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Bedeutung der Muttersprache mehrsprachiger Kinder für die

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Jim Cummins, Universität Toronto<br />

Die <strong>Bedeutung</strong> <strong>der</strong> <strong>Muttersprache</strong> <strong>mehrsprachiger</strong> Kin<strong>der</strong> für <strong>die</strong> Schule<br />

Den Begriff Globalisierung findet man heutzutage ständig auf den ersten Seiten <strong>der</strong><br />

Zeitungen. Er erweckt sehr positive o<strong>der</strong> negative Gefühle, je nachdem, ob es sich<br />

um Vertreter <strong>der</strong> Wirtschaft handelt, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Öffnung <strong>der</strong> Weltmärkte für eine Ausweitung<br />

des Handels preisen, o<strong>der</strong> um Personen, <strong>die</strong> den Begriff mit dem dramatisch<br />

wachsenden Ungleichgewicht zwischen reichen und armen Nationen und Menschen<br />

verbinden.<br />

Ein Aspekt <strong>der</strong> Globalisierung, <strong>der</strong> eine wichtige <strong>Bedeutung</strong> für Erzieher hat, ist <strong>die</strong><br />

zunehmende Wan<strong>der</strong>ung von Menschen von einem Land zu einem an<strong>der</strong>en. Diese<br />

Mobilität wird durch viele Faktoren verursacht: <strong>der</strong> Wunsch nach besseren wirtschaftlichen<br />

Bedingungen, <strong>der</strong> Bedarf an Arbeitskräften in vielen Län<strong>der</strong>n mit niedrigen<br />

Geburtenraten, ein ständiger Zustrom von Flüchtlingen als Folge von Gruppenkonflikten,<br />

Unterdrückung einer Gruppe durch eine an<strong>der</strong>e o<strong>der</strong> ökologische Katastrophen.<br />

Die wirtschaftliche Integration innerhalb <strong>der</strong> Europäischen Union för<strong>der</strong>t <strong>die</strong><br />

Wan<strong>der</strong>ung von Arbeitskräften und ihren Familien innerhalb <strong>der</strong> Mitgliedsstaaten. Die<br />

Tatsache, dass Reisen zwischen verschiedenen Län<strong>der</strong>n heute schnell und zuverlässig<br />

erfolgen (meistens jedenfalls), erleichtert natürlich <strong>die</strong>se Mobilität.<br />

Eine Folge <strong>die</strong>ser Mobilität ist <strong>die</strong> sprachliche, kulturelle, „rassische“ und religiöse<br />

Vielfalt innerhalb <strong>der</strong> Schulen. So kommen in <strong>der</strong> kanadischen Stadt Toronto 58%<br />

aller Kin<strong>der</strong>gartenkin<strong>der</strong> aus Familien, in denen das Standardenglisch nicht <strong>die</strong> normale<br />

Kommunikationssprache ist. Schulen in Europa und Nordamerika kennen <strong>die</strong>se<br />

Vielfalt seit vielen Jahren, aber sie bleibt eine Streitfrage, und es gibt große Unterschiede<br />

in <strong>der</strong> Bildungspolitik und <strong>der</strong> Praxis zwischen den verschiedenen Län<strong>der</strong>n<br />

und sogar innerhalb <strong>der</strong> einzelnen Län<strong>der</strong>. Neofaschistische Gruppen propagieren in<br />

zahlreichen Län<strong>der</strong>n eine offen rassistische Politik gegenüber den Migranten und<br />

Gruppen mit an<strong>der</strong>en Kulturen. An<strong>der</strong>e politische Parteien und Gruppen verfügen<br />

über eine etwas aufgeklärtere Orientierung und suchen nach Wegen, um das „Problem“<br />

<strong>der</strong> unterschiedlichen Communities und ihre Integration in Schule und Gesellschaft<br />

zu lösen. Aber sie definieren <strong>die</strong> Existenz unterschiedlicher Communities immer<br />

noch als „Problem“ und sehen wenige Vorteile für <strong>die</strong> Mehrheitsgesellschaft. Sie<br />

sind beunruhigt darüber, dass <strong>die</strong> sprachliche, kulturelle, „rassische“ und religiöse<br />

Vielfalt <strong>die</strong> Identität <strong>der</strong> Mehrheitsgesellschaft bedroht. Deshalb verfolgen sie eine<br />

Schulpolitik, <strong>die</strong> das „Problem“ verschwinden lassen soll.<br />

Während neofaschistische Gruppen <strong>die</strong> Vertreibung <strong>der</strong> Migranten o<strong>der</strong> zumindest<br />

ihren Ausschluss aus <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> Gesellschaft verlangen (z.B. in separierte Schulen<br />

und Wohnviertel), for<strong>der</strong>n liberalere Gruppen <strong>die</strong> Assimilation in <strong>die</strong> bestehende<br />

Gesellschaft. Aber Assimilation ist in vielerlei Hinsicht <strong>der</strong> Separierung ähnlich, weil<br />

beide Orientierungen das „Problem“ verschwinden lassen wollen. Unter beiden Bedingungen<br />

werden kulturell unterschiedliche Gruppen nicht länger zu sehen und zu<br />

hören sein. Eine Politik mit dem Ziel <strong>der</strong> Assimilation entmutigt <strong>die</strong> Schülerinnen und<br />

Schüler ihre <strong>Muttersprache</strong>n beizubehalten. Wenn sie dagegen an ihrer Kultur und<br />

Sprache festhalten, gelten sie als weniger geeignet sich mit <strong>der</strong> Mehrheitskultur zu<br />

identifizieren und <strong>die</strong> jeweilige Landessprache zu lernen.<br />

1


Schülerinnen und Schüler werden heute nicht mehr physisch bestraft, wenn sie in<br />

<strong>der</strong> Schule ihre <strong>Muttersprache</strong> sprechen (was früher in vielen Län<strong>der</strong>n durchaus geschah).<br />

Aber es wird ihnen eine klare Botschaft vermittelt: Wenn sie von den Lehrern<br />

und <strong>der</strong> Gesellschaft akzeptiert werden wollen, müssen sie sich von ihrer Herkunftssprache<br />

und –kultur abwenden.<br />

Diese Art <strong>der</strong> „Problemlösung“ für <strong>die</strong> Vielfalt in <strong>der</strong> Ausbildung herrscht in den meisten<br />

Län<strong>der</strong>n Europas und Nordamerikas immer noch vor. Unglücklicherweise kann<br />

sie verhängnisvolle Folgen für <strong>die</strong> Kin<strong>der</strong> und ihre Familien haben. Sie verletzt das<br />

Recht <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> auf eine angemessene Bildung und unterhöhlt <strong>die</strong> Kommunikation<br />

zwischen den Kin<strong>der</strong>n und ihren Eltern. Je<strong>der</strong> einigermaßen glaubwürdige Erzieher<br />

wird zustimmen, dass Schule auf den Erfahrungen und Kenntnissen aufbauen sollte,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> Kin<strong>der</strong> in <strong>die</strong> Klasse mitbringen, und dass <strong>der</strong> Unterricht <strong>die</strong> Fähigkeiten und<br />

Talente <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> för<strong>der</strong>n sollte. Wenn wir bewusst o<strong>der</strong> unbewusst <strong>die</strong> Sprache <strong>der</strong><br />

Kin<strong>der</strong> zerstören und ihre Beziehungen zu den Eltern und Großeltern zerbrechen,<br />

wi<strong>der</strong>sprechen wir dem eigentlichen Kern von Erziehung.<br />

Die Zerstörung von Sprache und Kultur in den Schulen ist zugleich höchst kontraproduktiv<br />

für <strong>die</strong> Mehrheitsgesellschaften. In den Zeiten <strong>der</strong> Globalisierung ist eine Gesellschaft,<br />

<strong>die</strong> über mehrsprachige und multikulturelle Fähigkeiten verfügt, beson<strong>der</strong>s<br />

befähigt, eine wichtige soziale und wirtschaftliche Rolle auf internationaler Ebene zu<br />

spielen. Zu einer Zeit, wo <strong>die</strong> Kontakte zwischen den Kulturen auf dem höchsten<br />

Stand <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Menschheit sind, entwickeln sich <strong>die</strong> Identitäten aller Gesellschaften.<br />

Die Identitäten von Gesellschaften und ethnischen Gruppen waren niemals<br />

statisch. Es ist eine naive Illusion zu glauben, sie könnten gleichsam zu starren,<br />

einfarbigen und einsprachigen Ausstellungsstücken in einem Museum für <strong>die</strong> Nachwelt<br />

werden – in einer Zeit, in <strong>der</strong> das Tempo globalen Wandels so rasch ist wie heute.<br />

Die Herausfor<strong>der</strong>ung für Erzieher und maßgebende Politiker besteht darin, <strong>die</strong> Entwicklung<br />

von nationaler Identität so zu gestalten, dass <strong>die</strong> Rechte aller Bürger (auch<br />

<strong>der</strong> Schulkin<strong>der</strong>) respektiert und <strong>die</strong> kulturellen, sprachlichen und wirtschaftlichen<br />

Fähigkeiten einer Nation maximal entwickelt werden. Die Verschwendung von<br />

sprachlichen Potenzen einer Nation durch <strong>die</strong> Entmutigung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>, ihre eigene<br />

<strong>Muttersprache</strong> zu entwickeln, ist unter dem Blickwinkel <strong>der</strong> nationalen Eigeninteressen<br />

schlicht unintelligent. Zudem bedeutet sie eine Verletzung <strong>der</strong> Rechte <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong><br />

(vgl. Skutnabb-Kangas 2000, mit einem breiteren Überblick über <strong>die</strong> internationale<br />

Politik und <strong>die</strong> Praxis in Bezug auf das Menschenrecht auf Sprache).<br />

Wie sieht eine angemessene Erziehung für sprachlich und kulturell heterogene Klassen<br />

aus? Zunächst sollte man zur Kenntnis nehmen, was <strong>die</strong> Forschung über <strong>die</strong><br />

Rolle von Sprache, insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> <strong>Muttersprache</strong>n in <strong>der</strong> schulischen Entwicklung<br />

<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> sagt.<br />

Was wir über <strong>die</strong> Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Muttersprache</strong> wissen<br />

In <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> <strong>Bedeutung</strong> <strong>der</strong> <strong>Muttersprache</strong> für <strong>die</strong> gesamte persönliche und<br />

schulische Entwicklung zweisprachiger Kin<strong>der</strong> ist <strong>die</strong> Forschungslage ziemlich eindeutig.<br />

Eine detailliertere Zusammenfassung <strong>der</strong> Forschungsergebnisse, <strong>die</strong> hier<br />

kurz dargestellt werden, kann man bei Baker 2000, Cummins 2000 und Skutnabb-<br />

Kangas 2000 finden.<br />

2


Die Zweisprachigkeit hat positive Auswirkungen auf <strong>die</strong> sprachliche und Lernentwicklung<br />

<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>. Wenn Kin<strong>der</strong> ihre Fähigkeiten in zwei o<strong>der</strong> mehr Sprachen<br />

während <strong>der</strong> Grundschulzeit weiterentwickeln, gewinnen sie ein tieferes Verständnis<br />

von Sprache und lernen, wie man sie effektiv verwendet. Sie verfügen über mehr<br />

Erfahrung darin, ihre Sprache zu verbessern, vor allem wenn sie in beiden <strong>die</strong><br />

Schriftsprache lernen. Sie können durch den kontrastiven Vergleich erkennen, wie<br />

ihre beiden Sprachen Wirklichkeit organisieren. Mehr als 150 Untersuchungen aus<br />

den vergangenen 35 Jahren belegen sehr deutlich, was <strong>der</strong> deutsche Philosoph<br />

Goethe einmal sagte: Eine Person, <strong>die</strong> nur eine Sprache kann, kennt <strong>die</strong>se Sprache<br />

nicht wirklich. Die Forschung legt nahe, dass bilinguale Kin<strong>der</strong> im Denken flexibler<br />

werden, weil sie Informationen in zwei Sprachen verarbeiten.<br />

Das Sprachniveau in <strong>der</strong> <strong>Muttersprache</strong> lässt <strong>die</strong> Entwicklung in <strong>der</strong> Zweitsprache<br />

voraussagen. Kin<strong>der</strong>, <strong>die</strong> mit einer soliden Grundlage in ihrer <strong>Muttersprache</strong> in<br />

<strong>die</strong> Schule kommen, entwickeln höhere sprachliche Kompetenzen in <strong>der</strong> Schulsprache.<br />

Wenn <strong>die</strong> Eltern und an<strong>der</strong>e Bezugspersonen, z.B. <strong>die</strong> Großeltern, Zeit mit ihren<br />

Kin<strong>der</strong>n verbringen können, ihnen Geschichten erzählen und mit ihnen Probleme<br />

besprechen, sodass sie den Wortschatz und <strong>die</strong> Begriffsbildung in ihrer <strong>Muttersprache</strong><br />

verbessern, kommen <strong>die</strong> Kin<strong>der</strong> gut vorbereitet in <strong>die</strong> Schule, um <strong>die</strong> Schulsprache<br />

zu lernen und schulischen Erfolg zu haben. Wissen und Fähigkeiten <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong><br />

können zwischen den Sprachen transferiert werden, von <strong>der</strong> zu Hause gelernten<br />

<strong>Muttersprache</strong> in <strong>die</strong> Schulsprache. Wenn man <strong>die</strong> Entwicklung <strong>der</strong> Begriffe und<br />

Denkfähigkeit <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> betrachtet, so sind ihre beiden Sprachen wechselseitig miteinan<strong>der</strong><br />

verknüpft. Der Transfer zwischen den Sprache kann in beide Richtungen<br />

gehen: Wenn <strong>die</strong> <strong>Muttersprache</strong> <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> geför<strong>der</strong>t wird, etwa in einem zweisprachigen<br />

Programm, dann können Begriffe, Sprache und Lesekompetenzen, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Kin<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Mehrheitssprache lernen, auf <strong>die</strong> <strong>Muttersprache</strong> transferiert werden.<br />

Kurz gesagt, beide Sprachen befruchten einan<strong>der</strong>, wenn <strong>die</strong> Schule den Kin<strong>der</strong>n den<br />

Zugang zu beiden Sprachen ermöglicht.<br />

Die För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> <strong>Muttersprache</strong> in <strong>der</strong> Schule hilft den Kin<strong>der</strong>n nicht nur bei<br />

<strong>der</strong> Verbesserung <strong>der</strong> <strong>Muttersprache</strong>, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Mehrheitssprache.<br />

Dieser Befund überrascht nicht nach den zuvor benannten Forschungsergebnissen,<br />

dass (a) <strong>die</strong> Zweisprachigkeit den Kin<strong>der</strong>n sprachliche Vorteile bringt und b) <strong>die</strong> Fähigkeiten<br />

in beiden Sprachen eng miteinan<strong>der</strong> verbunden sind. Zweisprachige Kin<strong>der</strong><br />

schneiden in <strong>der</strong> Schule besser ab, wenn <strong>die</strong> Schule wirkungsvoll <strong>die</strong> <strong>Muttersprache</strong><br />

unterrichtet und in geeigneter Weise <strong>die</strong> Lesefähigkeit in <strong>die</strong>ser Sprache entwickelt.<br />

Wenn Kin<strong>der</strong> dagegen angehalten werden, ihre <strong>Muttersprache</strong> zurückzuweisen und<br />

ihre Entwicklung deshalb stagniert, wird ihre persönliche und begriffliche Grundlage<br />

für das Lernen untergraben.<br />

Zeit für Muttersprachlichen Unterricht behin<strong>der</strong>t nicht <strong>die</strong> Entwicklung von<br />

Sprache als Werkzeug des Denkens (CALP) in <strong>der</strong> Mehrheitssprache. Einige<br />

Lehrkräfte und Eltern halten zweisprachige Erziehung o<strong>der</strong> Unterricht in <strong>der</strong> <strong>Muttersprache</strong><br />

für problematisch. Sie fürchten, dass <strong>die</strong> Programme Zeit wegnehmen für<br />

das Erlernen <strong>der</strong> Mehrheitssprache. Ein Beispiel: Wenn in einem bilingualen Programm<br />

50% des Unterrichts in <strong>der</strong> <strong>Muttersprache</strong> und 50% in <strong>der</strong> Herkunftssprache<br />

ablaufen, muss dann nicht das Erlernen <strong>der</strong> Zweitsprache darunter leiden? Eine <strong>der</strong><br />

sichersten Erkenntnisse aus <strong>der</strong> internationalen Forschung besagt, dass gut implementierte<br />

bilinguale Programme <strong>die</strong> sprachlichen und fachlichen Kenntnisse in einer<br />

3


Min<strong>der</strong>heitensprache ohne jeden negativen Effekt auf <strong>die</strong> Entwicklung <strong>der</strong> Mehrheitssprache<br />

för<strong>der</strong>n. In Europa werden in dem belgischen Programm Foyer in <strong>der</strong><br />

Grundschule <strong>die</strong> mündlichen und schriftlichen Fähigkeiten in drei Sprachen geför<strong>der</strong>t<br />

(<strong>Muttersprache</strong>, Nie<strong>der</strong>ländisch und Französisch), hier zeigen sich sehr deutlich <strong>die</strong><br />

Vorteile zweisprachiger und dreisprachiger Erziehung.<br />

Wir können mit Hilfe <strong>der</strong> oben benannten Forschungsergebnisse verstehen, warum<br />

<strong>die</strong>s möglich ist. Wenn Kin<strong>der</strong> in einer Min<strong>der</strong>heitensprache lernen (z.B. ihrer <strong>Muttersprache</strong>),<br />

dann lernen sie nicht nur <strong>die</strong>se Sprache in einem engeren Sinne. Sie lernen<br />

zugleich Begriffe und intellektuelle Fähigkeiten, <strong>die</strong> sie auch für <strong>die</strong> Mehrheitssprache<br />

verwenden können. Schüler, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Uhrzeit in ihrer <strong>Muttersprache</strong> sagen<br />

können, verstehen das Konzept <strong>der</strong> Uhr. Sie brauchen <strong>die</strong>ses Konzept in ihrer zweiten<br />

Sprache, z.B. <strong>der</strong> Mehrheitssprache, nicht neu zu lernen. Sie benötigen nur neue<br />

Etikette o<strong>der</strong> „Oberflächenstrukturen“ für eine intellektuelle Fähigkeit, <strong>die</strong> sie bereits<br />

erlernt haben. Auch auf höherem Sprachniveau gibt es einen Transfer zwischen den<br />

Sprachen bei akademischen Fähigkeiten o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Lesekompetenz: in einem Textausschnitt<br />

o<strong>der</strong> in einer Geschichte unterscheiden können zwischen dem Hauptgedanken<br />

und unterstützenden Details, Ursache und Wirkung benennen können, zwischen<br />

Tatsache und Meinung unterscheiden und eine Ereignisabfolge in einer Geschichte<br />

o<strong>der</strong> einem historischen Bericht herausarbeiten.<br />

Die <strong>Muttersprache</strong> <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> ist verwundbar und kann leicht in den ersten<br />

Schuljahren verloren gehen. Viele Leute wun<strong>der</strong>n sich darüber, wie rasch zweisprachige<br />

Kin<strong>der</strong> in den ersten Schuljahren Fähigkeiten in <strong>der</strong> Alltagskommunikation<br />

<strong>der</strong> Mehrheitssprache aufschnappen (allerdings brauchen sie viel länger, um <strong>die</strong><br />

Muttersprachler beim Gebrauch <strong>der</strong> Sprache als Werkzeug des Denkens CALP einzuholen).<br />

Erzieher sind sich aber oft viel weniger darüber im klaren, wie rasch Kin<strong>der</strong><br />

ihre Fähigkeiten in <strong>der</strong> <strong>Muttersprache</strong> verlieren können, sogar im häuslichen Bereich.<br />

Ausmaß und Geschwindigkeit des Sprachverlustes hängen von <strong>der</strong> Konzentration<br />

einer bestimmten Sprachengruppe in Schule und Nachbarschaft ab. Dort, wo <strong>die</strong><br />

<strong>Muttersprache</strong> außerhalb <strong>der</strong> Schule in <strong>der</strong> Community oft benutzt wird, ist <strong>der</strong><br />

Sprachverlust bei den Kin<strong>der</strong>n geringer. Wenn aber <strong>die</strong> Sprachengruppe nicht innerhalb<br />

eines Viertels konzentriert o<strong>der</strong> ghettoisiert ist, können Kin<strong>der</strong> ihre kommunikativen<br />

Fähigkeiten in <strong>der</strong> <strong>Muttersprache</strong> innerhalb <strong>der</strong> ersten 2 bis 3 Schuljahre verlieren.<br />

Sie mögen rezeptive Fähigkeiten in <strong>der</strong> Sprache behalten, aber sie werden <strong>die</strong><br />

Mehrheitssprache im Gespräch mit Gleichaltrigen und Geschwistern und für ihre<br />

Antworten gegenüber den Eltern benutzen. Wenn <strong>die</strong> Kin<strong>der</strong> dann heranwachsen,<br />

wird <strong>der</strong> sprachliche Graben zwischen Eltern und Kin<strong>der</strong>n auch zu einer emotionalen<br />

Kluft. Die Schülerinnen und Schüler werden von beiden Kulturen entfremdet, zu<br />

Hause und in <strong>der</strong> Schule. Die Folgen sind voraussehbar.<br />

Um den Sprachverlust zu begrenzen, sollten <strong>die</strong> Eltern klare Regeln für den häuslichen<br />

Sprachgebrauch aufstellen und ihren Kin<strong>der</strong>n vielfache Möglichkeiten schaffen<br />

<strong>die</strong> Funktionen zu erweitern, für <strong>die</strong> sie <strong>die</strong> <strong>Muttersprache</strong> benutzen (z.B. lesen und<br />

schreiben) und <strong>die</strong> Gelegenheiten, in denen sie <strong>die</strong> <strong>Muttersprache</strong> benutzen können<br />

(z.B. Tag <strong>der</strong> <strong>Muttersprache</strong> o<strong>der</strong> Besuch von Spielgruppen, Besuche im Herkunftsland<br />

usw.)<br />

Auch <strong>die</strong> Lehrkräfte können <strong>die</strong> Kin<strong>der</strong>n dabei unterstützen ihre <strong>Muttersprache</strong> zu<br />

erhalten und auszubauen. Sie sollten ihnen den Wert zusätzlicher Sprachkenntnisse<br />

deutlich machen und ihnen vermitteln, dass Bilingualismus eine wichtige sprachliche<br />

4


und intellektuelle Fähigkeit ist. So können sie Unterrichtsprojekte initiieren, <strong>die</strong> sich a)<br />

mit <strong>der</strong> Sprachwahrnehmung (language awareness) <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> beschäftigen (z.B.<br />

<strong>die</strong> Mehrsprachigkeit <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Klasse vorzustellen und sie positiv zu beurteilen)<br />

und b) Anteil nehmen an den Sprachen, <strong>die</strong> in <strong>der</strong> Klasse gesprochen werden<br />

(z.B. jeden Tag trägt ein Kind ein wichtiges Wort aus seiner <strong>Muttersprache</strong> vor, und<br />

<strong>die</strong> gesamte Klasse, auch <strong>die</strong> Lehrkräfte, lernen das Wort und sprechen darüber.)<br />

Wenn man <strong>die</strong> Sprache eines Kindes in <strong>der</strong> Schule nicht beachtet, dann beachtet<br />

man das Kind nicht. Wenn den Kin<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> Schule explizit o<strong>der</strong> implizit <strong>die</strong><br />

Botschaft vermittelt wird „Lass deine Sprache und Kultur vor dem Schultor!“, lassen<br />

<strong>die</strong> Kin<strong>der</strong> auch einen wesentlichen Teil dessen, was sie sind, ihre Identität, vor dem<br />

Schultor. Wenn sie <strong>die</strong>se Zurückweisung spüren, werden sie sehr wahrscheinlich<br />

weniger aktiv und vertrauensvoll am Unterricht teilnehmen. Es reicht nicht aus, wenn<br />

<strong>die</strong> Lehrkräfte passiv <strong>die</strong> sprachliche und kulturelle Vielfalt <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Schule<br />

dulden. Sie müssen aktiv <strong>die</strong> Initiative ergreifen und <strong>die</strong> sprachliche Identität <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong><br />

stärken durch das Aufhängen von Plakaten in den verschiedenen Sprachen <strong>der</strong><br />

Communities rund um <strong>die</strong> Schule, durch <strong>die</strong> Ermutigung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> zusätzlich zur<br />

Schulsprache auch in ihrer Herkunftssprache zu schreiben (z.B. können <strong>die</strong> Kin<strong>der</strong><br />

ein zweisprachiges Buch schreiben und in <strong>der</strong> Öffentlichkeit vorstellen) und ganz allgemein<br />

durch <strong>die</strong> Schaffung eines Unterrichtsklimas, in dem <strong>die</strong> sprachlichen und<br />

kulturellen Erfahrungen des gesamten Kindes aktiv unterstützt und wertgeschätzt<br />

werden.<br />

Eine dynamische Identität für <strong>die</strong> Zukunft schaffen<br />

Wenn <strong>die</strong> Lehrkräfte in <strong>der</strong> Schule ein Sprachenprogramm erarbeiten und ein Curriculum<br />

und einen Unterricht entwickeln, <strong>die</strong> das sprachliche und kulturelle Kapital <strong>der</strong><br />

Kin<strong>der</strong> und <strong>der</strong> Communities in <strong>der</strong> gesamten schulischen Kommunikation stärken,<br />

dann stellt sich <strong>die</strong> Schule gegen <strong>die</strong> negativen Einstellungen und <strong>die</strong> Ignoranz, <strong>die</strong><br />

es in <strong>der</strong> gesamten Gesellschaft gegenüber <strong>der</strong> multikulturellen Realität gibt. Wenn<br />

Schule gegen <strong>die</strong> herrschende Machtverteilung vorgeht, dann hält sie den zweisprachigen<br />

Kin<strong>der</strong>n einen positiven und bestätigenden Spiegel vor, <strong>der</strong> ihnen zeigt, wer<br />

sie sind und wer sie innerhalb ihrer Gesellschaften werden können. Mehrsprachige<br />

Kin<strong>der</strong> müssen einen wesentlichen Beitrag leisten für ihre Gesellschaften und <strong>die</strong><br />

internationale, globale Gemeinschaft, wenn nur wir Lehrer das verwirklichen, was<br />

nach unserer Meinung für alle Kin<strong>der</strong> gilt:<br />

- <strong>die</strong> häuslichen kulturellen und sprachlichen Erfahrungen sind <strong>die</strong> Grundlage<br />

für ihr zukünftiges Lernen, wir müssen eher darauf aufbauen anstatt sie zu untergraben;<br />

- jedes Kind hat ein Recht darauf, dass seine Talente in <strong>der</strong> Schule anerkannt<br />

und geför<strong>der</strong>t werden.<br />

Kurz gesagt, das kulturelle, sprachliche und intellektuelle Kapital unserer Gesellschaften<br />

wird dramatisch wachsen, wenn wir damit aufhören, <strong>die</strong> kulturelle und<br />

sprachliche Verschiedenheit <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> als ein Problem anzusehen, das man lösen<br />

muss. Statt dessen sollten wir unsere Augen für <strong>die</strong> sprachlichen, kulturellen und intellektuellen<br />

Fähigkeiten öffnen, <strong>die</strong> sie von zu Hause in unsere Schulen und Gesellschaften<br />

mitbringen.<br />

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Literatur<br />

Baker, C (2000): A parentsû and teachersû guide to bilingualism. 2 nd Edition, Clevedon,<br />

England: Multilingual Matters<br />

Cummins, J. (2000): Language, power, and pedagogy. Bilingual children in the crossfire,<br />

Clivedon, England: Multilingual Matters<br />

Skutnabb-Kangas, T. (2000): Linguistic genocide in education – or worldwide diversity<br />

and human rights?, Mahwah, NJ, Lawrence Erlbaum Associates<br />

Jim Cummins arbeitet seit 1996 als Professor am Mo<strong>der</strong>n Language Centre, Department of Curriculum,<br />

Teaching and Learning an <strong>der</strong> Universität Toronto. Er gilt weltweit als einer <strong>der</strong> wichtigsten<br />

Mehrsprachigkeitsforscher.<br />

Weitere Informationen kann man auf seiner Website nachlesen: www.iteachilearn.com/cummins/<br />

Übersetzung: T. Jaitner<br />

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