ihr Vater<br />
ist unerbittlich: »Er sagte, es sei unsere Pflicht, ihnen zu dienen. So sei die Welt nun<br />
mal. Wenn wir klaglos täten, was sie verlangten, wenn wir uns verneigten und zum<br />
Zeichen unseres Respekts ihre Füße berührten, dann würden sie uns etwas zu essen<br />
geben. Er sagte, die Welt sei so, weil Gott sie so erschaffen hat.« 5 Dies widerstrebt<br />
<strong>Phoolan</strong>s Gerechtigkeitssinn und so macht sie sich auf die Suche nach Gott, um ein<br />
ernstes Wörtchen mit ihm zu reden:<br />
Ich hatte nur ein Kleid. Und keine Schuhe. Niemand in meiner Familie<br />
besaß Schuhe. Ich konnte nicht verstehen, weshalb wir die Beleidigungen<br />
und Schläge […] erdulden mussten. […] Es war, als hätte ich nicht das Recht,<br />
13
<strong>Phoolan</strong> <strong>Devi</strong> – Die Rebellin<br />
in meinem Dorf zu leben, als wäre meine Familie weniger wert als die Flöhe<br />
eines Hundes. Lag es daran, dass wir Mallahs, arme Leute waren? Deshalb<br />
wollte ich Gott aufsuchen, um ihn das zu fragen. 6<br />
<strong>Phoolan</strong> lebt mit ihren Eltern, den Geschwistern und zwei Kühen in einer<br />
Lehmhütte ohne Fenster und Türen. Außer den Schlafstätten gibt es keine Möbel.<br />
Das Haus ihres Nachbarn hingegen ist groß und herrschaftlich. Als sie erfährt, dass<br />
dieser Mann der Bruder ihres Vaters ist, bekommt ihr Weltbild erneut Risse. Die<br />
allgemein gültige Erklärung, das Schicksal des Einzelnen hinge von der Kastenzugehörigkeit<br />
ab, hatte ihr durchaus eingeleuchtet. Sie hatte gelernt, dass die Thakur im<br />
Ansehen weit über den Mallahs standen und nach ihrem Gutdünken die Geschicke<br />
des Dorfes bestimmten. Nun aber hört sie, dass der reiche Nachbar ein Mallah ist wie<br />
sie. Der reiche Onkel hatte ihren Vater einst um sein Erbe betrogen. In einem langwierigen<br />
Rechtsstreit hatten der Dorfvorsteher und der Onkel gemeinsame Sache<br />
gemacht und den Vater durch einen Trick dazu gebracht, auf sein Erbe zu verzichten.<br />
Eine Geschichte, die den Beginn der immer größer werdenden Distanz zwischen<br />
<strong>Phoolan</strong> <strong>Devi</strong> und dem Gesetz und seinen Vertretern markiert. Schon als kleines<br />
Mädchen erkennt sie, dass hier im Dorf nicht das positive Gesetz gilt, sondern die<br />
Macht in den Händen des Dorfvorstehers, der Landbesitzer und der Geldverleiher<br />
liegt und ihr als armer Angehöriger einer niederen Kaste jegliche Möglichkeit zur<br />
Satisfaktion verweigert wird. Menschen wie sie sind auf Gedeih und Verderb vom<br />
Wohl dieser Männer abhängig. Dass lokale Polizei und Justiz ebenfalls keinen Schutz<br />
bieten, sondern durch und durch korrupt sind, wird sie beizeiten lernen. Selbst der<br />
Dorfrat, im Ursprung eigentlich ein gewähltes basisdemokratisches Gremium, ist<br />
durch das Kastenwesen sinnentleert. Noch kann sie es sich nicht vorstellen, aber einer<br />
Klassenjustiz, welche die Reichen begünstigt und sich nicht um die Belange der<br />
Armen kümmert, wird sie sich bald nicht mehr unterwerfen.<br />
Fürs Erste aber weiß <strong>Phoolan</strong> jetzt, dass es nicht allein die Kastenzugehörigkeit<br />
ist, die sie stigmatisiert, sondern vor allem die Armut. Der Onkel verfügt über<br />
Macht, auch wenn er einer niederen Kaste angehört: »Er führte sich wie ein Thakur<br />
auf, wie jemand, der wichtig war und mächtig, jemand, der Land besitzt und nicht<br />
daran denkt, sich die Hände auf den Feldern schmutzig zu machen. Weil er reich<br />
war, dachte Bihari, er hätte die gleiche Macht wie ein Thakur, aber in Wirklichkeit<br />
war er ein Mallah wie wir.« 7 Wie sehr die Armut sie stigmatisiert, wird <strong>Phoolan</strong> in<br />
den nächsten Jahren immer dann spüren, wenn sie es mit Autoritäten außerhalb ih-<br />
14
Michaela Karl · <strong>Phoolan</strong> <strong>Devi</strong> – Die Legende einer indischen Sozialrebellin<br />
rer Dorfgemeinschaft zu tun hat. Wenn man sie verachtet und offen als ungebildeter<br />
dummer Tölpel verhöhnt. Dabei werden Menschen wie <strong>Phoolan</strong> konsequent jegliche<br />
Bildungschancen verweigert. Dem Zensus nach sind in den Fünfziger Jahren 83,4 %<br />
der Inder Analphabeten. Für die meisten wird dies zur unüberwindbaren Schranke<br />
für den gesellschaftlichen Aufstieg. Gerade Mädchen bleiben lange Zeit von jeglicher<br />
Schulbildung ausgeschlossen. So wie <strong>Phoolan</strong> und ihre Schwestern werden sie<br />
als Arbeitskräfte missbraucht. Die Eltern sehen keinerlei Sinn darin, die Mädchen<br />
zur Schule zu schicken. Ein Priester, der mit den Eltern über den Schulbesuch ihrer<br />
Töchter reden will, wird fortgeschickt:<br />
Mutter […] sagte, wir hätten zu viel zu arbeiten, um lesen und schreiben<br />
zu lernen. Mir wurde mitgeteilt, dass ich nie wieder zur Schule gehen müsste<br />
und auch meine Schwestern nicht. Mein kleiner Bruder Shiv Narayan allerdings<br />
sollte später in die Schule und lesen und rechnen lernen. Meine Mutter<br />
sagte, wir Mädchen bräuchten nichts anderes zu lernen, als Weizen zu zerstampfen,<br />
Chapatis zu machen, Unkraut zu jäten, Getreide zu dreschen, um<br />
damit die Tiere zu füttern, und Wasser vom Brunnen zu holen. 8<br />
Armut, Analphabetentum und vor allem die Tatsache, dass sie eine Frau aus einer<br />
niederen Kaste ist, machen <strong>Phoolan</strong> noch vor ihrem bewussten Schritt in die<br />
Illegalität zur gesellschaftlichen Außenseiterin. Was es konkret bedeutet, eine Frau zu<br />
sein, die einer niederen Kaste angehört, wird sie bald erfahren. Die Situation der indischen<br />
Frau Anfang der Sechziger Jahre ist geprägt von speziellen Formen der Gewalt<br />
gegen Frauen. Mitgiftmorde, Zwang zum Witwenselbstmord, die Tötung weiblicher<br />
Babys, die Nötigung zur Abtreibung bestimmen den Alltag indischer Frauen.<br />
Von frühester Kindheit an erlebt <strong>Phoolan</strong>, dass es falsch ist, ein Mädchen zu sein. Die<br />
Mutter wird nicht müde, über die vielen Töchter zu klagen. Einmal ist die Mutter so<br />
verzweifelt, dass sie sich weigert, ihrem neugeborenen Mädchen die Brust zu geben.<br />
<strong>Phoolan</strong> lernt rasch: »Es war besser, wenn ein Junge aus dem Bauch der Mutter herausplatzte,<br />
weil seine Familie keine Mitgift zahlen musste, wenn er heiratete.« 9 Söhne<br />
bringen Rupien, Töchter sind nur unnütze Esser und sterben deshalb oft vor der Zeit<br />
eines unnatürlichen Todes.<br />
Innerhalb der Dorfgemeinschaft erlebt die Heranwachsende tagtägliches Unrecht<br />
und die Unmöglichkeit, Gerechtigkeit zu erlangen. Sie sieht, wie die Menschen<br />
sich beugen und Unrecht und Ausbeutung widerspruchslos erdulden. Sie blickt in<br />
angsterfüllte Augen und erlebt die Allmacht der Reichen und all derer, die in der<br />
15
<strong>Phoolan</strong> <strong>Devi</strong> – Die Rebellin<br />
Rangordnung über ihr stehen. Die familiäre Auseinandersetzung um einen Baum<br />
ist nur eines von vielen Ereignissen, die sich tief in ihr Gedächtnis einbrennen. Der<br />
Baum steht auf einem kleinen Stück Land, dem einzigen Besitz ihrer Familie. Auch<br />
um dieses Stück Land hatten ihr Vater und sein Bruder jahrelang gestritten. Nachdem<br />
der Onkel verstorben war, hatte sich der Vater mit seinem Neffen Mayadin geeinigt<br />
und die Verfügungsgewalt über Land und Baum erhalten. Als die Not wieder<br />
einmal besonders groß ist, beschließt der Vater den Baum zu fällen, um mit dem<br />
Holzverkauf die Familie zu ernähren. Doch Mayadin kommt ihm zuvor und lässt<br />
den Baum fällen. Ohnmächtig vor Wut stellt sich die kleine <strong>Phoolan</strong> dem Abtransport<br />
entgegen. Die Eltern sind fort, aus dem Dorf hilft ihr niemand:<br />
Der Schmerz, ein Sklave zu sein, weniger zu sein als ein Hund, drehte mir<br />
den Magen um. Ich würgte und wollte mich übergeben. Wir waren arm, und<br />
deshalb waren wir machtlos. Erschöpft setzte ich mich auf die Erde, zu Füßen<br />
von Mayadins Männern in den Staub […] und schluchzte. Die vier Männer<br />
zerrten mich hoch und stießen mich den Weg bis zu unserem Haus vor sich<br />
her. Sie warfen mich in den Hof und verbarrikadierten von außen die Tür.<br />
Aber das machte keinen Unterschied. Ich hatte sowieso keine Kraft mehr. Mit<br />
dem Gesicht auf der harten Erde liegend, konnte ich nicht einmal mehr weinen.<br />
Ich fühlte mein Herz so heftig schlagen, dass ich fürchtete, es könnte in<br />
mir explodieren. Ich hatte getan, was ich konnte, aber ich war allein. 10<br />
Armut, Hunger, Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Gewalt sind der Erfahrungsschatz,<br />
aus dem <strong>Phoolan</strong> von frühester Kindheit an schöpfen kann. Wie bei<br />
allen Sozialrebellen wird das Erlebte zum Nährboden für ein ländliches Widerstandspotential,<br />
das sich aus einer Bevölkerungsschicht rekrutiert, die für die meisten<br />
anderen nur Gesindel und Abschaum ist. Doch weil Menschen, die man derartig<br />
herumstößt, letztlich nichts zu verlieren haben, ist es nur eine Frage der Zeit, bis<br />
Einzelne sich auflehnen. Dann werden auch Verfolgung und Strafe sie nicht aufhalten.<br />
Sozialrebellen sind das Produkt einer gnadenlosen Gesellschaftsordnung, die in<br />
ihrer Arroganz nicht damit rechnet, dass sie ausgerechnet von Angehörigen der Unterschichten<br />
herausgefordert werden wird.<br />
Als <strong>Phoolan</strong> 11 Jahre alt ist, wird sie mit einem über zwanzig Jahre älteren Mann<br />
aus dem Nachbardorf verheiratet. Ein durchaus üblicher Vorgang, in einem durchaus<br />
üblichen Alter. Dass Kinder-Ehen in Indien mit dem Sarda Act 1927 und dem<br />
Hindu Marriage Act 1955 verboten wurden, wird auf dem Land geflissentlich igno-<br />
16
Michaela Karl · <strong>Phoolan</strong> <strong>Devi</strong> – Die Legende einer indischen Sozialrebellin<br />
riert. <strong>Phoolan</strong> übersiedelt ins Haus ihres Mannes, der sie sexuell missbraucht, quält<br />
und schlägt:<br />
Ich war allein, verlassen von Gott. Ständig musste ich mich übergeben.<br />
Selbst ein Schlückchen Wasser erregte Übelkeit, und das Fieber ließ mich<br />
frösteln. Bilder der Qualen, die ich durchlitten hatte, schwammen mir vor<br />
den Augen. Es war unmöglich, sie zu vergessen, und, schlimmer noch, unmöglich,<br />
sie zu begreifen. Ich würde eine Frau werden, ich würde diesem<br />
Mann gehören, und ich müsste in diesem Haus leben, sagten sie mir, aber ich<br />
wollte noch immer wissen, warum. Niemand hatte mir gesagt, wie eine Ehe<br />
sein würde. Ich dachte, ich würde von meinem Ehemann beschützt werden,<br />
ich dachte, er wäre ein zweiter Vater […] 11<br />
Sie flüchtet schließlich vor seiner Brutalität zurück in ihr Dorf, ihre Mitgift verbleibt<br />
bei ihrem Mann. Zu Hause ist man keineswegs erfreut über ihre Rückkehr.<br />
Nicht nur, dass sie mit leeren Händen zurückkehrt, sie hat auch Schande über die<br />
Familie gebracht. Die Nachbarn zeigen mit den Fingern auf sie, noch dazu, nachdem<br />
ihr Mann sie nicht zurück will, sondern seinerseits die Ehe beendet. Nachdem sie sich<br />
erfolgreich einer Wiederverheiratung widersetzt, muss sie auf Beschluss des Dorfrates<br />
ins Haus ihres Cousins Mayadin ziehen. Dort wird sie wie eine Dienerin behandelt<br />
und muss schwer arbeiten. Doch sie widersetzt sich. Die Tatsache, dass sie bei einer<br />
weiteren Auseinandersetzung zwischen Mayadin und ihrem Vater die Argumente des<br />
Vaters vor dem Dorfrat vorbringt, verbessert ihr Verhältnis zueinander keineswegs.<br />
<strong>Phoolan</strong> stellt damit öffentlich seine männliche Autorität in Frage. Auch die übrigen<br />
Dorfbewohner missbilligen ihr Verhalten. Eine Frau, noch dazu mit ihrer Vergangenheit,<br />
sollte besser schweigen. Nachdem sie ins Haus ihrer Familie zurückkehrt, arbeitet<br />
sie hart, um den Eltern nicht zur Last zu fallen. Sie schuftet auf den Feldern und<br />
Baustellen der Thakurs, nur, um mehr als einmal festzustellen, dass der versprochene<br />
Lohn ausbleibt. Irgendwann reicht es ihr. Als man ihr wieder einmal den versprochenen<br />
Wochenlohn verweigert, begehrt sie auf: ohne Rupien kein Haus. Gemeinsam<br />
mit ihrer Schwester zerstört sie alles, was sie in dieser Woche mühsam aufgebaut hat:<br />
In einem schmerzvollen Prozess entdeckte ich Stück für Stück, wie die<br />
Welt aussah, in der ich lebte: die Macht der Männer, die Macht der privilegierten<br />
Kasten und die Macht der Gewalt. […] Aber zu dieser Zeit, als ich<br />
etwa vierzehn, fünfzehn Jahre war und kämpfen musste, um überleben zu<br />
17
<strong>Phoolan</strong> <strong>Devi</strong> – Die Rebellin<br />
können, begann meine Rebellion. Ich war eine Frau, die einer niederen Kaste<br />
angehörte. Konfrontiert mit jenen, die Geld und Macht hatten, setzte ich<br />
jedes Mittel ein, das mir geeignet erschien. Ich ermutigte auch die anderen<br />
Mädchen, die Ernte zu sabotieren, wenn sich jemand weigerte, uns zu bezahlen.<br />
Ich machte den Grundbesitzern klar, dass wir im Schweiße unseres<br />
Angesichts ihre Felder pflügten, düngten, säten und die Ernte einbrachten<br />
und dass sie uns für unsere Mühe und unseren Schweiß bezahlen mussten.<br />
Ich warnte alle, die uns unseren wohlverdienten Lohn vorenthalten wollten,<br />
dass im nächsten Jahr auf ihrem Boden nichts mehr wachsen würde. Mir<br />
war nicht klar, dass ich mir auf diese Weise viele Feinde machte. 12<br />
Zu ihren Feinden gehört bald auch der Sohn des Dorfvorstehers, Sokhchand.<br />
Nachdem sie ihren Mann verlassen hat, gilt <strong>Phoolan</strong> für die Männer des Dorfes als<br />
Freiwild. Als Sokhchand sie sexuell belästigt, gibt sie ihm in aller Öffentlichkeit eine<br />
schallende Ohrfeige. Noch in derselben Nacht dringt er mit Freunden in ihr Haus ein<br />
und vergewaltigt sie vor den Augen ihrer Eltern. Diese sind entsetzt – über <strong>Phoolan</strong>:<br />
»Meine Mutter sah mich an und schüttelte den Kopf: ›Womit habe ich eine solche<br />
Tochter wie dich verdient, <strong>Phoolan</strong>? Warum habe ich dich nur auf die Welt gebracht?<br />
Ich schäme mich so.‹ Vater schloss das Tor sorgfältig ab und sagte ihr, sie solle den<br />
Mund halten. Wir sollten alle den Mund halten, nichts sagen und kein Theater machen.«<br />
13 Doch <strong>Phoolan</strong> denkt nicht daran, zu schweigen. Sie zeigt die Männer an,<br />
mit dem Ergebnis, dass die Dorfgemeinschaft beschließt, sie mit dem nächstbesten<br />
Greis zu verheiraten, um endlich Ruhe vor der renitenten <strong>Phoolan</strong> zu haben. Sie flieht<br />
über den Fluss und findet zunächst bei ihrer Schwester im Nachbardorf Unterschlupf.<br />
Doch als kurz darauf das Haus ihres Cousins Mayadin von Banditen geplündert wird,<br />
beschuldigt der sie der Mittäterschaft. Als ihre Eltern verhaftet werden, kehrt sie zurück,<br />
um die Sache aufzuklären. Sie wird sofort verhaftet. In Untersuchungshaft wird<br />
sie von Polizisten schwer gefoltert und mehrmals vergewaltigt. Die Täter werden nie<br />
zur Rechenschaft gezogen, <strong>Phoolan</strong> wird sie nicht anzeigen, diesmal nicht:<br />
Ich habe nie ein Sterbenswort über das verlauten lassen, was in den drei<br />
Tagen und drei Nächten in der Polizeistation geschehen ist. Ich schämte<br />
mich zu sehr und fühlte mich zu sehr erniedrigt durch das, was diese Männer<br />
mit mir gemacht hatten. Und ich hatte viel zuviel Angst. Sie drohten mir,<br />
sie würden meine ganze Familie verhaften, wenn ich irgendjemandem etwas<br />
sagen würde. 14<br />
18
Michaela Karl · <strong>Phoolan</strong> <strong>Devi</strong> – Die Legende einer indischen Sozialrebellin<br />
Wem soll sie sich auch anvertrauen? Das Wort einer ungebildeten mutmaßlichen<br />
Verbrecherin, die im eigenen Dorf keine Freunde hat, gegen die Aussagen mehrerer<br />
Polizisten. Auf gesetzlichem Wege hat sie keine Chance, und das weiß sie. Sie ist auf<br />
sich selbst gestellt, und so entwickelt sie in dieser Hölle aus Angst, Schrecken und<br />
Erniedrigung ein Gefühl der eigenen Stärke:<br />
Weshalb diese Gewalt und der unbändige Hass auf mich? […] Ich fragte<br />
mich, ob es in mir vielleicht irgendeine geheimnisvolle Kraft gab, die alle<br />
vernichten wollten, eine Kraft, die mich Rache üben ließ, eine Kraft, die mich<br />
dazu trieb, um jeden Preis überleben zu wollen. Ich versuchte, mich selbst<br />
mit dem Gedanken zu trösten, dass es besser war, sich schlagen und demütigen<br />
zu lassen, als still zu leiden wie die Frauen in den Dörfern […]. Ich war<br />
immer noch in Tränen aufgelöst und hatte Angst wie ein kleines Kind. […]<br />
Aber ich war dabei zu lernen, wie man überlebt. Selbst als ich den Wunsch<br />
hatte zu sterben, wusste ich, dass ich überleben würde. 15<br />
Nach weiteren zwanzig Tagen im Gefängnis kommt sie gegen Kaution frei.<br />
Sie kehrt in ihr Dorf zurück, doch dort muss sie erfahren, dass eine vergewaltige<br />
Frau aufgrund der vorherrschenden strengen Sexualmoral ein Stigma trägt, das<br />
sie außerhalb jeglicher Gemeinschaft stellt. Sie gilt als unrein und der Dorfrat presst<br />
der Familie die horrende Summe von Elfhundert Rupien ab, falls <strong>Phoolan</strong> weiterhin<br />
Wasser vom Brunnen holen will.<br />
Über die weiteren Geschehnisse herrscht Unklarheit. Viele sagen, <strong>Phoolan</strong> hätte<br />
dem Druck nicht mehr standgehalten und sei eines Tages einfach verschwunden gewesen.<br />
Sie hätte sich aus freien Stücken den Banditen angeschlossen. <strong>Phoolan</strong> selbst<br />
erzählt später, sie wurde in einer Regennacht von Banditen aus dem Chambal-Tal<br />
verschleppt. Dies ist nichts Ungewöhnliches. Bandenchef Babu Gujar ist berüchtigt<br />
dafür, Mädchen aus den Dörfern zu kidnappen und zu vergewaltigen. Doch diesmal<br />
hat sie Glück im Unglück. Noch ehe es dazu kommt, erschießt Bandenmitglied<br />
Vikram, ein Mallah wie sie, im Juli 1979 den grausamen Bandenchef und übernimmt<br />
die Führung. <strong>Phoolan</strong> wird seine Frau. Damit bricht sie unwiderruflich mit<br />
den herrschenden Moralvorstellungen. Sie lebt nun offen unverheiratet mit einem<br />
Mann zusammen. Die rigide Moral der Dorfgemeinschaft hatte sie Schritt für Schritt<br />
aus ihrer Mitte gedrängt, weil sie nicht bereit war, sich dieser zu unterwerfen. Jetzt<br />
schüttelt sie sie endgültig ab. Sie legt nun auch den Sari ab, schneidet sich die Haare<br />
kürzer und trägt von nun an wie alle Banditen eine Polizeiuniform. Damit tarnen<br />
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<strong>Phoolan</strong> <strong>Devi</strong> – Die Rebellin<br />
sich die Banditen und signalisieren zugleich, wer die Macht im Dschungel darstellt.<br />
Sie vertreten hier das Gesetz – ihr Gesetz. Das patriarchale Indien hatte <strong>Phoolan</strong> als<br />
gefallener Frau nur die Wahl zwischen Selbstmord, Prostitution oder Kriminalität<br />
gelassen. Sie entscheidet sich für Letzteres. Ausgestoßen aus der Gesellschaft der<br />
»Anständigen« bleibt ihr nur der Bruch mit den Normen, um zu überleben. Sie war<br />
stets guten Willens gewesen, hatte bei allem, was geschehen war, nie zur Selbstjustiz<br />
gegriffen, sondern sich vertrauensvoll in die Hände der Gesetzesvertreter begeben.<br />
Mit dem Ergebnis, dass sie beschimpft, verjagt, verhaftet, brutal vergewaltigt und<br />
schließlich Stück für Stück in die Illegalität abgedrängt worden war. Wie bei allen Sozialrebellen<br />
steht auch am Anfang ihrer Karriere keine kriminelle Tat, sondern grobe<br />
Ungerechtigkeit von Seiten des Staates und der Gesellschaft. In späteren Interviews<br />
wird <strong>Phoolan</strong> immer wieder ihren Cousin Mayadin und Sokhchand, den Sohn des<br />
Ortsvorstehers, als zwei der Männer nennen, die maßgeblich zu ihrer Karriere als<br />
Banditin beigetragen haben.<br />
Ein Sozialrebell beginnt sein Leben als Rebell, als Opfer, nicht als Täter. Seine<br />
Aufgabe wird es, für sich und andere Gerechtigkeit einzufordern, Gerechtigkeit, die<br />
ihm und seinesgleichen von Seiten des Staates verweigert wird. Die Mitverantwortung<br />
von Justiz und Gesellschaft für die Entwicklung zum Räuber lässt sich auch im<br />
Fall <strong>Phoolan</strong> <strong>Devi</strong> nicht von der Hand weisen. Die Strafverfolgungsbehörden selbst<br />
bringen die meisten Delinquenten hervor, lassen sie doch den Menschen keine andere<br />
Wahl als die Kriminalität. Dies sieht sie auch an ihren Mitstreitern: »Für die<br />
meisten von ihnen war es nicht das Leben, für das sie sich freiwillig entschieden hatten.<br />
Sie waren in Landstreitigkeiten oder Familienfehden geraten, wie ich in meinen<br />
Kampf mit Mayadin, und sie hatten die Gerechtigkeit, die sie von der Polizei nicht<br />
bekommen konnten, in die eigenen Hände genommen.« 16 Dass <strong>Phoolan</strong> sich ihrem<br />
Schicksal nicht ergibt, sondern sich wehrt, lässt sie in einer Bevölkerungsschicht,<br />
die ähnliche Erfahrungen gemacht hat, unweigerlich zur Heldin werden. Letztlich<br />
ist ihre Karriere als Sozialrebellin untrennbar verbunden mit dem Gefühl der Ohnmacht<br />
des Einzelnen vor Kastenhöheren, Justiz und Behördenvertreten – und der<br />
Ohnmacht der Frauen vor den Männern.<br />
<strong>Phoolan</strong> wird nicht nur die Frau eines Banditen, sondern selbst Banditin. Sie<br />
lernt schießen und ist von nun an nie mehr ohne Waffe anzutreffen. Zum ersten Mal<br />
im Leben erweisen ihr Männer unterschiedlicher Kasten Respekt. Doch die neue<br />
Freiheit ist teuer erkauft. Das Leben in der Schlucht ist hart und entbehrungsreich.<br />
Manchmal gibt es tagelang nichts zu essen. Gewaltmärsche von vierzig Kilometern<br />
am Tag sind die Regel. Wenn der Monsun einsetzt, bieten die dünnen Zeltplanen,<br />
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Michaela Karl · <strong>Phoolan</strong> <strong>Devi</strong> – Die Legende einer indischen Sozialrebellin<br />
unter denen sie hausen, keinen Schutz. Sie frieren, hungern und leiden unter den<br />
kargen Lebensbedingungen. Dennoch ist <strong>Phoolan</strong> zum ersten Mal in ihrem Leben<br />
zufrieden und frei.<br />
In einer ihrer ersten Handlungen als Banditin nimmt <strong>Phoolan</strong> Rache an ihrem<br />
ersten Mann:<br />
Die Männer hatten Putti Lal die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden,<br />
so wie er es einst mit mir gemacht hatte. Die kleine Hure erinnerte<br />
sich jetzt an alles genau, was er getan hatte: Was er mit seinem Messer<br />
anzustellen versuchte, wie er mich quälte und vergewaltigte, wie er seine<br />
Schlange in meine Hand und meinen Mund steckte. Und wie er mich schlug,<br />
als ich vor Angst schrie, und wie er sich mit seinem fetten Körper auf mich<br />
legte, als ich versuchte, von ihm fortzukommen. Jetzt machte ich dasselbe<br />
mit ihm. Zum ersten Mal schlug ich jemanden auf die gleiche Art, wie er<br />
mich geschlagen hatte. 17<br />
Sie hat das Recht nun selbst in die Hand genommen.<br />
Ein halbes Jahr später fällt ihr Name im Zusammenhang mit dem Mord an einem<br />
Mann, der bei <strong>Phoolan</strong>s Verhaftung eine zwielichtige Rolle gespielt hatte. <strong>Phoolan</strong><br />
selbst berichtet in ihren Memoiren, was sie fühlte, als sie ihn erschoss:<br />
Er würde nie wieder jemandem Leid zufügen können, so wie er mir Leid<br />
zugefügt hatte. Es war einfach, und es war schrecklich. […] Vikram heftete<br />
eine Botschaft an den Leichnam, nachdem er sie mir vorgelesen hatte: Polizeihunde,<br />
dies steht auch euch bevor. <strong>Phoolan</strong> <strong>Devi</strong>. Jetzt gab es kein Zurück<br />
mehr. Schon am nächsten Tag setzte die Polizei eine Belohnung auf meinen<br />
Kopf aus. Mich zu stellen kam jetzt nicht mehr in Frage. Sie würden mich<br />
einfach erschießen, sobald sie mich erblickten. Ich war eine Verbrecherin geworden,<br />
so wie die übrigen. Aber was sie ein Verbrechen nannten, nannte ich<br />
Gerechtigkeit. 18<br />
Unbändiger Freiheitsdrang, unbeugsamer Wille und ausgeprägter Gerechtigkeitssinn<br />
sind drei der vorherrschenden Charakterzüge <strong>Phoolan</strong>s. Ihr unbändiger<br />
Freiheitsdrang beherrscht sie lange vor der Räuberkarriere und hat, ebenso wie ihr<br />
Gerechtigkeitsempfinden, zu einem nicht unwesentlichen Teil zu ersten Konflikten<br />
mit gesellschaftlich Höherstehenden beigetragen:<br />
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<strong>Phoolan</strong> <strong>Devi</strong> – Die Rebellin<br />
Die Armen müssen sich tief hinunterbeugen und die Füße der Reichen<br />
berühren. Die Armen essen ein paar Körner Hirse, während die Reichen<br />
Mangos schmausen. Der Schmerz des Hungers im Bauch der Armen erzeugt<br />
Angst und Unterwürfigkeit. Ich versuchte mich zu unterwerfen, wie mein<br />
Vater es gesagt hatte, aber ich konnte es nicht. […] Es war zuviel Wut in mir. 19<br />
Der Versuch, Gerechtigkeit für sich und andere zu erlangen, treibt sie an. Sie<br />
will der Gerechtigkeit zum Durchbruch verhelfen und Unrecht sühnen. Nichts<br />
macht dies deutlicher als die Ereignisse rund um das Dorf Behmai. 1980 begeht die<br />
Vikram-<strong>Phoolan</strong>-Bande einen Raubüberfall, bei dem ein Mitglied der Thakurs zu<br />
Tode kommt. Damit hatten Menschen aus einer niederen Kaste einen Kastenhöheren<br />
getötet. Dies ist ein Bruch mit der sozialen Ordnung, stellt das komplizierte Beziehungsgefüge<br />
der Kasten in Frage. Bereits mit der Übernahme der Bande hatten<br />
<strong>Phoolan</strong> und Vikram öffentlich bekundet, dass sie sich nicht länger dieser Ordnung,<br />
die ihnen ungerecht erschien, unterwerfen würden. Es war zu gewalttätigen Auseinandersetzungen<br />
mit den Thakurs innerhalb der Bande gekommen, die sich nicht von<br />
Mitgliedern einer niederen Kaste befehligen lassen wollten. Diese hatten daraufhin<br />
die Bande verlassen. Seit dieser Zeit steht die Frage von Macht und Ehre im Raum.<br />
Nun fordern die Thakur Blutrache und holen zum Gegenschlag aus. Am 13. August<br />
1980 wird Vikram ermordet und <strong>Phoolan</strong> in das Dorf Behmai verschleppt. Hier wird<br />
sie 22 Tage lang gefangen gehalten. Sie wird aufs Schwerste misshandelt und immer<br />
wieder öffentlich vergewaltigt:<br />
Sie fielen über mich her wie Wölfe. Sie zerrten mich hoch und hoben<br />
mich auf, und ich fiel, und sie zogen mich wieder an den Haaren empor.<br />
Ich sah Dinge, die ich nie werde vergessen können. Ich sah eine Unzahl von<br />
Gesichtern, und ich war nackt vor ihnen. Dämonen kamen in endloser Folge<br />
aus den Feuern der Hölle und vergewaltigten mich. Ich betete zu allen<br />
Göttern und Göttinnen, mir zu helfen, mich leben zu lassen, durch die taufeuchten<br />
Felder laufen und in die Schluchten klettern zu lassen, mich Rache<br />
nehmen […] zu lassen. 20<br />
Trotz dieser unglaublichen Erniedrigung bleibt ihr Überlebenswille erhalten.<br />
Unter Lebensgefahr gelingt ihr schließlich mit Hilfe des Brahmanen die Flucht. Sie<br />
kehrt in den Dschungel zurück und reorganisiert gemeinsam mit ihrem neuen Lebensgefährten<br />
Man Singh Yadav die Bande. Und sie schwört blutige Rache: »In dieser<br />
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Michaela Karl · <strong>Phoolan</strong> <strong>Devi</strong> – Die Legende einer indischen Sozialrebellin<br />
Nacht gelobte ich der Schlange, die jetzt meine Verbündete war, dass ich nicht mehr<br />
länger eine Frau sein würde. Alles, was ich von jetzt an tat, würde ich wie ein Mann<br />
tun. Das Böse hatte mir seinen Stempel aufgedrückt. Ich hatte das Böse der Männer<br />
überlebt, und ich hatte nichts mehr zu verlieren. Ich war stärker als je zuvor.« 21 Statt<br />
sich wie von ihr erwartetet voller Scham zu verkriechen, schlägt sie erneut zurück,<br />
wird nun endgültig zur Rächerin aus verlorener Ehre.<br />
Von Hass und Rache getrieben, gelten ihre Überfälle fast ausschließlich der Kaste<br />
der Thakur. In ihrer Uniform, ein rotes Tuch als Symbol der Rachegöttin Durga um<br />
den Kopf, fällt sie mit ihren Leuten in die Dörfer ein. In der Hand hält sie ein Megafon,<br />
durch das sie, von wüsten Flüchen begleitet, ihre Opfer bekannt gibt. Auf die<br />
Türen der geplünderten Häuser stempelt sie die Inschrift: »<strong>Phoolan</strong> <strong>Devi</strong>, Königin<br />
der Banditen«. Das Geld, das sie bei ihren Raubzügen erbeutet, verteilt sie an die<br />
Armen. Das Bild der laut ins Megafon brüllenden kleinen Frau wird zur Legende.<br />
Bald eilt ihr der Ruf voraus, dass sie sich bei Männern für an Frauen begangene Gewalttaten<br />
rächt:<br />
Wenn eine Mutter ihre Tochter oder ein Mann seine Frau und seine<br />
Schwester schützen wollte, wussten sie, was sie dem Vergewaltiger sagen<br />
mussten: <strong>Phoolan</strong> <strong>Devi</strong> würde ihn bestrafen. Und das tat ich auch. Ich half<br />
den Armen, indem ich ihnen Geld gab, und die Bösen bestrafte ich mit den<br />
gleichen Qualen, die sie anderen zufügten, denn ich wusste, dass die Polizei<br />
nie den Beschwerden der Armen Gehör schenkte. […] In den Dörfern<br />
meiner Gegend, wo es keine Gerechtigkeit außer jener der Lathi gab, wo die<br />
Mallahs die Sklaven der Thakurs waren, übte ich Gerechtigkeit. 22<br />
Bald wird erzählt, sie trenne Verrätern oder Männern, die Frauen misshandelt<br />
haben, die Nase und den Penis ab: »Ich verstümmelte sie. Es war meine Rache und<br />
die Rache aller Frauen.« 23 Sie wird zur Stellvertreterin unzähliger Frauen, die ihr<br />
Schicksal teilen und sich nicht zur Wehr setzen können. Dass sie nicht soziales Ethos,<br />
sondern die nackte Not dereinst in den Dschungel getrieben hat, ist dabei unerheblich.<br />
Denn sie tut etwas schier Ungeheuerliches: Sie schlägt zurück, macht Duldung<br />
und Demut ein Ende. In den Augen ihrer Unterstützer kämpft <strong>Phoolan</strong> nicht für sich<br />
allein, sondern ist auch ihrem eigenen Selbstverständnis nach Repräsentantin einer<br />
armen Landbevölkerung, vor allem aber der unterdrückten Frauen. Das Motiv der<br />
Interessenvertretung kennt ein krimineller Räuber, dessen einziges Motiv die Beute,<br />
also der reine Eigennutz ist, nicht.<br />
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<strong>Phoolan</strong> <strong>Devi</strong> – Die Rebellin<br />
Sozialrebellentum ist ein ländliches Phänomen, seine Protagonisten sind Bauernbanditen,<br />
die im Gegensatz zu kriminellen Banditen unmittelbar aus der Mitte<br />
der ländlichen Bevölkerung stammen. Sie werden fern der großen Städte geboren<br />
und bleiben diesen Gegenden Zeit ihres Lebens verbunden. Auch <strong>Phoolan</strong>s Dorf ist<br />
so abgelegen, dass es lange Zeit auf keiner Landkarte verzeichnet ist. Wenn es kaum<br />
Straßen und nur wenige Fortbewegungsmittel gibt, ist die geografische und mentale<br />
Distanz zwischen Stadt und Land besonders groß. Die Schluchten des Chambal-Tals,<br />
die zu den unwirtlichsten und rauesten Gegenden Indiens gehören, dienen <strong>Phoolan</strong><br />
und ihrer Bande als Rückzugsgebiet. Hier greifen die Gesetze des Staates nicht mehr.<br />
Hier gelten andere Regeln. Hier herrschen die Banditen, leben seit Jahrhunderten<br />
die Geächteten und Vogelfreien. Die unzugänglichen Hügellabyrinthe, welche die<br />
Rebellen wie ihre Westentasche kennen, bestimmen wesentlich ihren Aktionsradius<br />
und bilden die Bühne für ihre Taten. Hier kann nur überleben, wer sich auskennt.<br />
Analysiert man ihre Taten, so stellt man fest, dass <strong>Phoolan</strong> mit ihrer Bande innerhalb<br />
eines bestimmten Gebietes agiert – dem Gebiet, in dem sie aufgewachsen ist, das<br />
sie kennt und in dem man sie kennt. Sozialrebellen verlassen ihren ersten, ihnen<br />
bekannten Wirkungsbereich niemals für lange Zeit, sondern bleiben der Landschaft,<br />
die sie geprägt hat, ihr Leben lang eng verbunden. Kriminelle Banditen sind wesentlich<br />
mobiler und hätten diese ärmlichen Gebiete, in denen es nicht viel zu holen gibt,<br />
sicher rasch verlassen und sich lukrativere Wohngegenden gesucht. Doch Sozialrebellentum<br />
ist ein endemisches Phänomen, was jenseits aller Heimatverbundenheit<br />
ganz pragmatische Gründe hat. Die heimatlichen Gefilde sind der optimale Schutzraum<br />
für die Verfolgten, dies zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass sich <strong>Phoolan</strong> und<br />
ihre Männer so lange ihrer Verhaftung entziehen können. Die zumeist ortsfremden<br />
Verfolger befinden sich hier auf fremdem Terrain. Während sie sich hier nicht zu<br />
bewegen wissen, streifen die Rebellen gleich archaischen Guerilleros scheinbar unsichtbar<br />
durch die Gegend. Die Landschaft bietet ihnen Deckung und ermöglicht<br />
es, die Bewegungen der Verfolger zu beobachten, während sie selbst unentdeckt<br />
bleiben. Die Dorflandschaft Zentralindiens ist das Zuhause, in dem sie sich relativ<br />
frei bewegen können. Die Einsamkeit der Landstriche führt dazu, dass Fremde sehr<br />
schnell als Fremde identifiziert werden. Sobald jemand in diesen Raum eindringt,<br />
läuft ein inoffizielles Warnsystem an, das den Rebellen die Flucht ermöglicht.<br />
Die Abgeschiedenheit der Landschaft stellt aufgrund ihrer schwierigen Topografie<br />
nicht nur die Verfolger vor große Probleme, sondern trägt zur verstärkten Solidarität<br />
der dort lebenden Menschen bei. Menschen, die nahezu ohne Verbindungen<br />
nach außen leben, bilden notgedrungen eine Schicksalsgemeinschaft, zu der auch<br />
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