BRENNPUNKT ARZNEI - KV Hamburg
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<strong>BRENNPUNKT</strong> <strong>ARZNEI</strong><br />
Jhrg. 13, Nr. 2 – Juni 2008<br />
<br />
<br />
Wer das HbA 1c zu stark senkt,<br />
gefährdet seine Patienten<br />
Etliche Diabetologen empfehlen ein HbA 1c unter sieben Prozent. Das entspricht dem<br />
Wert, den die strikt eingestellten Diabetiker in der so genannten ACCORD-Studie<br />
erreichten. In der Praxis kommen die meisten Diabetiker aber nur auf sieben bis acht<br />
Prozent HbA 1c . In diesem Bereich lagen auch die Diabetiker in der ACCORD-Studie,<br />
die nicht so streng eingestellt worden waren. Jetzt wurde dieser Teil der Studie<br />
abgebrochen, weil gerade die Patienten mit „besonders gut“ eingestelltem HbA 1c<br />
häufiger gestorben waren. Wir tun unseren Diabetikern also offenbar nichts Gutes,<br />
wenn wir den Zielwert für das HbA 1c so streng ansetzen, wie dies einige Diabetologen<br />
fordern. Seite 4<br />
Ergebnisse der ONTARGET-Studie<br />
Sartane nur in Ausnahmefällen indiziert,<br />
Kombi mit ACE-Hemmer ist ungünstig<br />
Gerade wurde die ONTARGET-Studie publik gemacht. Ihre Basis ist eindrucksvoll, sie<br />
umfasst über 25 000 Patienten. Und sie lehrt uns zweierlei: Eine Kombination aus<br />
ACE-Hemmer und Sartan ist ungünstiger als die jeweilige Einzelsubstanz, und Sartane<br />
sind nur in Ausnahmefällen besser als die deutlich preiswerteren ACE-Hemmer.<br />
Seite 6<br />
Metaanalyse entlarvt schwache Wirkung der SSRI-Hemmer<br />
Vom Umgang mit modernen Antidepressiva<br />
Eine neue Metaanalyse ist zu einem für die SSRI wenig schmeichelhaften Ergebnis<br />
gekommen: Diese modernen Antidepressiva sind längst nicht so wirksam wie man<br />
bisher glaubte. Ihre Effekte erheben sich allenfalls bei schweren Depressionen über<br />
das Placebo-Niveau. Das heißt in der Praxis: Unwirksam sind sie nicht, man sollte<br />
also das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Aber man muss sich zukünftig doch<br />
etwas genauer überlegen, ob ihre Verordnung im konkreten Fall tatsächlich sinnvoll<br />
ist. Hilfestellung dazu finden Sie ab Seite 8<br />
Wenn Rezepte das Herz gefährden<br />
60 000 bis 90 000 Menschen sterben jedes Jahr in Deutschland, weil ein Kammerflimmern<br />
oder eine schnelle Kammertachykardie zum plötzlichen Herztod führt.<br />
Auslöser der fatalen Rhythmusstörungen ist oft eine kritisch verlängerte QT-Zeit.<br />
Diese wiederum ist Ausdruck einer Repolarisationsstörung am Myokard, die bei<br />
prädisponierten Patienten durch zahlreiche Medikamente verursacht werden kann.<br />
Dies klingt zunächst nach komplizierter Rhythmologie, doch in der Praxis kann der<br />
Hausarzt gefährliche Konstellationen recht einfach erkennen und seine Patienten<br />
vor den potenziell fatalen Folgen einer QT-Verlängerung schützen. Seite 14
Seite 2 <strong>KV</strong>H • aktuell Nr. 2 / 2008<br />
Editorial<br />
Vom Ende eines Selbstbetrugs<br />
Sehr geehrte Damen und Herren,<br />
ein Selbstbetrug nähert sich dem Ende. Stück für Stück müssen Politik und Krankenkassen<br />
einsehen, dass die schon seit Jahren fragwürdigen Instrumente der Kostendämpfung<br />
im Bereich der Pharmakotherapie endgültig ad absurdum geführt<br />
wurden. Arzneimittelbudget, Arzneimittelobergrenze, Richtgrößen oder Wirtschaftlichkeitsprüfungen<br />
nach Durchschnitt sind so lange ausgehöhlt und totgeritten<br />
worden, dass sie nun endgültig den nicht gerade kleinen Friedhof der gescheiterten<br />
Kostendämpfungsinstrumente im Gesundheitswesen erweitern werden.<br />
War es zunächst die desolate Datenlage der Krankenkassen, die eine rechtssichere<br />
und faire Prüfung unmöglich gemacht hat, machte dann die Vielfalt der Realität<br />
den Heckenschnitt-Prüfungen Probleme. Konnten Richtgrößen noch als Aufgreifkriterium<br />
durchgehen, brachen viele Anschuldigungen wegen unwirtschaftlicher<br />
Verordnungsweise in sich zusammen, sobald der Arzt die Gründe seines Tuns<br />
darlegen konnte.<br />
Den endgültigen Todesstoß hat die Politik aber mit der Ermöglichung von Rabattverträgen<br />
gesetzt. Diese Verträge durchziehen mittlerweile fast alle Indikationsgebiete.<br />
Die Verträge sind geheim – auch innerhalb der Krankenkassen – und<br />
entfalten Wirkungen, die niemand kennt. Ganz offenbar liegen Rabattpreise aber<br />
nicht selten über den Preisen für Generika, sodass der Arzt in ein unauflösbares<br />
Dilemma gerät: Er ist einerseits verpflichtet, eines der preiswertesten Generika zu<br />
verordnen, andererseits muss er Rabattverträge beachten. Eine solche Situation<br />
bezeichnet der Jurist als „objektive Unmöglichkeit“ und damit als rechtswidrig.<br />
Genau das ist die aktuelle Lage: rechtswidrig. Es ist keinem Arzt zuzumuten, sich<br />
quasi im Blindflug auf nicht bekannte Preisabsprachen zwischen Kasse und Hersteller<br />
zu verlassen und für die Folgen mit seinem Honorar geradezustehen. Unter diesen<br />
Umständen werden Richtgrößen-Verfahren rechtssicher nicht mehr durchgeführt<br />
werden können.<br />
Aus diesem von der Politik angezettelten Dilemma muss die Politik auch wieder<br />
herausführen: Indem sie die Dinge wieder ordnet. Wenn die Verantwortung für die<br />
Preisgestaltung auf Krankenkasse und Industrie gelegt wird, muss der Arzt aus dieser<br />
Haftung entlassen werden! Er kann nur noch (gemeinsam mit dem Patienten) für<br />
die Menge der verordneten Präparate und vor allem die medizinische Sinnhaftigkeit<br />
in Haftung genommen werden.<br />
Das bedeutet zum einen, dass die <strong>KV</strong> <strong>Hamburg</strong> sich massiv dafür einsetzt, Arzneimittelbudgets<br />
und Richtgrößen abzuschaffen und durch Indikationsprüfungen<br />
zu ersetzen. Das entließe den Arzt nicht aus seiner Pflicht zum preiswerten und<br />
effektiven Verordnen – aber es setzte den Schwerpunkt seiner Verantwortung dort,<br />
wo sie hingehört: in die medizinische Kompetenz. Deshalb bedeutete ein solcher<br />
Wechsel zum anderen für den Arzt natürlich noch stärker, sich über Innovationen<br />
und deren vorgeblichen oder echten Vorteile zu informieren. Diesem Zweck dient<br />
auch die neue Ausgabe von „<strong>KV</strong>H aktuell“, bei dessen Lektüre wir Ihnen viel Erkenntnisse<br />
wünschen.<br />
Mit freundlichen Grüße<br />
Walter Plassmann<br />
<strong>KV</strong> <strong>Hamburg</strong>, stellvertretender Vorsitzender
Nr. 2 / 2008<br />
<strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Seite 3<br />
Editorial 2<br />
Das Ende des diabetologischen Höhenfluges<br />
Wer das HbA 1c zu stark senkt, gefährdet die Patienten 4<br />
Günther Egidi<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
ONTARGET-Studie bestätigt: Sartane nur in Ausnahmefälle indiziert 6<br />
Dr. med. Joachim Feßler<br />
Schwache Wirkung bei Metaanalyse zu SSRI<br />
Was ist von diesen Antidepressiva nun zu halten? 8<br />
Dr. med. Joachim Feßler, Klaus Hollmann<br />
Andidepressiva: Suizidgedanken und Suizide bei unter 25-Jährigen 12<br />
Dr. med. Günter Hopf<br />
Lebensgefährliche Einflüsse auf die Herzaktivität<br />
Welche Medikamente verlängern das QT-Intervall? 14<br />
Dr. med. Jutta Witzke-Gross<br />
Bundesverfassungsgericht: Viagra ist nicht Sache der Kassen 18<br />
Wenn der Wolff nach den Kopfläusen schnappt ...<br />
Das angeblich so tolle Mittel hat bei jedem Dritten versagt 19<br />
Dr. med. Klaus Ehrenthal<br />
Sicherer verordnen<br />
Dr. med. Günter Hopf<br />
Potenzmittel: Plötzlicher Hörverlust 21<br />
Fluorochinolone: Achillessehnenruptur 21<br />
Neues Abfallgesetz macht es möglich: Normale Arzneimittel in den Hausmüll werfen 21<br />
Piroxicam: Anwendungseinschränkungen 22<br />
Off-Label-Use: Kasse muss sich festlegen 22<br />
Krankenhaus: Entlassmedikation verbesserungswürdig 23<br />
Veit Eck, Krankenhausapotheker<br />
Den Industrieeinfluss beschränken 25<br />
Dr. med. Dieter Lehmkuhl<br />
Die evidenzbasierte Medizin und das geozentrische Weltbild<br />
Steht der Hausarzt im Mittelpunkt der Welt? 26<br />
Dr. med. Joachim Feßler<br />
Hausärztliche Leitlinie Palliativversorgung, Teil 2 33<br />
Hausärztliche Leitlinie Alter, Teil 1 – die Tischversion zum Ausschneiden 59<br />
Impressum<br />
Verlag: info.doc Dr. Bernhard Wiedemann und Anne Haschke-Wiedemann GbR, Pfingstbornstr. 38, 65207 Wiesbaden<br />
Herausgeber: Kassenärztliche Vereinigung Hessen, Georg-Voigt-Straße 15, 60325 Frankfurt<br />
Redaktionsstab: Dr. med. Joachim Feßler (verantw.),<br />
Dr. med. Klaus Ehrenthal, Dr. med. Margareta Frank-Doss, Dr. med. Jan Geldmacher, Dr. med. Harald Herholz,<br />
Klaus Hollmann, Dr. med. Günter Hopf, Dr. med. Wolfgang LangHeinrich, Dr. med Alexander Liesenfeld,<br />
Renata Naumann , Alexandra Rieger, Karl Matthias Roth, Dr. med. Michael Viapiano, Dr. med. Jutta Witzke-Gross<br />
Fax Redaktion: 069 / 79502 501<br />
Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. med. Ferdinand Gerlach, Institut für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt;<br />
Prof. Dr. med. Sebastian Harder, Institut für klinische Pharmakologie der Universität Frankfurt<br />
Die von Mitgliedern der Redaktion oder des Beirats gekennzeichneten Berichte und Kommentare sind redaktionseigene Beiträge; darin zum Ausdruck gebrachte Meinungen entsprechen<br />
der Auffassung des Herausgebers. Mit anderen als redaktionseignen Signa oder mit Verfassernamen gekennzeichnete Beiträge geben die Auffassung der Verfasser wieder und decken<br />
sich nicht zwangsläufig mit der Auffassung des Herausgebers. Sie dienen der umfassenden Meinungsbildung.<br />
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in dieser Veröffentlichung berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme,<br />
dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- oder Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.<br />
Wie alle anderen Wissenschaften sind Medizin und Pharmazie ständigen Entwicklungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere, was<br />
Behandlung und medikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in dieser Broschüre eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass Autor und<br />
Herausgeber große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angaben dem Wissensstand bei Fertigstellung der Broschüre entsprechen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und<br />
Applikationsformen kann vom Herausgeber jedoch keine Gewähr übernommen werden. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benutzers.
Seite 4 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Nr. 2 / 2008<br />
Für Sie<br />
gelesen<br />
Mehr Todesfälle,<br />
wenn HbA 1c<br />
unter 7 lag<br />
Das Ende des diabetologischen Höhenfluges<br />
Wer das HbA 1c zu stark senkt,<br />
gefährdet die Patienten<br />
Günther Egidi*<br />
Das könnte das Aus sein für übersteigerten diabetologischen Ehrgeiz: In den USA<br />
wurde die ACCORD-Studie [1] vorzeitig gestoppt (ACCORD = Action to Control<br />
Cardiovascular Risk in Diabetes). Die vom US-National Heart, Lung and Blood<br />
Institute (NHLBI) gesponserte Studie wurde im Jahr 2001 begonnen. Sie untersuchte<br />
10 251 im Schnitt 62 Jahre alte Typ-2-Diabetiker mit Diabetes-Dauer von<br />
durchschnittlich zehn Jahren. Einschlusskriterien waren eine Sekundärprävention,<br />
z.B. nach Myokardinfarkt, oder neben dem Diabetes mindestens zwei weitere kardiovaskuläre<br />
Risikofaktoren.<br />
Die Studie hatte drei Arme:<br />
1 aggressive Blutdruck-Senkung<br />
2 aggressive Lipidsenkung (Fibrat + Statin)<br />
3 aggressive Blutzucker-Senkung.<br />
Die ersten beiden genannten Studienarme sollen bis 2009 laufen – mit Ergebnissen<br />
wird 2010 gerechnet. Der dritte jetzt abgebrochene Studienarm untersuchte<br />
eine HbA 1c -Senkung unter sechs Prozent. Die Blutzuckersenkung konnte dabei<br />
mit Metformin, Glitazonen, Insulin, Sulfonylharnstoffen, Acarbose und Exenatide<br />
erreicht werden.<br />
Viele Diabetologen empfehlen ein HbA 1c unter sieben Prozent. Die meisten Diabetiker<br />
liegen bei sieben bis acht Prozent – wie auch in der Vergleichsgruppe der<br />
ACCORD-Studie. Erreicht wurden in der Studie HbA 1c -Werte von 6,4 Prozent in der<br />
aggressiv behandelten Gruppe respektive 7,5 Prozent in der Vergleichsgruppe.<br />
In der Interventionsgruppe kam es nach durchschnittlich vier Jahren zu 257 Todesfällen,<br />
während in der Kontrollgruppe nur 203 Patienten starben. Das entspricht<br />
einer absoluten Differenz von drei Todesfällen auf 1000 Teilnehmer.<br />
Hinweise auf die genaue Ursache der Übersterblichkeit ließen sich aus den zur<br />
Verfügung stehenden Daten nicht erkennen. Hypoglykämien sollen dabei keine<br />
größere Rolle gespielt haben.<br />
Auch die in den jüngeren [2,3] Metaanalysen als schädlich eingestuften Glitazone<br />
waren nicht als Hauptursache der gesteigerten Sterblichkeit auszumachen. Herzinfarkte<br />
scheinen häufiger tödlich ausgegangen zu sein als unter Standardtherapie,<br />
unerwartete plötzliche Todesfälle waren häufiger. Das Studienergebnis reiht sich,<br />
ohne dass sich dies in diabetologischen Empfehlungen [4] widergespiegelt hätte, in<br />
längst bekannte Erkenntnisse aus großen Diabetes-Untersuchungen ein:<br />
In der UGDP-Studie [5] war es bei 400 Patienten während einer 12,5-jährigen<br />
Beobachtungszeit durch eine Blutzucker-Senkung mit Sulfonyl-Harnstoff oder Insulin<br />
im Vergleich zu Placebo(!) zu einem Anstieg der Sterblichkeit von 26 auf 29<br />
Prozent gekommen.<br />
In der UKPDS [6] unterschieden sich bei 3867 Typ-2-Diabetikern Sterblichkeit und<br />
Herzinfarktrate nach zehnjähriger Studiendauer nicht signifikant zwischen den Patienten<br />
mit intensiver (Ziel: Nüchtern-BZ
Nr. 2 / 2008<br />
<strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Seite 5<br />
retinalen Photokoagulation als zusätzlicher Endpunkt eingeführt worden wäre [7].<br />
Die Zahl schwerer Hypoglykämien (Hilfe Dritter erforderlich) lag in der UKPDS<br />
unter Glibenclamid bei fünf Prozent, unter Insulin bei 22 Prozent in zehn Jahren.<br />
Diese Häufigkeit einer gefährlichen Nebenwirkung wurde in der Studienpublikation<br />
dadurch verharmlost, dass sie als 0,5 bzw. 2,2 Prozent pro Jahr dargestellt wurde,<br />
während die durch Hereinnahme der Laserkoagulationen in den Sammel-Endpunkt<br />
erreichte Senkung mikrovaskulärer Endpunkte mit drei Prozent in zehn Jahren angezeigt<br />
wurde.<br />
Was bedeutet das für die Praxis?<br />
Eine HbA 1c -Senkung unter sieben Prozent schadet bei Typ-2-Diabetikern.<br />
Bei einer HbA 1c -Senkung unter 7,9 Prozent muss der Vorteil einer verringerten<br />
Notwendigkeit von Netzhaut-Laserungen gegen die Gefahr eher deutlich häufiger<br />
vorkommender schwerer Hypoglykämien abgewogen werden.<br />
Eine spezialisierte diabetologische Versorgung hat sicherlich da ihren Platz, wo<br />
Hausärzte nicht in der Lage sind,<br />
– zeitnah Schulungen anzubieten,<br />
– Diabetiker mit Sehstörungen mit speziellen Insulin-Pens zu versorgen oder<br />
– besonders instabilen Diabetikern eine angepasste Insulinbehandlung anzubieten.<br />
Allerdings sollte man als Hausarzt auch überlegen, ob einer der Diabetologen,<br />
mit denen man zusammenarbeitet, eventuell zu einer allzu<br />
ehrgeizigen und damit riskanten Blutzuckersenkung neigt.<br />
Metformin hat sich bei gleicher HbA 1c -Senkung als einzige Blutzucker senkende<br />
Substanz als geeignet erwiesen, die Herzinfarktrate zu senken [8].<br />
Bei gleicher Blutdruck-Senkung musste in der ALLHAT-Studie der Doxazosin-Arm<br />
wegen Übersterblichkeit abgebrochen werden [9].<br />
Die Glitazone senken zwar den Blutzucker gut, erhöhen aber die Rate von<br />
Herzinfarkt bzw. kardialer Dekompensation (Anmerkungen s. o.).<br />
Generell sollten wir bei jeder Verordnung eines Medikamentes die Frage des renommierten<br />
amerikanischen Kardiologen Bruce Psaty stellen: Ist dieses Medikament<br />
zugelassen worden, weil ein Effekt auf klinische Endpunkte belegt werden konnte,<br />
oder wurde nur ein Effekt auf Messgrößen wie Blutdruck oder HbA 1c belegt? Psaty<br />
war so weit gegangen zu fordern, dass ein Medikament nur zugelassen werden<br />
dürfe, wenn ein relevanter klinischer Nutzen bewiesen wurde [10].<br />
Bedeutung<br />
für<br />
unsere<br />
Praxis<br />
Die entscheidende<br />
Frage vor<br />
Verordnung eines<br />
Antidiabetikums:<br />
Lebensverlängerung<br />
oder nur<br />
Laborkosmetik?<br />
Interessenkonflikte: keine<br />
Literatur:<br />
1 National Heart, Lung, and Blood Institute: For safety, NHLBI changes intensive blood sugar treatment strategy in<br />
clinical trial of diabetes and cardiovascular disease. 2008<br />
http://public.nhlbi.nih.gov/newsroom/home/GetPressRelease.aspx?id=2551<br />
2 Nissen SE, Wolski K.: Effect of Rosiglitazone on the Risk of Myocardial Infarction and Death from Cardiovascular<br />
causes. N Engl J Med 2007; 356: 2457-71<br />
3 Richter B et al.: Pioglitazone for type 2 diabetes mellitus (Review); The Cochrane Library 2007, Issue 2<br />
4 Häring H-U et al. für die Deutsche Diabetes-Gesellschaft (DDG): Evidenzbasierte Leitlinie – Antihyperglykämische<br />
Therapie des Diabetes mellitus Typ 2<br />
5 University Group Diabetes Programme: A study of the effects of hypoglycaemic agents on vascular complications<br />
in patients with adult onset diabetes. Diabetes. 1976;25:1129-35<br />
6 UKPDS 33: Intensive blood-glucose control with sulfonylureas or insulin compared with conventional treatment<br />
and risk of complications in patients with type 2 diabetes. Lancet 1998;352:837-853<br />
7 Ewart: BMJ 2001;323:854-8<br />
8 UK Prospective Diabetes Study (UKPDS) Group: Effect of intensive blood-glucose control with metformin on<br />
complications in overweight patients with type 2 diabetes (UKPDS 34). Lancet 1998; 352: 854-65<br />
9 ALLHAT Officers and Coordinators for the ALLHAT Collaborative Research Group Diuretic Versus b-Blocker as<br />
First-Step Antihypertensive Therapy Final Results From the Antihypertensive and Lipid-Lowering Treatment to<br />
Prevent Heart Attack Trial (ALLHAT) Hypertension. 2003; 42: 239-246<br />
10 Psaty BM, Furberg CD: Rosiglitazone and Cardiovascular Risk. NEJM 2007; 356: 2522-24
Seite 6 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Nr. 2 / 2008<br />
Für Sie<br />
gelesen<br />
ONTARGET-Studie bestätigt es<br />
Sartane nur in Ausnahmefälle indiziert<br />
Dr. med. Joachim Feßler<br />
Die neu erschienene ONTARGET-Studie [1] hat zwei Ergebnisse gebracht,<br />
die auch für die Hausarztpraxis von Bedeutung sind: Zum einen ist eine<br />
Kombination aus ACE-Hemmer und Sartan eher ungünstiger als die jeweilige<br />
Einzelsubstanz und zum anderen sind Sartane nicht besser als die<br />
deutlich preiswerteren ACE-Hemmer.<br />
Die ONTARGET-Studie ist eine so genannte Nichtunterlegenheitsstudie. Das heißt:<br />
Es wird geprüft, inwiefern eine neues Therapieprinzip – hier Telmisartan – einem<br />
etablierten Therapieprinzip – hier Ramipril – nicht unterlegen ist. Dies klingt umständlich,<br />
liegt aber in der Natur der statistischen Methodik. Es ist eine randomisierte,<br />
kontrollierte Vergleichsstudie mit 25 620 Patienten.<br />
Kombination<br />
hatte mehr<br />
Nebenwirkungen<br />
Einige Details zur Studie:<br />
Einschlusskriterien: Patienten mit KHK, pAVK, cerebrovaskulärer Erkrankung<br />
oder Diabetes mit Endorganschädigung, jeweils ohne Herzinsuffizienz. Diese Patienten<br />
werden im Weiteren als Hochrisikopatienten für kardiovaskuläre Ereignisse<br />
bezeichnet.<br />
Intervention: 8576 Patienten erhielten 10 mg Ramipril täglich, 8542 erhielten<br />
80 mg Telmisartan täglich und 8502 Patienten erhielten beide Wirkstoffe als Kombination<br />
– zusätzlich zur sonstigen leitlinienkonformen Therapie (Statine, Beta-Blocker,<br />
ASS, Clopidogrel, Diuretika, Kalziumantagonist etc.). Die mittlere Beobachtungszeit<br />
war 56 Monate. 99,8 Prozent der Patienten konnten vollständig beobachtet werden.<br />
Das durchschnittliche Alter war 67 Jahre, 27 Prozent waren Frauen, der Anteil<br />
europäischen Ursprungs war 73 Prozent.<br />
Endpunkte: Kombinierter primärer Endpunkt: kardiovaskuläre Todesursache plus<br />
Myokardinfarkt plus Apoplex plus Hospitalisierung wegen Herzinsuffizienz. Der<br />
sekundäre Endpunkt war der primäre Endpunkt ohne Hospitalisierung wegen Herzinsuffizienz<br />
und somit identisch mit dem primären Endpunkt der HOPE-Studie [2].<br />
Ergebnisse (siehe auch Tabelle 1): Der primäre Endpunkt trat in der Ramipril Gruppe<br />
bei 1412 (16,5 Prozent), in der Telmisartan Gruppe bei 1423 (16,7 Prozent) und<br />
in der Kombinationsgruppe bei 1386 (16,3 Prozent) der Patienten auf. Die Unterschiede<br />
sind nicht signifikant, d.h. es gibt keine Unterlegenheit von Telmirsartan<br />
gegenüber Ramipril und keinen Zusatznutzen. Die Kombination war weder gegenüber<br />
Telmirsartan noch gegenüber Ramipril unterlegen, hatte aber auch keinen<br />
Zusatznutzen. Einen signifikanten Unterschied gab es in der Nebenwirkung<br />
Tabelle 1: Die Ergebnisse der ONTARGET-Studie im Überblick<br />
Ramipril (ACE-Hemmer) Telmisartan (Sartan)<br />
N=8576<br />
N=8542<br />
Angaben in Prozent, in Klammern die absoluten Patientenzahlen<br />
Kombination<br />
N=8502<br />
Primärer Endpunkt* 16,5% (1412) 16,7% (1423) 16,3% (1386)<br />
Myokardinfarkte 4,8% (413) 5,2% (440) 5,2% (438)<br />
Schlaganfälle 4,7% (405) 4,3% (369) 4,4% (373)<br />
Kardiovaskulärer Tod 7,0% (603) 7,0% (598) 7,3% (620)<br />
KH-Einweisung wg. Herzinsuffizienz 4,1% (354) 4,6% (394) 3,9% (332)<br />
* Der primäre Endpunkt war ein kombinierter Endpunkt aus Myokardinfarkt, Schlaganfall, kardiovaskulärer Tod, Krankenhauseinweisung wegen<br />
Herzinsuffizienz.
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Seite 7<br />
Husten, dieser trat in der Telmirsartan Gruppe bei 1,1 Prozent auf, in der Ramipril<br />
Gruppe bei 4,2 Prozent (p
Seite 8 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Nr. 2 / 2008<br />
Für Sie<br />
gelesen<br />
Antidepressiva waren<br />
nur bei schweren<br />
Depressionen besser<br />
als Placebo<br />
Schwache Wirkung bei Metaanalyse zu selektiven<br />
Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI)<br />
Was ist von diesen Antidepressiva<br />
nun zu halten?<br />
Dr. med. Joachim Feßler, Klaus Hollmann<br />
Antidepressiva – fragwürdige Stimmungsmacher? Solche Schlagzeilen<br />
fanden sich kürzlich auf den Wissenschaftsseiten der Publikumsmedien.<br />
Die Wirkstoffe Fluoxetin, Paroxetin, Venlafaxin und das hierzulande<br />
nicht mehr verfügbare Nefazodon, so eine Studie, scheinen gegen Depressionen<br />
kaum zu helfen. Und das, obwohl es sich hier um Wirkstoffe<br />
handelt, die zu den „besten“ derzeit verfügbaren Medikamenten gegen<br />
Depression zählen.<br />
Die Metaanalyse von Irving Kirsch [1], die auf der Basis von Dokumenten der amerikanischen<br />
Zulassungsbehörde FDA – darunter zum Teil unveröffentlichte Studienergebnisse<br />
– beruht, führte zu dem Ergebnis, dass allenfalls bei sehr schweren<br />
Depressionen das Verum stärker als Placebo wirkt. Zwar weiß man schon lange,<br />
dass Scheinmedikamente Depressionen bei vielen Patienten lindern können, dass<br />
das Placebo aber in etwa 80 Prozent ebenso wirkt wie die modernen Medikamente,<br />
überrascht nun doch. Die Nachricht selbst ist ein Stimmungskiller – für die Hersteller.<br />
Denn das Interesse an den Ergebnissen der Metaanalyse ist enorm.<br />
Kirsch und seine Kollegen hatten für die Metaanalyse Untersuchungen ausgewertet,<br />
die bei der US-Arzneimittelbehörde FDA eingereicht wurden, um zwischen 1987<br />
und 1999 die Zulassung für die vier genannten Antidepressiva zu bekommen.<br />
Führt Kirsch, der seit Ende 1990 über Antidepressiva veröffentlicht, vielleicht einen<br />
Feldzug gegen die Antidepressiva? Für die Wirksamkeit fordert Kirsch, ebenso wie<br />
NICE * und FDA, eine Besserung der HRSD-Werte (Hamilton Rating Scale of Depression)<br />
um mindestens drei Punkte im Vergleich zu Placebo. Wie relevant eine solche<br />
Senkung klinisch ist, bleibt unkommentiert.<br />
Die Metaanalyse zeige im Grunde nichts wirklich Neues, erklärte die Deutsche<br />
Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) in ihrer<br />
Reaktion und argumentiert: Je schwerer die Depression ausgeprägt sei, desto deutlicher<br />
seien die Behandlungseffekte, die man mit Antidepressiva erreichen könne.<br />
Die DGPPN widerspricht auch der Lesart in manchen Medien, dass selbst bei<br />
schweren depressiven Erkrankungen Antidepressiva keine klinische Wirkung im<br />
Sinne eines Nutzens für die Patienten erzielten. Allein vor dem Hintergrund der<br />
Suizidgefahr, die für viele Betroffene mit einer Depression einhergehe, ist für die<br />
DGPPN die Option einer Therapie mit Antidepressiva unverzichtbar. Aber: Es gibt<br />
bei psychiatrischen Mitteln einen bekannten Publikationsbias. nur ungefähr ein<br />
Drittel der Studien sind publiziert. Zudem: Kein Antidepressivum hat bisher einen<br />
überzeugenden Beleg für einen suizidverhütenden Effekt erbracht.<br />
Wichtig ist allerdings: Ein Beleg für eine Unwirksamkeit dieser Medikamentengruppe<br />
ist die Metaanalyse nicht. Bei vielen Patienten wird die<br />
Wirkung aber schwächer sein als man bislang vermutete.<br />
Wenn man der Diskussion folgt, dann muss man reflektieren, dass SSRI-Antidepressiva<br />
bei leichten und mittelschweren Depressionen wohl zu häufig verordnet<br />
* NICE ist das britische „National Institute for Health Clinical Excellence“, die Qualitätssicherungsinstanz im<br />
britischen Gesundheitswesen.
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<strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Seite 9<br />
werden. Antidepressiva sind hier ohne therapeutischen Nutzen, aber mit Nebenwirkungsrisiken<br />
verbunden.<br />
Diese Meinung vertritt auch Gerd Antes vom Deutschen Cochrane-Zentrum. Er<br />
sagt: „Eine solche Zusammenschau der verfügbaren Daten ist das einzige Mittel, um<br />
mehr Klarheit zu bekommen. Lässt sich bei einer derartigen Analyse nicht zeigen,<br />
dass Medikamente besser als Placebo sind, sollte man den Gebrauch der Mittel<br />
überdenken.“<br />
Entscheidende Frage: Wie schwer ist die Depression?<br />
Wichtig ist dabei zunächst einmal die Frage: Wie kann ich die Schwere der Depression<br />
erfassen und eine Depression zuverlässig von der normalen schlechten Stimmung<br />
und Traurigkeit abgrenzen, die jeder Mensch regelmäßig erlebt? Ein probates Mittel<br />
ist die Hamilton Skala mit ihrem HRSD-Wert (Hamilton Rating Scale of Depression,<br />
siehe unten stehenden Kasten). Psychiater sprechen bei einem HRSD-Wert ab 20<br />
von einer schweren Depression. Für diese Patienten ist die antidepressive Behandlung<br />
indiziert. Erreichen die typischen Symptome mit somatischen Beschwerden,<br />
Erschöpfung, Insomnie, Versagens- und Schuldgefühlen in der allgemeinmedizinischen<br />
Sprechstunde einen HRSD-Wert von unter 20, bieten nach der vorliegenden<br />
Metaanalyse Antidepressiva im Vergleich zu Placebo-Behandlung keine ausreichenden<br />
Vorteile.<br />
Hamilton-Skala<br />
hilft bei der<br />
therapeutischen<br />
Entscheidung<br />
Was weist auf eine Depression hin?<br />
Als Screeningfragen für depressive Störungen haben sich die folgenden drei Fragen<br />
in der Hausarztpraxis bewährt:<br />
Haben Sie sich im vergangenen Monat oft niedergeschlagen oder hoffnungslos<br />
gefühlt?<br />
Hatten Sie im letzten Monat häufig wenig Freude bei den Dingen, die Sie tun?<br />
Brauchen Sie deswegen Hilfe?<br />
Die Klassifizierung der Depression nach ICD<br />
In Abhängigkeit von Anzahl, Dauer und Schwere des Auftretens der Symptome<br />
unterscheidet der ICD verschiedene Arten der depressiven Erkrankungen, so zum<br />
Beispiel:<br />
Die depressive Episode im Rahmen einer unipolaren Depression. Diese wird in<br />
eine leichte, mittlere und schwere Form unterteilt.<br />
Die depressive Episode im Rahmen der bipolaren affektiven Störung. Bei<br />
Depressionen mit der Hamilton-Skala diagnostizieren<br />
Die Hamilton Skala (Hamilton Rating Scale of Depression – HRSD) ist ein standardisiertes diagnostisches<br />
Instrument für den Arzt zur Beurteilung des Schweregrades einer Depression. Die Hamilton<br />
Skala dient insbesondere dazu, die Wirksamkeit verschiedener Therapien, z.B. von Medikamenten in<br />
Zulassungsstudien, zahlenmäßig exakt zu erfassen. Die Skala wurde 1960 von dem Psychiater Max<br />
Hamilton eingeführt.<br />
Aufbau<br />
Es werden 17, 21 oder bis zu 24 Symptomenkomplexe systematisch vom Untersucher mit meist 0 bis<br />
4 Punkten, manchmal auch von 0 bis 2 Punkten bewertet.<br />
Untersuchungspunkte sind z.B. die depressive Stimmung (Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit,<br />
Wertlosigkeit), Schuldgefühle, Selbstmordgedanken, Schlafstörungen, körperliche Beschwerden,<br />
Sexualität, Gewichtsverlust.<br />
Bewertung<br />
Je höher die Punktzahl, umso stärker ist die Depression.<br />
Weitere Informationen: http://healthnet.umassmed.edu/mhealth/HAMD.pdf
Seite 10 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Nr. 2 / 2008<br />
Patienten mit dieser Erkrankung treten neben depressiven Episoden auch Manien<br />
mit gesteigertem Antrieb und gehobener Stimmung auf.<br />
Die Dysthymie. Hierbei handelt es sich um eine meist im jungen Erwachsenenalter<br />
beginnende, eher chronisch verlaufende Depression.<br />
Wie soll man mit depressiv Erkrankten unabhängig vom Rezeptblock umgehen:<br />
abwartendes und zuwendendes Begleiten, Organisation von Entlastung, Selbsthilfe,<br />
Anleitung zu moderatem körperlichen Training, Vermittlung psychiatrischer und<br />
psychotherapeutischer Hilfen?<br />
In der Leitlinie des NICE zur Behandlung von Depressionen werden bei leichten<br />
Formen keine medikamentösen Behandlungen empfohlen, sondern ressourcenorientierte<br />
Verfahren und acht bis zehn Sitzungen einer kognitiv ausgerichteten<br />
Verhaltenstherapie, bei mittelschweren Formen zusätzlich eine antidepressivmedikamentöse<br />
Therapie mit der Leitsubstanz Citalopram.<br />
Bei jeder leichten und mittelschweren Depression muss individuell entschieden<br />
werden, ob eine Therapie begonnen bzw. fortgesetzt wird. Mit dem Patienten sollte<br />
die unbefriedigende Datenlage besprochen werden.<br />
Im Vordergrund<br />
steht das<br />
therapeutische<br />
Gespräch<br />
Bei Therapiebeginn<br />
Patienten mindestens<br />
alle zwei Wochen in<br />
die Praxis bestellen<br />
Die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft empfiehlt folgendes therapeutisches<br />
Vorgehen:<br />
A. Nichtmedikamentöse Therapie<br />
An erster Stelle steht das ärztliche Gespräch, das mit Zuhören begonnen hat.<br />
Eine alleinige Psychotherapie kann bei leichter bis mittelgradiger Depression<br />
sowie bei Kontraindikationen oder Ablehnung einer medikamentösen Therapie<br />
erwogen werden.<br />
Als spezifische Psychotherapien haben die kognitive Verhaltenstherapie und<br />
die interpersonelle Therapie ihre Wirksamkeit bei leichten und mittelschweren<br />
Depressionen bisher am besten belegt.<br />
Weitere nichtmedikamentöse Maßnahmen sind Schlafentzug, Lichttherapie und<br />
Elektrokrampftherapie.<br />
B. Pharmakotherapie<br />
Behandlung der akuten depressiven Episode:<br />
Akute Episoden klingen in der Praxis oft in kurzer Zeit spontan ab. Bei Patienten<br />
mit leichter Depression, die keine Therapie wünschen oder bei denen<br />
eine kurzfristige Besserung zu erwarten ist, kann ggf. zunächst für etwa zwei<br />
Wochen eine abwartende Haltung eingenommen werden (»watchful waiting,<br />
beobachtendes Abwarten«).<br />
Je schwerer das depressive Syndrom ist, desto eher muss an erster Stelle eine<br />
Pharmakotherapie erfolgen.<br />
Zu Therapiebeginn sind häufige, mindestens ein- bis zweiwöchentliche Kontakte<br />
erforderlich.<br />
Die Dosierung erfolgt im Regelfall, insbesondere bei den NSMRI (Nichtselektive<br />
Monoamin-Rückaufnahme-Inhibitoren: Amitryptilin u.a.), einschleichend<br />
und bei den sedierenden Antidepressiva beginnend mit abendlichen niedrigen<br />
Dosen, die je nach Verträglichkeit möglichst rasch (innerhalb einer Woche) auf<br />
den üblichen therapeutischen Bereich gesteigert werden.<br />
Alle Antidepressiva haben eine relativ einheitliche Wirkungslatenz von zwei bis<br />
vier Wochen (unter Standarddosierung), die abgewartet werden muss, bevor<br />
das Therapieansprechen beurteilt werden kann.<br />
Vor und während der Therapie sind klinische, technische und Laboruntersuchungen<br />
zum Ausschluss von Kontraindikationen und zur Aufdeckung von<br />
unerwünschten Wirkungen erforderlich.
Nr. 2 / 2008<br />
<strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Seite 11<br />
Unterschiede in der antidepressiven Wirksamkeit zwischen den einzelnen chemisch<br />
definierten Antidepressiva wurden bislang nicht sicher gezeigt.<br />
Die Differentialindikation zwischen NSMRI (Nichtselektive Monoamin-Rückaufnahme-Inhibitoren:<br />
Amytriptilin u.a.), SSRI (Selektive Serotonin-Rückaufnahme-<br />
Inhibitoren) und anderen Wirkstoffen ergibt sich daher aus der Berücksichtigung<br />
der Auswahlkriterien, insbesondere des unterschiedlichen Neben- und Wechselwirkungsprofils.<br />
Für viele Patienten in der hausärztlichen Praxis, insbesondere Patienten mit kardiovaskulären<br />
Erkrankungen oder höheren Alters, sind z. B. SSRI aufgrund ihres<br />
bei dieser Population oft günstigeren Nebenwirkungsprofils zu bevorzugen.<br />
Bei der Verordnung von NSMRI sind vor allem kardiovaskuläre Nebenwirkungen<br />
und die geringere Überdosierungssicherheit zu beachten. NSMRI mit besserer<br />
Verträglichkeit (wie z. B. Nortriptylin) werden verschiedentlich in der Literatur<br />
zur Behandlung gerade auch älterer Patienten bevorzugt.<br />
Die Aussage der Arzneimittelkommission zur Therapie mit Johanniskraut wird durch<br />
die Metaanalyse auch neu zu hinterfragen sein. Die Kommission konstatiert bisher:<br />
„Ein Behandlungsversuch mit Johanniskraut erscheint in Anbetracht nachweislich<br />
wirksamer Alternativen allenfalls zur kurzzeitigen Behandlung leichterer Formen der<br />
Depression unter Berücksichtigung seiner Limitierungen und ausgeprägten Wechselwirkungsrisiken<br />
(CYP3A4 wird induziert) gerechtfertigt.“ [2]. Bisher galt also:<br />
Man darf die SSRI nicht vorenthalten, deshalb schied Johanniskraut aus. Jetzt, nach<br />
den Ergebnissen dieser Metaanalyse, ist ein Versuch mit Johanniskraut durchaus<br />
angebracht – allerdings muss man dabei mögliche Interaktionen bedenken.<br />
Johanniskraut ist<br />
wegen möglicher<br />
Interaktionen<br />
nicht ganz<br />
unproblematisch<br />
Jeder Arzt wird seine eigenen Erfahrungen bei der Zusammenstellung seines individuellen<br />
Praxissortimentes einbringen. Dringend anzuraten ist, sich dabei auf wenige<br />
Arzneistoffe zu beschränken.<br />
Wirkungslatenz und scheinbare Therapieresistenz<br />
Antidepressiva wirken nicht sofort, man darf jedoch in den ersten Tagen eine Besserung<br />
einiger Symptome erwarten. Tritt in den ersten 14 Tagen keinerlei Besserung<br />
auf die empfohlene Initialdosis ein, so bestehen nach Prüfung von Compliance und<br />
ggf. des Plasmaspiegels prinzipiell die Optionen einer Dosisanpassung, eines Wechsels<br />
auf eine andere Wirkstoffklasse nach ausschleichender Beendigung der Gabe<br />
des ersteren Antidepressivums oder einer zusätzlichen Psychotherapie. Im Falle des<br />
initialen Nichtansprechens sollte nach spätestens sechs Wochen spezialärztlicher<br />
Rat gesucht werden.<br />
Eine wichtige Option bei Therapieresistenz ist die Kombination des bisher verordneten<br />
Antidepressivums mit Lithium (Blutspiegel 0,6–0,8 mmol/l) zum Antidepressivum.<br />
Im Regelfall ist zu diesem Zeitpunkt die Überweisung an den Spezialisten<br />
zu erwägen!<br />
Fazit<br />
Die Verschreibung von Antidepressiva im derzeitigen Umfang wird auf den Kopf<br />
gestellt, denn bei leichten und mittelschweren Depressionen zeigten sich keine<br />
signifikanten Unterschiede zur Placebo-Behandlung. Die signifikanten Effekte bei<br />
schweren Depressionen sind bei weitem nicht so ausgeprägt wie gedacht. Vielleicht<br />
beschäftigen wir mit der medikamentösen Therapie nur Patient und Praxisteam, bis<br />
der Spontanverlauf der Depression die Situation von selber regelt? In der Vergangenheit<br />
hat man wohl zu häufig und zu schnell zur Tablette gegriffen.<br />
Relevant ist die Rate der Patienten, die durch die Therapie mit Antidepressiva gesund<br />
werden (HRSD-Werte < 8). Es besteht ein Placebo-Verum-Unterschied von<br />
zehn Prozent, entsprechend eine NNT von 10.<br />
Bedeutung<br />
für<br />
unsere<br />
Praxis
Seite 12 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Nr. 2 / 2008<br />
Auch mal an<br />
Auslassversuche<br />
denken!<br />
Bestehende Therapie: Was mache ich als Hausarzt mit den Patienten, die diese<br />
Medikamente schon lange einnehmen, wie identifiziere ich diejenigen, die einen<br />
Nutzen davon haben? Hier hilft nur der Auslassversuch, den man in Absprache<br />
mit dem Patienten durchführt. In dieser Zeit sollte eine regelmäßige Konsultation<br />
stattfinden, um eine Verschlechterung der Stimmung oder eine drohende<br />
Suizialität rechtzeitig erkennen zu können. Auch ein Therapieversuch mit Johanniskraut<br />
kann erwogen werden. Sinnvollerweise schlage ich im Bedarfsfall dem<br />
Patienten eine ambulante Psychotherapie vor und/oder rate ihm, Änderungen in<br />
seinem sozialen Umfeld durchzuführen (z.B. Arbeitsplatzwechsel, Engagement<br />
in Vereinen etc.)<br />
Kritischer Neuansatz: Patienten, die bisher kein Antidepressivum erhalten haben,<br />
sollten zunächst mit den allgemeinen Maßnahmen bekannt gemacht werden. Eine<br />
Vorstellung zur ambulanten Psychotherapie ist sinnvoll. Die Indikationsstellung<br />
zur Gabe von Antidepressiva ist bei schweren Depressionen berechtigt, ggf. in<br />
Abstimmung mit dem Psychiater. Bei drohender Suizialität erfolgt eine stationäre<br />
Einweisung.<br />
Interessenkonflikte: keine<br />
Literatur:<br />
1 Kirsch, Irving et al.: Initial Severity and Antidepressant Benefits: A Meta-Analysis of Data Submitted to the Food<br />
and Drug Administration. PLoS Medicine 2008; 5: 0260-68<br />
2 AkdÄ. Handlungsleitlinie Depression aus Empfehlungen zur Therapie der Depression (2); Arzneiverordnung in<br />
der Praxis 2006 (Sonderheft 1); 33: 1 (http://www.akdae.de/35/68-Depression-2006-2Auflage1-K.pdf)<br />
Weitere Quellen:<br />
– Herzig, P: Synopsis: neuere Antidepressiva (Non-SSRI) und SSRI. Schweiz Med Forum 2002; 50: 1195-205<br />
– Gysling, E: Antidepressiva. pharma-kritik 2005; 11: 41-4<br />
– Kölch, M, Mehler-Wex, C: Depressive Störungen im Kindes- und Jugendalter. Übersichtsarbeit. Deutsches Ärzteblatt<br />
2008; 9: 149-56<br />
– Möller, HJ: Bestätigt. Nutzen von Antidepressiva überschätzt. a-t 2008; 39: 28<br />
– v. Lutterotti, N: Antidepressiva doch ein Segen für suizidale Kinder? Resultate einer neuen Studie aus Kanada.<br />
(www.nzz.ch/nachrichten/wissenschaft/antidepressiva_doch_ein_segen_fuer_suizidale_kinder_1.711142.html)<br />
– a-t 2005; 36: 45-6<br />
– a-t 2006; 37: 1-2<br />
– Techniker Krankenkassen [Hg.]. Depression. Eine Information für Patienten und Angehörige. 2008 (1)<br />
– Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN): Wirken Antidepressiva<br />
wirklich? Presse-Information Nr. 3/2008.<br />
Therapie mit Andidepressiva<br />
Suizidgedanken und Suizide<br />
bei unter 25-Jährigen<br />
Dr. med. Günter Hopf<br />
Bis zu 15 Prozent der Patienten mit schweren rezidivierenden Depressionen sterben<br />
durch Suizid, wobei die Zahl der Suizidversuche etwa zehnfach über der der Suizide<br />
liegt [1]. Die Diskussionen über einen zusätzlichen Effekt von Antidepressiva auf das<br />
Suizidverhalten von depressiven Patienten können als beendet angesehen werden.<br />
Mit Datum vom 27.03.2008 hat unsere Arzneimittelüberwachungsbehörde BfArM<br />
in Abstimmung mit einer Arbeitsgruppe der europäischen Überwachungsbehörde<br />
EMEA ein europaweites Stufenplanverfahren beschlossen [2].<br />
Es geht von der Erkenntnis aus, dass alle Antidepressiva (Trizyklika, SSRI und MAO-<br />
Inhibitoren) bei bis zu 25-Jährigen zusätzlich das Risiko von Suizidgedanken oder<br />
selbstschädigendem Verhalten erhöhen können (bei älteren Patienten überwiegt<br />
eine Verminderung der Suizidalität), substantielle Unterschiede zwischen den
Nr. 2 / 2008<br />
<strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Seite 13<br />
einzelnen Antidepressivagruppen existieren nicht. Fachinformationen und „Beipackzettel“<br />
(= Gebrauchsinformation) müssen wie folgt spezifiziert werden:<br />
Alle Patienten mit Depressionen sollen bis zum Eintritt einer signifikanten Besserung<br />
engmaschig überwacht werden, insbesondere zu Beginn einer Behandlung<br />
und bei Dosisanpassungen.<br />
Besonders sorgfältige Überwachung erfordern Patienten mit einer entsprechenden<br />
Anamnese und junge Patienten.<br />
Patienten müssen darauf hingewiesen werden, bei auftretenden Gedanken an<br />
Selbstverletzung oder Suizid sofort einen Arzt aufzusuchen.<br />
Folgende Arzneistoffe werden namentlich aufgeführt:<br />
Amitriptylin, Clomipramin, Dosulepin, Doxepin, Imipramin, Lofepramin*, Nortriptylin,<br />
Trimipramin, Mianserin, Trazodon, Phenelzin*, Isocarboxazid*, Tranylcypromin,<br />
Moclobemid, Citalopram, Escitalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin, Sertralin,<br />
Duloxetin, Flupentixol, Mirtazapin, Reboxetin, Venlafaxin, Maprotilin, dazu kommen<br />
noch Tryptophan und Bupropion (zur antidepressiven Therapie).<br />
Fazit für die Praxis: Antidepressiva können Suizidalität nicht ausreichend verhindern.<br />
Als zusätzliche Maßnahmen sind erforderlich [3]:<br />
enge, vertrauensvolle therapeutische Beziehung<br />
engmaschiges Einbestellen zu konkreten Terminen<br />
evtl. stationäre Einweisung<br />
ggf. vorübergehende zusätzliche Verordnung von Benzodiazepinen.<br />
Bei Therapiebeginn<br />
und Dosisänderung<br />
engmaschig<br />
überwachen<br />
Bedeutung<br />
für<br />
unsere<br />
Praxis<br />
Antidepressivatherapie: Nutzen für wen?<br />
Spätestens seit Publikation einer kritischen Metaanalyse [4] zu einigen SSRI (in<br />
Deutschland im Handel: Fluoxetin, Paroxetin, Venlafaxin) stellt sich die Frage nach<br />
dem Stellenwert einer Therapie mit Antidepressiva (siehe auch vorstehenden Beitrag).<br />
Nachdem die Suizidgefahr durch Antidepressiva geklärt zu sein scheint, ist<br />
die Meinungsbildung zur Sinnhaftigkeit einer medikamentösen Therapie von Depressionen<br />
meines Erachtens noch nicht abgeschlossen. Durch das Zurückhalten<br />
von Studien mit negativen Ergebnissen spielen pharmazeutische Unternehmer eine<br />
traurige Rolle. Wenig hilfreich sind auch Studien mit positiven Ergebnissen, die fraglich<br />
klinisch relevant sind, oder Äußerungen von bekannten „Meinungsbildnern“<br />
mit industriellem Hintergrund. Wie bei vielen Indikationsgebieten bekannt – ganz<br />
besonders jedoch ein gravierender Mangel in der Therapie von Depressionen – fehlen<br />
aussagekräftige, unabhängige und praxisnahe Studien.<br />
Derzeit scheint Folgendes klar zu sein:<br />
1. Antidepressiva sind unverzichtbar bei schweren Depressionen und zur Rezidivprophylaxe.<br />
Sie dürfen nur langsam abgesetzt werden (Entzugssymptome!!).<br />
2. Bei leichten und mittelschweren Depressionen sind<br />
– aktives Beobachten über einen begrenzten Zeitraum zu erwägen<br />
– verhaltenstherapeutische Maßnahmen angebracht<br />
– Psychotherapie sinnvoll<br />
– auch pflanzliche Arzneimittel angezeigt.<br />
3. Das Placebo „Arzt“ sollte bei jeder Depressionsbehandlung gezielt und bewusst<br />
eingesetzt werden, auch und besonders in der medikamentösen Therapie.<br />
Interessenkonflikte: keine<br />
Literatur:<br />
1 Therapieempfehlungen der AkdÄ, Depression, 2. Aufl. 2006<br />
2 BfArM, Antidepressiva: einheitliche Warnhinweise zum erhöhten Risiko für suizidales Verhalten bei jungen<br />
Erwachsenen, Abwehr von Arzneimittelrisiken Stufe II, Pharm.Ztg. 2008; 153: 1388<br />
3 AkdÄ, Stellenwert von Antidepressiva in der Depressionsbehandlung, Berlin, 17.04.2008, www.akdae.de<br />
4 Kirsch, Irving et al.: Initial Severity and Antidepressant Benefits: A Meta-Analysis of Data Submitted to the Food<br />
and Drug Administration. PLoS Medicine 2008; 5: 0260-68<br />
* In Deutschland nicht im Handel
Seite 14 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Nr. 2 / 2008<br />
Für Sie<br />
gelesen<br />
Lebensgefährliche Einflüsse auf die Herzaktivität<br />
Welche Medikamente verlängern<br />
das QT-Intervall?<br />
Dr. med. Jutta Witzke-Gross<br />
In Deutschland erliegen jährlich etwa<br />
70 000 bis 100 000 Menschen einem<br />
plötzlichen Herztod. In ca. 90 Prozent<br />
wird dieser durch Kammerflimmern oder<br />
durch schnelle Kammertachykardien verursacht.<br />
Eine Ursache dieser lebensbedrohlichen<br />
Herzrhythmusstörungen ist<br />
die kritische Verlängerung der QT-Zeit,<br />
die bei prädisponierten Patienten auch<br />
durch Medikamente verursacht werden<br />
kann. Wer dran denkt und die riskanten<br />
Konstellationen kennt, kann bei seinen<br />
Patienten vorbeugen. Im Folgenden eine<br />
Zusammenfassung eines Beitrags im<br />
Schweizer Medizin-Forum [1].<br />
Torsades des pointes<br />
Tachykardien haben<br />
schon etliche<br />
Medikamente vom<br />
Markt gefegt<br />
Die Zunahme der QT-Zeit ist Ausdruck einer Verlängerung<br />
des Aktionspotentials, in deren Folge es zu elektrophysiologischen Störungen<br />
während der Repolarisationsphase der Herzmuskelzellen kommt. Es treten typische<br />
Kammer tachykardien mit morphologisch und in ihrer Ausrichtung wechselnden<br />
QRS-Komplexen (Torsades de pointes Tachykardie) auf, die in Kammerflimmern<br />
degenerieren und zum bereits erwähnten plötzlichen Herztod führen können (Long-<br />
QT-Syndrom). Die Torsades de pointes Tachykardien waren bereits Anlass für den<br />
Rückzug zahlreicher Medikamente nach ihrer Markteinführung, wie zum Beispiel von<br />
bestimmten Antihistaminika oder auch des Clobutinol (siehe Kasten auf Seite 17).<br />
Ein kurzer Blick in die Elektrophysiologie<br />
Ein Aktionspotential kommt typischerweise durch depolarisierende, zelleinwärts<br />
gerichtete Ionenströme (vor allem Natrium und Kalzium) und repolarisierende aus<br />
den Zellen herausgerichtete Ionenströme (vor allem Kalium) zustande. Der normale<br />
Herzrhythmus beruht daher auf einem komplexen Zusammenspiel verschiedener<br />
Ionenkanäle. Diese Ionenkanäle stellen aus verschiedenen Untereinheiten aufgebaute<br />
transmembranäre Proteinkomplexe dar.<br />
Kommt es aufgrund genetischer Defekte zu einer veränderten Expression und/<br />
oder Funktion dieser Ionenkanaluntereinheiten, verlängert sich die myokardiale<br />
Repolarisation und die Repolarisationsreserve nimmt ab. Zusätzliche Faktoren, wie<br />
zum Beispiel sich an die Kanäle bindende Medikamente oder eine Hypokaliämie,<br />
können dann zu einer kritischen Verlängerung des Aktionspotentials (messbar im<br />
Oberflächen-EKG als verlängerte QT-Zeit) mit Ausbildung früher Nachdepolarisationen<br />
(getriggerte Aktivität) führen. Außerdem wurde bei der erworbenen Form<br />
des Long-QT-Syndroms eine Heterogenität der Repolarisation (Dispersion) mit<br />
verlängertem Aktionspotential der Muskelzellen in der mittleren Myokardschicht<br />
und kürzeren Aktionspotentialen in den Zellen des Epikards beschrieben. Diese<br />
Mechanismen initiieren dann die Torsades de pointes Tachykardien.<br />
Genetik<br />
Es ist mittlerweile gelungen, bei dem Long-QT-Syndrom sieben krankheits-
Nr. 2 / 2008<br />
<strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Seite 15<br />
verursachende Gene zu identifizieren. Dies betrifft überwiegend das angeborene<br />
Long-QT-Syndrom. Aber auch bei der Entwicklung der erworbenen Form geht man<br />
heute von dem Vorliegen einer genetischen Disposition aus. Diese bleibt unter normalen<br />
Bedingungen ohne erkennbare Folgen, führt aber zu einer Verminderung<br />
der Repolarisationsreserve. Werden die Betroffenen dann allerdings Einflüssen<br />
ausgesetzt, die die Repolarisationsflüsse hemmen, kann sich ein Long-QT-Syndrom<br />
manifestieren.<br />
Klinik<br />
Symptome sind u.a. Palpitationen, Unwohlsein, Synkopen und schlimmstenfalls der<br />
plötzliche Herztod. Die Symptome treten bei dem angeborenen Long-QT-Syndrom<br />
je nach Gendefekt in Stresssituationen mit erhöhtem Sympathikotonus oder aber<br />
in Ruhe, zum Beispiel in den frühen Morgenstunden, auf. Bei dem erworbenen<br />
QT-Syndrom stehen die Symptome im Zusammenhang mit der Einnahme von QT-<br />
Zeit verlängernden Medikamenten und/oder die QT-Zeit verlängernden klinischen<br />
Begleitumständen.<br />
Frauen haben im Vergleich zu Männern ein zwei- bis dreimal höheres Risiko für<br />
das Auftreten von Arrhythmien.<br />
Frauen sind deutlich<br />
häufiger betroffen<br />
QT-Zeit verlängernde Medikamente und klinische Begleitumstände<br />
Zu den Medikamenten, die die Repolarisation beeinflussen, gehören bekann-<br />
Tabelle 1: Liste der Medikamente, die das QT-Intervall verlängern können<br />
Antiarrhythmika<br />
Amiodaron<br />
Chinidin**<br />
Sotalol**<br />
Flecainid<br />
Andere kardiovaskuläre<br />
Medikamente<br />
Dobutamin, Dopamin<br />
Epinephrin, Norepinephrin<br />
Indapamid<br />
Isradipin<br />
Midodrin<br />
Psychotrope Medikamente<br />
Amitriptylin<br />
Chloralhydrat<br />
Citalopram<br />
Chlorpromazin<br />
Clomipramin<br />
Doxepin<br />
Felbamat<br />
Fluoxetin<br />
Flupentixol<br />
Galantamin<br />
Haloperidol<br />
Imipramin<br />
Levomepromazin<br />
Lithium<br />
Methadon<br />
Methylphenidat<br />
Nortriptylin<br />
Olanzapin<br />
Paroxetin<br />
Quetiapin<br />
Risperidon<br />
Sertindol<br />
Sertralin<br />
Thioridazin<br />
Tizanidin<br />
Trimipramin<br />
Venlafaxin<br />
Medikamente gegen<br />
Erkrankungen<br />
des Verdauungstrakts<br />
Dolasetron<br />
Domperidon<br />
Granisetron<br />
Octreotid<br />
Ondansetron<br />
Sibutramin<br />
Medikamente gegen<br />
Erkrankungen<br />
des Respirationstrakts<br />
Salbutamol<br />
Salmeterol<br />
Terbutalin<br />
Medikamente gegen<br />
bakterielle Infektionen<br />
Azithromycin<br />
Ciprofloxacin<br />
Clarithromycin<br />
Erythromycin<br />
Levofloxacin<br />
Moxifloxacin<br />
Ofloxacin<br />
Roxithromycin<br />
Trimethoprim-Sulfamethoxazol<br />
Medikamente gegen<br />
virale Infektionen<br />
Amantadin<br />
Foscarnet<br />
Medikamente gegen<br />
parasitäre Infektionen<br />
Chloroquin<br />
Mefloquin<br />
Medikamente gegen Mykosen<br />
Pentamidin<br />
Fluconazol<br />
Itraconazol<br />
Ketoconazol<br />
Voriconazol<br />
Verschiedene Medikamente<br />
Alfuzosin<br />
Phenylephrin<br />
Phenylpropanolamin<br />
Pseudoephedrin<br />
Tacrolimus<br />
Tamoxifen<br />
Der Effekt dieser Medikamente auf die<br />
Verlängerung des QT-Intervalls ist sehr<br />
unterschiedlich. Der doppelte Stern<br />
** weist auf ein erhöhtes Risiko für<br />
Torsades de pointes hin.
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Nr. 2 / 2008<br />
Oft sind mehrere<br />
Medikamente<br />
beteiligt<br />
termaßen die Antiarrhythmika der Klasse I und III, wie zum Beispiel Sotalol und Flecainid.<br />
Aber auch eine große Anzahl nicht kardialer Medikamente wie zum Beispiel<br />
bestimmte psychotrope Medikamente (Citalopram u.a.), Antibiotika (Erythromycin<br />
u.a.) sowie Medikamente bei Erkrankungen des Verdauungs- beziehungsweise<br />
Respirationstrakts (Domperidon , Salbutamol u.a. – siehe Tabelle 1), können das QT-<br />
Intervall verlängern. Wichtig: Unter folgenden Internetadressen können regelmäßig<br />
aktualisierte Listen der entsprechenden Medikamente (www.qtsyndrome.ch aus der<br />
Schweiz und www.qtdrugs.org aus Amerika) abgerufen werden.<br />
Abgesehen von den oben genannten Antiarrhythmika oder überdosierten psychotropen<br />
Medikamenten ist in der Praxis aber selten ein Medikament allein für<br />
die Entwicklung von Torsades de pointes Kammertachykardien verantwortlich.<br />
Vielmehr liegt in der Regel eine Kombination verschiedener, das QT-Intervall<br />
verlängernder Faktoren vor:<br />
zum Beispiel können zwei die Repolarisation verlängernde Medikamente miteinander<br />
kombiniert worden sein (denkbar ist die Konstellation Psychopharmakon<br />
und zusätzliche Gabe eines Antibiotikums wegen eines Infektes),<br />
oder der Plasmaspiegel eines in Tabelle 1 aufgeführten Medikamentes wird<br />
durch Verlangsamung seines Katabolismus (Hemmung von CYP3A4) deutlich<br />
erhöht (Interaktion auch mit einem Medikament, das selber die QT-Zeit nicht<br />
beeinflusst),<br />
oder es tritt bei einem Patienten, der Psychopharmaka einnimmt, plötzlich ein<br />
AV-Block mit schwerer Bradykardie auf.<br />
Besondere Vorsicht beim Verschreiben von QT-Zeit verlängernden Medikamenten<br />
sollte auch bei älteren Patienten mit Nierenfunktionsstörung und Bradykardie<br />
gelten.<br />
Schlussendlich können Torsades de pointes Tachykardien aber auch ohne medikamentöse<br />
Behandlung vorkommen, zum Beispiel im Rahmen einer ausgeprägten<br />
Bradykardie oder Hypokaliämie. Weitere Risikofaktoren für die Entwicklung von<br />
Torsades de pointes Tachykardien können Sie aus der Tabelle 2 entnehmen.<br />
Tabelle 2: Risikofaktoren für die Entwicklung<br />
von Torsades de pointes<br />
Weibliches Geschlecht,<br />
Bradykardie (
Nr. 2 / 2008<br />
<strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Seite 17<br />
Diagnose des erworbenen Long-QT-Syndroms<br />
Voraussetzung ist die Messung des QT-Intervalls im Oberflächen-EKG und die<br />
Korrektur des Messwertes entsprechend der Herzfrequenz nach der Formel von<br />
Bazett (oder die Verwendung der Daten aus einem automatisch ausgewerteten<br />
EKG – siehe weiter unten):<br />
Diagnose mit<br />
Taschenrechner oder<br />
Langzeit-EKG<br />
QTc =<br />
QT-Abstand in ms<br />
RR-Abstand in s<br />
oder<br />
QTc =<br />
QT-Abstand in ms<br />
60<br />
Herzfreq. pro Min.<br />
Die Diagnose eines erworbenen Long-QT-Syndroms kann dann gestellt werden,<br />
wenn folgende drei Bedingungen erfüllt sind:<br />
1. Messung einer korrigierten QT-Zeit (QTc) von mehr als 470 ms bei Frauen und<br />
mehr als 450 ms bei Männern,<br />
2. medikamentöse Therapie oder klinische Begleitumstände, die die QT-Zeit verlängern<br />
(siehe Tabellen) und<br />
3. normales QT-Intervall in einem Vergleichs-EKG oder Normalisierung des EKGs<br />
nach Absetzen des verdächtigen Medikamentes.<br />
Im Vorfeld von Torsades de pointes Tachykardien werden häufig Abfolgen von<br />
kurzen und langen RR-Intervallen sowie manchmal auffällig große T- und U-Wellen<br />
beobachtet. Die Analyse des QT-Intervalls kann sich schwierig gestalten, vor allem<br />
wenn noch eine abnormale U-Welle vorliegt. Empfohlen wird in diesem Fall die<br />
Messung des QTU-Intervalls. Zur Erkennung einer bedeutungslosen U-Welle werden<br />
als Kriterien eine kleine Amplitude oder das Vorhandensein einer isoelektrischen<br />
Linie zwischen T- und U-Welle genannt.<br />
Behandlung von Torsades de pointes Tachykardien<br />
Ein Patient mit Torsades de pointes Tachykardien muss unverzüglich hospitalisiert<br />
und sein Rhythmus muss überwacht werden. Das die QT-Zeit verlängernde Medikament<br />
ist sofort abzusetzen und Faktoren, die das Arrhythmierisiko erhöhen, sind zu<br />
korrigieren, wie zum Beispiel eine intravenöse Kaliumgabe bei Hypokaliämie. Ebenfalls<br />
wird eine parenterale Magnesiumgabe (1 bis 2 g intravenös, Dosisreduktion<br />
bei Niereninsuffizienz) empfohlen. Bei Therapieresistenz soll gemäß den Empfehlungen<br />
in dem anfangs genannten Artikel die Herzfrequenz auf 80 bis 100 Schläge<br />
pro Minute mittels eines provisorischen Schrittmachers oder eventuell mit einer<br />
Isoprenalininfusion angehoben werden. Die Implantation eines Defibrillators sei im<br />
Allgemeinen bei dem erworbenen Long-QT-Syndrom nicht erforderlich.<br />
Clobutinol: QTc-Verlängerung<br />
Der freiverkäufliche Hustenblocker Clobutinol (z.B. Silomat® Tropfen, viele Generika) wurde aus dem Handel<br />
genommen. Berichte über Arrhythmien und Torsades de pointes führten auf Aufforderung der deutschen<br />
Überwachungsbehörde zu einer Studie des Herstellers, in der eine dosisabhängige Verlängerung des QTc-<br />
Intervalles bei gesunden Probanden verifiziert wurde. Clobutinol ist ein Arzneistoff, der seit mehr als 40 Jahren<br />
eingesetzt wird und dessen Wirksamkeit und Risikopotential entsprechend den damaligen Zulassungsvorschriften<br />
nur unzureichend überprüft wurde.<br />
Auch nach einer jahrzehntelangen Anwendung kann ein Arzneistoff bezüglich neuer Risiken noch Überraschungen<br />
bergen. Eine hohe Dunkelziffer von UAW ist gerade bei freiverkäuflichen Arzneimitteln bekannt,<br />
da Patienten über selbst gekaufte Arzneimittel selten von sich aus berichten und – im Fall von Clobutinol –<br />
aufgetretene Herzkomplikationen nicht mit einem Hustenmittel in Verbindung bringen. Die Verordnung von<br />
Kodein als Antitussivum sollte weiterhin vorgezogen werden. Quelle: Dt. Apo.Ztg. 2007; 147: 48-50
Seite 18 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Nr. 2 / 2008<br />
Bedeutung<br />
für<br />
unsere<br />
Praxis<br />
Was bedeutet das Long-QT-Syndrom für meine Praxis?<br />
Zu allererst: Daran denken und bewusst auf dem Ausdruck des Ruhe-EKGs bei<br />
den Messwerten nach den Werten für die QT- bzw. genauer die korrigierte QT-<br />
Zeit (QTc-Zeit) schauen bzw. die QT-Zeit auch selbst durch Anlegen des EKG-<br />
Lineals messen und auf die aktuelle Herzfrequenz umrechnen. Die maximale<br />
QT-Zeit sowie die maximale korrigierte QT-Zeit werden auch bei einer modernen<br />
Langzeit-EKG-Auswertesoftware im Protokoll angegeben. Allerdings sollte man<br />
hier manuell nachmessen und -rechnen, da Artefakte im LZ-EKG zu falsch berechneten<br />
QTc-Zeiten führen können. Achtung, bitte beachten: Bei Schrittmacherinduzierten<br />
Aktionen und bei Schenkelblock ist die QT-Zeit nicht verwertbar.<br />
Die gleichzeitige Verordnung mehrerer Medikamente mit bekannter, die Repolarisation<br />
verlängernder Wirkung vermeiden.<br />
Das QT- bzw. QTc-Intervall vier bis sieben Tage nach Einleiten einer Therapie<br />
mit QT-Zeit verlängernden Medikamenten kontrollieren.<br />
Bei einer Behandlung, die nicht wirklich essentiell ist, das Medikament bei einer<br />
Erhöhung der QTc-Zeit um 30 ms oder einem Wert von mehr als 470 ms<br />
absetzen; bei wichtiger Behandlung und Fehlen therapeutischer Alternativen<br />
kann ein QTc-Wert bis 500 ms toleriert werden, sofern das Medikament gut<br />
vertragen wird und im LZ-EKG keine Arrhythmien registriert werden; liegt die<br />
QTc-Zeit über 500 ms, muss es in der Regel abgesetzt werden.<br />
Spezielle Vorsicht walten lassen bei Frauen, älteren Patienten/innen und bei<br />
Patienten/innen mit bekannter Bradykardieneigung (zum Beispiel Sick-Sinus-<br />
Syndrom). Bei diesen Patienten, wenn möglich, ganz auf die Gabe QT-Zeit<br />
verlängernder Medikamente verzichten oder, wenn dies nicht möglich ist, engmaschig<br />
das Ruhe-EGK kontrollieren.<br />
Bei Patient/Innen unter QT-Zeit verlängernder Medikation, wenn möglich, auf<br />
die zusätzliche Gabe eines Diuretikums verzichten oder ein kaliumsparendes<br />
Präparat wählen.<br />
Patienten/innen, die ein Long-QT-Syndrom entwickelt haben, darauf hinweisen,<br />
dass sie dieses auch unter zahlreichen anderen Medikamenten entwickeln können<br />
und ihnen ggf. eine Tabelle mit den aufgelisteten Medikamenten mitgeben.<br />
Das Gleiche gilt für Patienten/innen mit angeborenem Long-QT-Syndrom.<br />
Interessenkonflikte: keine<br />
Literatur:<br />
1 Medikamente und verlängertes QT-Intervall. Delacrétaz E: Schweiz Med Forum. 2007; 7 (40): 814-819<br />
Kurze<br />
Meldung<br />
Bundesverfassungsgericht nimmt Klage nicht an<br />
Viagra bleibt Privatsache<br />
Potenzmittel wie Viagra sind seit 2004 (damals trat das Gesetz zur Modernisierung<br />
der gesetzlichen Krankenversicherung in Kraft) definitiv nicht mehr auf Kassenrezept<br />
verordnungsfähig, auch wenn die Erkektionsstörung Folge einer Krankheit<br />
ist. Das wollte ein Diabetiker nicht akzeptieren; er verklagte seine Krankenkasse<br />
und wollte erreichen, dass diese die Kosten für das Potenzmittel übernimmt. Das<br />
zuständige Sozialgericht lehnte dies für die Zeit ab 2004 ab und verwies auf das<br />
oben erwähnte Gesetz.<br />
Dagegen erhob der Mann Verfassungsbeschwerde. Das Bundesverfassungsgericht<br />
hat diese aber nicht zur Entscheidung angenommen. Sie ist nach Ansicht der Kammer<br />
unzulässig, da sie nicht hinreichend begründet wurde. Mit Blick auf sein Recht<br />
auf körperliche Unversehrtheit habe sich der Kläger weder mit der angefochtenen<br />
Entscheidung des Bundessozialgerichts noch mit der einschlägigen Rechtsprechung<br />
des Bundesverfassungsgerichts auseinander gesetzt.<br />
Beschluss vom 28. Februar 2008 – 1 BvR 1778/05
Nr. 2 / 2008<br />
<strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Seite 19<br />
Wenn der Wolff nach den Kopfläusen schnappt ...<br />
Das angeblich so tolle Mittel<br />
hat bei jedem Dritten versagt<br />
Dr. med. Klaus Ehrenthal<br />
Am 25.02.2008 veröffentlichte der Geschäftsführer des Herstellers eines Dimeticonhaltigen<br />
Läusemittels in überregionalen Tageszeitungen (FAZ, Süddeutsche), in der<br />
Ärzte Zeitung sowie in einem Rundschreiben an die Apothekerschaft einen ganzseitigen<br />
„offenen Brief an die Gesundheitsministerin“ (…“Ich will deutsche Kinder<br />
von Pestiziden befreien, und keiner hilft mir dabei….“) unter Hinweis auf „mehrere<br />
klinische Studien“, die die „einwandfreie Wirkung“ seines Produktes (Etopril ® der<br />
Firma Dr. Wolff) nachgewiesen hätten [1, 2].<br />
Dazu schreibt das arznei-telegramm [1] unter Hinweis darauf, dass bislang nur eine<br />
einzige kontrollierte Studie aus Großbritannien [3] zu dem Wirkstoff vollständig<br />
veröffentlicht wurde, dass die geprüfte vierprozentige Dimeticon-Lösung (in Großbritannien:<br />
Hedrin ® ) bei jedem Dritten versagt hatte. Auch wird die Gleichwertigkeit<br />
mit herkömmlichen Insektiziden bestritten, unter anderem, weil die Wirksamkeit<br />
von Dimeticon einen bis zu 19 Prozent schlechteren Erfolg zeigte als die in Großbritannien<br />
gewählte Vergleichssubstanz Malathion.<br />
Beiträge<br />
der<br />
Redaktion<br />
Dimeticon<br />
versagt<br />
bei jedem Dritten<br />
Die Wirkung des Kunststoffes Dimeticon soll durch Überziehen und Einhüllen der<br />
Läuse mit der Substanz und nicht durch toxische Wirkung wie bei Insektiziden<br />
eintreten. Inzwischen wird von dem Hersteller über die Apotheken unter anderem<br />
auch mit Empfehlungen des IQWiG [9] geworben, wobei der Vorteil von Dimeticon<br />
nicht nur in der Insektizidfreiheit liege, sondern auch in der Wirksamkeit. Dem<br />
widerspricht allerdings die genannte Arbeit von Burgess et al. [1, 3].<br />
Verschwiegen wurde in dieser „groß angelegten Werbungsmaßnahme“ [1],<br />
dass das Umweltbundesamt bereits ein insektizidfreies Medizinprodukt geprüft<br />
und auch in die Entwesungsliste 19 nach §18 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG)<br />
aufgenommen hat [4]. Es handelt sich um das nicht apothekenpflichtige Kokosölhaltige<br />
Mosquito-Läuseshampoo ® , das im arznei-telegramm bereits 2006 beurteilt<br />
worden war [5]. Die Firma Dr. Wolff hat für ihr Dimeticon-haltiges Produkt erst im<br />
November 2007 einen entsprechenden Prüfungsantrag beim Umweltbundesamt<br />
gestellt [2], der in der Regel ein bis zwei Jahre bis zur Bearbeitung braucht.<br />
Nur für Kinder gibt es einige Mittel auf Kassenrezpet<br />
Beide nicht apothekenpflichtigen Mittel sowie die apothekenpflichtigen Mittel<br />
sind trotz anderslautender Informationen in der Regel nicht erstattungsfähig in der<br />
G<strong>KV</strong>. Ausnahmen zur Nicht-Erstattungspflicht sind bei apothekenpflichtigen Mitteln<br />
Verordnungen für Kinder bis zum vollendeten 12. Lebensjahr sowie für körperlich<br />
und geistig Behinderte bis zum vollendeten 18. Lebensjahr. Die Medizinprodukte<br />
(Kokosöl-Präparat, Dimeticon-Präparat) sind weder rezeptpflichtig noch zu Lasten<br />
der G<strong>KV</strong> verordnungsfähig.<br />
Nach § 34, Abs.5 IfSG sind Eltern verpflichtet, an vom Kind/Jugendlichen besuchte<br />
Gemeinschaftseinrichtungen (z.B. Kindergarten, Kinderhort, Schule, Heime)<br />
bei Läusebefall Mitteilungen darüber zu machen. Erziehungsberechtigte sollen die<br />
Durchführung der Behandlung bestätigen, ein ärztliches Attest zur „Läusefreiheit“<br />
ist je nach örtlicher Regelung durch das Gesundheitsamt meist nicht erforderlich [7].<br />
Beim RKI findet sich ein umfassendes Merkblatt zur Behandlung von Kopfläusen für<br />
Eltern [6] und für Ärzte [7]. Ein weiteres ausführliches Merkblatt für Eltern wurde<br />
vom IQWiG herausgegeben [9]. Einen entsprechenden Link finden Sie auf der
Seite 20 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Nr. 2 / 2008<br />
Homepage der <strong>KV</strong> Hessen unter www.kvhessen.de > Wir über uns > Publikationen<br />
> <strong>KV</strong>H aktuell Pharmakotherapie > Zusatzinformationen Pharmakotherapie.<br />
Was bedeutet das für die Praxis?<br />
Da Kopfläuse ohne Behandlung nicht verschwinden, sind folgende länger dauernden<br />
Maßnahmen erforderlich [5, 6, 7, 8, 9]:<br />
Anwendung eines Läusemittels auf Insektizidbasis (Alletrin- (z.B. Jacutin N ® ),<br />
Permethrin- (z.B. Infectopedul ® ) oder Pyrethrum-haltige Mittel (z.B. Goldgeist<br />
forte ® ), entsprechend der Entwesungsliste 19 des BVL [4, 5], die je nach Herstellerangaben<br />
längere Zeit auf der Kopfhaut verbleiben sollten. Dabei kann es<br />
zu Haut- und Schleimhautreizung (an Augen, Mund, Nase) kommen.<br />
Lindan-haltige Produkte sind inzwischen seit dem 01.01.2008 in der EU wegen<br />
neurotoxischer Bedenken nicht mehr zugelassen.<br />
Anwendung eines speziellen Läusekamms (0,2-0,3 mm Zinkenabstand,<br />
in Apotheken erhältlich, keine Kassenleistung) zum geduldigen täglichen Auskämmen<br />
Strich für Strich der zuvor 10 Minuten lang mit Essigwasser (= 1 Teil<br />
sechsprozentiger Speiseessig auf 2 Teile Wasser) eingeweichten, feuchten Haare,<br />
mindestens jedoch alle vier Tage, zwei Wochen lang [8].<br />
Die Anwendungen der Läusemittel sind im Wochenabstand (optimal am<br />
9. Tag nach Erstbehandlung) zu wiederholen. Rezidivinfektionen (auch durch<br />
Umgebungsinfektionen) oder neues Schlüpfen von Läusen aus verbliebenen<br />
Nissen sind nicht selten, denn geschlüpfte weibliche Läuse legen bereits ab dem<br />
11. Tag weitere Eier.<br />
Bei Unverträglichkeit von Insektiziden kann die Behandlung mit einem<br />
Präparat auf Kokosölbasis (z.B. Sprays oder Shampoo Mosquit-Läuseshampoo ® )<br />
oder dem Dimeticon-Präparat (wie Etopril ® ) erwogen werden. Diese Mittel wirken<br />
schwächer [3, 5].<br />
Interessenkonflikte: keine<br />
Literatur:<br />
1 Vorsicht Desinformation: Dr. Wolff und das Kopflausmittel Etopril.<br />
Blitz-a-t vom 26.02.2008. http://.www.arznei-telegramm.de/blitz-pdf/b080226.pdf<br />
2 Dörrenberg E, zitiert nach Kuchenbuch P, Dahm G. in: Von Listen und Läusen. Financial Times Deutschland vom<br />
26.02.2008<br />
3 Burgess IF, Brown CM, Lee PN. Treatment of head louse infestation with 4% dimeticone lotion: randomised<br />
controlled equivalece trial. BMJ 2005;330:1423-5<br />
4 Sog. Entwesungsliste des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit:<br />
www.bvl.bund.de > Bedarfsgegenstände > Mittel zur Schädlingsbekämpfung<br />
5 Behandlung von Kopfläusen. a-t 2006;37:79-83<br />
6 Merkblatt für Eltern u.a. zum Kopflausbefall: www.rki.de > Infektionskrankheiten A-Z > Kopflausbefall<br />
7 Kopflausbefall – RKI-Ratgeber und Merkblatt für Ärzte aktualisiert, abrufbar unter:<br />
http://www.rki.de/cln_048/nn_468404/sid_816D124800283720EC...<br />
8 Ehrenthal K. Behandlung bei Kopflausbefall. <strong>KV</strong>H aktuell Pharmakotherapie 2007 (12), 2:8-9<br />
9 Gesundheitsinformation.de, Merkblatt Kopfläuse: Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen<br />
(IQWiG). Zuletzt aktualisiert am 14.03.08<br />
http://www.gesundheitsinformation.de/kopflaeuse.417.56.de.html.
Nr. 2 / 2008<br />
<strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Seite 21<br />
Potenzmittel: Plötzlicher Hörverlust<br />
Mehrere Einzelfälle eines plötzlichen Hörverlustes, mit oder ohne begleitende vestibuläre<br />
Symptome, hat die amerikanische Überwachungsbehörde FDA veranlasst,<br />
die Hersteller der Phosphodiesterase-5-Inhibitoren Sildenafil (Viagra ® ), Tardalafil<br />
(Cialis ® ) und Vardenafil (Levitra ® ) aufzufordern, vor diesem vermutlichen Risiko zu<br />
warnen. Bei Auftreten eines Hörverlustes sollen Patienten die Präparate absetzen<br />
und Rücksprache mit ihrem Arzt nehmen.<br />
Quelle: Dtsch.Apo.Ztg. 2007; 147: 5076<br />
Sicherer<br />
verordnen<br />
Dr. med.<br />
Günter Hopf<br />
Fluorochinolone: Achillessehnenruptur<br />
Tendinitiden bis hin zu Sehnenrupturen sind unter der Einnahme aller Fluorochinolone<br />
(u. a. Ciprofloxacin, Levofloxacin, Norfloxacin, Ofloxacin) bekannt. Diese UAW<br />
wurde in dieser Serie bereits beschrieben, darunter auch der Fall einer Kollegin, bei<br />
der freitags nach provisorischer Versorgung einer Achillessehnenruptur und geplanter<br />
Operation am darauf folgenden Montag beim Stolpern am Sonntag auch die<br />
andere Achillessehne riss. In einem aktuellen Fallbericht wird noch einmal auf die<br />
Risikofaktoren hingewiesen, unter denen eine Tendopathie vermehrt auftreten kann<br />
(Grunddaten: Tendinitis: 0,1 – 0,01 % der behandelten Patienten, Sehnenruptur:<br />
weniger als 0,01 %):<br />
höheres Alter (bis 7-fach erhöhtes Risiko)<br />
Gabe von Glukokortikoiden (circa 3-fach erhöhtes Risiko)<br />
chronische Niereninsuffizienz (keine Risikoberechnung, Dosisanpassung bei<br />
eingeschränkter Nierenfunktion erforderlich).<br />
Eine Kombination dieser Risikofaktoren erhöht die Möglichkeit des Auftretens einer<br />
Tendopathie. Darüber hinaus kann eine erhebliche Latenzzeit zwischen der Einnahme<br />
und dem Auftreten einer Tendopathie bestehen (1 bis 510 Tage, Median 6 Tage).<br />
Die Beurteilung einer Kausalitätsbeziehung ist bei spätem Auftreten erschwert.<br />
Quelle: Dtsch Med. Wschr. 2008; 133: 241<br />
Neues Abfallgesetz macht es möglich<br />
Normale Arzneimittel<br />
in den Hausmüll werfen<br />
Letztes Jahr traten ein Gesetz zur Vereinfachung der abfallrechtlichen<br />
Überwachung und eine entsprechende Verordnung<br />
in Kraft. Nach Informationen der Arzneimittelkommission<br />
der Apotheker (AKApo) wird nur noch unterschieden zwischen<br />
den Kategorien „Arzneimittel“ und „zytotoxische und zytostatische<br />
Arzneimittel“. Erstere können – nachdem eine Lagerung von<br />
Hausmüll in Mülldeponien nicht mehr zulässig ist – in zuge lassenen<br />
Abfallverbrennungsanlagen (Hausmüllverbrennung) entsorgt<br />
werden, letztere gelten als besonders überwachungsbedürftiger<br />
Abfall und müssen mit Entsorgungsnachweis in zugelassenen<br />
Abfallverbrennungseinrichtungen (z.B. Sonderabfallverbrennung)<br />
entsorgt werden.<br />
Bei Patientenanfragen kann daher empfohlen werden, Restbestände<br />
von Arzneimitteln der ersten Kategorie mit dem normalen Hausmüll<br />
zu entsorgen. Die Arzneimittelkommission de Apotheker empfiehlt,<br />
Tabletten vor dem Wegwerfen aus den Blisterpackungen zu drücken<br />
und möglichst zu zerdrücken, Lösungen in aufsaugende Materialien<br />
wie Zellstoff, Streu etc. aufzunehmen.
Seite 22 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Nr. 2 / 2008<br />
Sicherer<br />
verordnen<br />
Dr. med.<br />
Günter Hopf<br />
Wichtig ist es, keine Arzneimittel über Abwasserleitungen zu entsorgen!<br />
Arzneimittel, insbesondere biologisch aktive Verbindungen wie Antibiotika, könnten<br />
biologische Klärstufen schädigen. Die Belastung durch Arzneimittel und deren Abbauprodukte<br />
aus menschlichen und tierischen Ausscheidungen war bereits Anlass<br />
von Untersuchungen. In Deponiesickerwässern konnten bundesweit u.a. Analgetika<br />
wie Diclofenac, Antibiotika wie Tetrazykline und Sulfonamide, Antiepileptika wie<br />
Carbamazepin und verschiedene Röntgenkontrastmittel in Konzentrationen bis<br />
100 μg/l, in Oberflächengewässern ein Summengehalt aller Medikamente von über<br />
1 μg/l gefunden werden.<br />
Quellen: Pharm.Ztg. 2008; 153: 125, Drucksache 13/5449 des Landtages NRW vom 13.05.2004<br />
Piroxicam: Anwendungseinschränkungen<br />
In einem Rote-Hand-Brief der Hersteller/Vertreiber Piroxicam-haltiger Arzneimittel<br />
(viele Generika) wird auf neue Anwendungseinschränkungen hingewiesen. Der<br />
europäische Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) hatte dieses nicht-steroidale<br />
Antiphlogistikum (NSAID) mit erhöhtem Risiko gastrointestinaler UAW und Hautreaktionen<br />
neu bewertet. Piroxicam ist u.a.<br />
nur noch angezeigt bei aktivierter Arthrose, rheumatoider Arthritis oder M.<br />
Bechterew<br />
kein Arzneimittel der ersten Wahl<br />
nur bis zu einer maximalen Tagesdosis von 20 mg, nur in niedrigst wirksamer<br />
Dosis in kürzest erforderlichem Zeitraum anzuwenden, Anwendung bei Patienten<br />
über 80 Jahren vermeiden<br />
nicht angezeigt bei bekannten Risikogruppen für NSAID, insbesondere bei<br />
bekannten schwerwiegenden allergischen Hautreaktionen in der Anamnese,<br />
in Kombination mit anderen NSAID (cave Selbstmedikation!) oder Antikoagulantien.<br />
Die aufgezählten Einschränkungen, Gegenanzeigen und Vorsichtsmaßnahmen<br />
lassen die Frage zu, ob Piroxicam angesichts einer Vielzahl verfügbarer NSAIDs<br />
überhaupt noch eingesetzt werden sollte. Das Nutzen/Risiko-Verhältnis dieses<br />
Arzneistoffes ist grundsätzlich negativ zu bewerten, auch wenn unsere Überwachungsbehörde<br />
BfArM mit Schreiben vom 01.10.2007 ähnliche, nicht ganz so weit<br />
gehende Änderungen im Beipackzettel und der Fachinformation der anderen nicht<br />
selektiven NSAIDs angeordnet hat.<br />
Quellen: Rote-Hand-Brief, Dt.Apo.Ztg. 2007; 147: 4552<br />
Off-Label-Use:<br />
Lassen Sie es sich<br />
von der Kasse<br />
schriftlich geben<br />
Off-Label-Use: Kasse muss sich festlegen<br />
Neben dem Haftungsrisiko eines Off-Label-Uses besteht für den Arzt noch das<br />
Kos tenrisiko eines so genannten „Sonstigen Schadens“, den die Kassen in Form<br />
eines Regresses geltend machen können. Das Bundessozialgericht hat bereit 2006<br />
festgestellt (Az.: B6 KA 53/05 B), dass das Recht einer Ausweitung des Leistungskataloges<br />
der gesetzlichen Krankenkassen nur bei der Kasse selbst liege. Ein Arzt<br />
oder Patient muss daher vor einer Anwendung die Auffassung einer Kasse zu einem<br />
Off-Label-Use erfragen. Die Sachbearbeiter einer Kasse müssen erklären, warum<br />
die Kasse z.B. die Kosten nicht übernimmt. Der oft gehörte bequeme Hinweis der<br />
Kassensachbearbeiter an den Patienten „Fragen Sie doch Ihren Arzt“ ist nach Auffassung<br />
des BSG nicht mehr möglich.<br />
Quelle: Internist 2007; 48(11): 1260<br />
Interessenkonflikte Dr. Hopf: keine
Nr. 2 / 2008<br />
<strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Seite 23<br />
Aus dem Krankenhaus in die Hausarztpraxis<br />
Entlassmedikation verbesserungswürdig<br />
Veit Eck, Krankenhausapotheker *<br />
Zu umfangreich, zu teuer, zu schlecht abgestimmt – die Entlassmedikation<br />
der Krankenhäuser steht bei vielen niedergelassenen Ärzten und<br />
den Krankenkassen in der Kritik. Dabei gibt es gute Konzepte, um diese<br />
Schnittstelle zwischen dem stationären und dem ambulanten Bereich zu<br />
verbessern.<br />
Wenn ein Patient aus dem Krankenhaus entlassen wird, muss ihm meist ein niedergelassener<br />
Arzt sehr rasch ein Rezept ausstellen. Dabei kann die mangelnde Abstimmung<br />
an der Schnittstelle zwischen der stationären und ambulanten Versorgung<br />
unangenehme Folgen haben. Dazu zählen vor allem Compliance-Probleme beim<br />
Patienten und mögliche unerwünschte Neben- und Wechselwirkungen infolge von<br />
Arzneimittelumstellungen.<br />
Besonders häufig an der Entlassmedikation aus dem Krankenhaus kritisieren niedergelassene<br />
Ärzte einen Mangel an Informationen im Arztbrief. In manchen Fällen<br />
fehlen darin Angaben zur Dosierung der verordneten Arzneistoffe. Rückfragen<br />
des weiterbehandelnden Arztes können umständlich und langwierig sein, da der<br />
Verordner nicht greifbar ist. Den Patienten droht ein Abriss in der Versorgung und<br />
der Verlust der Arzneimittelwirkung.<br />
Zudem werden in den Krankenhäusern oft zu viele Arzneimittel verordnet. Das<br />
kann zu – mitunter schwer erkennbaren – Wechselwirkungen führen und Patienten<br />
überfordern, besonders wenn ihnen kein häuslicher Pflegedienst mit Hilfe zur Seite<br />
steht. In den Krankenhäusern stellt das Pflegepersonal die Medikamente und achtet<br />
auf die korrekte Einnahme. Diese Bedingungen fehlen, sobald der Patient wieder zu<br />
Hause ist. Wann er welches Arzneimittel einnehmen soll, ist ihm manchmal völlig<br />
unklar.<br />
In den Kliniken kommen häufig auch nicht verschreibungspflichtige Medikamente<br />
zum Einsatz, die im ambulanten Bereich nicht mehr zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung<br />
(G<strong>KV</strong>) verordnungsfähig sind. Über diese unerwarteten späteren<br />
Kosten werden die Patienten in den Kliniken nur selten informiert.<br />
Kritische<br />
Analyse<br />
In der ambulanten<br />
Welt geht es<br />
anders zu als im<br />
Krankenhaus<br />
Viele Originalia, kaum Generika<br />
Auch werden Patienten in der Klinik oft auf teure Markenpräparate eingestellt, die<br />
die Herstellerunternehmen zu einem symbolischen Preis an die Krankenhausapotheke<br />
liefern. In den Kliniken liegt der Anteil von Generika viel niedriger als im ambulanten<br />
Bereich, der von Me-Too-Präparaten dagegen weitaus höher. Bei Letzteren<br />
handelt es sich um chemische Abwandlungen von bereits eingeführten Wirkstoffen<br />
mit einer geringen therapeutischen Relevanz. In den Arztbriefen, die Patienten bei<br />
der Entlassung aus dem Krankenhaus erhalten, werden oft Handelsnamen anstatt<br />
der Wirkstoffe genannt. Doch die Weiterverordnung vieler Originalpräparate ist für<br />
den niedergelassenen Arzt unwirtschaftlich, besonders wenn preisgünstige Generika<br />
zur Verfügung stehen. Infolge einer teuren Entlassmedikation droht ihm sogar ein<br />
erhöhtes Regressrisiko.<br />
Kliniken in der Pflicht<br />
Das Krankenhaus ist gefordert, Modelle für eine bessere Entlassmedikation zu entwickeln.<br />
Von den Ergebnissen könnten alle Seiten profitieren: Der niedergelassene<br />
Arzt durch eine wirtschaftlichere Arzneitherapie, das Krankenhaus durch eine<br />
* Apotheke der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik, Großenbaumer Allee 250, 47249 Duisburg.<br />
E-Mail: veit.eck@bgu-duisburg.de
Seite 24 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Nr. 2 / 2008<br />
Uniklinik und<br />
Niedergelassene<br />
entwickelten<br />
gemeinsames<br />
Modell<br />
Mit den<br />
Niedergelassenen<br />
gemeinsame<br />
Strategie zur<br />
Arzneitherapie<br />
abstimmen<br />
Optimierung seiner Ressourcen und der Patient durch eine sichere und unkomplizierte<br />
Versorgung.<br />
Doch gibt es bisher nur wenige Ansätze zur Entwicklung einer gemeinsamen<br />
Schnittstelle stationär/ambulant. Als Bespiel kann das Modell Heicare dienen, das<br />
2005 von der Uniklinik Heidelberg und niedergelassenen Ärzten entwickelt wurde.<br />
Unter anderem wird bei der stationären Einweisung eines Patienten seine bisherige<br />
hausärztliche Medikation elektronisch an das Krankenhaus übermittelt. So lässt sie<br />
sich gegebenenfalls fortführen oder auf Alternativen umstellen, die in der Krankenhausapotheke<br />
vorrätig sind. Bei Entlassung des Patienten erfolgt eine Rückübersetzung<br />
auf die besonderen Verhältnisse unter ambulanten Bedingungen.<br />
Eine weitere Kooperation besteht seit 2007 in Remscheid zwischen dem SANA-<br />
Klinikum und niedergelassenen Ärzten vor Ort. Dabei wurde für die kardiovaskuläre<br />
Therapie eine gemeinsame Arzneimittelliste entwickelt.<br />
Als erster Schritt auf dem Weg zur Schnittstelle sollte jedes Krankenhaus bestrebt<br />
sein, ein geeignetes Konzept für die Entlassmedikation zu entwickeln. Dazu zählen<br />
eine strukturelle Überarbeitung der hauseigenen Arzneimittelliste und die Arztbriefschreibung<br />
ausschließlich mit dem internationalen Freinamen. Im Mittelpunkt<br />
aller Überlegungen steht immer die Optimierung der Arzneimitteltherapie und<br />
des Einsatzes der Ressourcen. Bei der Entwicklung der Konzepte ist pharmaökonomisches<br />
Wissen erforderlich. Dazu gehören Kenntnisse des Generika- und Festbetragsmarktes<br />
in Deutschland.<br />
Das Resultat dieser Überlegungen ist die Festlegung von Standards. Dabei lässt sich<br />
für jede Indikation ein Arzneistoff als Leitsubstanz definieren. Als ergänzende, wichtige<br />
Information dient die Angabe der »defined daily dose« (DDD) in Milligramm.<br />
Sie entspricht der durchschnittlichen Tagesdosis eines erwachsenen Patienten in<br />
einer bestimmten Indikation.<br />
Mit diesen Angaben lassen sich Arzneitherapien mit einem ähnlichen therapeutischen<br />
Nutzen wirtschaftlich vergleichen. Man kann die Kosten teurer Arzneimittel<br />
als ein Mehrfaches der Kosten für die DDD einer Leitsubstanz darstellen. Weiterhin<br />
sind mögliche Einsparpotenziale berechenbar, wenn eine Therapie konsequent mit<br />
der Leitsubstanz bevorzugt wird.<br />
Auf diese Weise lässt sich im Krankenhaus für jede Therapie eine Strategie erarbeiten,<br />
damit sie hohen qualitativen Ansprüchen genügt und zugleich wirtschaftlich<br />
ist. Bei welchen Indikationen sollte die Leitsubstanz bevorzugt werden? Für welche<br />
kommen die anderen Arzneistoffe der Gruppe infrage? Entsprechend werden die<br />
Arzneimittellisten des Krankenhauses überarbeitet.<br />
Im nächsten Schritt könnte mit den niedergelassenen Ärzten vor Ort eine gemeinsame<br />
Strategie zur Arzneitherapie abgestimmt werden. Die Verordner im stationären<br />
und ambulanten Bereich schaffen eine gemeinsame Plattform, entweder als Vertrag<br />
oder Arzneimittelliste – die Schnittstelle ist geschaffen.<br />
Leicht gekürzter Nachdruck aus der Pharmazeutischen Zeitung Nr. 5 / 2008.<br />
Wir bedanken uns bei Redaktion und Autor für die frreundliche Genehmigung.
Nr. 2 / 2008<br />
<strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Seite 25<br />
Den Industrie-Einfluss beschränken<br />
Dr. med. Dieter Lehmkuhl<br />
Den Einfluss der Gesundheitsindustrie auf Ärztinnen und Ärzte einzudämmen, ist<br />
das Ziel einer Kommission des American Board of Internal Medicine und des Institute<br />
of Medicine as Profession der New Yorker Columbia-Universität. Das Gremium hat<br />
eine weitreichende Reformagenda erarbeitet, deren Veröffentlichung im Journal<br />
of the American Medical Association (JAMA) im Januar 2006 [1] in Deutschland<br />
allerdings bislang wenig beachtet wurde. Dabei ist eine breite innerärztliche wie<br />
auch gesellschaftliche Diskussion dieser Thematik auch hierzulande überfällig.<br />
Trotz aller bisherigen Anstrengungen würden die Grenzen zwischen Patientenwohl<br />
und Profit regelmäßig überschritten, schreiben die Autoren im JAMA. Das<br />
Verhalten der Ärzte sei dabei ein großer Teil des Problems. Das Ansehen des Berufsstands<br />
und die Vertrauenswürdigkeit der Industrie stünden auf dem Spiel. Die<br />
Annahme, es reiche aus, Interessenkonflikte offenzulegen, um die wissenschaftliche<br />
Glaubwürdigkeit und das Patientenwohl zu wahren, sei ein Mythos. In Anbetracht<br />
dessen, dass 90 Prozent des 21 Milliarden Dollar umfassenden Marketingbudgets<br />
der US-Pharmaindustrie direkt auf Ärzte abzielen, sind nach Ansicht der Autoren<br />
strenge Regeln erforderlich, die die gängige Praxis der Zuwendungen beenden. Die<br />
Empfehlungen im Einzelnen:<br />
Es ist verboten, Geschenke oder Essenseinladungen anzunehmen sowie sich<br />
Reisekosten oder die Teilnahme an Tagungen oder Onlinefortbildungen finanzieren<br />
zu lassen.<br />
Ärzte sollen keine Medikamentenmuster annehmen. Ein Gutscheinsystem soll<br />
die Versorgung bedürftiger Patienten sicherstellen.<br />
Ärzte mit finanziellen Verbindungen zur Industrie sollen aus Kommissionen<br />
ausgeschlossen werden, die über die Erstattungsfähigkeit von Medikamenten<br />
oder den Kauf von Medizingeräten beraten oder entscheiden.<br />
Die Unterstützung zertifizierter Weiter- und Fortbildung durch die Industrie ist<br />
verboten. Firmen, die medizinische Fortbildung fördern wollen, sollten stattdessen<br />
in einen zentralen Fonds einzahlen.<br />
Beratungs- oder Vortragshonorare für Ärzte sollten ebenso wie die zu erbringenden<br />
Leistungen vertraglich festgehalten werden. „Fördermittel“ für Wissenschaftler,<br />
an die keine Bedingungen geknüpft sind, kommen Geschenken gleich<br />
und sind deshalb zu unterlassen.<br />
Industriegelder sollten statt an einzelne Wissenschaftler direkt an die Universitäten<br />
fließen und allgemeinen Forschungszwecken dienen.<br />
Mit der Umsetzung dieser Empfehlungen erhofft sich die Kommission eine Senkung<br />
der Arzneimittelausgaben, eine rationalere Pharmakotherapie und eine stärkere<br />
Orientierung an der ärztlichen Ethik. Einige renommierte medizinische Fakultäten<br />
haben diese Empfehlungen bereits umgesetzt, darunter die der Universitäten von<br />
Stanford, Pennsylvania und Yale. Seit Anfang des Jahres unterstützt eine Kampagne,<br />
die vom Prescription Project organisiert und von der gemeinnützigen Pew-Stiftung<br />
in Boston mit sechs Millionen Dollar unterstützt wird, die Umsetzung dieser Empfehlungen<br />
(www.pewtrusts.com; www.prescriptionproject.org).<br />
Kurze<br />
Meldung<br />
Die Korruption hat<br />
viele Gesichter<br />
Literatur:<br />
1 Brennan TA et al.: Health Industry Practices: That Create Conflicts of Interest. JAMA 2006; 295:429-33.<br />
Nachdruck aus Dtsch Arztebl 2007; 104(45): A-3091.<br />
Wir bedanken uns bei Redaktion und Autor für die freundliche Genehmigung<br />
Anmerkung der <strong>KV</strong>H-aktuell-Redaktion: In Deutschland kümmert sich das Netzwerk<br />
„MEZIS – Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte“ um ein sauberes<br />
und klares Verhältnis der Ärzte zur Pharmaindustrie und wehrt sich gegen die<br />
allfälligen Beeinflussungsversuche aus der Industrie. Kontakt: www.mezis.de.
Seite 26 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Nr. 2 / 2008<br />
Beiträge<br />
der<br />
Redaktion<br />
Die evidenzbasierte Medizin und das geozentrische Weltbild<br />
Steht der Hausarzt<br />
im Mittelpunkt der Welt?<br />
Dr. med. Joachim Feßler<br />
Der Streit, den die evidenzbasierte Medizin auslöst, und besonders die Diskussionen<br />
im hausärztlichen Bereich erinnern mich immer wieder an ein Thema, das mich<br />
schon zur Schulzeit fasziniert hat. Es geht um die Diskussion, ob das geozentrische<br />
Weltbild oder das heliozentrische Weltbild das Richtige ist. Da die katholische Kirche<br />
das geozentrische Weltbild übernahm, hat sie es auch heftig verteidigt. Zahlreiche<br />
Prozesse, Haft, Verbannung und Todesurteile wurden durch diesen im Mittelalter<br />
recht heftig geführten Disput ausgelöst.<br />
Wie konnte es dazu kommen? Erinnern wir uns an die theoretischen Grundlagen:<br />
Im geozentrischen Weltbild steht die kugelförmige Erde im Zentrum des Universums.<br />
Alle weiteren Himmelskörper (Mond, Sonne, Planeten) umkreisen die Erde<br />
in konzentrischen Sphären (durchsichtigen Hohlkugeln). Die äußerste Sphäre wird<br />
von den Fixsternen besetzt (das geozentrische Weltbild darf nicht mit dem Konzept<br />
der flachen Erde verwechselt werden!).<br />
Das geozentrische Weltbild wurde im klassischen Altertum in Griechenland eingeführt<br />
und setzte sich gegen frühe Meinungen, nicht die Erde, sondern die Sonne<br />
stehe im Mittelpunkt des Kosmos (Heliozentrisches Weltbild), durch. Bis zum Ende<br />
des Mittelalters war es in Europa allgemein verbreitet; daneben wurde es auch im<br />
alten China gelehrt. Wichtigster und einflussreichster Verfechter war Ptolemäus,<br />
weswegen wir auch vom Ptolemäischen Weltbild sprechen.<br />
Jeder war ein Experte<br />
und kannte aus<br />
eigener Erfahrung<br />
die „Beweise“<br />
Das geozentrische Weltbild basiert auf der Ansicht, dass die Erde mit den Menschen<br />
das Zentrum des Universums sei und dass die Schöpfung alle Himmelskörper auf<br />
perfekte Kreisbahnen geschickt habe. Wichtigster Beweis für die Annahme des<br />
geozentrischen Weltbildes war die Beobachtung der Schwerkraft: Alles Gewichtige,<br />
schloss man daraus, strebt seinem natürlichen Ort zu, dem Mittelpunkt der ganzen<br />
Welt. Von der Sonne und den Planeten nahm man dagegen an, sie bestünden aus<br />
einem überirdischen fünften Element (lateinisch Quintessenz), dessen natürliche<br />
Bewegung die perfekte Kreisbahn sei.<br />
Die eminenzbasierte Erkenntnis<br />
Jeder war Experte für dieses Weltbild, denn jeder konnte selbst beobachten, dass<br />
sich die Sonne anscheinend um die Erde drehte. Diesen Beobachter nennen wir mal<br />
Eminenz (im Sinne von Experte). Somit war es eine eminenzbasierte Meinung, die<br />
sicherlich auf gewissenhafter Beobachtung beruhte. Sie wurde mit anderen Beobachtern<br />
diskutiert, die alle auf Grund der ihnen zur Verfügung stehen Methoden<br />
zu dem gleichen Resultat kamen. So wurde es Lehrmeinung der Eminenzen, später<br />
auch Lehrmeinung der katholischen Kirche.<br />
Erst die Arbeiten von Kopernikus und Keppler, die mit neueren Beobachtungen und<br />
Messmethoden (z.B. elliptische Planetenbahnen) einzelnen Zweifeln am geozentrischen<br />
Weltbild nachgingen (u.a. Fernrohre, neue Methoden der Mathematik, die Erkenntnisse<br />
der Gravitationstheorie etc.) erwiesen das heliozentrische Weltbild als das Richtige.<br />
An diesem jahrhundertealten und -langen Disput kann man gut erkennen, dass die<br />
einzelne Wahrnehmung (eminenzbasiert) relativ ist und durchaus – obwohl in<br />
sich schlüssig – nicht den wahren Sachverhalt wiedergeben muss.
Nr. 2 / 2008<br />
<strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Seite 27<br />
Das geozentrische<br />
Weltbild des<br />
Ptolemäus hielt<br />
sich unter anderem<br />
deswegen so<br />
hartnäckig, weil es<br />
vielen Zeitgenossen<br />
angesichts der eigenen<br />
Erfahrungen plausibel<br />
erschien. Die neuen<br />
wissenschaftlichen<br />
Erkenntnisse setzten<br />
sich erst langsam durch<br />
und stießen nicht nur<br />
bei den Eminenzen<br />
auf Widerwillen. Hier<br />
zeigen sich gewisse<br />
Parallelen zur heutigen<br />
evidenzbasierten<br />
Medizin.<br />
Die Medizin hat heute ähnliche Probleme<br />
Womit die Brücke zur evidenzbasierten Medizin geschlagen ist: Auch sie trifft auf<br />
ein Weltbild, das durch Einzelbeobachtungen geprägt ist, die durch jahrelange<br />
Erfahrung als Kontrollinstrument selten hinterfragt werden. Der Kern der evidenzbasierten<br />
Medizin ist es jedoch, den Beobachter möglichst ohne Einfluss auf das<br />
Geschehen zu machen. So werden die Untersucher und Patienten „verblindet“, die<br />
zu untersuchenden Therapien zufällig auf die Gruppen verteilt (z.B. Verum versus<br />
Placebo), also randomisiert. Darüber hinaus wird die Zahl der untersuchten Patienten<br />
so groß gewählt, dass einzelne „Zufälle“ keinen Einfluss mehr auf das Gesamtergebnis<br />
gewinnen können. Die Ergebnisse werden nun statistisch ausgewertet und<br />
berechnet, man nimmt einen Effekt an, wenn die Unterschiede „signifikant“ sind.<br />
Sie sind somit evidenzbasiert.<br />
Diese Ergebnisse können nun von den Theorien und Lehrmeinungen, die durch<br />
Beobachtung, Einschätzung und vielleicht Fehlinterpretation einzelner „Zufälle“<br />
entstanden sind, abweichen, ihnen teils widersprechen. Dass hierdurch heftige<br />
Diskussionen ausgelöst werden, liegt auf der Hand. Dies gilt besonders, wenn die<br />
neuen „Beobachtungsinstrumente“ nicht anerkannt und gewürdigt werden.<br />
Ein bisweilen schmerzlicher Weg für Hausärzte<br />
Nichtsdestoweniger müssen auch wir Hausärzte, die wir durch jahrelange Erfahrung<br />
geprägt sind, diesen schmerzlichen Weg gehen und anerkennen, dass gewisse<br />
Ereignisse erst sichtbar werden, wenn Tausende von gleichen „Fällen“ beobachtet<br />
werden, und dass die Ergebnisse nur glaubhaft sind, wenn „randomisiert und verblindet“<br />
wurde und weitere statistische Spielregeln (unter anderem Powerberechnung,<br />
intention to treat Auswertung etc.) eingehalten wurden.<br />
Ein Weg, der genauso schmerzhaft sein kann, wie der Weg, den die Anhänger<br />
des geozentrischen Weltbildes gehen mussten.<br />
Jedoch gewinnen wir nun eine ganz neue Aufgabe: Die Erkenntnisse dieser<br />
zahlreichen Studien sind nicht so ohne Weiteres auf unsere einzelnen, haus-<br />
Beweis ersetzt<br />
die Behauptung<br />
ex cathedra<br />
Eine neue Aufgabe<br />
für Hausärzte
Seite 28 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Nr. 2 / 2008<br />
Multimorbidität<br />
bildet sich<br />
in Studien selten ab<br />
Unsere Patienten<br />
sind oft<br />
anders als die<br />
Studienpopulationen<br />
ärztlichen Patienten übertragbar. Unsere Patienten können sich erheblich von einer<br />
Studienpopulation unterscheiden, d.h. sie finden sich im Studiendesign nur bedingt<br />
wieder. Sie sind häufig multimorbide und haben eine Multimedikation, teils treten<br />
Interaktionen durch die hohe Anzahl gleichzeitig eingenommener Arzneimittel<br />
auf oder es bestehen schlicht Unverträglichkeiten oder Kontraindikationen. Die<br />
Studienpopulation hingegen hat enge Einschluss- bzw. Ausschlusskriterien, häufig<br />
ist maximal eine Begleitkrankheit zum Einschluss zulässig.<br />
Zudem wird an der Studienpopulation meistens nur ein Wirkstoff gegen Placebo<br />
gemessen, jedoch nicht konkurrierende Wirkstoffe gegeneinander. In vielen Studien<br />
sind Frauen unterrepräsentiert, die Patienten häufig jünger als 70 Jahre, viele Studien<br />
werden nicht an Mitgliedern der in Europa häufigen Bevölkerung kaukasischer<br />
Abstammung durchgeführt. Unsere Problempatienten unterliegen im Allgemeinen<br />
den Ausschlusskriterien einer Studienpopulation, werden also in einer Studie gar<br />
nicht repräsentiert.<br />
Oder – was gar nicht selten ist – sie nehmen ihre individuellen Patientenrechte<br />
wahr und lehnen eine vorgeschlagene Therapie einfach ab, da ihnen die Vorteile<br />
und die Nachteile zu nahe beieinander zu liegen scheinen.<br />
Erfahrung und Evidenz sind Markenzeichen des guten Hausarztes<br />
Doch zu allen diesen Problemen braucht der Patient einen fachkundigen Berater<br />
und Vertrauten, der ihm hilft, dies alles auf seinen Fall anzuwenden und ihm seine<br />
individuell geeignete Therapie vorzuschlagen. Insofern müssen wir Hausärzte die<br />
evidenzbasierte Therapie als große Chance begreifen, unsere Patienten gut und<br />
valide informieren zu können und unsere eminenzbasierten Erkenntnisse auf die<br />
Bereiche zu beschränken, wo es keine oder nur unsicherer Evidenzlagen gibt.<br />
So liegt hier ein Unterschied zu dem Beispiel mit den Weltbildern, bei denen es<br />
ein objektiv Richtiges gibt. Die evidenzbasierte Medizin fordert die bestverfügbare<br />
Evidenz, und um diese richtig anzuwenden eben doch auch die „Eminenz“. Und<br />
diese Eminenz sollte ihr Tun immer kritisch hinterfragen, ihr Handeln begründbar<br />
darlegen und bereit sein, neue Evidenzen zu prüfen und anzuerkennen, so dass sie<br />
in das weitere ärztliche Handeln einfließen können.<br />
Informationen zum geozentrischen Weltbild: http://de.wikipedia.org/wiki/Geozentrisches_Weltbild
Nr. 2 / 2008<br />
<strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Seite 29<br />
Hausärztliche Leitlinie<br />
Hausärztliche Palliativversorgung Leitlinie<br />
Palliativversorgung<br />
Konsentierung Version 1.00<br />
18. Juli 2007<br />
Konsentierung Version 1.00<br />
18. Juli 2007<br />
Revision bis spätestens<br />
Juli 2010<br />
Revision bis spätestens<br />
Juli 2010<br />
Hausärztliche Leitlinie<br />
Palliativversorgung<br />
Hausärztliche Leitlinie<br />
Venöse Thromboembolien<br />
Version 1.07 vom 21.01.2008<br />
Version 1.07 vom 21.01.2008<br />
Anmerkung:<br />
Die Leitlinie Behandlung Palliativversorgung der venösen umfasst Thromboembolien<br />
insgesamt 97 Seiten.<br />
Wir veröffentlichen angesichts des Umfangs nur die<br />
wichtigsten Aspekte. Im letzten <strong>KV</strong>H aktuell war der erste<br />
Teil der Konsentierung Stand<br />
Leitlinie bis einschließlich Version 1.00 Husten abgedruckt. In<br />
diesem Heft 18. 08. bringen Juli 2007 2006 wir die weiteren Themen einschließlich<br />
gastrointestinaler Symptome, Wunden und Blutungen.<br />
In Heft 3/2008 Revision folgt bis die spätestens<br />
Leitlinie Schmerztherapie, deren<br />
Inhalte auch für die palliative Schmerztherapie gelten.<br />
Juli August 20102009<br />
Die Seitenzahlen am unteren Rand der Seite korrespondieren<br />
mit Version den Seitenzahlen 1.01 der Original-Leitlinie. Die<br />
Seitenzahlen am oberen Rand entsprechen den Seitenzahlen<br />
dieses <strong>KV</strong>H aktuell.<br />
Version 1.07 vom 21.01.2008<br />
Die ansonsten im Text erwähnten Anhänge und Literaturstellen<br />
(Ziffern in Klammern), die hier nicht abgedruckt<br />
sind, finden Sie in der vollständigen Leitlinie. Sie<br />
ist im Internet unter www.pmvforschungsgruppe.de<br />
verfügbar. Auf dieser Webseite bitte den Cursor in der<br />
Menü-Leiste im oberen Teil der Seite auf Publikationen<br />
positionieren und im aufklappenden Untermenü auf<br />
Leitlinien klicken.<br />
F. W. Bergert<br />
M. Braun<br />
F. W.<br />
H.<br />
Bergert<br />
Clarius<br />
K.<br />
M.<br />
Ehrenthal<br />
Braun<br />
H.<br />
J.<br />
Clarius<br />
Feßler<br />
K. Ehrenthal<br />
J. Gross<br />
K. Gundermann<br />
J. Feßler<br />
H.<br />
J. Gross<br />
Hesse<br />
K. Gundermann<br />
J. Hintze<br />
U.<br />
H.<br />
Hüttner<br />
Hesse<br />
B.<br />
J. Hintze<br />
Kluthe<br />
W. LangHeinrich<br />
U. Hüttner<br />
A. Liesenfeld<br />
B. Kluthe<br />
W. LangHeinrich<br />
E. Luther<br />
A. Liesenfeld<br />
R. Pchalek<br />
J.<br />
E. Luther<br />
Seffrin<br />
R. Pchalek<br />
T. Sitte<br />
A.<br />
J.<br />
Sterzing<br />
Seffrin<br />
F. W. Bergert<br />
G.<br />
T.<br />
Vetter<br />
Sitte<br />
M. Braun<br />
H.-J.<br />
A. Sterzing<br />
Wolfring H. Clarius<br />
U. Zimmermann<br />
G. Vetter<br />
K. Ehrenthal<br />
In Kooperation<br />
H.-J. Wolfring<br />
mit J. Feßler<br />
U. Zimmermann<br />
J. Gärtner J. Gross<br />
In Kooperation<br />
C. Ostgathe<br />
mit<br />
K. Gundermann<br />
J.<br />
R.<br />
Gärtner<br />
Voltz H. Hesse<br />
J. Hintze<br />
C. Ostgathe<br />
R. Voltz<br />
U. Hüttner<br />
F. W. Bergert<br />
B. Kluthe<br />
M. Braun<br />
W. LangHeinrich<br />
D. Conrad<br />
A. Liesenfeld<br />
K. Ehrenthal<br />
E. Luther<br />
N. Fenner<br />
R. Pchalek<br />
J. Feßler<br />
J. Seffrin<br />
J. Gross<br />
T. Sitte<br />
K. Gundermann<br />
A. Sterzing<br />
H. Hesse<br />
G. Vetter<br />
U. Hüttner<br />
H.-J. Wolfring<br />
B. Kluthe<br />
U. Zimmermann<br />
W. LangHeinrich<br />
In Kooperation mit<br />
A. Liesenfeld<br />
J. Gärtner<br />
E. Luther<br />
C. Ostgathe<br />
R. Pchalek<br />
R. Voltz<br />
J. Seffrin<br />
A. Sterzing<br />
H.-J. Wolfring<br />
U. Zimmermann
Seite 30 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Nr. 2 / 2008<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
03 Kontext und Kooperation<br />
04 Verantwortlichkeit<br />
05 Palliative Betreuung durch den Hausarzt<br />
Relevanz und Ziele der Leitlinie , Definitionen<br />
06 Hausärztliche Schlüsselfragen<br />
08 Organisationsstrukturen<br />
Ambulante Dienste<br />
09 Hospiz, Palliativstation<br />
10 Schnittstellen und Kooperation<br />
11 Kommunikation<br />
SPIKES-Modell<br />
13 Palliative Therapie<br />
Grundverständnis und Aufbau der Leitlinie<br />
14 Schwäche<br />
Ursachen , Hausärztliche Aspekte<br />
16 Fatigue<br />
Definition , Unterstützende Maßnahmen<br />
17 Unruhe<br />
19 Angst<br />
20 Depression<br />
21 Bewusstseinsstörungen<br />
22 Hirndruck/Kopfschmerzen<br />
23 Dyspnoe<br />
26 Husten<br />
27 Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust<br />
28 Mundtrockenheit<br />
29 Dysphagie<br />
30 Gastrointestinale Symptome<br />
Schluckauf , Übelkeit und Erbrechen<br />
31 Übelkeit und Erbrechen: Therapie<br />
32 Übelkeit und Erbrechen: Wirkstoffgruppen für<br />
die Therapie<br />
34 Aszites<br />
35 Obstipation: Ursachen<br />
36 Obstipation: Therapie<br />
37 Gastrointestinale Obstruktion (Sub-/Ileus)<br />
39 Flüssigkeitstherapie und künstliche Ernährung<br />
40 Wunden und Blutungen<br />
Exulzerierende Wunden<br />
Infizierte Wunden mit Geruchsbelästigung<br />
41 Akute Blutungen<br />
42 Palliative Schmerztherapie<br />
Schmerzdiagnose<br />
43 Schmerzarten und -ursachen<br />
44 Schmerzmessung , Schmerzanamnese<br />
45 Ursachen unzureichender Schmerztherapie<br />
46 Stufenschema der WHO<br />
50 Opioid-Ängste<br />
Dosisfindung bei Einleitung einer<br />
Opioidtherapie<br />
51 Transdermale Systeme<br />
52 Parenterale Analgetikatherapie<br />
Teilen und Auflösen von Medikamenten<br />
53 Opioidwechsel<br />
Invasive Maßnahmen<br />
54 Behandlung der Durchbruchschmerzen<br />
55 Opioidnebenwirkungen<br />
56 Neuropathische Schmerzen, Koanalgetika<br />
57 Unterstützende Maßnahmen<br />
58 Portpflege<br />
59 Hinweise zur Subkutaninfusion<br />
60 Zusammenfassende Grundsätze<br />
61 Beispiel für einen Medikamentenplan<br />
62 Palliative Therapie in der Terminal-/Finalphase<br />
Terminalphase , Finalphase = Sterbephase<br />
63 Palliative Therapie in der Finalphase<br />
Sterbebegleitung<br />
64 Todesrasseln , Flüssigkeitsgabe , Terminale Agitation<br />
65 Hilfestellungen<br />
66 Spiritualität und Trauer<br />
69 Rechtliches<br />
Vorausschauende<br />
Willenserklärung/Patientenverfügung<br />
Vorsorgevollmacht<br />
70 Ärztliche Sterbebegleitung<br />
Passive Sterbehilfe<br />
Indirekte Sterbehilfe<br />
Aktive Sterbehilfe<br />
71 Dokumentation in der Palliativmedizin<br />
72 HOPE Basisbogen<br />
74 Zusammenfassung<br />
75 Literatur<br />
82 Anhang: Information für Angehörige<br />
84 Anhang<br />
93 Anhang: Myoklonus<br />
95 Informationen zur Leitliniengruppe Hessen<br />
97 Disclaimer und Internetadressen<br />
Anmerkung:<br />
Die hier angegebenen Seitennummern beziehen sich auf die Seiten<br />
der Leitlinie am unteren Rand der Seiten.<br />
01 / 02
Nr. 2 / 2008<br />
<strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Seite 31<br />
Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust<br />
Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust<br />
Appetitlosigkeit und Schwäche sind Ausdruck des<br />
Fortschreitens der Grunderkrankung und selten<br />
behandelbar. Allerdings wird dieses Symptom häufig<br />
sehr stark wahrgenommen und von den Patienten<br />
und ihrem Umfeld beklagt.<br />
Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust können erneut<br />
Anlass sein, mit dem Patienten und Angehörigen<br />
über die Prognose der Erkrankung zu sprechen.<br />
Die Sorge des Patienten, Angehörigen und<br />
Pflegenden, dass der Patient verhungern oder<br />
verdursten könne, kann beispielsweise wie folgt<br />
angesprochen werden: »Wir wissen, dass Sie<br />
weiter Gewicht verlieren werden, auch wenn wir<br />
Sie jetzt, obwohl Sie gar keinen Hunger haben,<br />
künstlich ernähren würden«. Offen und ehrlich<br />
sollten die Wünsche und Ängste hinter der Aussage<br />
»Du musst doch etwas essen« besprochen<br />
werden. Die Angehörigen können unterstützt werden,<br />
andere Formen der Zuwendung und Fürsorge<br />
zu entwickeln.<br />
• Es ist wenig sinnvoll, appetitlose (Tumor-)<br />
Patienten zum Essen zu drängen!<br />
• Manchmal können Kortikoide appetitsteigernd<br />
wirken.<br />
• Künstliche Ernährung und Infusion von Flüssigkeit<br />
sind in der terminalen Phase nicht sinnvoll.<br />
Mundtrockenheit<br />
Mundtrockenheit<br />
Mundtrockenheit (Xerostomie) ist ein bei Palliativpatienten<br />
sehr häufig auftretendes Symptom und<br />
wird von den Betroffenen als starke Beeinträchtigung<br />
ihrer Lebensqualität empfunden [92]. Meist<br />
sind die Patienten gezwungen, ihre Ernährungsgewohnheiten<br />
zu ändern. Sie müssen häufiger und<br />
mehr Trinken und vermeiden feste, trockene Speisen.<br />
Mundtrockenheit kann die Entwicklung einer<br />
Stomatitis und orale Infektionen (z. B. Soor)<br />
begünstigen.<br />
Anamnese: Eine Dehydratation ist nur in einem<br />
Teil der Fälle die Ursache der Mundtrockenheit.<br />
Bei vielen Patienten tritt Mundtrockenheit unabhängig<br />
vom Hydratationszustand auf [28, 93].<br />
• Eine Vielzahl von Medikamenten (z. B. trizyklische<br />
Antidepressiva, Antiemetika, Opioide,<br />
Spasmolytika, Anticholinergika, Antihistaminika,<br />
Neuroleptika, Diuretika u. a.) kann Mundtrockenheit<br />
verursachen, daher sollte ihre Notwendigkeit<br />
überprüft und die Gabe gegebenenfalls<br />
reduziert oder beendet werden.<br />
• Außer einer genauen (Medikamenten-)Anamnese<br />
ist die Inspektion der Lippen und Mundhöhle<br />
wichtig. Rötungen, Erosionen, Ulzera,<br />
Aphthen, Foetor und Soorbeläge weisen auf<br />
eine Infektion hin.<br />
Die gewissenhafte Mundpflege ist der wichtigste<br />
Bestandteil der Vorsorge und Behandlung der<br />
Mundtrockenheit.<br />
• Besonders wichtig ist es, sich über die Invasivität<br />
und Intimität der Maßnahme bewusst zu<br />
sein. Daher ist nicht nur die »gewissenhafte«,<br />
sondern auch die »respektvolle« und »achtsame«<br />
Durchführung der Mundpflege von<br />
größter Bedeutung. Die Einbindung der Angehörigen<br />
in diese Maßnahme kann helfen,<br />
Distanz zum Schwerstkranken zu überwinden<br />
und eine Form der intensiven Zuwendung<br />
darstellen.<br />
• Kreative Ideen (Mundpflege mit Flüssigkeiten,<br />
die der Patient gerne getrunken hat z. B. gefrorene<br />
Cola, Säfte) können für den Patienten<br />
auch in dieser belasteten Situation Lebensqualität<br />
bedeuten. Das Lutschen eingefrorener<br />
27/28
Seite 32 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Nr. 2 / 2008<br />
Mundtrockenheit, Dysphagie<br />
Ananasstückchen kann zudem helfen, über das<br />
darin enthaltene Enzym der Ananas, Borken<br />
auf Zunge und Schleimhäuten zu lösen.<br />
• Mit einem Wattestäbchen (Tee, Eiswasser,<br />
nicht Glycerin, da subjektiv unangenehm) oder<br />
mit einem angefeuchteten Baumwollhandschuh<br />
können die Wangentaschen gut ausgewischt<br />
werden. Dabei kann man auch die Verklebungen<br />
durch Mundsoor gut lösen.<br />
• Bei Soor: Antimykotika.<br />
• Bei Ulzera/Erosion: D-Panthenollösung, Gel mit<br />
Lokalanästhetika, Volon-A Haftsalbe.<br />
Dysphagie<br />
Die Häufigkeit von Schluckstörungen ist bei Palliativpatienten<br />
mit neurologischen Erkrankungen wie<br />
Schlaganfall, bestimmten Muskelerkrankungen,<br />
amyotropher Lateralsklerose, Multipler Sklerose,<br />
dem Parkinson-Syndrom und Demenz am höchsten.<br />
Auch bei Tumorpatienten ist die Dysphagie<br />
ein häufiges, belastendes Problem [87].<br />
Schluckbeschwerden bei festen Speisen und erst<br />
später auch bei weicher und schließlich flüssiger<br />
Nahrung sind ein Hinweis für das Vorliegen einer<br />
mechanischen Ursache der Schluckstörung (z. B.<br />
Tumorobstruktion).<br />
Neurogene Schluckstörungen beeinträchtigen<br />
meist zuerst die Aufnahme von Flüssigkeiten und<br />
später auch das Schlucken fester Speisen. Ein<br />
schmerzhafter Schluckakt deutet auf eine entzündliche<br />
Ursache der Schluckstörung hin (Stomatitis,<br />
z. B. Soor) [135].<br />
Das Ausmaß der über Anamnese und körperliche<br />
Untersuchung hinausgehenden Diagnostik orientiert<br />
sich vor allem an den Bedürfnissen der einzelnen<br />
Patienten und der Prognose der Grunderkrankung.<br />
Häufig können die Symptome der Patienten<br />
schon durch Veränderungen der Körper- und Kopfhaltung,<br />
sowie Anpassung der Nahrungskonsistenz<br />
verbessert werden.<br />
Die meisten Patienten können kalte Nahrung besser<br />
schlucken als heiße und breiige besser als<br />
flüssige Nahrung. Primäres Behandlungsziel ist es,<br />
die orale Nahrungsaufnahme für die Lebensqualität<br />
und Genuss im Alltag der Patienten zu<br />
erhalten. Erst wenn diese Möglichkeiten ausgeschöpft<br />
sind, oder die Patienten sich durch den<br />
erschwerten Schluckakt zu belastet fühlen, kann je<br />
nach Fortschritt der Erkrankung in Abstimmung mit<br />
dem Patienten eine enterale Sondenernährung<br />
indiziert sein. Bei weit fortgeschrittener Erkrankung<br />
kann die Ernährung auch eingestellt werden.<br />
Ein medikamentöser Behandlungsversuch mit<br />
Glukokortikoiden (cave: Soor) ist im Fall einer<br />
Tumorobstruktion oder -infiltration von Nervengewebe<br />
indiziert.<br />
• Dosierung: 2 x tgl. bis zu 8 mg Dexamethason<br />
(p.o., s.c.) über max. fünf Tage; Absetzen,<br />
wenn kein Erfolg, da sonst qualvoller Effekt mit<br />
Appetitsteigerung [13] (BZ-Kontrollen durchführen!)<br />
Invasive Behandlungsoptionen (z. B. Bougierung,<br />
Lasertherapie oder Stentimplantationen)<br />
können das Symptom der Schluckstörung verbessern,<br />
gehen aber oft mit ausgeprägten Nebenwirkungen<br />
und einer Reduktion des Allgemeinzustandes<br />
der Patienten einher. Lebensqualität und<br />
Lebenserwartung der Patienten werden so häufig<br />
vermindert [97].<br />
28/29
Nr. 2 / 2008<br />
<strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Seite 33<br />
Gastrointestinale Symptome<br />
Schluckauf<br />
Übelkeit und Erbrechen: Ursachen und<br />
Diagnostik<br />
Schluckauf<br />
Schluckauf (Singultus) tritt bei Palliativpatienten<br />
häufig auf und wird meist als belastend empfunden.<br />
Eine ursächliche Behandlung ist nur in seltenen<br />
Fällen möglich. Zur Therapie haben sich die<br />
Gabe von folgenden Substanzen bewährt [13]:<br />
• Baclofen: z. B. Lioresal 5-10 mg 8-stdl., p.o.<br />
• Haloperidol 5-10 mg p.o. oder subkutan zur<br />
Nacht<br />
• Nifedipin: 10-20 mg 8-stdl.<br />
Übelkeit und Erbrechen<br />
Im Gegensatz zur palliativen Schmerztherapie liegen<br />
für die Behandlung von Übelkeit und Erbrechen<br />
bisher keine allgemein anerkannten Therapieempfehlungen<br />
vor. Die beiden Symptome sollten<br />
klar voneinander unterschieden werden, da<br />
Erbrechen unabhängig von Übelkeit auftreten kann<br />
und gesondert behandelt werden muss.<br />
Ursachen<br />
Übelkeit und Erbrechen bei Tumorpatienten können<br />
gastrointestinale, metabolische, toxische, zentrale<br />
oder psychosomatische Ursachen haben<br />
(s. nachstehende Tabelle) [103].<br />
Ursachen von Übelkeit und Erbrechen (mod. nach Mannix, 2004 [77])<br />
gastrointestinal<br />
CTZ oder<br />
Brechzentrum<br />
zerebral<br />
psychisch<br />
CTZ: Chemorezeptortriggerzone<br />
Mukositis, Soor (Mund oder Speiseröhre), Gastritis, Ulzera, NSAR, Blut im<br />
Magen, gastrale Stase (z. B. durch Opioide, gastrointestinale Obstruktion,<br />
Aszites oder Anticholinergika)<br />
Elektrolyte (häufig Hyperkalzämie), Urämie, Infektionen, Toxine, Medikamente:<br />
Opioide, Antikonvulsiva, Glykoside, Antibiotika, NSAR, Zytostatika<br />
Hirndruck (z. B. durch Raumforderungen oder Meningeosis), Innenohrschäden<br />
(z. B. durch Metastasen in der Schädelbasis)<br />
Angst, Schmerz, Aufregung, Depression, Konditionierung (v. a. nach<br />
Chemotherapie)<br />
Diagnostik<br />
Vor der Behandlung sollte eine genaue Anamnese<br />
und Untersuchung durchgeführt werden. Nicht<br />
vergessen werden sollte dabei die Inspektion der<br />
Mundhöhle und des Rachens (Soor oder Mukositis?)<br />
und die Palpation und Perkussion des Abdomens,<br />
um Zeichen für einen Subileus, Aszites,<br />
Hepatomegalie und intraabdominelle Raumforderungen<br />
zu erfassen.<br />
In vielen Fällen ist aber auch eine gastrale Stase<br />
Ursache von Erbrechen. Klassischerweise leiden<br />
diese Patienten häufig nur kurz vor dem Erbrechen<br />
an Übelkeit und erbrechen dann entweder unverdaute<br />
Nahrungsreste (Magen-Darm-Hypomotilität)<br />
oder große Mengen Sekret (gastrointestinale<br />
Obstruktion s. u.).<br />
30
Seite 34 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Nr. 2 / 2008<br />
Gastrointestinale Symptome<br />
Übelkeit und Erbrechen: Therapie<br />
Therapieprinzipien<br />
Es ist wichtig, mit den Patienten ein erreichbares<br />
Therapieziel zu vereinbaren. Ihnen sollte vermittelt<br />
werden, dass die Verminderung seiner Beschwerden<br />
auf ein erträgliches Maß ein realistischer Therapieauftrag<br />
ist [77]. Unverzichtbar: Gespräch mit<br />
Patienten und Angehörigen über den Teufelskreis<br />
des »Essen müssens« (s. Appetitlosigkeit und<br />
Schwäche).<br />
Nichtmedikamentöse Ansätze<br />
Unterstützend sind die Vermeidung unangenehmer<br />
Gerüche oder das Anrichten kleiner, appetitlicher<br />
Speisen [65]. Die Wirksamkeit von Aromatherapie,<br />
Massage, Akupunktur, Akupressur, Ingwer und die<br />
Verwendung traditioneller chinesischer Kräutermischungen<br />
lässt sich bisher nicht eindeutig belegen.<br />
Diese Maßnahmen können vor allem bei Patienten,<br />
die für alternative Therapieoptionen offen<br />
sind, zu einer kurzfristigen Entspannung und damit<br />
auch zu einer Symptomreduktion führen [40, 45,<br />
130].<br />
Medikamentöse Therapie<br />
Unabhängig von der Klärung der Ursache sollte<br />
unverzüglich eine medikamentöse, symptomatische<br />
Therapie mit einem Antiemetikum begonnen<br />
werden. Die angewendeten Substanzen unterscheiden<br />
sich je nach Wirkort (Chemorezeptortriggerzone,<br />
Brechzentrum, Gastrointestinaltrakt,<br />
zerebraler Kortex) und Wirkprinzip. Mehrheitlich ist<br />
die Wirkung der Antiemetika rezeptorvermittelt und<br />
je nach Lokalisation des Rezeptors einsetzbar.<br />
Opioidbedingte Übelkeit tritt bei etwa 20% der<br />
Patienten auf und kann etwa 7-10 Tage anhalten<br />
[103]. Aufgrund der starken Belastung für den<br />
Patienten und der häufig damit verbundenen Ablehnung,<br />
das Opioid weiter einzunehmen, ist bei<br />
allen Patienten für diesen Zeitraum eine antiemetische<br />
Behandlung indiziert. Zur Prophylaxe und/<br />
oder Therapie von opioidbedingter Nausea und<br />
Emesis wird häufig das niedrigpotente Neuroleptikum<br />
Haloperidol (z. B. 3 x 0,3-0,5 mg p.o./s.c.)<br />
[132], oder Metocopramid 3-5 x 10 mg p.o./s.c./i.v.)<br />
eingesetzt [52].<br />
Hinweise zur Therapie<br />
• Antiemetika werden nach der zu Grunde liegenden<br />
Ursache, ihrem Wirkort und nach einem<br />
festen Zeitschema entsprechend der Wirkdauer<br />
verordnet.<br />
• Die gewählte Substanz sollte ggf. zusätzlich<br />
bei Bedarf verabreicht werden. Dabei ist auf<br />
eine ausreichende Dosierung im Bereich der<br />
Tageshöchstdosis zu achten.<br />
• Wird keine Linderung erreicht, sollte eine Kombinationsbehandlung<br />
durchgeführt werden.<br />
Hier sollte das zweite Antiemetikum einen anderen<br />
Wirkort und Wirkmechanismus haben als<br />
die Ausgangssubstanz [29]. Die meisten Patienten<br />
benötigen zwei Antiemetika [13].<br />
• Die Medikamente sollten nur oral verabreicht<br />
werden, um Übelkeit vorzubeugen, oder wenn<br />
diese nicht stark ausgeprägt ist. Insbesondere<br />
bei Erbrechen sollten andere Applikationswege<br />
(rektal/subkutan, i.v.) gewählt werden [77].<br />
31
Nr. 2 / 2008<br />
<strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Seite 35<br />
Gastrointestinale Symptome<br />
Übelkeit und Erbrechen: Wirkstoffgruppen für<br />
die Therapie<br />
Beipiele für Antiemetika (mod. nach Mannix, 2004 [77])<br />
Antiemetikum Wirkdauer (h) Dosis (mg/d) Wirkort Indikation<br />
Metoclopramid 4-6 50 G, C<br />
Dimenhydrinat 8 150-450 B<br />
Haloperidol 8-12 1,5-2,5 C<br />
Gastrostase, medikamenteninduzierte<br />
Übelkeit, nicht bei<br />
Obstruktion<br />
Obstruktion, medikamentös induzierte<br />
und zentral bedingte Übelkeit<br />
Obstruktion, medikamentös<br />
induzierte und zentral bedingte<br />
Übelkeit<br />
Dexamethason 8-24 4-8 zentral bedingte Übelkeit<br />
Ondansetron 8-12 4-8 C, G<br />
Wirkorte: G = Gastrointestinal,<br />
C = Chemorezeptorentriggerzone,<br />
B = Brechzentrum<br />
Obstruktion, medikamentös induzierte<br />
und zentral bedingte Übelkeit.<br />
Cave: NW Obstipation<br />
Prokinetika (z. B. Metoclopramid) können die<br />
Peristaltik verstärken, Reflux vermindern und die<br />
Magendarmpassage beschleunigen [77] sowie<br />
durch Reizung der CTZ hervorgerufene Übelkeit<br />
vermindern [52].<br />
Antihistaminika wirken an zentralen und vestibulocochleären<br />
H 1 -Rezeptoren und führen häufig zu<br />
Müdigkeit [77]. In Deutschland wird häufig Dimenhydrinat<br />
(z. B. 150-300 mg/d p.o., i.v. oder rektal)<br />
verwendet.<br />
Neuroleptika (z. B. Haloperidol 3 x 5 Trpf. p.o.<br />
oder 3 x 1 mg s.c.) wirken über die Hemmung von<br />
Dopaminrezeptoren gegen Übelkeit und Erbrechen.<br />
Eine Sonderstellung nimmt das Levomepromazin<br />
ein. Durch Wirkung an unterschiedlichen<br />
Rezeptoren (Histamin-, Acetylcholin-, Dopaminund<br />
Serotoninrezeptoren) kann es als »Breitspektrumantiemetikum«<br />
beim Versagen der anderen<br />
Substanzklassen eingesetzt werden (z. B. ½ Amp.<br />
s.c. oder 3-5 Trp. p.o. 1 x tgl.).<br />
32
Seite 36 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Nr. 2 / 2008<br />
Gastrointestinale Symptome<br />
Übelkeit und Erbrechen: Wirkstoffgruppen für<br />
die Therapie (Fortsetzung)<br />
Steroide entfalten ihre antiemetische Wirkung<br />
möglicherweise aufgrund einer Reduktion der<br />
Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke und der<br />
Reduktion inhibitorischer Substanzen am Hirnstamm<br />
[77]. Sie können einen aufgrund von zerebralen<br />
Raumforderungen erhöhten intrakraniellen<br />
Druck ebenso vermindern wie gastrointestinale<br />
Obstruktionen aufgrund abdomineller Tumoren.<br />
Beides kann zu einer Verringerung von Übelkeit<br />
und Erbrechen führen. Dexamethason, als das in<br />
der Palliativmedizin am häufigsten verwendete<br />
Steroid, wird in einer Dosierung von 4-12 mg/d (im<br />
Falle von Hirndruck ggfls. bis 36 mg/d) oral,<br />
intravenös oder subkutan eingesetzt [74]. Eine<br />
einmalige (morgendliche) Gabe von Steroiden<br />
reicht in der Regel aus [52]. Zur Prophylaxe eines<br />
Magenulkus sollten gleichzeitig Protonenpumpeninhibitoren<br />
(z. B. 1 x tgl. 40 mg PPl) verabreicht<br />
werden [21].<br />
Da Übelkeit auch über zentrale und periphere<br />
muskarinerge Acetycholinrezeptoren vermittelt<br />
wird, können vor allem in der Kombination mit<br />
anderen Wirkstoffen Anticholinergika wie zum<br />
Beispiel Scopolamin (z. B. 0,2 mg s.c. bei Bedarf)<br />
eingesetzt werden [77].<br />
Während die Wirksamkeit von 5-HT 3 Antagonisten<br />
zur Prophylaxe von Chemotherapie induzierter<br />
Übelkeit unstrittig ist, sollten sie in der<br />
Palliativmedizin nur dann alleine oder in Kombination<br />
mit anderen Wirkstoffen verwendet werden,<br />
wenn die Kombination anderer, oben genannter<br />
Wirkstoffe in ausreichenden Dosierungen nicht<br />
erfolgreich ist [77]. Kontraindiziert sind 5-HT 3<br />
Antagonisten (z. B. Ondansetron 4-8 mg/d) bei der<br />
in der Palliativmedizin häufig mit Übelkeit und<br />
Erbrechen einhergehenden Magen-Darm-Hypomotilität.<br />
Die Wirkungen und Nebenwirkungen von Cannabinoiden,<br />
insbesondere des Delta-9-Hydrocannabinol<br />
(THC) wird zentralnervös und peripher über<br />
eigene Rezeptoren vermittelt. Cannabinoide gelten<br />
in der Palliativmedizin noch als »last-line« Medikamente<br />
[112]. Bei Patienten mit therapieresistentem<br />
Erbrechen kann ein Therapieversuch lohnend<br />
sein (wird nicht durch die G<strong>KV</strong> erstattet): THC<br />
(z. B. Dronabinol ® ) als ölige Tropfen (2,5 mg in 3<br />
Trpf. oder Drgs. á 2,5 mg) (BtM). Man beginnt mit<br />
einer Tagesdosis von 2,5 mg und steigert die<br />
Tagesdosis langsam bis zur Wirksamkeit oder dem<br />
Eintreten von Nebenwirkungen. Das Medikament<br />
wird gemäß dem »Rezepte Formularium« (NRF) in<br />
der Apotheke aus Harz hergestellt.<br />
Eine sehr häufige Ursache von Erbrechen durch<br />
gastrale Stase (oder eine sehr ausgeprägte Obstipation)<br />
ist die Magen-Darm-Hypomotilität. Zur<br />
Anregung der Peristaltik haben sich die einmalige<br />
subkutane oder mehrfache orale Verabreichung<br />
von Acetylcholinesteraseinhibitoren wie z. B.<br />
Distigmin (Ubretid ® ) bewährt. Viele Patienten erleben<br />
ein- bis zweimaliges Erbrechen am Tag als<br />
wenig belastend, solange zwischen dem Erbrechen<br />
die Übelkeit zufriedenstellend behandelt ist.<br />
33
Nr. 2 / 2008<br />
<strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Seite 37<br />
Gastrointestinale Symptome<br />
Aszites<br />
Aszites<br />
Aszites ist häufig ein Symptom der finalen<br />
Krankheitsphase.<br />
Die Therapieoptionen sind begrenzt: Die<br />
Behandlung des Aszites ist in den meisten Fällen<br />
symptomorientiert und richtet sich nach den<br />
hervorgerufenen Beschwerden (Schmerz, Luftnot,<br />
körperliche Beeinträchtigung, gestörte Magen-<br />
Darm-Passage).<br />
Die Diuretikatherapie scheint nur beim Vorliegen<br />
einer portalen Hypertension effektiv zu sein, zur<br />
Behandlung des malignen Aszites ist sie nur sehr<br />
begrenzt erfolgreich [93]. Gegebenenfalls kann ein<br />
zeitlich begrenzter Versuch mit Spironolacton<br />
(100-400 mg/d) und/oder Furosemid (20-40 mg/d)<br />
unternommen werden, jedoch führt dies meist<br />
durch den intravasalen Flüssigkeits-/Elektrolytverlust<br />
zu einer weiteren Schwächung des Patienten.<br />
Aszitespunktionen (Parazentesen) haben meist<br />
nur einen vorübergehenden Effekt und sollten nur<br />
bei ausgeprägten Symptomen versucht werden.<br />
Die Entfernung großer Aszitesvolumina (> 3 l)<br />
kann den Allgemeinzustand des Patienten nachhaltig<br />
reduzieren [83].<br />
• Die prophylaktische Substitution von Albumin<br />
wird sehr kontrovers diskutiert [125] und kann<br />
nicht allgemein empfohlen werden [127].<br />
• Die Anlage permanenter Aszitesdrainagen ist<br />
zum Teil mit schweren Komplikationen (z. B.<br />
Peritonitis) verbunden. Die Patienten fühlen<br />
sich häufig von den Drainagen behindert und<br />
nur selten können die Ableitungen oder andere<br />
invasive Maßnahmen die Symptomlast der<br />
Patienten dauerhaft verringern [127].<br />
Die intraperitoneale Gabe von Interferon, Immunstimulanzien<br />
sowie radioaktiven Isotopen kann<br />
nicht empfohlen werden [127].<br />
34
Seite 38 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Nr. 2 / 2008<br />
Gastrointestinale Symptome<br />
Obstipation: Ursachen<br />
Obstipation<br />
Obstipation ist eines der häufigsten Symptome bei<br />
Palliativpatienten. Zwischen 40 und 50% der Patienten<br />
und über 90% der mit Opioiden behandelten<br />
Patienten klagen über Obstipation [87]. Häufig<br />
liegen gleichzeitig mehrere Ursachen der Obstipation<br />
vor (s. Tab.). Am häufigsten ist die opioidbedingte<br />
Obstipation, aber auch Bettlägerigkeit<br />
und die verminderte Flüssigkeitsaufnahme fördern<br />
die Obstipation [128].<br />
Ursachen für Obstipation (mod. nach Sykes, 2004 [128])<br />
Mögliche Ursachen der Obstipation<br />
tumorbedingt<br />
reduzierter Allgemeinzustand<br />
medikamentös<br />
metabolisch<br />
Vorerkrankungen<br />
Beispiele<br />
(Sub-)Ileus aufgrund gastrointestinaler Obstruktion<br />
Immobilität oder Schwäche, verminderte Ballaststoffoder<br />
Flüssigkeitsaufnahme, Verwirrtheit, Depression<br />
Opioide, Medikamente mit anticholinergen Nebenwirkungen<br />
(trizyklische Antidepressiva, Phenothiazine,<br />
N-Butylscopolamin), 5-HT 3 Antagonisten,<br />
Diuretika, aluminiumhaltige Antazida etc.<br />
Hyperkalzämie, Hypokaliämie, Urämie<br />
Hypothyreose, Diabetes mellitus, Hämorrhoiden,<br />
Analfissuren<br />
Abgesehen von der unregelmäßigen und seltenen<br />
Darmentleerung können Patienten mit Obstipation<br />
unter anderem unter Übelkeit und Erbrechen,<br />
Inappetenz und Völlegefühl leiden.<br />
Wichtig: Sorgfältige Erhebung der bisherigen<br />
Stuhlgewohnheiten mit Frequenz der Darmentleerungen,<br />
Konsistenz und Menge des Stuhls sowie<br />
die Erfassung der bisherigen Laxanzien- und Medikamenteneinnahme.<br />
Bei der körperlichen Untersuchung<br />
ist nicht nur auf tastbare Verdickungen<br />
im Kolonbereich zu achten, sondern auch auf die<br />
Qualität der Darmgeräusche. Über Anamnese und<br />
körperliche Untersuchung hinausgehende diagnostische<br />
Maßnahmen sind selten erforderlich.<br />
35
Nr. 2 / 2008<br />
<strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Seite 39<br />
Gastrointestinale Symptome<br />
Obstipation: Therapie<br />
Therapie<br />
Die Erhöhung der Ballaststoffmenge der Ernährung,<br />
vor allem aber eine vermehrte Flüssigkeitszufuhr<br />
sowie (wenn möglich) körperliche Aktivität<br />
gehören zwar zu den sonst unverzichtbaren Allgemeinmaßnahmen<br />
bei Obstipation sind aber beim<br />
Patienten mit weit fortgeschrittener Erkrankung<br />
häufig nicht mehr durchführbar. Daher ist zur Behandlung<br />
und Prophylaxe der Obstipation bei Palliativpatienten<br />
eine medikamentöse Therapie mit<br />
Laxanzien erforderlich (s. Tab.). Hier hat sich bei<br />
Patienten, die noch in der Lage sind zu schlucken,<br />
Macrogol bewährt. Die Patienten können je nach<br />
Bedarf mehrere Beutel zu sich nehmen. Das<br />
Polymer weicht verhärteten Stuhl auf und löst<br />
intestinale Dehnungsreflexe aus. Es ist osmotisch<br />
wirksam, ohne zu Elektrolytverschiebungen oder<br />
Exsikkose zu führen. Weitere Laxantien sind in<br />
nachstehender Tabelle aufgeführt.<br />
Beispiele für in der Palliativmedizin verwendete Medikamente zur Behandlung einer Obstipation<br />
Wirkstoff Applikation Wirkung Anmerkung<br />
Macrogol oral osmotisch<br />
selten Völlegefühl oder Blähungen, keine<br />
Elektrolytverschiebung<br />
Glycerol rektal Gleitmittel weicht den Stuhl auf<br />
Laktulose oral osmotisch<br />
Natrium<br />
picosulfat<br />
bindet Wasser, Volumen des Darminhaltes nimmt zu und<br />
regt Peristaltik an. Blähungen<br />
oral osmotisch Kombination mit Gleitmittel oft erforderlich<br />
Bisacodyl oral, rektal stimulierend Kombination mit Gleitmittel oft erforderlich<br />
Distigmin s.c./oral motilitätssteigernd<br />
(modifiziert nach Klaschik, 2003 [67])<br />
v. a. bei verminderter Peristaltik, kontraindiziert bei<br />
mechanischem Ileus<br />
Bei der Pflege beachten (s. auch [13]):<br />
• Weiches Toilettenpapier, mit Wasser reinigen<br />
• Zeitdruck vermeiden, Gewohnheiten beachten<br />
• Zu reichliche Aufnahme von Ballaststoffen bei<br />
geringer Flüssigkeitszufuhr verstärkt die Obstipation<br />
durch Verhärtung des Stuhlgangs<br />
• Möglichst Mobilisation auf den Toilettenstuhl<br />
Bei verhärtetem Stuhl können rektale Maßnahmen<br />
indiziert sein. Es kann mit Stimulanzien<br />
begonnen, später können Gleitmittel eingesetzt<br />
werden. In sehr seltenen Fällen kann eine manuelle<br />
Ausräumung indiziert sein. Für diese sehr<br />
belastende Maßnahme sollte mit dem Patienten<br />
besprochen werden, ob er hierfür eine leichte<br />
Sedierung wünscht.<br />
Mögliches Stufenschema<br />
• 1. Macrogol 1-3 Btl./d<br />
• 2. Macrogol 1-3 Btl./d plus Natriumpicosulfat<br />
1-2 x 10 (bis 20) Trpf./d (bei stark verminderter<br />
Peristaltik zeitgleich Distigmin z. B. Ubretid ®<br />
einmalig ½ (bis 1) Amp. s.c. oder 3 x tgl. 1 Tbl.<br />
á 5 mg p.o. für maximal drei Tage)<br />
• 3. zusätzlich rektale Maßnahmen (Klistier,<br />
hoher Einlauf)<br />
• 4. bei Verdacht auf Kotsteine einmalig 8 Btl.<br />
Macrogol/1 l Wasser oder Tee über ½ Tag<br />
36
Seite 40 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Nr. 2 / 2008<br />
Gastrointestinale Symptome<br />
Gastrointestinale Obstruktion (Sub-/Ileus)<br />
Gastrointestinale Obstruktion (Ileus, Subileus)<br />
Die häufigsten Symptome der gastrointestinalen<br />
Obstruktion sind Übelkeit und Erbrechen, Schmerzen<br />
(z. B. kolikartige, aber auch Dauerschmerzen)<br />
und Obstipation. Übelkeit muss nicht dauerhaft<br />
vorhanden sein, sondern tritt charakteristischerweise<br />
nur kurz vor dem Erbrechen auf und bessert<br />
sich zumeist nachher.<br />
Selten sind operative Eingriffe indiziert [116], Komplikationen<br />
sind häufig [46]. Eine Expertengruppe<br />
der European Association of Palliative Care<br />
(EAPC) hat darüber hinaus einige Kontraindikationen<br />
für ein operatives Vorgehen zusammengefasst<br />
(s. Tab).<br />
Kontraindikationen für operatives Vorgehen [gemäß den Empfehlungen der EAPC]<br />
Absolute Kontraindikationen<br />
vorausgegangene Laparotomie mit inoperablem<br />
Befund oder diffuser Metastasierung<br />
Befall des proximalen Magens<br />
intraabdominelle Tumoraussaat<br />
radiologisch nachgewiesene ausgeprägte<br />
Motilitätsstörung<br />
palpable intraabdominelle Tumormassen<br />
ausgeprägter Aszites (nach Punktion schnell<br />
nachlaufend)<br />
(nach Ripamonti, 2001 [116])<br />
Relative Kontraindikationen<br />
extraabdominelle Metastasierung mit schwer<br />
kontrollierbaren Symptomen (z. B. Dyspnoe)<br />
nicht-symptomatische ausgedehnte extraabdominelle<br />
Metastasierung<br />
schlechter Allgemeinzustand<br />
schlechter Ernährungszustand<br />
fortgeschrittenes Alter in Verbindung mit Kachexie<br />
vorausgegangene Strahlentherapie des Abdomens<br />
oder Beckens<br />
Bei ausgeprägtem Erbrechen von Magen-Darminhalt<br />
kann die vorübergehende Anlage einer<br />
Magensonde einige Patienten entlasten. Die Anlage<br />
der Magensonde kann ambulant durchgeführt<br />
werden, allerdings empfinden viele Patienten das<br />
Legen und das Leben mit der Magensonde als<br />
sehr unangenehm. Darüber hinaus tolerieren<br />
einige Patienten mehrmals tägliches Erbrechen,<br />
wenn die Übelkeit in der Zwischenzeit gut kontrolliert<br />
ist. Alternativ zur Anlage einer Magensonde<br />
kann das Legen einer großlumigen perkutanen<br />
endoskopischen Gastrostomie (PEG) eine dauerhafte<br />
Ableitung des Magen-Darminhaltes ermöglichen<br />
[116].<br />
37
Nr. 2 / 2008<br />
<strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Seite 41<br />
Gastrointestinale Symptome<br />
Gastrointestinale Obstruktion (Sub-/Ileus)<br />
(Fortsetzung)<br />
Wenn der Sub-/Ileus nicht ursächlich behandelt<br />
werden kann, muss die symptomorientierte<br />
Therapie gegebenenfalls auch über längere Zeit<br />
(Wochen bis Monate) zu Hause durchführbar sein.<br />
Daher werden Medikamente und Flüssigkeit vor<br />
allem subkutan, unter Umständen aber auch intravenös<br />
(Port) oder rektal verabreicht. Die Reduktion<br />
von Übelkeit und Erbrechen kann schwierig sein.<br />
Viele Patienten fühlen sich schon deutlich entlastet,<br />
wenn das Erbrechen auf 1- bis 2-mal täglich<br />
reduziert werden kann und die Übelkeit verschwindet.<br />
Medikamentös lassen sich vor allem folgende<br />
Ansätze verfolgen:<br />
• Antiemetika (s. o.) und/oder<br />
• Prokinetika (bei inkompletter Obstruktion).<br />
Kommt es nach der Gabe von Prokinetika zu<br />
einer Zunahme des Erbrechens und der kolikartigen<br />
Schmerzen, kann dieses als Hinweis für<br />
einen kompletten Verschluss gesehen werden<br />
[116]. Alle prokinetisch wirksamen Substanzen<br />
müssen abgesetzt werden.<br />
• Hemmung der gastrointestinalen Sekretion<br />
und Peristaltik (Butylscopolamin, z. B. 40 mg<br />
bis 120 mg pro Tag s.c./i.v. oder Octreotid 3 x<br />
50 µg bis 3 x 200 µg/d s.c.) [114].<br />
• Es kann versucht werden, durch die Gabe von<br />
Steroiden (z. B. Dexamethason, 8 mg morgens<br />
s.c./p.o./i.v. oder bis zu 16 mg/d) die Symptome<br />
eines Ileus zu reduzieren [46, 116]. Alternativ:<br />
initial 20-60 mg und Reduktion in den nächsten<br />
Tagen auf die Erhaltungsdosis von 4 mg/Tag<br />
([42] zit nach [62]).<br />
Wird ein partieller Verschluss vermutet (häufig mit<br />
paradoxer Diarrhöe, Wechsel von Obstipation und<br />
Durchfall) sind stimulierende Laxanzien und<br />
hohe Einläufe nicht indiziert.<br />
Patienten dürfen trotz des Vorliegens eines<br />
Sub-/Ileus essen und trinken! Sie müssen sich<br />
aber darüber im Klaren sein, dass alles, was Sie<br />
essen, auch wieder erbrochen wird (falls es nicht<br />
über eine Magensonde/PEG abläuft) und dass sich<br />
andere Symptome (Übelkeit, Schmerzen etc.)<br />
durch die Nahrungsaufnahme verschlechtern können.<br />
Nicht wenige Patienten möchten dennoch hin<br />
und wieder kleine Portionen essen, da Schmecken<br />
bzw. Schlucken für sie einen großen Teil der<br />
Lebensqualität ausmacht.<br />
In einigen Fällen kann der Flüssigkeitsverlust<br />
durch das Erbrechen symptomatisch werden<br />
(Durst, Reduktion des Allgemeinzustandes, Eintrübung).<br />
In diesen Fällen kann je nach Stand der<br />
fortgeschrittenen Erkrankung die parenterale Flüssigkeitsgabe<br />
(subkutan, i.v.) indiziert sein.<br />
38
Seite 42 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Nr. 2 / 2008<br />
Flüssigkeitstherapie und künstliche Ernährung<br />
Maßnahmen, Indikation<br />
Flüssigkeitstherapie und künstliche Ernährung<br />
in der letzten Lebensphase<br />
Die Richtlinien der Bundesärztekammer zur ärztlichen<br />
Sterbebegleitung halten fest, dass bei Sterbenden<br />
eine Basisbetreuung gewährleistet sein<br />
muss. Hierzu gehören menschenwürdige Unterbringung,<br />
Zuwendung, Körperpflege sowie das<br />
Lindern von u. a. Schmerzen, Atemnot und Übelkeit.<br />
Ausdrücklich wird festgehalten, dass zur<br />
Basisbetreuung nicht immer Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr<br />
gehören müssen, da sie für Sterbende<br />
eine schwere Belastung darstellen können.<br />
Wohingegen Hunger und Durst als subjektive<br />
Empfindungen gestillt werden müssen [23].<br />
Beide Empfindungen sind bei Patienten mit fortgeschrittenen<br />
Erkrankungen eher selten und können<br />
in der Regel mit einfachen Maßnahmen gelindert<br />
werden [80] wie<br />
• Schlucken kleiner Portionen der Lieblingsspeise<br />
• kleine Mengen Flüssigkeit oder Eisstücke ggf.<br />
von gefrorenen Säften<br />
• Mundbefeuchtung durch Ananas (gefroren)<br />
oder getränkte Wattestäbchen,<br />
• Intensive Mund- und Lippenpflege. Zunge<br />
feucht halten!<br />
(s. auch Mundtrockenheit)<br />
Dennoch wird im Gespräch des Hausarztes mit<br />
dem Patienten und den Angehörigen Flüssigkeitsgabe/Ernährung<br />
auch in der letzten Lebensphase<br />
immer wieder Thema sein. Insbesondere die Familie<br />
wird hierzu Fragen stellen: »Wird mein Angehöriger<br />
verdursten, durch den Verzicht schneller<br />
sterben, mehr leiden und wird wirklich alles<br />
getan?« Diesen Ängsten muss durch offene Kommunikation,<br />
durch Fachwissen und Sicherheit begegnet<br />
werden (s. Anhang).<br />
Eine Verbesserung klinischer Symptome durch die<br />
Gabe von Flüssigkeit bzw. parenteraler Ernährung<br />
ist in aller Regel nicht zu erwarten [93]. Auch bei<br />
fortgeschrittener Demenz wird die Sondennahrung<br />
nicht empfohlen [129]. Zudem scheint insbesondere<br />
das Symptom Durst durch Flüssigkeitsgabe in<br />
der Terminalphase nicht beeinflussbar zu sein [37].<br />
Wichtig: Aufklärung von Patient und Angehörigen,<br />
um die Angst vor dem Verdursten zu<br />
nehmen. Darauf hinweisen, dass Mundtrockenheit<br />
quälend ist (s. Anhang).<br />
Indikation für Flüssigkeitssubstitution<br />
In seltenen Indikationen kann der Einsatz von<br />
Flüssigkeit indiziert sein. Bei Unruhe, Delir und<br />
Muskelkrämpfen, die durch eine Dehydratation<br />
bedingt sind, kann ein Therapieversuch mit 500 ml<br />
- 1 l NaCl 0,9%/24 h s.c. unternommen werden.<br />
Eine einmal begonnene Flüssigkeitstherapie kann<br />
aber auch wieder beendet werden [12].<br />
Eine PEG-Sonde ist in der Terminalphase nicht<br />
sinnvoll, außer bei Ileus. Hier kann eine großlumige<br />
PEG-Sonde zur Entlastung (zur Ableitung<br />
der Sekrete) eingesetzt werden. Ansonsten ist<br />
mutmaßlicher oder geäußerter Patientenwille maßgebend<br />
in Abstimmung mit Angehörigen und Pflegepersonal<br />
(s. Hinweise zur Subkutaninfusion).<br />
39
Nr. 2 / 2008<br />
<strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Seite 43<br />
Wunden und Blutungen<br />
Exulzerierende Wunden<br />
Infizierte Wunden mit Geruchsbelästigung<br />
Exulzerierende Wunden<br />
Sie entstehen zum Beispiel bei exzessivem<br />
Tumorwachstum. Häufig führt die Nekrose des<br />
betroffenen Gewebes zu einer massiven Beeinträchtigung<br />
des Selbstbildes und der Einschränkung<br />
des sozialen Umfeldes der Patienten.<br />
Schwere Komplikationen, wie z. B. chronische<br />
oder akute Blutungen können auftreten [106].<br />
Die Patienten müssen sich häufig mit einer drastischen<br />
Veränderung ihres Selbstbildes auseinandersetzen<br />
und äußerst unangenehmen Wundgeruch<br />
erdulden. Darüber hinaus gehen ihre Mitmenschen<br />
oft dem gewohnten Kontakt aus dem Weg,<br />
oder die Patienten vermeiden das Zusammentreffen<br />
mit Freunden oder Verwandten, so dass exulzerierende<br />
Wunden häufig zu einer weitgehenden<br />
Isolation der Patienten führen.<br />
Bei der Behandlung dieser exulzerierenden Wunden<br />
ist oftmals Kreativität erforderlich. Wenn eine<br />
Wundheilung nicht mehr möglich ist, liegt neben<br />
einer adäquaten Schmerztherapie die oberste<br />
Priorität der Wundversorgung darin, Anblick und<br />
Geruch der Wunde für die Patienten und ihre Mitmenschen<br />
erträglicher zu gestalten. Ein kosmetisch<br />
akzeptabler Verband ermöglicht es den Patienten<br />
häufig, wieder in gewissem Maße am<br />
Sozialleben teilzunehmen.<br />
Mögliche Maßnahmen bei verschiedenen<br />
Wundverhältnissen (nach [65]):<br />
Sezernierende, feuchte, fistelnde Wunden<br />
• stark resorbierendes Verbandmaterial<br />
• nach Möglichkeit Sekret auffangen, nicht verteilen<br />
(Hautmazeration vermeiden)<br />
• Weiche Zinkpaste für Wundränder (Pasta zinci<br />
mollis)<br />
• Panthenolsalbe für umgebende Haut<br />
• evtl. Schutz der Umgebung durch Hautschutzplatten<br />
Nekrotische Wunden<br />
• trockene Verbände<br />
Infizierte Wunden mit Geruchsbelästigung<br />
1. Reinigung der Wundfläche<br />
• Spülen der Wunde mit NaCl 0,9%<br />
• ggf. Baden oder Duschen<br />
2. Behandlung der Infektion und der Geruchsbelästigung<br />
• Lokales Spülen oder Besprühen der Wundfläche<br />
mit Antibiotikalösung (z. B. Metronidazol)<br />
ohne zeitliche Begrenzung<br />
• ggf. systemische Therapie mit Metronidazol<br />
ohne zeitliche Begrenzung (z. B. 2 x 0,4 g/d)<br />
• Kohlepulver in saugfähige Kompressen füllen<br />
(binden Geruch und Flüssigkeit), die mit Kohle<br />
präparierte Kompresse auf die Wundgaze<br />
legen. Ggf. Verschluss mit Kolostomiebeutel<br />
• Alternativ oder bei hartnäckiger Geruchsbelästigung<br />
zusätzlich 2%ige Chlorophyllösung lokal<br />
oder p.o. (3 x 1-2 Drg.) oder auch Chlorophyll-<br />
Salbe zur Geruchsreduzierung nach Säuberung<br />
der Wunde messerrückendick auftragen<br />
• ggf. zusätzliche Saugkompresse auflegen<br />
• ggf. Kräuterduftkissen auf den Verband legen<br />
• Verbesserung der Raumluft durch Duftlampe<br />
(herbe, frische Düfte, keine süßen, schweren<br />
Düfte), häufiges Lüften oder Einsatz von<br />
Geruchsbindern (z. B. Kaffepulver, Zitronenscheiben<br />
auslegen)<br />
40
Seite 44 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Nr. 2 / 2008<br />
Wunden und Blutungen<br />
Infizierte Wunden mit Geruchsbelästigung<br />
(Fortsetzung)<br />
Akute Blutungen<br />
3. Abdecken der Wunde<br />
• Auflegen wirkstofffreier Wundgaze (z. B.<br />
Oleotüll, um ein Verkleben der Wunde mit<br />
dem Verbandmaterial zu vermeiden.<br />
• Wundränder mit weicher Zinkpaste bestreichen.<br />
• Haushaltsfrischhaltefolie über die Saugkompresse<br />
spannen und die Enden der Frischhaltefolie<br />
auf die Zinkpaste platzieren (Abdichtung).<br />
• Über Frischhaltefolie kleine Einmalunterlagen<br />
mit Netzpflaster fixieren.<br />
Blutende Wunden<br />
• Ablösen des Verbandes durch Auflegen von<br />
NaCl 0,9% oder in Salbeitee getränkten Kompressen.<br />
Auch schwarzer Tee, Eichenrinde<br />
(Tannin, z. B. Tannolact), Gerbstoffe sind<br />
blutstillend. Abreißen angetrockneter Verbände<br />
kann Wunden aufreißen. Keine Verwendung<br />
von Wasserstoffperoxid!<br />
• Komprimieren der blutenden Wunde (wenn<br />
möglich).<br />
• 1 Ampulle Adrenalin 1:1000 auf 10-20 ml<br />
isotone Kochsalzlösung verdünnen. Unmittelbar<br />
auf blutende Stelle träufeln und/oder mit einer<br />
mit der Lösung befeuchteten Kompresse<br />
komprimieren bzw. tamponieren.<br />
• Bei gefäßnahen Wunden und drohender Gefäßruptur<br />
Notfallmedikation (Sedativa etc. s. u.)<br />
und Kurzarztbrief/Patientenverfügung im Patientenzimmer<br />
deponieren.<br />
Akute Blutungen<br />
Bei drohenden akuten Blutungen, die zur Erstickung<br />
führen, sollte der Patient am Bett immer<br />
Flunitrazepam und Morphin in ausreichender<br />
Dosierung bereit gestellt bekommen (Anwendung<br />
durch Patienten selbst oder durch seine Angehörigen<br />
möglich).<br />
Hinweis: Der Leitliniengruppe sind keine Studien<br />
bekannt, die die Überlegenheit der Fertigprodukte<br />
gegenüber der adäquaten konventionellen Wundversorgung<br />
belegen. Das Vorgehen sollte mit den<br />
Pflegediensten, Wundmanagern und pflegenden<br />
Angehörigen abgesprochen werden. Der Einsatz<br />
von Fertigprodukten sollte Einzelfällen vorbehalten<br />
bleiben.<br />
Emotionen der Angehörigen und Pflegenden<br />
Angehörige und Pflegende sehen sich häufig mit<br />
eigenen Gefühlen wie Ekel und Abscheu beim Anblick<br />
und Riechen der Wunden konfrontiert. So<br />
geraten sie in den Konflikt, dem Patienten beistehen<br />
zu wollen (oder zu müssen), aber den<br />
intensiven Wunsch zu erleben, dieser Situation<br />
entgehen zu wollen. Wichtig im Umgang mit Patienten,<br />
die unter exulzerierenden Wunden leiden,<br />
ist es, eigene negative (»unerwünschte«) Gefühle<br />
(z. B. Ekel, Angst, Hilflosigkeit usw.) wahrzunehmen,<br />
sie zu akzeptieren und sich darüber auszutauschen<br />
[5].<br />
Bei chronischen Blutungen: Versuch, die Blutungsneigung<br />
durch die Gabe von Tranexamsäure (z. B.<br />
Cyklocapron 2-3 x 500 mg) zu verringern.<br />
41
Nr. 2 / 2008<br />
<strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Seite 45<br />
Palliative Therapie in der Terminal-/Finalphase<br />
Terminalphase<br />
Finalphase = Sterbephase<br />
Terminalphase<br />
Wochen bis Monate<br />
Final- oder Sterbephase<br />
Möglicher Eintritt des Todes<br />
innerhalb von Tagen<br />
Definition der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin<br />
• Wenn eine progrediente Erkrankung deutlich die Aktivität des<br />
Betroffenen beeinträchtigt, wird von Terminalphase gesprochen. Mit<br />
einem raschen Wechsel der Symptome ist zu rechnen, eine engmaschige<br />
Betreuung und vermehrte Unterstützung der jetzt noch<br />
stärker geforderten Angehörigen ist nötig. Meist zieht sich die<br />
Terminalphase über Wochen bis Monate hin, bevor sie in die Sterbephase<br />
mündet.<br />
• Die Sterbephase umfasst die letzten Stunden (selten Tage) des<br />
Lebens. Ziel der Betreuung ist es jetzt, einen friedlichen Übergang zu<br />
ermöglichen und die Angehörigen zu stützen.<br />
Hausärztliche Betreuung in der Finalphase<br />
• Ein Ziel der palliativmedizinischen Behandlung<br />
ist es, die physische, psychische und soziale<br />
Situation der Patienten so zu erhalten, dass ein<br />
Sterben zu Hause möglich ist. Sterben zu<br />
diagnostizieren ist schwer.<br />
Mögliche klinische Zeichen<br />
• Erschwertes Schlucken,<br />
• Störung der Atmung (Cheyne-Stokes-Atmung,<br />
»Röcheln«, Todesrasseln),<br />
• Arrhythmien,<br />
• Blutdruckabfall bis zur Pulslosigkeit,<br />
• Anurie,<br />
• Atonie von Blase und Darm,<br />
• Erlöschen des Muskeltonus und der<br />
Nervenreflexe,<br />
• Bewusstseinsstörung,<br />
• zunehmende »Facies hippocratica«: fahlgraue<br />
Haut, kalter Schweiß auf der Stirn, spitze und<br />
blasse kühle Nase, zurückfallendes Kinn.<br />
62
Seite 46 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Nr. 2 / 2008<br />
Palliative Therapie in der Finalphase<br />
Sterbebegleitung<br />
Die Finalphase ist eine dynamische Situation, in<br />
der neue Symptome auftreten und bestehende<br />
Symptome verstärkt oder vermindert sein können.<br />
Dies macht häufig eine Anpassung der Medikation<br />
notwendig. Alle nicht benötigten Medikamente<br />
sollten abgesetzt und neu auftretende, belastende<br />
Symptome behandelt werden (s. Tab.):<br />
Arzneimittel Fortführen/Dosisanpassung Absetzen evtl. hinzufügen<br />
Opioide<br />
Nicht-Opioide<br />
Antiemetika<br />
Laxanzien<br />
Kortikoide<br />
Antidepressiva<br />
Benzodiazepine<br />
Neuroleptika<br />
anderes Dauermedikament<br />
X<br />
X<br />
X<br />
X<br />
X<br />
X<br />
X<br />
X<br />
X<br />
Die subkutane oder intravenöse Gabe gilt dann als<br />
Applikationsart der Wahl, wenn die orale Aufnahme<br />
nicht möglich ist. Intramuskuläre Gabe ist möglichst<br />
zu vermeiden (Reduktion der Muskelmasse<br />
bei Kachexie, Infektionsgefahr, Blutungen).<br />
Schmerzen können in der Finalphase zu-, aber<br />
nicht selten auch abnehmen, somit ist die Dosierung<br />
an die jeweilige Situation anzupassen. Eine<br />
starke Zunahme der Müdigkeit (bis hin zur Somnolenz)<br />
kann nicht selten dadurch bedingt sein,<br />
dass die Vortherapie nicht angepasst wurde.<br />
Die wichtigsten subkutan applizierbaren Medikamente<br />
sind in der folgenden Tabelle (s. u.) mit<br />
möglichen Indikationen zusammengefasst.<br />
Subkutane Medikation (mod. nach Bausewein, 2005 [14])<br />
Medikament Einzeldosis Indikationen Bemerkungen<br />
Morphin 1 2,5-10 mg Schmerzen, Luftnot<br />
Scopolamin 0,2-0,4 mg Schmerzen, Rasseln alternativ: Butylscopolamin<br />
Midazolam 2,5-10 mg Angst, terminale Agitiertheit,<br />
Epileptische Anfälle<br />
s.c. Gabe möglich, aber nicht zugelassen;<br />
alternativ: Diazepam Trpf. bzw. Supp.<br />
Metoclopramid 10 mg Übelkeit, Erbrechen s.c. Gabe möglich, aber nicht zugelassen<br />
Haloperidol 0,5-10 mg Unruhe, Delirium, Übelkeit s.c. Gabe möglich, aber nicht zugelassen<br />
1<br />
bei Patienten, die bereits längerfristig mit hohen Opioiddosen<br />
behandelt wurden, gegebenenfalls deutlich mehr<br />
(s. o. »Bedarfsmedikation«).<br />
63
Nr. 2 / 2008<br />
<strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Seite 47<br />
Palliative Therapie in der Finalphase<br />
Todesrasseln<br />
Flüssigkeitsgabe<br />
Terminale Agitation<br />
Todesrasseln<br />
Ein häufiges Symptom (60-90%) in der Sterbephase<br />
ist das »tracheale Rasseln« (auch »Todesrasseln«<br />
oder »death rattle«). Aufgrund zunehmender<br />
Schwäche sammelt sich Sekret in den<br />
großen Luftwegen und im Glottisbereich und führt<br />
zu einer lautstarken Atmung [1].<br />
Während die Patienten dieses wahrscheinlich nicht<br />
wahrnehmen und keine Luftnot empfinden, kann<br />
das Geräusch für Angehörige, aber auch für Pflegende/Ärzte<br />
belastend sein.<br />
Die wichtigste Maßnahme ist die Aufklärung der<br />
Angehörigen und/oder des Pflegepersonals<br />
über das Symptom. Es ist nicht sinnvoll, den<br />
Schleim abzusaugen. Dies ist für den Patienten<br />
belastender als das Symptom selbst, insbesondere<br />
vor dem Hintergrund, dass es meist schon nach<br />
kurzer Zeit zum Wiederauftreten der Symptomatik<br />
kommt. Bei langanhaltendem Todesrasseln kann<br />
versuchsweise eine 30°Kopf-tief-Lagerung oder<br />
Seitenlagerung vorgenommen werden. Ggf. kann<br />
ein Scopolaminpflaster (Praxistipp: Scopolamin-<br />
Augentropfen oral: 3 x 3 Tropfen s.l. auf die Mundschleimhaut<br />
bzw. 3 x 0,5 mg/d) verabreicht werden.<br />
Flüssigkeitsgabe<br />
Häufig tauchen in der Finalphase Fragen nach<br />
parenteraler Flüssigkeitsgabe auf. Die Bundesärztekammer<br />
hat hierzu in ihren Richtlinien zur<br />
ärztlichen Sterbebegleitung im Jahre 2004 festgehalten,<br />
dass zur Basisbetreuung nicht immer<br />
Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr gehören, da sie<br />
für Sterbende eine schwere Belastung darstellen<br />
können. Jedoch müssen Hunger und Durst als<br />
subjektive Empfindungen gestillt werden [23].<br />
Durst ist häufig nicht vom Hydratationszustand des<br />
Patienten abhängig [41]. Zumeist kann das Durstgefühl<br />
durch eine gute Mundpflege deutlich gelindert<br />
werden. Selten ist eine parenterale Flüssigkeitsgabe<br />
sinnvoll (s. Abschnitt Mundtrockenheit).<br />
Dies mit den Familienangehörigen offen und<br />
ehrlich zu besprechen ist wichtig, da sie häufig<br />
Ängste haben, ihr Angehöriger würde verdursten.<br />
Agitation/delirante Symptome in der Terminalphase<br />
Hierunter versteht man gesteigerte motorische Unruhe<br />
und mentale Beeinträchtigung in der Sterbephase<br />
(1 Tag bis wenige Minuten vor dem Tod).<br />
Besonders belastend für Angehörige, aber auch<br />
für das betreuende Team ist die terminale Agitation,<br />
die häufig in der Finalphase auftritt. Ursachen<br />
können u. a. sein:<br />
• Angst, Alleinsein, unerledigte Angelegenheiten<br />
• Körperliche Symptome wie Schmerzen, Luftnot,<br />
Mundtrockenheit oder Harnverhalt<br />
• Opioide, Kortikosteroide, Sedativa, Entzugssymptomatik<br />
• ZNS-Veränderungen<br />
Neben allgemeinen Maßnahmen wie das Schaffen<br />
einer vertrauten Umgebung (z. B. bekannte Musik,<br />
Nachtlicht) und der ursächlichen Behandlung von<br />
Symptomen, bedarf es auch hier der Offenheit<br />
gegenüber den Angehörigen und der Erklärung,<br />
dass Unruhe nicht immer Ausdruck von Leid sein<br />
muss.<br />
64
Seite 48 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Nr. 2 / 2008<br />
Palliative Therapie in der Finalphase<br />
Hilfestellungen<br />
Den Angehörigen sollte vermittelt werden, wie sie<br />
durch eine Aufrechterhaltung eines gewissen<br />
Maßes an Normalität (Einnahme der Mahlzeiten im<br />
Zimmer, Ansehen der gewohnten Fernsehsendungen),<br />
Vertrauen und in einem bestimmten<br />
Maße auch einen Tag-Nacht-Rhythmus vermitteln<br />
können. Zu wissen, dass der Sterbende merkt,<br />
wenn er nicht allein ist, dass er es genießt, Lippen<br />
und Mund befeuchtet und die Kissen gerichtet zu<br />
bekommen, dass er Hautberührungen wahrnimmt,<br />
kann die Hilflosigkeit der Angehörigen vermindern.<br />
Das Wissen, dass sie den Patienten allein durch<br />
ihre körperliche Anwesenheit und kleinste Tätigkeiten<br />
und Gesten unterstützen können, lässt die<br />
Situation für viele Menschen erträglicher werden.<br />
In den letzten Lebensstunden sind die Patienten<br />
häufig nicht mehr in der Lage, die Augen zu öffnen<br />
oder verbal zu kommunizieren. Diese von außen<br />
wahrgenommene Reduktion des Wachheitsgrades<br />
sollte nicht mit Begriffen wie »bewusstlos« oder<br />
»nicht ansprechbar« beschrieben werden. Der<br />
Sterbende kann angesprochen werden. Es ist<br />
davon auszugehen, dass er hört und versteht,<br />
dass er Berührung wahrnimmt und sich mit<br />
seiner Umwelt beschäftigt [73, 90]. Das bedeutet<br />
auch, dass man sich im Umgang mit den Sterbenden<br />
und bei Gesprächen in seiner Gegenwart<br />
vergegenwärtigt, dass der Patient anwesend ist<br />
und ein Recht hat, an Entscheidungen und Beratungen<br />
teilzuhaben. Es kann aber auch in einzelnen<br />
Situationen gerechtfertigt sein, einige Angelegenheiten<br />
außerhalb des Patientenzimmers mit<br />
Angehörigen zu besprechen.<br />
Initialer Wunsch fast aller Patienten ist es, zuhause<br />
zu sterben. Trotzdem ändern Patienten und Angehörige<br />
ihre Meinung mit fortschreitender Krankheitsphase<br />
aus Angst und Unsicherheit. Hier sind<br />
Unterstützung durch ein multidisziplinäres Team<br />
(Palliativpflegekräfte, Hausärzte, Sozialstation,<br />
Seelsorger) mit beruflicher Kompetenz sowie persönliche<br />
Zuwendung und Mitgefühl und ständige<br />
Erreichbarkeit anzubieten, um eine kurzfristige<br />
stationäre Aufnahme des Sterbenden zu vermeiden.<br />
Einige Vorbereitungen können zu verhindern helfen,<br />
dass es noch in der Finalphase zu einer überstürzten<br />
Einweisung des Patienten ins Krankenhaus<br />
kommt (mod. nach Albrecht, 2004 [2]):<br />
• Informationsmappe am Patientenbett: Medikamentenverordnung,<br />
letzte Arztbriefe, Patientenverfügung,<br />
Vollmacht, kurze schriftliche Hinweise<br />
des Hausarztes, falls der ärztliche Notdienst<br />
hinzugezogen wird.<br />
• Ausreichende Bevorratung der Medikamente<br />
(einschließlich Bedarfsmedikation).<br />
• Anleitung der Angehörigen in die Technik der<br />
subkutanen Injektion.<br />
• Falls regional vorhanden Einbindung von<br />
spezialisierter Palliativpflege und eines ambulanten<br />
Hospizdienstes.<br />
• Klare Anweisung mit Telefonnummern, wer im<br />
Falle von Problemen angerufen werden kann.<br />
Durch eine angemessene medizinische Behandlung<br />
und Pflege verläuft die Sterbephase auch bei<br />
Patienten mit fortschreitenden inkurablen Erkrankungen<br />
meistens ruhig und friedlich [110].<br />
65
Nr. 2 / 2008<br />
<strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Seite 49<br />
Spiritualität und Trauer<br />
Spiritualität ist ein vieldeutiger Begriff, der sich<br />
einer klaren Definition entzieht. In einer Annäherung<br />
umfasst er den Wunsch nach Sinn, Transzendenz,<br />
danach, dass es außer dem physikalischen<br />
Sein noch etwas Anderes gibt, das auch<br />
nach dem individuellen Lebensende noch eine<br />
überdauernde Verbindung zum Zurückgelassenen<br />
schafft. Er drückt die Sehnsucht des Menschen<br />
nach Ganzheit und Erfüllung, nach Befreiung und<br />
Heilung aus. Christliche oder von anderen Religionen<br />
geprägte Spiritualität kann eine mögliche von<br />
zahlreichen individuell geprägten Ausdrucksformen<br />
sein [18, 123].<br />
Spirituelles Leid kann sich in physischem Leid<br />
bemerkbar machen und dieses verstärken, so<br />
dass spirituelle Begleitung auch in der ambulanten<br />
Betreuung von großer Bedeutung ist und für Wohlbefinden<br />
sorgen kann [18, 81, 120]. Der Hausarzt<br />
sollte somit spirituelle Bedürfnisse des Patienten<br />
und seiner Angehörigen beachten. Wichtig ist es,<br />
Hinweise, die der Patient oder auch der Angehörige<br />
geben, aufzugreifen. Zeichen, die der Patient<br />
über sich und seine Spiritualität gibt, können sich<br />
beispielsweise in der Zimmergestaltung finden;<br />
aufschlussreich können Bücher, Bilder, Musik oder<br />
Symbole sein und so als Anknüpfungspunkt für ein<br />
entsprechendes Gespräch dienen.<br />
Wichtig ist es, frühzeitig zu klären, inwieweit<br />
Patient und Familie professionellen seelsorgerischen<br />
Beistand wünschen. Aufgabe der Seelsorge<br />
ist es – neben dem gemeinsamen Gebet und der<br />
Spende der christlichen Sakramente – dem Patienten<br />
in seiner Spiritualität zu begegnen und ihn in<br />
seiner ganz persönlichen Lebenssituation und<br />
seelischen Verfassung zu begleiten. Dies geschieht<br />
nicht nur im Gespräch, sondern Begegnung<br />
bedeutet, empathisch mit allen Sinnen existentielle<br />
Situationen wahrzunehmen, darauf angemessen<br />
zu reagieren und »einfach da zu sein«<br />
[123, 126].<br />
Häufigste Themengebiete, die in einer schwedischen<br />
Studie [99] von Patienten in der seelsorgerischen<br />
Begleitung am Lebensende benannt wurden,<br />
waren: Sinnfragen, Tod und Sterben,<br />
Schmerz und Krankheit, zurückbleibende Angehörige.<br />
Es wurden häufiger Fragen, die von generell<br />
existentieller Bedeutung sind, angesprochen<br />
als solche, die explizit religiöser Art sind. Die<br />
seelsorgerische Begleitung kann unterstützen bei<br />
Lebensbilanzierung, Aufdecken und Bewältigung<br />
belastender Schuldgefühle und Gewissensbisse,<br />
Versöhnung mit sich selbst und anderen, der Entdeckung<br />
eigener spiritueller Ressourcen; um eine<br />
»Missionierung« geht es nicht [34]. Seelsorgerische<br />
Begleitung in der Palliativmedizin beschränkt<br />
sich natürlich nicht auf den Patienten,<br />
sondern bezieht die Angehörigen mit ein, die<br />
belastet sein können z. B. durch Trauer, Überforderung<br />
in der Pflege oder Wesensveränderung<br />
des Patienten.<br />
66
Seite 50 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Nr. 2 / 2008<br />
Spiritualität und Trauer<br />
Der Trauerprozess beginnt schon vor dem Tod des<br />
Patienten. Menschen trauern um den Angehörigen,<br />
den sie verlieren, wobei dieser Verlust bei<br />
zunehmender Wesensveränderung wie z. B. bei<br />
dementen Patienten oder Patienten mit Beteiligung<br />
des Gehirns schon zu Lebzeiten stattfindet. Wut,<br />
Ärger, Unverständnis, Sprachlosigkeit können<br />
weitere geäußerte Emotionen und Reaktionen<br />
sein, denen in der Begleitung Platz gegeben<br />
werden sollte [88]. Nach dem Tod ist es wichtig,<br />
den Angehörigen des Verstorbenen Angebote zu<br />
unterbreiten, die den Trauerprozess individuell<br />
unterstützen können. Für viele ist es hilfreich, dass<br />
sie bei – oft auch medizinischen – Fragen, die sich<br />
nach dem Tod ergeben, Möglichkeiten haben mit<br />
den in der Betreuung Beteiligten, wie dem Hausarzt,<br />
Kontakt aufzunehmen. Ein Teil der trauernden<br />
Angehörigen braucht mehr Unterstützung.<br />
Hier können Hinweise auf Trauerangebote (offener<br />
Trauertreff, Trauergruppen oder Einzelbegleitung)<br />
hilfreich sein. Informationen zu entsprechenden<br />
Angeboten sind über die regionalen Hospizgruppen<br />
zu erhalten.<br />
Jede Religion hat ihre eigene Einstellung zu<br />
Krankheit, Sterben und Tod und ggfs. damit<br />
verbundene eigene Rituale. Eine kurze Zusammenstellung<br />
sowie Psalme und Verse/Glaubenssätze<br />
geben S. Roller und C. Scheytt im Leitfaden<br />
Palliativmedizin [9]. Im Folgenden werden für einige<br />
Religionsgemeinschaften ausgewählte Aspekte<br />
zitiert.<br />
Römisch-Katholisch<br />
• Krankensalbung als Stärkung in der Krankheit<br />
ist das spezielle Sakrament für Kranke.<br />
• Liegt ein Kranker im Sterben, sollte ein Priester<br />
oder Krankenhausseelsorger gerufen werden.<br />
• Das Sakrament ist für Sterbende die »Wegzehrung«<br />
in Form einer Krankenkommunion.<br />
• Als Symbol der Auferstehung kann eine Kerze<br />
im Zimmer angezündet werden.<br />
Evangelisch<br />
• Angebot von Krankenabendmahl am Bett.<br />
• Krankensegnung und Krankensalbung in<br />
besonderen Gottesdiensten für Kranke.<br />
• Lesen von Bibeltexten, Kirchenlieder, Gebete.<br />
• Liegt ein Patient im Sterben, ist auf Wunsch der<br />
Pfarrer oder Klinikseelsorger zu benachrichtigen.<br />
Orthodox<br />
• Orthodoxe Patienten wünschen evtl. eine Bibel,<br />
ein Kruzifix oder Gebetbuch. Ikonen werden<br />
von vielen als trostreich empfunden.<br />
• Krankensalbung soll der Gesundung an Leib<br />
und Seele dienen.<br />
• Liegt ein Patient im Sterben, sollte der örtliche<br />
orthodoxe Priester gerufen werden.<br />
• Für den Umgang mit dem Leichnam gelten<br />
keine besonderen Vorschriften.<br />
67
Nr. 2 / 2008<br />
<strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Seite 51<br />
Spiritualität und Trauer<br />
Judentum<br />
• Einem jüdischen Sterbenden kann jeder Christ<br />
auf dem Boden alttestamentarischer Glaubensinhalte<br />
(z. B. Psalmen) beistehen. Kreuze,<br />
Mariengebete oder die Erwähnung Christus<br />
sind unangemessen.<br />
• Beim Krankenbesuch soll sich der Besuch auf<br />
eine Ebene mit dem Kranken geben, d. h. hinsetzen,<br />
denn »die Gnade und Herrlichkeit<br />
Gottes« schwebt über dem Kranken.<br />
• Speisegebote spielen eine große Rolle.<br />
• Dem Sterbenden darf sein Zustand nicht verheimlicht<br />
werden, damit er sich auf den Tod<br />
vorbereiten kann.<br />
• Das Sterbegebet wird von Angehörigen oder<br />
dem Sterbenden beim Herannahen des Todes<br />
gesprochen.<br />
• Der Sterbende soll nicht berührt oder bewegt<br />
werden, um das Lebenslicht nicht frühzeitig<br />
auszulöschen.<br />
• Handlungen nach dem Tod werden von Angehörigen<br />
oder anderen Juden ausgeführt.<br />
Islam<br />
• Leiden und Krankheit gelten als Folge des<br />
nichterfüllten Willen Gottes. Sein Wille ist es,<br />
die Krankheit als Bewährung aus seiner Hand<br />
anzunehmen. Die rituelle Waschung ist gerade<br />
bei Krankheit wichtig.<br />
• Liegt ein Muslim im Sterben, sind unbedingt<br />
Angehörige oder ein islamischer Seelsorger zu<br />
rufen.<br />
• Der Sterbende soll auf die rechte Seite gelegt<br />
werden, das Gesicht nach Mekka gerichtet. Ist<br />
dies nicht möglich, soll er auf den Rücken, die<br />
Füße nach Mekka zeigend, gelegt werden. Der<br />
Oberkörper soll erhöht liegen, damit das Gesicht<br />
nach Mekka zeigt.<br />
• Bei nahem Tod hebt der Sterbende den Finger<br />
und er oder ein Verwandter spricht zum Himmel<br />
zeigend das Glaubensbekenntnis. Ist kein Moslem<br />
in der Nähe, kann auch ein Christ die Hand<br />
des Sterbenden halten, jedoch ohne das Glaubensbekenntnis<br />
zu sprechen.<br />
• Die Handlungen nach dem Tod werden von<br />
Angehörigen oder anderen Muslimen ausgeführt.<br />
Atheisten<br />
Roller und Scheytt unterscheiden verschiedene<br />
Formen des Atheismus. Insgesamt gilt bei Atheisten<br />
zu beachten:<br />
• Die Erfahrung des Sterbens und die Konfrontation<br />
mit dem Tod ist die Bewährungsprobe<br />
des Atheisten. Konsequenter Atheismus stellt<br />
dabei weit höhere Anforderungen als jede<br />
Religion.<br />
• Religiöse Rituale sind nur in Ausnahmefällen<br />
angebracht, z. B. bei einer Öffnung zur Transzendenz<br />
zum Lebensende hin.<br />
• Wenn Angehörige zum Vollzug religiöser Rituale<br />
drängen, ist größte Zurückhaltung angebracht<br />
(Selbstbestimmung des Sterbenden).<br />
• An die Stelle des Rituals tritt menschliche Solidarität.<br />
• In der Trauerfeier werden der Tote und sein<br />
real gelebtes Leben gewürdigt.<br />
68
Seite 52 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Nr. 2 / 2008<br />
Rechtliches<br />
Vorausschauende Willenserklärung/<br />
Patientenverfügung<br />
Vorsorgevollmacht<br />
Die Leitliniengruppe schließt sich in der ethischen<br />
Orientierung den von der Bundesärztekammer verabschiedeten<br />
Grundsätzen zur ärztlichen Sterbebegleitung<br />
an [23]: Ärztliche Aufgabe ist es<br />
»unter Beachtung des Selbstbestimmungsrechts<br />
des Patienten« Leben zu erhalten. In der Palliativmedizin<br />
kann es jedoch zu Situationen kommen, in<br />
denen eine Abwägung für oder gegen lebensverlängernde<br />
Maßnahmen getroffen werden muss.<br />
Da möglicherweise in dieser Situation der Patient<br />
seinen Willen nicht mehr äußern kann, wird<br />
empfohlen, dass Ärzte Patienten auf diese Situation<br />
und die Möglichkeit einer Patientenverfügung<br />
hinweisen. Ist der Patient nicht mehr in der Lage,<br />
seinen Willen zu äußern, ist der Arzt verpflichtet,<br />
sich zu informieren, ob der Patient Dritte ausdrücklich<br />
bevollmächtigt hat, über die weitere Behandlung<br />
zu entscheiden (»Vorsorgevollmacht«)<br />
oder ob eine schriftliche Willenserklärung existiert.<br />
An diese Willenserklärung ist der Arzt gebunden,<br />
sofern sie sich auf die konkrete Behandlungssituation<br />
beziehen (Putz/Roller in Bausewein [107],<br />
s. BÄK [23]).<br />
Patientenverfügung<br />
Schriftliche oder mündliche Willenserklärung eines<br />
entscheidungsfähigen Patienten<br />
• über medizinische Maßnahmen,<br />
• benennt Vertrauensperson,<br />
• entbindet Arzt von der Schweigepflicht.<br />
Der geäußerte Wille gilt, wenn nicht erkennbar ist,<br />
dass der Patient jetzt anders entscheiden würde.<br />
In der Anlage ist ein Beispiel für eine Patientenverfügung<br />
und eine Vorsorgevollmacht abgedruckt<br />
[www.justiz.bayern.de, erhältlich auch über Buchhandel,<br />
Beck-Verlag; 3,90 Euro]. Synonyme für die<br />
vorausschauende Willenserklärung sind: Patientenverfügung,<br />
Patiententestament, Patientenbrief,<br />
Vorausverfügung.<br />
Hinweise zur Patientenverfügung (zit. nach [107])<br />
• Solange der Patient noch zu einer (auch schwachen)<br />
Willensäußerung in der Lage ist, muss er<br />
selbst befragt werden (auch wenn er unter Betreuung<br />
steht oder einen Bevollmächtigten hat).<br />
• Eine Patientenverfügung sollte mit einer Vorsorgevollmacht<br />
oder Betreuungsverfügung<br />
kombiniert werden.<br />
• Der Patient setzt sich bei einer Beschäftigung<br />
mit der Patientenverfügung mit seiner Erkrankung<br />
und dem Sterben auseinander.<br />
• Das Gespräch über eine Patientenverfügung<br />
gibt dem Hausarzt die Möglichkeit, die Vorstellungen<br />
und Wünsche des Patienten kennenzulernen<br />
und ihn zu beraten.<br />
• Es empfiehlt sich eine jährliche Bestätigung<br />
durch Unterschrift (sie gilt jedoch formal zeitlich<br />
unbegrenzt).<br />
Betreuungsverfügung<br />
Mit dieser Verfügung wird eine Person vorgeschlagen,<br />
die für den Fall, dass ein Betreuer als<br />
gesetzlicher Vertreter notwendig wird, bestellt werden<br />
soll; es kann auch angegeben werden, wer auf<br />
keinen Fall als Betreuer eingesetzt werden soll.<br />
Vorsorgevollmacht<br />
Eine oder mehrere Personen werden bevollmächtigt,<br />
den Vollmachtgeber in allen in der Vollmacht<br />
verfügten Bereichen rechtsverbindlich zu<br />
vertreten. Der Bevollmächtige kann Entscheidungen<br />
mit bindender Wirkung treffen. Ein Bevollmächtigter<br />
wird im Gegensatz zu einem Betreuer nicht<br />
vormundschaftlich bestellt. Bei schwerwiegenden<br />
therapeutischen Interventionen (Behandlungsabbruch)<br />
kann die Mitwirkung des Vormundschaftsgerichtes<br />
erforderlich werden. Bankvollmachten<br />
müssen bei den Kreditinstituten eingerichtet werden.<br />
69
Nr. 2 / 2008<br />
<strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Seite 53<br />
Rechtliches<br />
Ärztliche Sterbebegleitung<br />
Passive Sterbehilfe<br />
Indirekte Sterbehilfe<br />
Aktive Sterbehilfe<br />
Palliative Versorgung bedeutet, den Patienten im<br />
Sterben zu begleiten. Liegt der Patient im Sterben,<br />
sollte der Sterbeprozess nicht durch medizinische<br />
Therapie verlängert werden.<br />
In der öffentlichen Diskussion wird im Kontext der<br />
Palliativmedizin der Begriff der Sterbehilfe unterschiedlich<br />
ausgelegt. Im ärztlichen Standesrecht<br />
werden folgende Begriffe unterschieden (zit. nach<br />
[107]).<br />
Ärztliche Sterbebegleitung<br />
Ganzheitliche Betreuung des Sterbenden [69],<br />
Hilfe zum Sterben in Form von Beistand, Trost,<br />
humaner Umgebung, einfühlsamer Betreuung,<br />
Seelsorge und palliativmedizinischer Behandlung<br />
[107].<br />
Passive Sterbehilfe<br />
Behandlungsverzicht bei Sterbenden; Beendigung<br />
von Maßnahmen, die das Sterben verlängern [69].<br />
Wenn kein Patientenwille erkennbar ist, darf nur<br />
unter bestimmten Umständen auf (unzumutbare)<br />
lebensverlängernde Maßnahmen verzichtet werden.<br />
Der Arzt hat so zu handeln, wie es dem<br />
mutmaßlichen Willen des Patienten in der konkreten<br />
Situation entspricht. Dieser Wille muss aus<br />
der Gesamtsituation abgeleitet werden.<br />
Indirekte Sterbehilfe<br />
Hierunter versteht man die unbeabsichtigte Nebenwirkung<br />
einer sinnvollen therapeutischen Maßnahme,<br />
die den Eintritt des Todes beschleunigt [69].<br />
Eine Therapie mit dem Risiko der Lebensverkürzung<br />
ist straffrei, falls sie der adäquaten Symptomkontrolle<br />
des Sterbenden dient [107].<br />
Aktive Sterbehilfe<br />
Hiermit bezeichnet man das absichtliche und<br />
aktive (in der Regel ärztliche) Handeln zur Beschleunigung<br />
des Todeseintrittes auf ausdrücklichen<br />
Wunsch des Patienten [69]. Sie ist rechtswidrig<br />
(§216 StGB) und ein Tatbestand der Tötung.<br />
Beihilfe des Arztes zum Suizid bedeutet bewusstes<br />
Helfen (z. B. Bereitstellen von Medikamenten),<br />
ohne die »letzte Handlung« auszuführen. Beihilfe<br />
zum Suizid durch einen Arzt ist standesrechtlich<br />
verboten.<br />
Versorgung eines Patienten mit der notwendigen<br />
Menge eines Schmerzmittels zur Schmerztherapie<br />
ist keine Beihilfe zum Suizid, auch wenn der<br />
Patient die Schmerzmittel zum Suizid verwendet<br />
[107].<br />
Grenzen des Selbstbestimmungsrechtes<br />
»Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten beinhaltet<br />
nicht, dass er die Rechtsmacht hat, vom<br />
Arzt oder von einem Dritten die Durchführung einer<br />
Behandlung mit dem Ziel der Lebensbeendigung<br />
zu verlangen. Der Wille des Patienten kann den<br />
Arzt nicht legitimieren, die Tötung des Patienten<br />
durchzuführen, sondern er kann lediglich zum<br />
Abbruch oder zur Unterlassung einer Behandlung<br />
auf dem Boden der gesetzlichen Richtlinien zur<br />
passiven Sterbehilfe führen, sofern die Voraussetzungen<br />
dafür erfüllt sind. Bei bewusstlosen oder<br />
sonst entscheidungsunfähigen Patienten sind die<br />
dem in der konkreten Situation ermittelten mutmaßlichen<br />
Willen des Kranken entsprechenden<br />
Behandlungsmaßnahmen durchzuführen« [69].<br />
70
Seite 54 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Nr. 2 / 2008<br />
Dokumentation in der Palliativmedizin<br />
Die Dokumentation der Behandlung und Begleitung<br />
schwerkranker und sterbender Patienten<br />
ist auch in der hausärztlichen Begleitung aus medizinischer,<br />
juristischer sowie ethischer Sicht erforderlich<br />
und muss den spezifischen Anforderungen<br />
der Palliativmedizin gerecht werden. Dies bedeutet<br />
den Fokus weniger auf die üblicherweise dokumentierten<br />
Informationen (u. a. Atemfrequenz, RR,<br />
Puls, Temperatur) als auf palliativmedizinische<br />
Zielparameter zu legen.<br />
Hier kann neben der Freitextdokumentation, die<br />
eine Einbindung auch anderer im Netzwerk beteiligter<br />
Berufsgruppen ermöglicht, eine standardisierte<br />
Erfassung zur Anwendung kommen.<br />
Darüber hinaus gibt es gesetzliche Richtlinien und<br />
Vorgaben für die Dokumentation. Eine vereinheitlichte<br />
Dokumentation in der palliativmedizinischen<br />
Betreuung hat folgende Ziele:<br />
• fortlaufende Qualitätssicherung,<br />
• Verbesserung des Austausches von patientenbezogenen<br />
Informationen beim Wechsel von<br />
einer Versorgungsstruktur zur anderen (Verlegung<br />
von Patienten von der Palliativstation in<br />
den häuslichen Bereich mit ambulanter Palliativpflege<br />
oder in ein stationäres Hospiz).<br />
In Deutschland wurde von einer multidisziplinären<br />
Arbeitsgruppe eine Basisdokumentation (Hospiz<br />
und Palliativ-Evaluation – HOPE) entwickelt [33,<br />
96, 110] und in unterschiedlichen Bereichen erprobt<br />
[76]. HOPE wird seit dem Jahr 2006 von der<br />
Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP)<br />
als Standarddokumentation für Palliativpatienten<br />
empfohlen. Der Bogen soll aus der Sicht des<br />
Betreuerteams (Arzt, Pflegepersonal, und falls<br />
vorhanden Physiotherapeut oder/und Sozialarbeiter)<br />
bei Betreuungsbeginn, im Verlauf und bei<br />
Entlassung als Fremderfassung verwendet werden.<br />
Zusätzlich können neben dem Basisbogen fakultative<br />
Module benutzt werden:<br />
• die Selbsterfassung von Schmerzen, Symptomen<br />
und Allgemeinbefinden im MIDOS [109],<br />
• die Dokumentation von ethischen Entscheidungen,<br />
• die Einschätzung der Prognose,<br />
• der psychoonkologische Basisdokumentationsbogen<br />
PoBado,<br />
• der Palliative Care Outcome Scale (POS) in<br />
den Versionen für die Selbst- und Fremderfassung,<br />
• die Dokumentation der Bundesarbeitsgemeinschaft<br />
Hospiz für Ehrenamtliche Mitarbeiter,<br />
• die Trauerbegleitung,<br />
• die Erfassung der Selbstständigkeit bzw. des<br />
Hilfe- und Pflegebedarfs (Barthel-Index),<br />
• die Befragung von Angehörigen und Mitarbeitern<br />
nach Betreuungsende,<br />
• ein Bogen zur Dokumentation des Aufwandes<br />
(für stationäre Einrichtungen),<br />
• ein persönlicher Bogen zur Dokumentation<br />
wichtiger Adressen für die Betreuung,<br />
• die kontinuierliche Symptomerfassung<br />
(Wochenbogen),<br />
• ein Therapieplan zur Erfassung der therapeutischen<br />
Maßnahmen.<br />
Ein Handbuch, der aktuelle Basisbogen und die<br />
Module können auf der Homepage der DGP<br />
[www.dgpalliativmedizin.de unter dem Bereich<br />
Arbeitsgruppen] heruntergeladen werden.<br />
71
Nr. 2 / 2008<br />
<strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Seite 55<br />
Dokumentation in der Palliativmedizin<br />
HOPE Basisbogen<br />
[www.dgpalliativmedizin.de]<br />
72
Seite 56 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Nr. 2 / 2008<br />
Dokumentation in der Palliativmedizin<br />
HOPE Basisbogen (Fortsetzung)<br />
[www.dgpalliativmedizin.de]<br />
73
Nr. 2 / 2008<br />
<strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Seite 57<br />
Zusammenfassung<br />
Überblick über die zentralen Themen der<br />
Leitlinie<br />
Palliative Versorgung richtet sich an Patienten, die<br />
an einer fortschreitenden Erkrankung mit begrenzter<br />
Lebenserwartung leiden. Ziel ist der Erhalt oder<br />
die Verbesserung der Lebensqualität in der verbleibenden<br />
Lebenszeit. Nicht kurative Maßnahmen,<br />
sondern die Symptomkontrolle und die<br />
psychosoziale und spirituelle Begleitung stehen<br />
im Vordergrund. Der Umgang mit schwerkranken<br />
und sterbenden Patienten ist eine menschliche<br />
und fachliche Herausforderung. Dabei erleben<br />
viele Ärzte gerade das »Aushalten müssen« der<br />
Grenzen des ärztlichen Handelns als belastend.<br />
Dieses sollte unter keinen Umständen dazu führen,<br />
invasive und belastende diagnostische oder<br />
therapeutische Maßnamen durchzuführen, wenn<br />
diese nicht die Lebenssituation und Symptomlast<br />
des Patienten verbessern. Es soll nicht um die<br />
Abwägung gehen zu behandeln oder nicht zu behandeln,<br />
sondern um die Klärung, welche Behandlung<br />
für den Patienten angemessen ist. Ziel sollte<br />
auch sein, die Mehrzahl der Patienten zu Hause<br />
durch die gewohnten Versorgungsstrukturen<br />
(Hausarzt, ambulante Pflege) palliativmedizinisch<br />
zu betreuen. Sollten Probleme persistieren, sind<br />
spezialisierte ambulante oder stationäre (Mit-)Behandlung<br />
der Patienten durch eine Einrichtung mit<br />
besonderer palliativmedizinischer Erfahrung sinnvoll.<br />
Wichtige Bereiche der Symptomkontrolle sind:<br />
• Neurologische/psychiatrische Symptome<br />
wie Schwäche, Fatigue, Unruhe, Angst und<br />
Depression. Neben medikamentösen Maßnahmen<br />
kommt den stützenden und beruhigenden<br />
Gesprächen, dem Schaffen vertrauter Umgebung<br />
besondere Bedeutung zu.<br />
• Respiratorische Symptome wie Husten und<br />
Dyspnoe. Bei letzterer sind die wichtigsten<br />
Stoffgruppen Opioide und Benzodiazepine. In<br />
der Regel besteht in der Palliativmedizin keine<br />
Indikation für eine Sauerstoffgabe.<br />
• Gastrointestinale Symptome (Appetitlosigkeit,<br />
Mundtrockenheit, Dysphagie, Schluckauf, Übelkeit/Erbrechen,<br />
Aszites, Obstipation und Ileus).<br />
Auch für diese Symptomen stehen medikamentöse<br />
und nichtmedikamentöse Maßnahmen zur<br />
Verfügung.<br />
Die Leitlinie geht auf die wichtige Frage der Flüssigkeitstherapie<br />
und künstlichen Ernährung<br />
ein. Hier besteht bei Angehörigen und Pflegepersonal<br />
ein großer Aufklärungsbedarf über Hunger<br />
und Durst in der letzten Lebensphase. Hilfestellungen<br />
bietet die Leitlinie zur Behandlung von<br />
Wunden und Blutungen; ein weiteres zentrales<br />
Thema stellt die Schmerztherapie dar. Neben der<br />
Bedarfsmedikation werden hier Hinweise zur<br />
Behandlung des Durchbruchschmerzes und der<br />
Opioidnebenwirkungen gegeben.<br />
Die Palliativmedizin unterscheidet zwischen einer<br />
Terminalphase, die sich über Wochen bis Monate<br />
erstrecken kann und durch eine zunehmende Beeinträchtigung<br />
des Patienten (z. B. Symptomwechsel)<br />
gekennzeichnet ist, und der Final- oder<br />
Sterbephase (möglicher Eintritt des Todes innerhalb<br />
von Stunden/Tagen). Um in der Finalphase<br />
Einweisungen ins Krankenhaus zu vermeiden,<br />
sollte für evtl. hinzugezogene Notärzte eine Informationsmappe<br />
beim Patienten vorhanden sein<br />
u. a. mit Hinweisen zur Medikation, Arztbrief,<br />
Patientenverfügung, Vollmacht, Telefonnummern.<br />
Wichtig ist die Aufklärung der Angehörigen: Das<br />
Absaugen des Sekrets (beim Todesrasseln) ist<br />
nicht sinnvoll und belastet nur den Patienten, eine<br />
künstliche Ernährung ist in dieser Situation nicht<br />
erforderlich und die terminale Unruhe muss nicht<br />
Ausdruck von Leid sein. Die Angehörigen sollten<br />
ermutigt werden, bei dem Sterbenden zu bleiben.<br />
74
Seite 58 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Nr. 2 / 2008<br />
Anhang: Information für Angehörige<br />
Sterbebegleitung durch Angehörige: Häufig gestellte Fragen<br />
Wie sollen die Raumbedingungen/Rahmenbedingungen<br />
sein?<br />
Sprechen Sie möglichst in normaler Lautstärke,<br />
zumindest solange der Patient nicht darüber klagt;<br />
spielen Sie beruhigende Musik.<br />
Soll der Raum eher hell ausgeleuchtet oder<br />
abgedunkelt gehalten werden?<br />
Der Wunsch des Patienten nach »mehr Licht«<br />
kann ein Ausdruck für Angst sein. Sorgen Sie für<br />
blendfreies Licht.<br />
Dürfen die Fenster oder Türen geöffnet sein?<br />
Vor kalter Zugluft gilt es den Patienten zu schützen!<br />
Das Öffnen von Fenstern oder Türen oder der<br />
Einsatz eines Ventilators wird von Patienten häufig<br />
als angenehm empfunden.<br />
Was hilft bei Unruhe des Patienten?<br />
Versuchen Sie herauszufinden, ob evtl. Schmerzen<br />
bestehen bzw. ob eine ausreichende<br />
Schmerzlinderung vorgenommen wurde; ggf. großzügige<br />
Zusatzmedikation! Halten Sie die Hand des<br />
Sterbenden und/oder sprechen Sie beruhigend auf<br />
ihn ein.<br />
Kann der Patient verdursten?<br />
Fragen Sie den Patienten, ob er Durst hat. Falls ja,<br />
bieten Sie ihm Flüssigkeit an. Häufig ist aber nur<br />
der Mund trocken. Hier ist vorrangig eine entsprechende<br />
Mundpflege angezeigt, z. B. mit Wattetupfer<br />
Butter auf die Mundschleimhaut auftragen,<br />
Eisstückchen lutschen lassen, z. B. gefrorene<br />
Säfte, Fruchtstücke wie Ananas. Mit einem Wattestäbchen<br />
(Tee, Eiswasser, nicht Glycerin, da<br />
subjektiv unangenehm) oder mit einem angefeuchteten<br />
Baumwollhandschuh die Wangentaschen<br />
auswischen, Lippen eincremen.<br />
Verhungert der Patient?<br />
Für einen Sterbenden ist die Nahrungsaufnahme<br />
unbedeutend, er leidet nicht unter Hungergefühl!<br />
Was tun, wenn der Patient nicht mehr die Medikamente<br />
schluckt?<br />
Diese Situation sollte man mit dem Hausarzt<br />
besprechen. Meist kann auf die orale Multimedikation<br />
verzichtet werden.<br />
Beim Diabetiker: Wie häufig soll der Blutdruck<br />
oder Blutzucker gemessen und wie die blutzuckersenkende<br />
Medikation angepasst werden?<br />
Es macht keinen Sinn, bei Sterbenden eine häufige<br />
Blutdruck- oder Blutzuckermessung durchzuführen<br />
mit dem Ziel, Blutdruck und Blutzucker<br />
optimal einzustellen. Die antihypertensive Medikation<br />
oder Insulingabe können häufig reduziert<br />
oder sogar abgesetzt werden.<br />
Woher kommt das Röcheln, was muss getan<br />
werden?<br />
Es sammelt sich bei zunehmender Schwäche des<br />
Patienten Schleim am Kehlkopf oder in den oberen<br />
Atemwegen. Ein Absaugen erscheint meist nicht<br />
sinnvoll und ist für den Patienten belastender als<br />
das Symptom selbst, insbesondere auch vor dem<br />
Hintergrund, dass die Symptome schon nach kurzer<br />
Zeit wieder zurückkehren. In der Regel leidet<br />
der Patient nicht unter Atemnot und es bedarf weder<br />
einer Absaugung noch eines Aktionismus<br />
durch Medikamentengabe oder Lagerungsversuche.<br />
Allerdings darf offensichtlicher Schleim im<br />
Mund mit Watteträgern vorsichtig entfernt werden.<br />
Wie umfassend muss die Pflege/das Windelwechseln/Umbetten<br />
eines Sterbenden sein?<br />
Leitgedanke sollte sein, dem Patienten Leid zu<br />
ersparen. Deswegen sollte man die Körperpflege<br />
nicht erzwingen und auf ein angemessenes Maß<br />
beschränken.<br />
Kann der Patient das Umfeld noch verstehen?<br />
Es muss davon ausgegangen werden, dass auch<br />
ein anscheinend teilnahmsloser Patient Ereignisse<br />
und Gespräche, insbesondere wenn sie sich an<br />
den Patienten richten, noch versteht, dass er Berührungen<br />
wahrnimmt und sich mit seiner Umwelt<br />
beschäftigt.<br />
Der sterbende Patient will nicht alleingelassen<br />
werden!<br />
82 /83
<strong>KV</strong>H • aktuell<br />
Seite 3<br />
Tischversion Alter, Teil 1 von 2<br />
Wichtigste Risikofaktoren für UAWs im Alter<br />
• Eingeschränkte Nierenfunktion<br />
• Gebrechlichkeit: Physiologische Kompensationsmöglichkeiten<br />
sind erschöpft<br />
• Niedriges Körpergewicht<br />
• Multimorbidität und Multimedikation. Multimedikation<br />
erhöht Interaktionsgefahr!<br />
Häufige Medikamenteninduzierte Krankheitsbilder<br />
• Anticholinerges Syndrom wie Mundtrockenheit,<br />
Mydriasis, Obstipation, Harnverhaltung, Tachykardie,<br />
Unruhe, Verwirrtheit, Delirium, Krampfanfälle<br />
durch anticholinerg wirkende Medikamente z. B.<br />
Amitriptyllin, Doxepin, Haloperidol. Promethazin,<br />
Diphenhydramin, Biperiden<br />
• Verwirrtheitszustände, z. B. durch Morphin, Antidepressiva,<br />
Neuroleptika, Antiparkinsonmittel,<br />
Theophyllin<br />
• Orthostatische Dysregulation, Blutdruckabfall,<br />
Schwindel und Synkopen durch Digitalisglykoside,<br />
Antihypertensiva, Diuretika<br />
• Erhöhte Sturzgefahr: z. B. durch langwirkende<br />
Benzodiazepine (Sedierung/Standunsicherheit),<br />
Neuroleptika, Antidpressiva (Parkinson-Syxndrom)<br />
Insulin, Sulfonylharnstoffe (Hypoglykämie),<br />
Antihypertensiva, Nitrate (Hypotonie),<br />
Miotika (Störung des Sehvermögens)<br />
Verlaufskontrollen<br />
Besonders bei Therapieumstellung während und nach<br />
Krankenhausbehandlung, aber auch bei Mitbehandlung<br />
durch Spezialisten sind Verlaufskontrollen nach 4<br />
bis 5 (der im Alter meist verlängerten) Halbwertszeiten<br />
(HWZ) und nachfolgend weitmaschiger unerlässlich.<br />
Falls erforderlich, sind Blutspiegelbestimmungen erst<br />
nach Erreichen des steady-state nach 5 HWZ durchzuführen.<br />
Zur Förderung von Compliance (Adhärenz) helfen<br />
• Ausführliche, patientengerechte Aufklärung (ggf.<br />
auch einer Bezugsperson) über die Notwendigkeit<br />
und den beabsichtigten Effekt des Pharmakons.<br />
• Einfache, verständliche Medikamenten-Einnahmepläne<br />
mit altersgerechten Einnahmezeiten.<br />
• Hilfsmittel (z. B. Dosett) für das Bereitstellen der<br />
Tages- oder Wochenmedikation, Einnahmepläne.<br />
• Einmaldosierungen (statt mehrmals täglich)<br />
• Patientengerechte Darreichungsform / Verpackung.<br />
Fazit<br />
Die Häufigkeit unerwünschter Arzneimittelwirkungen<br />
im Alter korrespondiert mit der Zahl gleichzeitig verordneter<br />
Medikamente. Bei jeder Polypharmakotherapie<br />
erfolgt eine Orientierung an der Wirkung der einzelnen<br />
Stoffe, die stets langsam und mit niedriger Dosis aufdosiert<br />
und ausreichend lange nachbeobachtet werden<br />
sollten: »Start low and go slow«<br />
• Pharmakotherapie auf das Notwendige beschränken,<br />
• Teilbarkeit der Tabletten beachten (wichtig bei Rabattverträgen,<br />
ggf. »aut idem« und/oder Dosierungsangaben<br />
auf das Rezept),<br />
• Verordnungsabstände und zeitgerechter Medikamentenverbrauch<br />
sollten stets überwacht werden,<br />
• Therapieänderungen sollten langsam erfolgen.<br />
Zusammenfassende Grundsätze<br />
• In der Regel nicht Symptome, sondern führende<br />
Grundleiden therapieren.<br />
• Normales Altern und Neuerkrankungen im Alter<br />
müssen unterschieden und dem Patienten vermittelt<br />
werden.<br />
• Ein Symptom ist oftmals eine Nebenwirkung der<br />
Pharmakotherapie.<br />
• Klären, ob eine Pharmakotherapie überhaupt erforderlich<br />
und erfolgversprechend ist.<br />
• Keine Therapie ohne Medikamenten-Anamnese<br />
(nach früheren Unverträglichkeiten, Selbstmedikation<br />
und Mitbehandler-Medikationen fragen).<br />
• Bei Akutbehandlungen, z. B. mit Antibiotika, NSAR,<br />
Diuretika, Theophyllin usw., potentielle Interaktionen<br />
mit Dauertherapie berücksichtigen.<br />
• Medikamente im Alter immer nach Wirkung individuell<br />
und niedrig dosieren, keine schematische<br />
Therapie anwenden.<br />
• Absetzen der Pharmakotherapie, wenn sie nicht<br />
mehr nötig ist, keine gewohnheitsmäßigen Dauertherapien<br />
durchführen.<br />
• Compliance (Adhärenz) des Patienten, seine geistigen<br />
und körperlichen Möglichkeiten sowie seine<br />
Lebensumstände überprüfen. Einfache Einnahmepläne<br />
erstellen, wenn möglich Einmalgaben, möglichst<br />
keine Tablettenteilung und nicht zu viele<br />
unterschiedliche Einnahmezeitpunkte (einfaches<br />
Therapieregime).<br />
Korrespondenzadresse<br />
Ausführliche Leitlinie im Internet<br />
Hausärztliche Leitlinie<br />
<br />
PMV forschungsgruppe<br />
Fax: 0221-478-6766<br />
Email: pmv@uk-koeln.de<br />
http:\\www.pmvforschungsgruppe.de<br />
www.pmvforschungsgruppe.de<br />
> publikationen > leitlinien<br />
www.leitlinien.de/leitlinienanbieter/deutsch/pdf/<br />
hessenalter<br />
»Alter - Pharmakotherapie im<br />
Alter «<br />
Tischversion 1.0 April 2008
info.doc Verlag GbR, Pfingstbornstr. 38, 65207 Wiesbaden<br />
PVSt Deutsche Post AG, Entgelt bezahlt, 68689<br />
Tischversion Fettstoffwechselstörung -<br />
Dyslipidämie<br />
Tischversion Alter, Teil 1 von 2<br />
Epidemiologische Studien zeigen einen Zusammenhang<br />
zwischen dem Auftreten von Herz-Kreislauferkrankungen<br />
und hohen Serumcholesterinwerten. Diese bzw. die Höhe<br />
der Im Alter HDL- gilt und für LDL-Werte eine Pharmakotherapie: stellen jedoch nur WENIGER einen von IST<br />
mehreren MEHR! Sofern Risikofaktoren möglich, dar. sollten Deshalb nicht empfiehlt mehr als sich drei für<br />
den Arzneistoffe Hausarzt bei verordnet Vorliegen werden. einer Dyslipidämie Dies ist die eine Einteilung Idealin<br />
oder eine Zielvorstellung, Risikogruppe anhand die nicht von immer systematischen erreichbar Algorythmen<br />
wird. oder Scores (NCEP, PROCAM). Somit erfolgt eine<br />
sein<br />
Abschätzung des Risikos für kardiovaskuläre Ereignisse<br />
(10-Jahresrisiko) Im Laufe des und Lebens darauf verändern die Festlegung sich die der entscheidenden<br />
pharmakologischen mit dem Patienten. Parameter Für die Risikoeinstufung<br />
interindividuell<br />
Behandlungsstrategie<br />
orientiert sehr unterschiedlich. sich die Leitliniengruppe Die Dosierungen Hessen an der der folgenden Arzneimittel<br />
sind der im NCEP Alter (National anzupassen Cholesterol oder (meist) Education zu<br />
Einteilung<br />
Program reduzieren: des National Heart, Lung, and Blood Institute,<br />
http://www.nhlbi.nih.gov/guidelines/cholesterol/index.htm):<br />
1. Die Resorption von Medikamenten verschlechtert<br />
sich im Alter für viele Stoffe.<br />
1. Hohes Risiko (10-Jahresrisiko über 20%): a) Bestehende<br />
koronare 2. Elektrolytverschiebungen Herzkrankheit (KHK), b) KHK-Äquivalente, (z. B. Laxantienabusus, c)<br />
Diabetes Fehlernährung, mellitus, d) 2 Exsikkose) oder mehr Risikofaktoren**:<br />
können die Wirksamkeit<br />
2. Mäßig wasserlöslicher hohes Risiko Medikamente (10-Jahresrisiko behindern. 10-20%): 2 Risikofaktoren*<br />
3. Veränderungen bei errechnetem der Risiko**. Verteilungsräume:<br />
3. Moderates Risiko (10-Jahresrisiko < 10%): 2 Risikoaktoren*<br />
bei errechnetem Risiko**.<br />
a) Reduktion des Gesamtkörperwassers von 42%<br />
auf 33% des Körpergewichts (KG) sowie der Extrazellularflüssigkeit,<br />
d. h. niedrigeres Verteilungsvolu-<br />
4. Niedriges Risiko: 0-1 Risikofaktor*<br />
*Risikofaktoren: Zigaretten rauchen, Hypertonie, niedriges<br />
men hydrophiler Arzneimittel wie ACE-Hemmer,<br />
HDL-Cholesterin unter 40mg/dl, familiäre Belastung mit<br />
vorzeitiger<br />
Digoxin,<br />
KHK,<br />
Lorazepam,<br />
Alter (Männer<br />
Metronidazol,<br />
über 45 Jahre,<br />
L-Thyroxin.<br />
Frauen über<br />
Es<br />
55 Jahre); droht u. **errechnetes U. Kumulation Risiko: verstärkt Bsp. durch: mit PROCAM Score<br />
(s. Rückseite) • sinkendes oder Durstgefühl elektronischem im NCEP-Risikokalkulator<br />
Alter trotz Flüssigkeitsmangel<br />
Diabetiker (sog. »Altersexsikkose«)<br />
ohne KHK oder KHK-Äquivalente<br />
Anmerkung:<br />
und • ohne Abnahme zusätzliche der Nierenleistung<br />
Risikofaktoren profitieren bei einem<br />
LDL20%) vermindert. und Anstreben Nach eines der Formel LDL von von 100 Cockcroft mg/dl.<br />
die GFR um<br />
• Medikamentöse und Gault kann Therapie die bei Nierenclearance Patienten der Gruppe (C kreat 2 ) in<br />
und ml/min 3 nach ausreichend individueller genau Entscheidung errechnet unter werden: Berücksichtigung<br />
der Lipidwerte (140 und - Alter) nach x Gewicht Erprobung (kg) lebensstiländernder<br />
Maßnahmen. 72 x Serumkreatinin (mg/dl)<br />
Männer: C kreat =<br />
• Für Patienten der Risikogruppe (140 - Alter) 4 x (0-1 Gewicht Risikofaktor) (kg) sind<br />
lebensstilmodifizierende<br />
Frauen: C kreat =<br />
85 x Maßnahmen Serumkreatinin im Allgemeinen<br />
(mg/dl)<br />
ausreichend.<br />
Renal ausgeschiedene Wirkstoffe müssen im Alter<br />
Je nach niedriger Risikogruppe dosiert wird werden, ein LDL z. von B. 100 Ampicillin, mg/dL (Gruppe Benzylpenicillin,<br />
mg/dL (Gruppe Captopril, 2+3) Cefotaxim, bzw. 160 mg/dL Cefuroxim, (Gruppe Digoxin, 4)<br />
1), 130<br />
angestrebt. Metronidazol, Tetracyclin, Theophyllin, Triamteren.<br />
Arzneimittelauswahl: 5. Leberdurchblutung Es (40%) sollten und Wirkstoffe Lebergröße eingesetzt nehmen<br />
für ab, die Endpunktstudien die metabolische mit günstiger Kapazität NNT und ist NNH ver-<br />
werden,<br />
vorliegen schlechtert. (Simvastatin, Die Pravastatin). Initial- und Für Erhaltungsdosen Simvastatin (20 vornehmlich<br />
40 mg) und hepatisch Pravastatin eliminierter (40 mg) ist Stoffe eine Senkung müssen sowohl ange-<br />
mg<br />
und<br />
der messen Gesamtmortalität reduziert als oder auch ggf der erhöht kardiovaskulären werden (z. B. Mortalität<br />
Drugs). belegt. Bei Dosisreduktion Multimorbidität und z. B. Multimedikation bei Antiarrhythmika, sollte die<br />
Pro-<br />
Indikation Sartane, für ß-Blocker, eine medikamentöse Ca-blocker, lipidsenkende Statine, Neuroleptika,<br />
Antidepressiva, streng gestellt werden. Antiepileptika, NSAR, Benzo-<br />
Therapie<br />
besonders<br />
Merke: diazepin, Antidiabetika, PPI, Makrolid-Antibiotika.<br />
• Bei medikamentöser Therapie: CK kontrollieren!<br />
6. Interaktion und Enzyminduktion, z. B. Verdrängung<br />
aus<br />
(Rhabdomyolyse möglich!)<br />
• Keine Kombinationstherapie<br />
Eiweißbindung<br />
CSE-Hemmer<br />
(Phenprocoumon/NSAR).<br />
+ Fibrate/<br />
Makrolide/Azol-Antimykotika.<br />
Körpereigene (z. B. endogene Steroide, Östrogene),<br />
• Wechselwirkungen körperfremde Stoffe auch (Nahrungsmittel, anderen Medikamenten z. B. Grapefruit,<br />
Johanniskraut) und Medikamente können das<br />
möglich!<br />
• Bei Enzymsystem Makrolidtherapie der CSE-Hemmer P-450-Zytochrome pausieren! bei der Verstoffwechselung<br />
vor chirurgischen hemmen Eingriffen oder und induzieren bei akut auftre-<br />
und den<br />
• Statine<br />
tenden Medikamenten-Wirkspiegel schweren Erkrankungen dadurch vorübergehend verändern. absetzen!<br />
Auf Compliance achten, auf abendliche Einnahme<br />
des CSE-Hemmers hinweisen.<br />
7. Veränderung der Pharmakodynamik: Empfindlichkeitssteigerung<br />
oder paradoxe Wirkung im Alter<br />
• Evidenzbasierte Patienteninformationen sind unter<br />
für zentral wirksame Stoffe (Barbiturate, Benzodiazepine,<br />
Chlorpromazin) erfordern eine Dosisreduk-<br />
www.gesundheitsinformation.de abrufbar.<br />
tion um bis zu 50%.