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BRENNPUNKT ARZNEI - KV Hamburg

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<strong>BRENNPUNKT</strong> <strong>ARZNEI</strong><br />

Jhrg. 13, Nr. 2 – Juni 2008<br />

<br />

<br />

Wer das HbA 1c zu stark senkt,<br />

gefährdet seine Patienten<br />

Etliche Diabetologen empfehlen ein HbA 1c unter sieben Prozent. Das entspricht dem<br />

Wert, den die strikt eingestellten Diabetiker in der so genannten ACCORD-Studie<br />

erreichten. In der Praxis kommen die meisten Diabetiker aber nur auf sieben bis acht<br />

Prozent HbA 1c . In diesem Bereich lagen auch die Diabetiker in der ACCORD-Studie,<br />

die nicht so streng eingestellt worden waren. Jetzt wurde dieser Teil der Studie<br />

abgebrochen, weil gerade die Patienten mit „besonders gut“ eingestelltem HbA 1c<br />

häufiger gestorben waren. Wir tun unseren Diabetikern also offenbar nichts Gutes,<br />

wenn wir den Zielwert für das HbA 1c so streng ansetzen, wie dies einige Diabetologen<br />

fordern. Seite 4<br />

Ergebnisse der ONTARGET-Studie<br />

Sartane nur in Ausnahmefällen indiziert,<br />

Kombi mit ACE-Hemmer ist ungünstig<br />

Gerade wurde die ONTARGET-Studie publik gemacht. Ihre Basis ist eindrucksvoll, sie<br />

umfasst über 25 000 Patienten. Und sie lehrt uns zweierlei: Eine Kombination aus<br />

ACE-Hemmer und Sartan ist ungünstiger als die jeweilige Einzelsubstanz, und Sartane<br />

sind nur in Ausnahmefällen besser als die deutlich preiswerteren ACE-Hemmer.<br />

Seite 6<br />

Metaanalyse entlarvt schwache Wirkung der SSRI-Hemmer<br />

Vom Umgang mit modernen Antidepressiva<br />

Eine neue Metaanalyse ist zu einem für die SSRI wenig schmeichelhaften Ergebnis<br />

gekommen: Diese modernen Antidepressiva sind längst nicht so wirksam wie man<br />

bisher glaubte. Ihre Effekte erheben sich allenfalls bei schweren Depressionen über<br />

das Placebo-Niveau. Das heißt in der Praxis: Unwirksam sind sie nicht, man sollte<br />

also das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Aber man muss sich zukünftig doch<br />

etwas genauer überlegen, ob ihre Verordnung im konkreten Fall tatsächlich sinnvoll<br />

ist. Hilfestellung dazu finden Sie ab Seite 8<br />

Wenn Rezepte das Herz gefährden<br />

60 000 bis 90 000 Menschen sterben jedes Jahr in Deutschland, weil ein Kammerflimmern<br />

oder eine schnelle Kammertachykardie zum plötzlichen Herztod führt.<br />

Auslöser der fatalen Rhythmusstörungen ist oft eine kritisch verlängerte QT-Zeit.<br />

Diese wiederum ist Ausdruck einer Repolarisationsstörung am Myokard, die bei<br />

prädisponierten Patienten durch zahlreiche Medikamente verursacht werden kann.<br />

Dies klingt zunächst nach komplizierter Rhythmologie, doch in der Praxis kann der<br />

Hausarzt gefährliche Konstellationen recht einfach erkennen und seine Patienten<br />

vor den potenziell fatalen Folgen einer QT-Verlängerung schützen. Seite 14


Seite 2 <strong>KV</strong>H • aktuell Nr. 2 / 2008<br />

Editorial<br />

Vom Ende eines Selbstbetrugs<br />

Sehr geehrte Damen und Herren,<br />

ein Selbstbetrug nähert sich dem Ende. Stück für Stück müssen Politik und Krankenkassen<br />

einsehen, dass die schon seit Jahren fragwürdigen Instrumente der Kostendämpfung<br />

im Bereich der Pharmakotherapie endgültig ad absurdum geführt<br />

wurden. Arzneimittelbudget, Arzneimittelobergrenze, Richtgrößen oder Wirtschaftlichkeitsprüfungen<br />

nach Durchschnitt sind so lange ausgehöhlt und totgeritten<br />

worden, dass sie nun endgültig den nicht gerade kleinen Friedhof der gescheiterten<br />

Kostendämpfungsinstrumente im Gesundheitswesen erweitern werden.<br />

War es zunächst die desolate Datenlage der Krankenkassen, die eine rechtssichere<br />

und faire Prüfung unmöglich gemacht hat, machte dann die Vielfalt der Realität<br />

den Heckenschnitt-Prüfungen Probleme. Konnten Richtgrößen noch als Aufgreifkriterium<br />

durchgehen, brachen viele Anschuldigungen wegen unwirtschaftlicher<br />

Verordnungsweise in sich zusammen, sobald der Arzt die Gründe seines Tuns<br />

darlegen konnte.<br />

Den endgültigen Todesstoß hat die Politik aber mit der Ermöglichung von Rabattverträgen<br />

gesetzt. Diese Verträge durchziehen mittlerweile fast alle Indikationsgebiete.<br />

Die Verträge sind geheim – auch innerhalb der Krankenkassen – und<br />

entfalten Wirkungen, die niemand kennt. Ganz offenbar liegen Rabattpreise aber<br />

nicht selten über den Preisen für Generika, sodass der Arzt in ein unauflösbares<br />

Dilemma gerät: Er ist einerseits verpflichtet, eines der preiswertesten Generika zu<br />

verordnen, andererseits muss er Rabattverträge beachten. Eine solche Situation<br />

bezeichnet der Jurist als „objektive Unmöglichkeit“ und damit als rechtswidrig.<br />

Genau das ist die aktuelle Lage: rechtswidrig. Es ist keinem Arzt zuzumuten, sich<br />

quasi im Blindflug auf nicht bekannte Preisabsprachen zwischen Kasse und Hersteller<br />

zu verlassen und für die Folgen mit seinem Honorar geradezustehen. Unter diesen<br />

Umständen werden Richtgrößen-Verfahren rechtssicher nicht mehr durchgeführt<br />

werden können.<br />

Aus diesem von der Politik angezettelten Dilemma muss die Politik auch wieder<br />

herausführen: Indem sie die Dinge wieder ordnet. Wenn die Verantwortung für die<br />

Preisgestaltung auf Krankenkasse und Industrie gelegt wird, muss der Arzt aus dieser<br />

Haftung entlassen werden! Er kann nur noch (gemeinsam mit dem Patienten) für<br />

die Menge der verordneten Präparate und vor allem die medizinische Sinnhaftigkeit<br />

in Haftung genommen werden.<br />

Das bedeutet zum einen, dass die <strong>KV</strong> <strong>Hamburg</strong> sich massiv dafür einsetzt, Arzneimittelbudgets<br />

und Richtgrößen abzuschaffen und durch Indikationsprüfungen<br />

zu ersetzen. Das entließe den Arzt nicht aus seiner Pflicht zum preiswerten und<br />

effektiven Verordnen – aber es setzte den Schwerpunkt seiner Verantwortung dort,<br />

wo sie hingehört: in die medizinische Kompetenz. Deshalb bedeutete ein solcher<br />

Wechsel zum anderen für den Arzt natürlich noch stärker, sich über Innovationen<br />

und deren vorgeblichen oder echten Vorteile zu informieren. Diesem Zweck dient<br />

auch die neue Ausgabe von „<strong>KV</strong>H aktuell“, bei dessen Lektüre wir Ihnen viel Erkenntnisse<br />

wünschen.<br />

Mit freundlichen Grüße<br />

Walter Plassmann<br />

<strong>KV</strong> <strong>Hamburg</strong>, stellvertretender Vorsitzender


Nr. 2 / 2008<br />

<strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Seite 3<br />

Editorial 2<br />

Das Ende des diabetologischen Höhenfluges<br />

Wer das HbA 1c zu stark senkt, gefährdet die Patienten 4<br />

Günther Egidi<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

ONTARGET-Studie bestätigt: Sartane nur in Ausnahmefälle indiziert 6<br />

Dr. med. Joachim Feßler<br />

Schwache Wirkung bei Metaanalyse zu SSRI<br />

Was ist von diesen Antidepressiva nun zu halten? 8<br />

Dr. med. Joachim Feßler, Klaus Hollmann<br />

Andidepressiva: Suizidgedanken und Suizide bei unter 25-Jährigen 12<br />

Dr. med. Günter Hopf<br />

Lebensgefährliche Einflüsse auf die Herzaktivität<br />

Welche Medikamente verlängern das QT-Intervall? 14<br />

Dr. med. Jutta Witzke-Gross<br />

Bundesverfassungsgericht: Viagra ist nicht Sache der Kassen 18<br />

Wenn der Wolff nach den Kopfläusen schnappt ...<br />

Das angeblich so tolle Mittel hat bei jedem Dritten versagt 19<br />

Dr. med. Klaus Ehrenthal<br />

Sicherer verordnen<br />

Dr. med. Günter Hopf<br />

Potenzmittel: Plötzlicher Hörverlust 21<br />

Fluorochinolone: Achillessehnenruptur 21<br />

Neues Abfallgesetz macht es möglich: Normale Arzneimittel in den Hausmüll werfen 21<br />

Piroxicam: Anwendungseinschränkungen 22<br />

Off-Label-Use: Kasse muss sich festlegen 22<br />

Krankenhaus: Entlassmedikation verbesserungswürdig 23<br />

Veit Eck, Krankenhausapotheker<br />

Den Industrieeinfluss beschränken 25<br />

Dr. med. Dieter Lehmkuhl<br />

Die evidenzbasierte Medizin und das geozentrische Weltbild<br />

Steht der Hausarzt im Mittelpunkt der Welt? 26<br />

Dr. med. Joachim Feßler<br />

Hausärztliche Leitlinie Palliativversorgung, Teil 2 33<br />

Hausärztliche Leitlinie Alter, Teil 1 – die Tischversion zum Ausschneiden 59<br />

Impressum<br />

Verlag: info.doc Dr. Bernhard Wiedemann und Anne Haschke-Wiedemann GbR, Pfingstbornstr. 38, 65207 Wiesbaden<br />

Herausgeber: Kassenärztliche Vereinigung Hessen, Georg-Voigt-Straße 15, 60325 Frankfurt<br />

Redaktionsstab: Dr. med. Joachim Feßler (verantw.),<br />

Dr. med. Klaus Ehrenthal, Dr. med. Margareta Frank-Doss, Dr. med. Jan Geldmacher, Dr. med. Harald Herholz,<br />

Klaus Hollmann, Dr. med. Günter Hopf, Dr. med. Wolfgang LangHeinrich, Dr. med Alexander Liesenfeld,<br />

Renata Naumann , Alexandra Rieger, Karl Matthias Roth, Dr. med. Michael Viapiano, Dr. med. Jutta Witzke-Gross<br />

Fax Redaktion: 069 / 79502 501<br />

Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. med. Ferdinand Gerlach, Institut für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt;<br />

Prof. Dr. med. Sebastian Harder, Institut für klinische Pharmakologie der Universität Frankfurt<br />

Die von Mitgliedern der Redaktion oder des Beirats gekennzeichneten Berichte und Kommentare sind redaktionseigene Beiträge; darin zum Ausdruck gebrachte Meinungen entsprechen<br />

der Auffassung des Herausgebers. Mit anderen als redaktionseignen Signa oder mit Verfassernamen gekennzeichnete Beiträge geben die Auffassung der Verfasser wieder und decken<br />

sich nicht zwangsläufig mit der Auffassung des Herausgebers. Sie dienen der umfassenden Meinungsbildung.<br />

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in dieser Veröffentlichung berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme,<br />

dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- oder Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.<br />

Wie alle anderen Wissenschaften sind Medizin und Pharmazie ständigen Entwicklungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere, was<br />

Behandlung und medikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in dieser Broschüre eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass Autor und<br />

Herausgeber große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angaben dem Wissensstand bei Fertigstellung der Broschüre entsprechen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und<br />

Applikationsformen kann vom Herausgeber jedoch keine Gewähr übernommen werden. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benutzers.


Seite 4 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Nr. 2 / 2008<br />

Für Sie<br />

gelesen<br />

Mehr Todesfälle,<br />

wenn HbA 1c<br />

unter 7 lag<br />

Das Ende des diabetologischen Höhenfluges<br />

Wer das HbA 1c zu stark senkt,<br />

gefährdet die Patienten<br />

Günther Egidi*<br />

Das könnte das Aus sein für übersteigerten diabetologischen Ehrgeiz: In den USA<br />

wurde die ACCORD-Studie [1] vorzeitig gestoppt (ACCORD = Action to Control<br />

Cardiovascular Risk in Diabetes). Die vom US-National Heart, Lung and Blood<br />

Institute (NHLBI) gesponserte Studie wurde im Jahr 2001 begonnen. Sie untersuchte<br />

10 251 im Schnitt 62 Jahre alte Typ-2-Diabetiker mit Diabetes-Dauer von<br />

durchschnittlich zehn Jahren. Einschlusskriterien waren eine Sekundärprävention,<br />

z.B. nach Myokardinfarkt, oder neben dem Diabetes mindestens zwei weitere kardiovaskuläre<br />

Risikofaktoren.<br />

Die Studie hatte drei Arme:<br />

1 aggressive Blutdruck-Senkung<br />

2 aggressive Lipidsenkung (Fibrat + Statin)<br />

3 aggressive Blutzucker-Senkung.<br />

Die ersten beiden genannten Studienarme sollen bis 2009 laufen – mit Ergebnissen<br />

wird 2010 gerechnet. Der dritte jetzt abgebrochene Studienarm untersuchte<br />

eine HbA 1c -Senkung unter sechs Prozent. Die Blutzuckersenkung konnte dabei<br />

mit Metformin, Glitazonen, Insulin, Sulfonylharnstoffen, Acarbose und Exenatide<br />

erreicht werden.<br />

Viele Diabetologen empfehlen ein HbA 1c unter sieben Prozent. Die meisten Diabetiker<br />

liegen bei sieben bis acht Prozent – wie auch in der Vergleichsgruppe der<br />

ACCORD-Studie. Erreicht wurden in der Studie HbA 1c -Werte von 6,4 Prozent in der<br />

aggressiv behandelten Gruppe respektive 7,5 Prozent in der Vergleichsgruppe.<br />

In der Interventionsgruppe kam es nach durchschnittlich vier Jahren zu 257 Todesfällen,<br />

während in der Kontrollgruppe nur 203 Patienten starben. Das entspricht<br />

einer absoluten Differenz von drei Todesfällen auf 1000 Teilnehmer.<br />

Hinweise auf die genaue Ursache der Übersterblichkeit ließen sich aus den zur<br />

Verfügung stehenden Daten nicht erkennen. Hypoglykämien sollen dabei keine<br />

größere Rolle gespielt haben.<br />

Auch die in den jüngeren [2,3] Metaanalysen als schädlich eingestuften Glitazone<br />

waren nicht als Hauptursache der gesteigerten Sterblichkeit auszumachen. Herzinfarkte<br />

scheinen häufiger tödlich ausgegangen zu sein als unter Standardtherapie,<br />

unerwartete plötzliche Todesfälle waren häufiger. Das Studienergebnis reiht sich,<br />

ohne dass sich dies in diabetologischen Empfehlungen [4] widergespiegelt hätte, in<br />

längst bekannte Erkenntnisse aus großen Diabetes-Untersuchungen ein:<br />

In der UGDP-Studie [5] war es bei 400 Patienten während einer 12,5-jährigen<br />

Beobachtungszeit durch eine Blutzucker-Senkung mit Sulfonyl-Harnstoff oder Insulin<br />

im Vergleich zu Placebo(!) zu einem Anstieg der Sterblichkeit von 26 auf 29<br />

Prozent gekommen.<br />

In der UKPDS [6] unterschieden sich bei 3867 Typ-2-Diabetikern Sterblichkeit und<br />

Herzinfarktrate nach zehnjähriger Studiendauer nicht signifikant zwischen den Patienten<br />

mit intensiver (Ziel: Nüchtern-BZ


Nr. 2 / 2008<br />

<strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Seite 5<br />

retinalen Photokoagulation als zusätzlicher Endpunkt eingeführt worden wäre [7].<br />

Die Zahl schwerer Hypoglykämien (Hilfe Dritter erforderlich) lag in der UKPDS<br />

unter Glibenclamid bei fünf Prozent, unter Insulin bei 22 Prozent in zehn Jahren.<br />

Diese Häufigkeit einer gefährlichen Nebenwirkung wurde in der Studienpublikation<br />

dadurch verharmlost, dass sie als 0,5 bzw. 2,2 Prozent pro Jahr dargestellt wurde,<br />

während die durch Hereinnahme der Laserkoagulationen in den Sammel-Endpunkt<br />

erreichte Senkung mikrovaskulärer Endpunkte mit drei Prozent in zehn Jahren angezeigt<br />

wurde.<br />

Was bedeutet das für die Praxis?<br />

Eine HbA 1c -Senkung unter sieben Prozent schadet bei Typ-2-Diabetikern.<br />

Bei einer HbA 1c -Senkung unter 7,9 Prozent muss der Vorteil einer verringerten<br />

Notwendigkeit von Netzhaut-Laserungen gegen die Gefahr eher deutlich häufiger<br />

vorkommender schwerer Hypoglykämien abgewogen werden.<br />

Eine spezialisierte diabetologische Versorgung hat sicherlich da ihren Platz, wo<br />

Hausärzte nicht in der Lage sind,<br />

– zeitnah Schulungen anzubieten,<br />

– Diabetiker mit Sehstörungen mit speziellen Insulin-Pens zu versorgen oder<br />

– besonders instabilen Diabetikern eine angepasste Insulinbehandlung anzubieten.<br />

Allerdings sollte man als Hausarzt auch überlegen, ob einer der Diabetologen,<br />

mit denen man zusammenarbeitet, eventuell zu einer allzu<br />

ehrgeizigen und damit riskanten Blutzuckersenkung neigt.<br />

Metformin hat sich bei gleicher HbA 1c -Senkung als einzige Blutzucker senkende<br />

Substanz als geeignet erwiesen, die Herzinfarktrate zu senken [8].<br />

Bei gleicher Blutdruck-Senkung musste in der ALLHAT-Studie der Doxazosin-Arm<br />

wegen Übersterblichkeit abgebrochen werden [9].<br />

Die Glitazone senken zwar den Blutzucker gut, erhöhen aber die Rate von<br />

Herzinfarkt bzw. kardialer Dekompensation (Anmerkungen s. o.).<br />

Generell sollten wir bei jeder Verordnung eines Medikamentes die Frage des renommierten<br />

amerikanischen Kardiologen Bruce Psaty stellen: Ist dieses Medikament<br />

zugelassen worden, weil ein Effekt auf klinische Endpunkte belegt werden konnte,<br />

oder wurde nur ein Effekt auf Messgrößen wie Blutdruck oder HbA 1c belegt? Psaty<br />

war so weit gegangen zu fordern, dass ein Medikament nur zugelassen werden<br />

dürfe, wenn ein relevanter klinischer Nutzen bewiesen wurde [10].<br />

Bedeutung<br />

für<br />

unsere<br />

Praxis<br />

Die entscheidende<br />

Frage vor<br />

Verordnung eines<br />

Antidiabetikums:<br />

Lebensverlängerung<br />

oder nur<br />

Laborkosmetik?<br />

Interessenkonflikte: keine<br />

Literatur:<br />

1 National Heart, Lung, and Blood Institute: For safety, NHLBI changes intensive blood sugar treatment strategy in<br />

clinical trial of diabetes and cardiovascular disease. 2008<br />

http://public.nhlbi.nih.gov/newsroom/home/GetPressRelease.aspx?id=2551<br />

2 Nissen SE, Wolski K.: Effect of Rosiglitazone on the Risk of Myocardial Infarction and Death from Cardiovascular<br />

causes. N Engl J Med 2007; 356: 2457-71<br />

3 Richter B et al.: Pioglitazone for type 2 diabetes mellitus (Review); The Cochrane Library 2007, Issue 2<br />

4 Häring H-U et al. für die Deutsche Diabetes-Gesellschaft (DDG): Evidenzbasierte Leitlinie – Antihyperglykämische<br />

Therapie des Diabetes mellitus Typ 2<br />

5 University Group Diabetes Programme: A study of the effects of hypoglycaemic agents on vascular complications<br />

in patients with adult onset diabetes. Diabetes. 1976;25:1129-35<br />

6 UKPDS 33: Intensive blood-glucose control with sulfonylureas or insulin compared with conventional treatment<br />

and risk of complications in patients with type 2 diabetes. Lancet 1998;352:837-853<br />

7 Ewart: BMJ 2001;323:854-8<br />

8 UK Prospective Diabetes Study (UKPDS) Group: Effect of intensive blood-glucose control with metformin on<br />

complications in overweight patients with type 2 diabetes (UKPDS 34). Lancet 1998; 352: 854-65<br />

9 ALLHAT Officers and Coordinators for the ALLHAT Collaborative Research Group Diuretic Versus b-Blocker as<br />

First-Step Antihypertensive Therapy Final Results From the Antihypertensive and Lipid-Lowering Treatment to<br />

Prevent Heart Attack Trial (ALLHAT) Hypertension. 2003; 42: 239-246<br />

10 Psaty BM, Furberg CD: Rosiglitazone and Cardiovascular Risk. NEJM 2007; 356: 2522-24


Seite 6 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Nr. 2 / 2008<br />

Für Sie<br />

gelesen<br />

ONTARGET-Studie bestätigt es<br />

Sartane nur in Ausnahmefälle indiziert<br />

Dr. med. Joachim Feßler<br />

Die neu erschienene ONTARGET-Studie [1] hat zwei Ergebnisse gebracht,<br />

die auch für die Hausarztpraxis von Bedeutung sind: Zum einen ist eine<br />

Kombination aus ACE-Hemmer und Sartan eher ungünstiger als die jeweilige<br />

Einzelsubstanz und zum anderen sind Sartane nicht besser als die<br />

deutlich preiswerteren ACE-Hemmer.<br />

Die ONTARGET-Studie ist eine so genannte Nichtunterlegenheitsstudie. Das heißt:<br />

Es wird geprüft, inwiefern eine neues Therapieprinzip – hier Telmisartan – einem<br />

etablierten Therapieprinzip – hier Ramipril – nicht unterlegen ist. Dies klingt umständlich,<br />

liegt aber in der Natur der statistischen Methodik. Es ist eine randomisierte,<br />

kontrollierte Vergleichsstudie mit 25 620 Patienten.<br />

Kombination<br />

hatte mehr<br />

Nebenwirkungen<br />

Einige Details zur Studie:<br />

Einschlusskriterien: Patienten mit KHK, pAVK, cerebrovaskulärer Erkrankung<br />

oder Diabetes mit Endorganschädigung, jeweils ohne Herzinsuffizienz. Diese Patienten<br />

werden im Weiteren als Hochrisikopatienten für kardiovaskuläre Ereignisse<br />

bezeichnet.<br />

Intervention: 8576 Patienten erhielten 10 mg Ramipril täglich, 8542 erhielten<br />

80 mg Telmisartan täglich und 8502 Patienten erhielten beide Wirkstoffe als Kombination<br />

– zusätzlich zur sonstigen leitlinienkonformen Therapie (Statine, Beta-Blocker,<br />

ASS, Clopidogrel, Diuretika, Kalziumantagonist etc.). Die mittlere Beobachtungszeit<br />

war 56 Monate. 99,8 Prozent der Patienten konnten vollständig beobachtet werden.<br />

Das durchschnittliche Alter war 67 Jahre, 27 Prozent waren Frauen, der Anteil<br />

europäischen Ursprungs war 73 Prozent.<br />

Endpunkte: Kombinierter primärer Endpunkt: kardiovaskuläre Todesursache plus<br />

Myokardinfarkt plus Apoplex plus Hospitalisierung wegen Herzinsuffizienz. Der<br />

sekundäre Endpunkt war der primäre Endpunkt ohne Hospitalisierung wegen Herzinsuffizienz<br />

und somit identisch mit dem primären Endpunkt der HOPE-Studie [2].<br />

Ergebnisse (siehe auch Tabelle 1): Der primäre Endpunkt trat in der Ramipril Gruppe<br />

bei 1412 (16,5 Prozent), in der Telmisartan Gruppe bei 1423 (16,7 Prozent) und<br />

in der Kombinationsgruppe bei 1386 (16,3 Prozent) der Patienten auf. Die Unterschiede<br />

sind nicht signifikant, d.h. es gibt keine Unterlegenheit von Telmirsartan<br />

gegenüber Ramipril und keinen Zusatznutzen. Die Kombination war weder gegenüber<br />

Telmirsartan noch gegenüber Ramipril unterlegen, hatte aber auch keinen<br />

Zusatznutzen. Einen signifikanten Unterschied gab es in der Nebenwirkung<br />

Tabelle 1: Die Ergebnisse der ONTARGET-Studie im Überblick<br />

Ramipril (ACE-Hemmer) Telmisartan (Sartan)<br />

N=8576<br />

N=8542<br />

Angaben in Prozent, in Klammern die absoluten Patientenzahlen<br />

Kombination<br />

N=8502<br />

Primärer Endpunkt* 16,5% (1412) 16,7% (1423) 16,3% (1386)<br />

Myokardinfarkte 4,8% (413) 5,2% (440) 5,2% (438)<br />

Schlaganfälle 4,7% (405) 4,3% (369) 4,4% (373)<br />

Kardiovaskulärer Tod 7,0% (603) 7,0% (598) 7,3% (620)<br />

KH-Einweisung wg. Herzinsuffizienz 4,1% (354) 4,6% (394) 3,9% (332)<br />

* Der primäre Endpunkt war ein kombinierter Endpunkt aus Myokardinfarkt, Schlaganfall, kardiovaskulärer Tod, Krankenhauseinweisung wegen<br />

Herzinsuffizienz.


Nr. 2 / 2008<br />

<strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Seite 7<br />

Husten, dieser trat in der Telmirsartan Gruppe bei 1,1 Prozent auf, in der Ramipril<br />

Gruppe bei 4,2 Prozent (p


Seite 8 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Nr. 2 / 2008<br />

Für Sie<br />

gelesen<br />

Antidepressiva waren<br />

nur bei schweren<br />

Depressionen besser<br />

als Placebo<br />

Schwache Wirkung bei Metaanalyse zu selektiven<br />

Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI)<br />

Was ist von diesen Antidepressiva<br />

nun zu halten?<br />

Dr. med. Joachim Feßler, Klaus Hollmann<br />

Antidepressiva – fragwürdige Stimmungsmacher? Solche Schlagzeilen<br />

fanden sich kürzlich auf den Wissenschaftsseiten der Publikumsmedien.<br />

Die Wirkstoffe Fluoxetin, Paroxetin, Venlafaxin und das hierzulande<br />

nicht mehr verfügbare Nefazodon, so eine Studie, scheinen gegen Depressionen<br />

kaum zu helfen. Und das, obwohl es sich hier um Wirkstoffe<br />

handelt, die zu den „besten“ derzeit verfügbaren Medikamenten gegen<br />

Depression zählen.<br />

Die Metaanalyse von Irving Kirsch [1], die auf der Basis von Dokumenten der amerikanischen<br />

Zulassungsbehörde FDA – darunter zum Teil unveröffentlichte Studienergebnisse<br />

– beruht, führte zu dem Ergebnis, dass allenfalls bei sehr schweren<br />

Depressionen das Verum stärker als Placebo wirkt. Zwar weiß man schon lange,<br />

dass Scheinmedikamente Depressionen bei vielen Patienten lindern können, dass<br />

das Placebo aber in etwa 80 Prozent ebenso wirkt wie die modernen Medikamente,<br />

überrascht nun doch. Die Nachricht selbst ist ein Stimmungskiller – für die Hersteller.<br />

Denn das Interesse an den Ergebnissen der Metaanalyse ist enorm.<br />

Kirsch und seine Kollegen hatten für die Metaanalyse Untersuchungen ausgewertet,<br />

die bei der US-Arzneimittelbehörde FDA eingereicht wurden, um zwischen 1987<br />

und 1999 die Zulassung für die vier genannten Antidepressiva zu bekommen.<br />

Führt Kirsch, der seit Ende 1990 über Antidepressiva veröffentlicht, vielleicht einen<br />

Feldzug gegen die Antidepressiva? Für die Wirksamkeit fordert Kirsch, ebenso wie<br />

NICE * und FDA, eine Besserung der HRSD-Werte (Hamilton Rating Scale of Depression)<br />

um mindestens drei Punkte im Vergleich zu Placebo. Wie relevant eine solche<br />

Senkung klinisch ist, bleibt unkommentiert.<br />

Die Metaanalyse zeige im Grunde nichts wirklich Neues, erklärte die Deutsche<br />

Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) in ihrer<br />

Reaktion und argumentiert: Je schwerer die Depression ausgeprägt sei, desto deutlicher<br />

seien die Behandlungseffekte, die man mit Antidepressiva erreichen könne.<br />

Die DGPPN widerspricht auch der Lesart in manchen Medien, dass selbst bei<br />

schweren depressiven Erkrankungen Antidepressiva keine klinische Wirkung im<br />

Sinne eines Nutzens für die Patienten erzielten. Allein vor dem Hintergrund der<br />

Suizidgefahr, die für viele Betroffene mit einer Depression einhergehe, ist für die<br />

DGPPN die Option einer Therapie mit Antidepressiva unverzichtbar. Aber: Es gibt<br />

bei psychiatrischen Mitteln einen bekannten Publikationsbias. nur ungefähr ein<br />

Drittel der Studien sind publiziert. Zudem: Kein Antidepressivum hat bisher einen<br />

überzeugenden Beleg für einen suizidverhütenden Effekt erbracht.<br />

Wichtig ist allerdings: Ein Beleg für eine Unwirksamkeit dieser Medikamentengruppe<br />

ist die Metaanalyse nicht. Bei vielen Patienten wird die<br />

Wirkung aber schwächer sein als man bislang vermutete.<br />

Wenn man der Diskussion folgt, dann muss man reflektieren, dass SSRI-Antidepressiva<br />

bei leichten und mittelschweren Depressionen wohl zu häufig verordnet<br />

* NICE ist das britische „National Institute for Health Clinical Excellence“, die Qualitätssicherungsinstanz im<br />

britischen Gesundheitswesen.


Nr. 2 / 2008<br />

<strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Seite 9<br />

werden. Antidepressiva sind hier ohne therapeutischen Nutzen, aber mit Nebenwirkungsrisiken<br />

verbunden.<br />

Diese Meinung vertritt auch Gerd Antes vom Deutschen Cochrane-Zentrum. Er<br />

sagt: „Eine solche Zusammenschau der verfügbaren Daten ist das einzige Mittel, um<br />

mehr Klarheit zu bekommen. Lässt sich bei einer derartigen Analyse nicht zeigen,<br />

dass Medikamente besser als Placebo sind, sollte man den Gebrauch der Mittel<br />

überdenken.“<br />

Entscheidende Frage: Wie schwer ist die Depression?<br />

Wichtig ist dabei zunächst einmal die Frage: Wie kann ich die Schwere der Depression<br />

erfassen und eine Depression zuverlässig von der normalen schlechten Stimmung<br />

und Traurigkeit abgrenzen, die jeder Mensch regelmäßig erlebt? Ein probates Mittel<br />

ist die Hamilton Skala mit ihrem HRSD-Wert (Hamilton Rating Scale of Depression,<br />

siehe unten stehenden Kasten). Psychiater sprechen bei einem HRSD-Wert ab 20<br />

von einer schweren Depression. Für diese Patienten ist die antidepressive Behandlung<br />

indiziert. Erreichen die typischen Symptome mit somatischen Beschwerden,<br />

Erschöpfung, Insomnie, Versagens- und Schuldgefühlen in der allgemeinmedizinischen<br />

Sprechstunde einen HRSD-Wert von unter 20, bieten nach der vorliegenden<br />

Metaanalyse Antidepressiva im Vergleich zu Placebo-Behandlung keine ausreichenden<br />

Vorteile.<br />

Hamilton-Skala<br />

hilft bei der<br />

therapeutischen<br />

Entscheidung<br />

Was weist auf eine Depression hin?<br />

Als Screeningfragen für depressive Störungen haben sich die folgenden drei Fragen<br />

in der Hausarztpraxis bewährt:<br />

Haben Sie sich im vergangenen Monat oft niedergeschlagen oder hoffnungslos<br />

gefühlt?<br />

Hatten Sie im letzten Monat häufig wenig Freude bei den Dingen, die Sie tun?<br />

Brauchen Sie deswegen Hilfe?<br />

Die Klassifizierung der Depression nach ICD<br />

In Abhängigkeit von Anzahl, Dauer und Schwere des Auftretens der Symptome<br />

unterscheidet der ICD verschiedene Arten der depressiven Erkrankungen, so zum<br />

Beispiel:<br />

Die depressive Episode im Rahmen einer unipolaren Depression. Diese wird in<br />

eine leichte, mittlere und schwere Form unterteilt.<br />

Die depressive Episode im Rahmen der bipolaren affektiven Störung. Bei<br />

Depressionen mit der Hamilton-Skala diagnostizieren<br />

Die Hamilton Skala (Hamilton Rating Scale of Depression – HRSD) ist ein standardisiertes diagnostisches<br />

Instrument für den Arzt zur Beurteilung des Schweregrades einer Depression. Die Hamilton<br />

Skala dient insbesondere dazu, die Wirksamkeit verschiedener Therapien, z.B. von Medikamenten in<br />

Zulassungsstudien, zahlenmäßig exakt zu erfassen. Die Skala wurde 1960 von dem Psychiater Max<br />

Hamilton eingeführt.<br />

Aufbau<br />

Es werden 17, 21 oder bis zu 24 Symptomenkomplexe systematisch vom Untersucher mit meist 0 bis<br />

4 Punkten, manchmal auch von 0 bis 2 Punkten bewertet.<br />

Untersuchungspunkte sind z.B. die depressive Stimmung (Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit,<br />

Wertlosigkeit), Schuldgefühle, Selbstmordgedanken, Schlafstörungen, körperliche Beschwerden,<br />

Sexualität, Gewichtsverlust.<br />

Bewertung<br />

Je höher die Punktzahl, umso stärker ist die Depression.<br />

Weitere Informationen: http://healthnet.umassmed.edu/mhealth/HAMD.pdf


Seite 10 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Nr. 2 / 2008<br />

Patienten mit dieser Erkrankung treten neben depressiven Episoden auch Manien<br />

mit gesteigertem Antrieb und gehobener Stimmung auf.<br />

Die Dysthymie. Hierbei handelt es sich um eine meist im jungen Erwachsenenalter<br />

beginnende, eher chronisch verlaufende Depression.<br />

Wie soll man mit depressiv Erkrankten unabhängig vom Rezeptblock umgehen:<br />

abwartendes und zuwendendes Begleiten, Organisation von Entlastung, Selbsthilfe,<br />

Anleitung zu moderatem körperlichen Training, Vermittlung psychiatrischer und<br />

psychotherapeutischer Hilfen?<br />

In der Leitlinie des NICE zur Behandlung von Depressionen werden bei leichten<br />

Formen keine medikamentösen Behandlungen empfohlen, sondern ressourcenorientierte<br />

Verfahren und acht bis zehn Sitzungen einer kognitiv ausgerichteten<br />

Verhaltenstherapie, bei mittelschweren Formen zusätzlich eine antidepressivmedikamentöse<br />

Therapie mit der Leitsubstanz Citalopram.<br />

Bei jeder leichten und mittelschweren Depression muss individuell entschieden<br />

werden, ob eine Therapie begonnen bzw. fortgesetzt wird. Mit dem Patienten sollte<br />

die unbefriedigende Datenlage besprochen werden.<br />

Im Vordergrund<br />

steht das<br />

therapeutische<br />

Gespräch<br />

Bei Therapiebeginn<br />

Patienten mindestens<br />

alle zwei Wochen in<br />

die Praxis bestellen<br />

Die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft empfiehlt folgendes therapeutisches<br />

Vorgehen:<br />

A. Nichtmedikamentöse Therapie<br />

An erster Stelle steht das ärztliche Gespräch, das mit Zuhören begonnen hat.<br />

Eine alleinige Psychotherapie kann bei leichter bis mittelgradiger Depression<br />

sowie bei Kontraindikationen oder Ablehnung einer medikamentösen Therapie<br />

erwogen werden.<br />

Als spezifische Psychotherapien haben die kognitive Verhaltenstherapie und<br />

die interpersonelle Therapie ihre Wirksamkeit bei leichten und mittelschweren<br />

Depressionen bisher am besten belegt.<br />

Weitere nichtmedikamentöse Maßnahmen sind Schlafentzug, Lichttherapie und<br />

Elektrokrampftherapie.<br />

B. Pharmakotherapie<br />

Behandlung der akuten depressiven Episode:<br />

Akute Episoden klingen in der Praxis oft in kurzer Zeit spontan ab. Bei Patienten<br />

mit leichter Depression, die keine Therapie wünschen oder bei denen<br />

eine kurzfristige Besserung zu erwarten ist, kann ggf. zunächst für etwa zwei<br />

Wochen eine abwartende Haltung eingenommen werden (»watchful waiting,<br />

beobachtendes Abwarten«).<br />

Je schwerer das depressive Syndrom ist, desto eher muss an erster Stelle eine<br />

Pharmakotherapie erfolgen.<br />

Zu Therapiebeginn sind häufige, mindestens ein- bis zweiwöchentliche Kontakte<br />

erforderlich.<br />

Die Dosierung erfolgt im Regelfall, insbesondere bei den NSMRI (Nichtselektive<br />

Monoamin-Rückaufnahme-Inhibitoren: Amitryptilin u.a.), einschleichend<br />

und bei den sedierenden Antidepressiva beginnend mit abendlichen niedrigen<br />

Dosen, die je nach Verträglichkeit möglichst rasch (innerhalb einer Woche) auf<br />

den üblichen therapeutischen Bereich gesteigert werden.<br />

Alle Antidepressiva haben eine relativ einheitliche Wirkungslatenz von zwei bis<br />

vier Wochen (unter Standarddosierung), die abgewartet werden muss, bevor<br />

das Therapieansprechen beurteilt werden kann.<br />

Vor und während der Therapie sind klinische, technische und Laboruntersuchungen<br />

zum Ausschluss von Kontraindikationen und zur Aufdeckung von<br />

unerwünschten Wirkungen erforderlich.


Nr. 2 / 2008<br />

<strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Seite 11<br />

Unterschiede in der antidepressiven Wirksamkeit zwischen den einzelnen chemisch<br />

definierten Antidepressiva wurden bislang nicht sicher gezeigt.<br />

Die Differentialindikation zwischen NSMRI (Nichtselektive Monoamin-Rückaufnahme-Inhibitoren:<br />

Amytriptilin u.a.), SSRI (Selektive Serotonin-Rückaufnahme-<br />

Inhibitoren) und anderen Wirkstoffen ergibt sich daher aus der Berücksichtigung<br />

der Auswahlkriterien, insbesondere des unterschiedlichen Neben- und Wechselwirkungsprofils.<br />

Für viele Patienten in der hausärztlichen Praxis, insbesondere Patienten mit kardiovaskulären<br />

Erkrankungen oder höheren Alters, sind z. B. SSRI aufgrund ihres<br />

bei dieser Population oft günstigeren Nebenwirkungsprofils zu bevorzugen.<br />

Bei der Verordnung von NSMRI sind vor allem kardiovaskuläre Nebenwirkungen<br />

und die geringere Überdosierungssicherheit zu beachten. NSMRI mit besserer<br />

Verträglichkeit (wie z. B. Nortriptylin) werden verschiedentlich in der Literatur<br />

zur Behandlung gerade auch älterer Patienten bevorzugt.<br />

Die Aussage der Arzneimittelkommission zur Therapie mit Johanniskraut wird durch<br />

die Metaanalyse auch neu zu hinterfragen sein. Die Kommission konstatiert bisher:<br />

„Ein Behandlungsversuch mit Johanniskraut erscheint in Anbetracht nachweislich<br />

wirksamer Alternativen allenfalls zur kurzzeitigen Behandlung leichterer Formen der<br />

Depression unter Berücksichtigung seiner Limitierungen und ausgeprägten Wechselwirkungsrisiken<br />

(CYP3A4 wird induziert) gerechtfertigt.“ [2]. Bisher galt also:<br />

Man darf die SSRI nicht vorenthalten, deshalb schied Johanniskraut aus. Jetzt, nach<br />

den Ergebnissen dieser Metaanalyse, ist ein Versuch mit Johanniskraut durchaus<br />

angebracht – allerdings muss man dabei mögliche Interaktionen bedenken.<br />

Johanniskraut ist<br />

wegen möglicher<br />

Interaktionen<br />

nicht ganz<br />

unproblematisch<br />

Jeder Arzt wird seine eigenen Erfahrungen bei der Zusammenstellung seines individuellen<br />

Praxissortimentes einbringen. Dringend anzuraten ist, sich dabei auf wenige<br />

Arzneistoffe zu beschränken.<br />

Wirkungslatenz und scheinbare Therapieresistenz<br />

Antidepressiva wirken nicht sofort, man darf jedoch in den ersten Tagen eine Besserung<br />

einiger Symptome erwarten. Tritt in den ersten 14 Tagen keinerlei Besserung<br />

auf die empfohlene Initialdosis ein, so bestehen nach Prüfung von Compliance und<br />

ggf. des Plasmaspiegels prinzipiell die Optionen einer Dosisanpassung, eines Wechsels<br />

auf eine andere Wirkstoffklasse nach ausschleichender Beendigung der Gabe<br />

des ersteren Antidepressivums oder einer zusätzlichen Psychotherapie. Im Falle des<br />

initialen Nichtansprechens sollte nach spätestens sechs Wochen spezialärztlicher<br />

Rat gesucht werden.<br />

Eine wichtige Option bei Therapieresistenz ist die Kombination des bisher verordneten<br />

Antidepressivums mit Lithium (Blutspiegel 0,6–0,8 mmol/l) zum Antidepressivum.<br />

Im Regelfall ist zu diesem Zeitpunkt die Überweisung an den Spezialisten<br />

zu erwägen!<br />

Fazit<br />

Die Verschreibung von Antidepressiva im derzeitigen Umfang wird auf den Kopf<br />

gestellt, denn bei leichten und mittelschweren Depressionen zeigten sich keine<br />

signifikanten Unterschiede zur Placebo-Behandlung. Die signifikanten Effekte bei<br />

schweren Depressionen sind bei weitem nicht so ausgeprägt wie gedacht. Vielleicht<br />

beschäftigen wir mit der medikamentösen Therapie nur Patient und Praxisteam, bis<br />

der Spontanverlauf der Depression die Situation von selber regelt? In der Vergangenheit<br />

hat man wohl zu häufig und zu schnell zur Tablette gegriffen.<br />

Relevant ist die Rate der Patienten, die durch die Therapie mit Antidepressiva gesund<br />

werden (HRSD-Werte < 8). Es besteht ein Placebo-Verum-Unterschied von<br />

zehn Prozent, entsprechend eine NNT von 10.<br />

Bedeutung<br />

für<br />

unsere<br />

Praxis


Seite 12 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Nr. 2 / 2008<br />

Auch mal an<br />

Auslassversuche<br />

denken!<br />

Bestehende Therapie: Was mache ich als Hausarzt mit den Patienten, die diese<br />

Medikamente schon lange einnehmen, wie identifiziere ich diejenigen, die einen<br />

Nutzen davon haben? Hier hilft nur der Auslassversuch, den man in Absprache<br />

mit dem Patienten durchführt. In dieser Zeit sollte eine regelmäßige Konsultation<br />

stattfinden, um eine Verschlechterung der Stimmung oder eine drohende<br />

Suizialität rechtzeitig erkennen zu können. Auch ein Therapieversuch mit Johanniskraut<br />

kann erwogen werden. Sinnvollerweise schlage ich im Bedarfsfall dem<br />

Patienten eine ambulante Psychotherapie vor und/oder rate ihm, Änderungen in<br />

seinem sozialen Umfeld durchzuführen (z.B. Arbeitsplatzwechsel, Engagement<br />

in Vereinen etc.)<br />

Kritischer Neuansatz: Patienten, die bisher kein Antidepressivum erhalten haben,<br />

sollten zunächst mit den allgemeinen Maßnahmen bekannt gemacht werden. Eine<br />

Vorstellung zur ambulanten Psychotherapie ist sinnvoll. Die Indikationsstellung<br />

zur Gabe von Antidepressiva ist bei schweren Depressionen berechtigt, ggf. in<br />

Abstimmung mit dem Psychiater. Bei drohender Suizialität erfolgt eine stationäre<br />

Einweisung.<br />

Interessenkonflikte: keine<br />

Literatur:<br />

1 Kirsch, Irving et al.: Initial Severity and Antidepressant Benefits: A Meta-Analysis of Data Submitted to the Food<br />

and Drug Administration. PLoS Medicine 2008; 5: 0260-68<br />

2 AkdÄ. Handlungsleitlinie Depression aus Empfehlungen zur Therapie der Depression (2); Arzneiverordnung in<br />

der Praxis 2006 (Sonderheft 1); 33: 1 (http://www.akdae.de/35/68-Depression-2006-2Auflage1-K.pdf)<br />

Weitere Quellen:<br />

– Herzig, P: Synopsis: neuere Antidepressiva (Non-SSRI) und SSRI. Schweiz Med Forum 2002; 50: 1195-205<br />

– Gysling, E: Antidepressiva. pharma-kritik 2005; 11: 41-4<br />

– Kölch, M, Mehler-Wex, C: Depressive Störungen im Kindes- und Jugendalter. Übersichtsarbeit. Deutsches Ärzteblatt<br />

2008; 9: 149-56<br />

– Möller, HJ: Bestätigt. Nutzen von Antidepressiva überschätzt. a-t 2008; 39: 28<br />

– v. Lutterotti, N: Antidepressiva doch ein Segen für suizidale Kinder? Resultate einer neuen Studie aus Kanada.<br />

(www.nzz.ch/nachrichten/wissenschaft/antidepressiva_doch_ein_segen_fuer_suizidale_kinder_1.711142.html)<br />

– a-t 2005; 36: 45-6<br />

– a-t 2006; 37: 1-2<br />

– Techniker Krankenkassen [Hg.]. Depression. Eine Information für Patienten und Angehörige. 2008 (1)<br />

– Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN): Wirken Antidepressiva<br />

wirklich? Presse-Information Nr. 3/2008.<br />

Therapie mit Andidepressiva<br />

Suizidgedanken und Suizide<br />

bei unter 25-Jährigen<br />

Dr. med. Günter Hopf<br />

Bis zu 15 Prozent der Patienten mit schweren rezidivierenden Depressionen sterben<br />

durch Suizid, wobei die Zahl der Suizidversuche etwa zehnfach über der der Suizide<br />

liegt [1]. Die Diskussionen über einen zusätzlichen Effekt von Antidepressiva auf das<br />

Suizidverhalten von depressiven Patienten können als beendet angesehen werden.<br />

Mit Datum vom 27.03.2008 hat unsere Arzneimittelüberwachungsbehörde BfArM<br />

in Abstimmung mit einer Arbeitsgruppe der europäischen Überwachungsbehörde<br />

EMEA ein europaweites Stufenplanverfahren beschlossen [2].<br />

Es geht von der Erkenntnis aus, dass alle Antidepressiva (Trizyklika, SSRI und MAO-<br />

Inhibitoren) bei bis zu 25-Jährigen zusätzlich das Risiko von Suizidgedanken oder<br />

selbstschädigendem Verhalten erhöhen können (bei älteren Patienten überwiegt<br />

eine Verminderung der Suizidalität), substantielle Unterschiede zwischen den


Nr. 2 / 2008<br />

<strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Seite 13<br />

einzelnen Antidepressivagruppen existieren nicht. Fachinformationen und „Beipackzettel“<br />

(= Gebrauchsinformation) müssen wie folgt spezifiziert werden:<br />

Alle Patienten mit Depressionen sollen bis zum Eintritt einer signifikanten Besserung<br />

engmaschig überwacht werden, insbesondere zu Beginn einer Behandlung<br />

und bei Dosisanpassungen.<br />

Besonders sorgfältige Überwachung erfordern Patienten mit einer entsprechenden<br />

Anamnese und junge Patienten.<br />

Patienten müssen darauf hingewiesen werden, bei auftretenden Gedanken an<br />

Selbstverletzung oder Suizid sofort einen Arzt aufzusuchen.<br />

Folgende Arzneistoffe werden namentlich aufgeführt:<br />

Amitriptylin, Clomipramin, Dosulepin, Doxepin, Imipramin, Lofepramin*, Nortriptylin,<br />

Trimipramin, Mianserin, Trazodon, Phenelzin*, Isocarboxazid*, Tranylcypromin,<br />

Moclobemid, Citalopram, Escitalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin, Sertralin,<br />

Duloxetin, Flupentixol, Mirtazapin, Reboxetin, Venlafaxin, Maprotilin, dazu kommen<br />

noch Tryptophan und Bupropion (zur antidepressiven Therapie).<br />

Fazit für die Praxis: Antidepressiva können Suizidalität nicht ausreichend verhindern.<br />

Als zusätzliche Maßnahmen sind erforderlich [3]:<br />

enge, vertrauensvolle therapeutische Beziehung<br />

engmaschiges Einbestellen zu konkreten Terminen<br />

evtl. stationäre Einweisung<br />

ggf. vorübergehende zusätzliche Verordnung von Benzodiazepinen.<br />

Bei Therapiebeginn<br />

und Dosisänderung<br />

engmaschig<br />

überwachen<br />

Bedeutung<br />

für<br />

unsere<br />

Praxis<br />

Antidepressivatherapie: Nutzen für wen?<br />

Spätestens seit Publikation einer kritischen Metaanalyse [4] zu einigen SSRI (in<br />

Deutschland im Handel: Fluoxetin, Paroxetin, Venlafaxin) stellt sich die Frage nach<br />

dem Stellenwert einer Therapie mit Antidepressiva (siehe auch vorstehenden Beitrag).<br />

Nachdem die Suizidgefahr durch Antidepressiva geklärt zu sein scheint, ist<br />

die Meinungsbildung zur Sinnhaftigkeit einer medikamentösen Therapie von Depressionen<br />

meines Erachtens noch nicht abgeschlossen. Durch das Zurückhalten<br />

von Studien mit negativen Ergebnissen spielen pharmazeutische Unternehmer eine<br />

traurige Rolle. Wenig hilfreich sind auch Studien mit positiven Ergebnissen, die fraglich<br />

klinisch relevant sind, oder Äußerungen von bekannten „Meinungsbildnern“<br />

mit industriellem Hintergrund. Wie bei vielen Indikationsgebieten bekannt – ganz<br />

besonders jedoch ein gravierender Mangel in der Therapie von Depressionen – fehlen<br />

aussagekräftige, unabhängige und praxisnahe Studien.<br />

Derzeit scheint Folgendes klar zu sein:<br />

1. Antidepressiva sind unverzichtbar bei schweren Depressionen und zur Rezidivprophylaxe.<br />

Sie dürfen nur langsam abgesetzt werden (Entzugssymptome!!).<br />

2. Bei leichten und mittelschweren Depressionen sind<br />

– aktives Beobachten über einen begrenzten Zeitraum zu erwägen<br />

– verhaltenstherapeutische Maßnahmen angebracht<br />

– Psychotherapie sinnvoll<br />

– auch pflanzliche Arzneimittel angezeigt.<br />

3. Das Placebo „Arzt“ sollte bei jeder Depressionsbehandlung gezielt und bewusst<br />

eingesetzt werden, auch und besonders in der medikamentösen Therapie.<br />

Interessenkonflikte: keine<br />

Literatur:<br />

1 Therapieempfehlungen der AkdÄ, Depression, 2. Aufl. 2006<br />

2 BfArM, Antidepressiva: einheitliche Warnhinweise zum erhöhten Risiko für suizidales Verhalten bei jungen<br />

Erwachsenen, Abwehr von Arzneimittelrisiken Stufe II, Pharm.Ztg. 2008; 153: 1388<br />

3 AkdÄ, Stellenwert von Antidepressiva in der Depressionsbehandlung, Berlin, 17.04.2008, www.akdae.de<br />

4 Kirsch, Irving et al.: Initial Severity and Antidepressant Benefits: A Meta-Analysis of Data Submitted to the Food<br />

and Drug Administration. PLoS Medicine 2008; 5: 0260-68<br />

* In Deutschland nicht im Handel


Seite 14 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Nr. 2 / 2008<br />

Für Sie<br />

gelesen<br />

Lebensgefährliche Einflüsse auf die Herzaktivität<br />

Welche Medikamente verlängern<br />

das QT-Intervall?<br />

Dr. med. Jutta Witzke-Gross<br />

In Deutschland erliegen jährlich etwa<br />

70 000 bis 100 000 Menschen einem<br />

plötzlichen Herztod. In ca. 90 Prozent<br />

wird dieser durch Kammerflimmern oder<br />

durch schnelle Kammertachykardien verursacht.<br />

Eine Ursache dieser lebensbedrohlichen<br />

Herzrhythmusstörungen ist<br />

die kritische Verlängerung der QT-Zeit,<br />

die bei prädisponierten Patienten auch<br />

durch Medikamente verursacht werden<br />

kann. Wer dran denkt und die riskanten<br />

Konstellationen kennt, kann bei seinen<br />

Patienten vorbeugen. Im Folgenden eine<br />

Zusammenfassung eines Beitrags im<br />

Schweizer Medizin-Forum [1].<br />

Torsades des pointes<br />

Tachykardien haben<br />

schon etliche<br />

Medikamente vom<br />

Markt gefegt<br />

Die Zunahme der QT-Zeit ist Ausdruck einer Verlängerung<br />

des Aktionspotentials, in deren Folge es zu elektrophysiologischen Störungen<br />

während der Repolarisationsphase der Herzmuskelzellen kommt. Es treten typische<br />

Kammer tachykardien mit morphologisch und in ihrer Ausrichtung wechselnden<br />

QRS-Komplexen (Torsades de pointes Tachykardie) auf, die in Kammerflimmern<br />

degenerieren und zum bereits erwähnten plötzlichen Herztod führen können (Long-<br />

QT-Syndrom). Die Torsades de pointes Tachykardien waren bereits Anlass für den<br />

Rückzug zahlreicher Medikamente nach ihrer Markteinführung, wie zum Beispiel von<br />

bestimmten Antihistaminika oder auch des Clobutinol (siehe Kasten auf Seite 17).<br />

Ein kurzer Blick in die Elektrophysiologie<br />

Ein Aktionspotential kommt typischerweise durch depolarisierende, zelleinwärts<br />

gerichtete Ionenströme (vor allem Natrium und Kalzium) und repolarisierende aus<br />

den Zellen herausgerichtete Ionenströme (vor allem Kalium) zustande. Der normale<br />

Herzrhythmus beruht daher auf einem komplexen Zusammenspiel verschiedener<br />

Ionenkanäle. Diese Ionenkanäle stellen aus verschiedenen Untereinheiten aufgebaute<br />

transmembranäre Proteinkomplexe dar.<br />

Kommt es aufgrund genetischer Defekte zu einer veränderten Expression und/<br />

oder Funktion dieser Ionenkanaluntereinheiten, verlängert sich die myokardiale<br />

Repolarisation und die Repolarisationsreserve nimmt ab. Zusätzliche Faktoren, wie<br />

zum Beispiel sich an die Kanäle bindende Medikamente oder eine Hypokaliämie,<br />

können dann zu einer kritischen Verlängerung des Aktionspotentials (messbar im<br />

Oberflächen-EKG als verlängerte QT-Zeit) mit Ausbildung früher Nachdepolarisationen<br />

(getriggerte Aktivität) führen. Außerdem wurde bei der erworbenen Form<br />

des Long-QT-Syndroms eine Heterogenität der Repolarisation (Dispersion) mit<br />

verlängertem Aktionspotential der Muskelzellen in der mittleren Myokardschicht<br />

und kürzeren Aktionspotentialen in den Zellen des Epikards beschrieben. Diese<br />

Mechanismen initiieren dann die Torsades de pointes Tachykardien.<br />

Genetik<br />

Es ist mittlerweile gelungen, bei dem Long-QT-Syndrom sieben krankheits-


Nr. 2 / 2008<br />

<strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Seite 15<br />

verursachende Gene zu identifizieren. Dies betrifft überwiegend das angeborene<br />

Long-QT-Syndrom. Aber auch bei der Entwicklung der erworbenen Form geht man<br />

heute von dem Vorliegen einer genetischen Disposition aus. Diese bleibt unter normalen<br />

Bedingungen ohne erkennbare Folgen, führt aber zu einer Verminderung<br />

der Repolarisationsreserve. Werden die Betroffenen dann allerdings Einflüssen<br />

ausgesetzt, die die Repolarisationsflüsse hemmen, kann sich ein Long-QT-Syndrom<br />

manifestieren.<br />

Klinik<br />

Symptome sind u.a. Palpitationen, Unwohlsein, Synkopen und schlimmstenfalls der<br />

plötzliche Herztod. Die Symptome treten bei dem angeborenen Long-QT-Syndrom<br />

je nach Gendefekt in Stresssituationen mit erhöhtem Sympathikotonus oder aber<br />

in Ruhe, zum Beispiel in den frühen Morgenstunden, auf. Bei dem erworbenen<br />

QT-Syndrom stehen die Symptome im Zusammenhang mit der Einnahme von QT-<br />

Zeit verlängernden Medikamenten und/oder die QT-Zeit verlängernden klinischen<br />

Begleitumständen.<br />

Frauen haben im Vergleich zu Männern ein zwei- bis dreimal höheres Risiko für<br />

das Auftreten von Arrhythmien.<br />

Frauen sind deutlich<br />

häufiger betroffen<br />

QT-Zeit verlängernde Medikamente und klinische Begleitumstände<br />

Zu den Medikamenten, die die Repolarisation beeinflussen, gehören bekann-<br />

Tabelle 1: Liste der Medikamente, die das QT-Intervall verlängern können<br />

Antiarrhythmika<br />

Amiodaron<br />

Chinidin**<br />

Sotalol**<br />

Flecainid<br />

Andere kardiovaskuläre<br />

Medikamente<br />

Dobutamin, Dopamin<br />

Epinephrin, Norepinephrin<br />

Indapamid<br />

Isradipin<br />

Midodrin<br />

Psychotrope Medikamente<br />

Amitriptylin<br />

Chloralhydrat<br />

Citalopram<br />

Chlorpromazin<br />

Clomipramin<br />

Doxepin<br />

Felbamat<br />

Fluoxetin<br />

Flupentixol<br />

Galantamin<br />

Haloperidol<br />

Imipramin<br />

Levomepromazin<br />

Lithium<br />

Methadon<br />

Methylphenidat<br />

Nortriptylin<br />

Olanzapin<br />

Paroxetin<br />

Quetiapin<br />

Risperidon<br />

Sertindol<br />

Sertralin<br />

Thioridazin<br />

Tizanidin<br />

Trimipramin<br />

Venlafaxin<br />

Medikamente gegen<br />

Erkrankungen<br />

des Verdauungstrakts<br />

Dolasetron<br />

Domperidon<br />

Granisetron<br />

Octreotid<br />

Ondansetron<br />

Sibutramin<br />

Medikamente gegen<br />

Erkrankungen<br />

des Respirationstrakts<br />

Salbutamol<br />

Salmeterol<br />

Terbutalin<br />

Medikamente gegen<br />

bakterielle Infektionen<br />

Azithromycin<br />

Ciprofloxacin<br />

Clarithromycin<br />

Erythromycin<br />

Levofloxacin<br />

Moxifloxacin<br />

Ofloxacin<br />

Roxithromycin<br />

Trimethoprim-Sulfamethoxazol<br />

Medikamente gegen<br />

virale Infektionen<br />

Amantadin<br />

Foscarnet<br />

Medikamente gegen<br />

parasitäre Infektionen<br />

Chloroquin<br />

Mefloquin<br />

Medikamente gegen Mykosen<br />

Pentamidin<br />

Fluconazol<br />

Itraconazol<br />

Ketoconazol<br />

Voriconazol<br />

Verschiedene Medikamente<br />

Alfuzosin<br />

Phenylephrin<br />

Phenylpropanolamin<br />

Pseudoephedrin<br />

Tacrolimus<br />

Tamoxifen<br />

Der Effekt dieser Medikamente auf die<br />

Verlängerung des QT-Intervalls ist sehr<br />

unterschiedlich. Der doppelte Stern<br />

** weist auf ein erhöhtes Risiko für<br />

Torsades de pointes hin.


Seite 16 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Nr. 2 / 2008<br />

Oft sind mehrere<br />

Medikamente<br />

beteiligt<br />

termaßen die Antiarrhythmika der Klasse I und III, wie zum Beispiel Sotalol und Flecainid.<br />

Aber auch eine große Anzahl nicht kardialer Medikamente wie zum Beispiel<br />

bestimmte psychotrope Medikamente (Citalopram u.a.), Antibiotika (Erythromycin<br />

u.a.) sowie Medikamente bei Erkrankungen des Verdauungs- beziehungsweise<br />

Respirationstrakts (Domperidon , Salbutamol u.a. – siehe Tabelle 1), können das QT-<br />

Intervall verlängern. Wichtig: Unter folgenden Internetadressen können regelmäßig<br />

aktualisierte Listen der entsprechenden Medikamente (www.qtsyndrome.ch aus der<br />

Schweiz und www.qtdrugs.org aus Amerika) abgerufen werden.<br />

Abgesehen von den oben genannten Antiarrhythmika oder überdosierten psychotropen<br />

Medikamenten ist in der Praxis aber selten ein Medikament allein für<br />

die Entwicklung von Torsades de pointes Kammertachykardien verantwortlich.<br />

Vielmehr liegt in der Regel eine Kombination verschiedener, das QT-Intervall<br />

verlängernder Faktoren vor:<br />

zum Beispiel können zwei die Repolarisation verlängernde Medikamente miteinander<br />

kombiniert worden sein (denkbar ist die Konstellation Psychopharmakon<br />

und zusätzliche Gabe eines Antibiotikums wegen eines Infektes),<br />

oder der Plasmaspiegel eines in Tabelle 1 aufgeführten Medikamentes wird<br />

durch Verlangsamung seines Katabolismus (Hemmung von CYP3A4) deutlich<br />

erhöht (Interaktion auch mit einem Medikament, das selber die QT-Zeit nicht<br />

beeinflusst),<br />

oder es tritt bei einem Patienten, der Psychopharmaka einnimmt, plötzlich ein<br />

AV-Block mit schwerer Bradykardie auf.<br />

Besondere Vorsicht beim Verschreiben von QT-Zeit verlängernden Medikamenten<br />

sollte auch bei älteren Patienten mit Nierenfunktionsstörung und Bradykardie<br />

gelten.<br />

Schlussendlich können Torsades de pointes Tachykardien aber auch ohne medikamentöse<br />

Behandlung vorkommen, zum Beispiel im Rahmen einer ausgeprägten<br />

Bradykardie oder Hypokaliämie. Weitere Risikofaktoren für die Entwicklung von<br />

Torsades de pointes Tachykardien können Sie aus der Tabelle 2 entnehmen.<br />

Tabelle 2: Risikofaktoren für die Entwicklung<br />

von Torsades de pointes<br />

Weibliches Geschlecht,<br />

Bradykardie (


Nr. 2 / 2008<br />

<strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Seite 17<br />

Diagnose des erworbenen Long-QT-Syndroms<br />

Voraussetzung ist die Messung des QT-Intervalls im Oberflächen-EKG und die<br />

Korrektur des Messwertes entsprechend der Herzfrequenz nach der Formel von<br />

Bazett (oder die Verwendung der Daten aus einem automatisch ausgewerteten<br />

EKG – siehe weiter unten):<br />

Diagnose mit<br />

Taschenrechner oder<br />

Langzeit-EKG<br />

QTc =<br />

QT-Abstand in ms<br />

RR-Abstand in s<br />

oder<br />

QTc =<br />

QT-Abstand in ms<br />

60<br />

Herzfreq. pro Min.<br />

Die Diagnose eines erworbenen Long-QT-Syndroms kann dann gestellt werden,<br />

wenn folgende drei Bedingungen erfüllt sind:<br />

1. Messung einer korrigierten QT-Zeit (QTc) von mehr als 470 ms bei Frauen und<br />

mehr als 450 ms bei Männern,<br />

2. medikamentöse Therapie oder klinische Begleitumstände, die die QT-Zeit verlängern<br />

(siehe Tabellen) und<br />

3. normales QT-Intervall in einem Vergleichs-EKG oder Normalisierung des EKGs<br />

nach Absetzen des verdächtigen Medikamentes.<br />

Im Vorfeld von Torsades de pointes Tachykardien werden häufig Abfolgen von<br />

kurzen und langen RR-Intervallen sowie manchmal auffällig große T- und U-Wellen<br />

beobachtet. Die Analyse des QT-Intervalls kann sich schwierig gestalten, vor allem<br />

wenn noch eine abnormale U-Welle vorliegt. Empfohlen wird in diesem Fall die<br />

Messung des QTU-Intervalls. Zur Erkennung einer bedeutungslosen U-Welle werden<br />

als Kriterien eine kleine Amplitude oder das Vorhandensein einer isoelektrischen<br />

Linie zwischen T- und U-Welle genannt.<br />

Behandlung von Torsades de pointes Tachykardien<br />

Ein Patient mit Torsades de pointes Tachykardien muss unverzüglich hospitalisiert<br />

und sein Rhythmus muss überwacht werden. Das die QT-Zeit verlängernde Medikament<br />

ist sofort abzusetzen und Faktoren, die das Arrhythmierisiko erhöhen, sind zu<br />

korrigieren, wie zum Beispiel eine intravenöse Kaliumgabe bei Hypokaliämie. Ebenfalls<br />

wird eine parenterale Magnesiumgabe (1 bis 2 g intravenös, Dosisreduktion<br />

bei Niereninsuffizienz) empfohlen. Bei Therapieresistenz soll gemäß den Empfehlungen<br />

in dem anfangs genannten Artikel die Herzfrequenz auf 80 bis 100 Schläge<br />

pro Minute mittels eines provisorischen Schrittmachers oder eventuell mit einer<br />

Isoprenalininfusion angehoben werden. Die Implantation eines Defibrillators sei im<br />

Allgemeinen bei dem erworbenen Long-QT-Syndrom nicht erforderlich.<br />

Clobutinol: QTc-Verlängerung<br />

Der freiverkäufliche Hustenblocker Clobutinol (z.B. Silomat® Tropfen, viele Generika) wurde aus dem Handel<br />

genommen. Berichte über Arrhythmien und Torsades de pointes führten auf Aufforderung der deutschen<br />

Überwachungsbehörde zu einer Studie des Herstellers, in der eine dosisabhängige Verlängerung des QTc-<br />

Intervalles bei gesunden Probanden verifiziert wurde. Clobutinol ist ein Arzneistoff, der seit mehr als 40 Jahren<br />

eingesetzt wird und dessen Wirksamkeit und Risikopotential entsprechend den damaligen Zulassungsvorschriften<br />

nur unzureichend überprüft wurde.<br />

Auch nach einer jahrzehntelangen Anwendung kann ein Arzneistoff bezüglich neuer Risiken noch Überraschungen<br />

bergen. Eine hohe Dunkelziffer von UAW ist gerade bei freiverkäuflichen Arzneimitteln bekannt,<br />

da Patienten über selbst gekaufte Arzneimittel selten von sich aus berichten und – im Fall von Clobutinol –<br />

aufgetretene Herzkomplikationen nicht mit einem Hustenmittel in Verbindung bringen. Die Verordnung von<br />

Kodein als Antitussivum sollte weiterhin vorgezogen werden. Quelle: Dt. Apo.Ztg. 2007; 147: 48-50


Seite 18 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Nr. 2 / 2008<br />

Bedeutung<br />

für<br />

unsere<br />

Praxis<br />

Was bedeutet das Long-QT-Syndrom für meine Praxis?<br />

Zu allererst: Daran denken und bewusst auf dem Ausdruck des Ruhe-EKGs bei<br />

den Messwerten nach den Werten für die QT- bzw. genauer die korrigierte QT-<br />

Zeit (QTc-Zeit) schauen bzw. die QT-Zeit auch selbst durch Anlegen des EKG-<br />

Lineals messen und auf die aktuelle Herzfrequenz umrechnen. Die maximale<br />

QT-Zeit sowie die maximale korrigierte QT-Zeit werden auch bei einer modernen<br />

Langzeit-EKG-Auswertesoftware im Protokoll angegeben. Allerdings sollte man<br />

hier manuell nachmessen und -rechnen, da Artefakte im LZ-EKG zu falsch berechneten<br />

QTc-Zeiten führen können. Achtung, bitte beachten: Bei Schrittmacherinduzierten<br />

Aktionen und bei Schenkelblock ist die QT-Zeit nicht verwertbar.<br />

Die gleichzeitige Verordnung mehrerer Medikamente mit bekannter, die Repolarisation<br />

verlängernder Wirkung vermeiden.<br />

Das QT- bzw. QTc-Intervall vier bis sieben Tage nach Einleiten einer Therapie<br />

mit QT-Zeit verlängernden Medikamenten kontrollieren.<br />

Bei einer Behandlung, die nicht wirklich essentiell ist, das Medikament bei einer<br />

Erhöhung der QTc-Zeit um 30 ms oder einem Wert von mehr als 470 ms<br />

absetzen; bei wichtiger Behandlung und Fehlen therapeutischer Alternativen<br />

kann ein QTc-Wert bis 500 ms toleriert werden, sofern das Medikament gut<br />

vertragen wird und im LZ-EKG keine Arrhythmien registriert werden; liegt die<br />

QTc-Zeit über 500 ms, muss es in der Regel abgesetzt werden.<br />

Spezielle Vorsicht walten lassen bei Frauen, älteren Patienten/innen und bei<br />

Patienten/innen mit bekannter Bradykardieneigung (zum Beispiel Sick-Sinus-<br />

Syndrom). Bei diesen Patienten, wenn möglich, ganz auf die Gabe QT-Zeit<br />

verlängernder Medikamente verzichten oder, wenn dies nicht möglich ist, engmaschig<br />

das Ruhe-EGK kontrollieren.<br />

Bei Patient/Innen unter QT-Zeit verlängernder Medikation, wenn möglich, auf<br />

die zusätzliche Gabe eines Diuretikums verzichten oder ein kaliumsparendes<br />

Präparat wählen.<br />

Patienten/innen, die ein Long-QT-Syndrom entwickelt haben, darauf hinweisen,<br />

dass sie dieses auch unter zahlreichen anderen Medikamenten entwickeln können<br />

und ihnen ggf. eine Tabelle mit den aufgelisteten Medikamenten mitgeben.<br />

Das Gleiche gilt für Patienten/innen mit angeborenem Long-QT-Syndrom.<br />

Interessenkonflikte: keine<br />

Literatur:<br />

1 Medikamente und verlängertes QT-Intervall. Delacrétaz E: Schweiz Med Forum. 2007; 7 (40): 814-819<br />

Kurze<br />

Meldung<br />

Bundesverfassungsgericht nimmt Klage nicht an<br />

Viagra bleibt Privatsache<br />

Potenzmittel wie Viagra sind seit 2004 (damals trat das Gesetz zur Modernisierung<br />

der gesetzlichen Krankenversicherung in Kraft) definitiv nicht mehr auf Kassenrezept<br />

verordnungsfähig, auch wenn die Erkektionsstörung Folge einer Krankheit<br />

ist. Das wollte ein Diabetiker nicht akzeptieren; er verklagte seine Krankenkasse<br />

und wollte erreichen, dass diese die Kosten für das Potenzmittel übernimmt. Das<br />

zuständige Sozialgericht lehnte dies für die Zeit ab 2004 ab und verwies auf das<br />

oben erwähnte Gesetz.<br />

Dagegen erhob der Mann Verfassungsbeschwerde. Das Bundesverfassungsgericht<br />

hat diese aber nicht zur Entscheidung angenommen. Sie ist nach Ansicht der Kammer<br />

unzulässig, da sie nicht hinreichend begründet wurde. Mit Blick auf sein Recht<br />

auf körperliche Unversehrtheit habe sich der Kläger weder mit der angefochtenen<br />

Entscheidung des Bundessozialgerichts noch mit der einschlägigen Rechtsprechung<br />

des Bundesverfassungsgerichts auseinander gesetzt.<br />

Beschluss vom 28. Februar 2008 – 1 BvR 1778/05


Nr. 2 / 2008<br />

<strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Seite 19<br />

Wenn der Wolff nach den Kopfläusen schnappt ...<br />

Das angeblich so tolle Mittel<br />

hat bei jedem Dritten versagt<br />

Dr. med. Klaus Ehrenthal<br />

Am 25.02.2008 veröffentlichte der Geschäftsführer des Herstellers eines Dimeticonhaltigen<br />

Läusemittels in überregionalen Tageszeitungen (FAZ, Süddeutsche), in der<br />

Ärzte Zeitung sowie in einem Rundschreiben an die Apothekerschaft einen ganzseitigen<br />

„offenen Brief an die Gesundheitsministerin“ (…“Ich will deutsche Kinder<br />

von Pestiziden befreien, und keiner hilft mir dabei….“) unter Hinweis auf „mehrere<br />

klinische Studien“, die die „einwandfreie Wirkung“ seines Produktes (Etopril ® der<br />

Firma Dr. Wolff) nachgewiesen hätten [1, 2].<br />

Dazu schreibt das arznei-telegramm [1] unter Hinweis darauf, dass bislang nur eine<br />

einzige kontrollierte Studie aus Großbritannien [3] zu dem Wirkstoff vollständig<br />

veröffentlicht wurde, dass die geprüfte vierprozentige Dimeticon-Lösung (in Großbritannien:<br />

Hedrin ® ) bei jedem Dritten versagt hatte. Auch wird die Gleichwertigkeit<br />

mit herkömmlichen Insektiziden bestritten, unter anderem, weil die Wirksamkeit<br />

von Dimeticon einen bis zu 19 Prozent schlechteren Erfolg zeigte als die in Großbritannien<br />

gewählte Vergleichssubstanz Malathion.<br />

Beiträge<br />

der<br />

Redaktion<br />

Dimeticon<br />

versagt<br />

bei jedem Dritten<br />

Die Wirkung des Kunststoffes Dimeticon soll durch Überziehen und Einhüllen der<br />

Läuse mit der Substanz und nicht durch toxische Wirkung wie bei Insektiziden<br />

eintreten. Inzwischen wird von dem Hersteller über die Apotheken unter anderem<br />

auch mit Empfehlungen des IQWiG [9] geworben, wobei der Vorteil von Dimeticon<br />

nicht nur in der Insektizidfreiheit liege, sondern auch in der Wirksamkeit. Dem<br />

widerspricht allerdings die genannte Arbeit von Burgess et al. [1, 3].<br />

Verschwiegen wurde in dieser „groß angelegten Werbungsmaßnahme“ [1],<br />

dass das Umweltbundesamt bereits ein insektizidfreies Medizinprodukt geprüft<br />

und auch in die Entwesungsliste 19 nach §18 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG)<br />

aufgenommen hat [4]. Es handelt sich um das nicht apothekenpflichtige Kokosölhaltige<br />

Mosquito-Läuseshampoo ® , das im arznei-telegramm bereits 2006 beurteilt<br />

worden war [5]. Die Firma Dr. Wolff hat für ihr Dimeticon-haltiges Produkt erst im<br />

November 2007 einen entsprechenden Prüfungsantrag beim Umweltbundesamt<br />

gestellt [2], der in der Regel ein bis zwei Jahre bis zur Bearbeitung braucht.<br />

Nur für Kinder gibt es einige Mittel auf Kassenrezpet<br />

Beide nicht apothekenpflichtigen Mittel sowie die apothekenpflichtigen Mittel<br />

sind trotz anderslautender Informationen in der Regel nicht erstattungsfähig in der<br />

G<strong>KV</strong>. Ausnahmen zur Nicht-Erstattungspflicht sind bei apothekenpflichtigen Mitteln<br />

Verordnungen für Kinder bis zum vollendeten 12. Lebensjahr sowie für körperlich<br />

und geistig Behinderte bis zum vollendeten 18. Lebensjahr. Die Medizinprodukte<br />

(Kokosöl-Präparat, Dimeticon-Präparat) sind weder rezeptpflichtig noch zu Lasten<br />

der G<strong>KV</strong> verordnungsfähig.<br />

Nach § 34, Abs.5 IfSG sind Eltern verpflichtet, an vom Kind/Jugendlichen besuchte<br />

Gemeinschaftseinrichtungen (z.B. Kindergarten, Kinderhort, Schule, Heime)<br />

bei Läusebefall Mitteilungen darüber zu machen. Erziehungsberechtigte sollen die<br />

Durchführung der Behandlung bestätigen, ein ärztliches Attest zur „Läusefreiheit“<br />

ist je nach örtlicher Regelung durch das Gesundheitsamt meist nicht erforderlich [7].<br />

Beim RKI findet sich ein umfassendes Merkblatt zur Behandlung von Kopfläusen für<br />

Eltern [6] und für Ärzte [7]. Ein weiteres ausführliches Merkblatt für Eltern wurde<br />

vom IQWiG herausgegeben [9]. Einen entsprechenden Link finden Sie auf der


Seite 20 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Nr. 2 / 2008<br />

Homepage der <strong>KV</strong> Hessen unter www.kvhessen.de > Wir über uns > Publikationen<br />

> <strong>KV</strong>H aktuell Pharmakotherapie > Zusatzinformationen Pharmakotherapie.<br />

Was bedeutet das für die Praxis?<br />

Da Kopfläuse ohne Behandlung nicht verschwinden, sind folgende länger dauernden<br />

Maßnahmen erforderlich [5, 6, 7, 8, 9]:<br />

Anwendung eines Läusemittels auf Insektizidbasis (Alletrin- (z.B. Jacutin N ® ),<br />

Permethrin- (z.B. Infectopedul ® ) oder Pyrethrum-haltige Mittel (z.B. Goldgeist<br />

forte ® ), entsprechend der Entwesungsliste 19 des BVL [4, 5], die je nach Herstellerangaben<br />

längere Zeit auf der Kopfhaut verbleiben sollten. Dabei kann es<br />

zu Haut- und Schleimhautreizung (an Augen, Mund, Nase) kommen.<br />

Lindan-haltige Produkte sind inzwischen seit dem 01.01.2008 in der EU wegen<br />

neurotoxischer Bedenken nicht mehr zugelassen.<br />

Anwendung eines speziellen Läusekamms (0,2-0,3 mm Zinkenabstand,<br />

in Apotheken erhältlich, keine Kassenleistung) zum geduldigen täglichen Auskämmen<br />

Strich für Strich der zuvor 10 Minuten lang mit Essigwasser (= 1 Teil<br />

sechsprozentiger Speiseessig auf 2 Teile Wasser) eingeweichten, feuchten Haare,<br />

mindestens jedoch alle vier Tage, zwei Wochen lang [8].<br />

Die Anwendungen der Läusemittel sind im Wochenabstand (optimal am<br />

9. Tag nach Erstbehandlung) zu wiederholen. Rezidivinfektionen (auch durch<br />

Umgebungsinfektionen) oder neues Schlüpfen von Läusen aus verbliebenen<br />

Nissen sind nicht selten, denn geschlüpfte weibliche Läuse legen bereits ab dem<br />

11. Tag weitere Eier.<br />

Bei Unverträglichkeit von Insektiziden kann die Behandlung mit einem<br />

Präparat auf Kokosölbasis (z.B. Sprays oder Shampoo Mosquit-Läuseshampoo ® )<br />

oder dem Dimeticon-Präparat (wie Etopril ® ) erwogen werden. Diese Mittel wirken<br />

schwächer [3, 5].<br />

Interessenkonflikte: keine<br />

Literatur:<br />

1 Vorsicht Desinformation: Dr. Wolff und das Kopflausmittel Etopril.<br />

Blitz-a-t vom 26.02.2008. http://.www.arznei-telegramm.de/blitz-pdf/b080226.pdf<br />

2 Dörrenberg E, zitiert nach Kuchenbuch P, Dahm G. in: Von Listen und Läusen. Financial Times Deutschland vom<br />

26.02.2008<br />

3 Burgess IF, Brown CM, Lee PN. Treatment of head louse infestation with 4% dimeticone lotion: randomised<br />

controlled equivalece trial. BMJ 2005;330:1423-5<br />

4 Sog. Entwesungsliste des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit:<br />

www.bvl.bund.de > Bedarfsgegenstände > Mittel zur Schädlingsbekämpfung<br />

5 Behandlung von Kopfläusen. a-t 2006;37:79-83<br />

6 Merkblatt für Eltern u.a. zum Kopflausbefall: www.rki.de > Infektionskrankheiten A-Z > Kopflausbefall<br />

7 Kopflausbefall – RKI-Ratgeber und Merkblatt für Ärzte aktualisiert, abrufbar unter:<br />

http://www.rki.de/cln_048/nn_468404/sid_816D124800283720EC...<br />

8 Ehrenthal K. Behandlung bei Kopflausbefall. <strong>KV</strong>H aktuell Pharmakotherapie 2007 (12), 2:8-9<br />

9 Gesundheitsinformation.de, Merkblatt Kopfläuse: Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen<br />

(IQWiG). Zuletzt aktualisiert am 14.03.08<br />

http://www.gesundheitsinformation.de/kopflaeuse.417.56.de.html.


Nr. 2 / 2008<br />

<strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Seite 21<br />

Potenzmittel: Plötzlicher Hörverlust<br />

Mehrere Einzelfälle eines plötzlichen Hörverlustes, mit oder ohne begleitende vestibuläre<br />

Symptome, hat die amerikanische Überwachungsbehörde FDA veranlasst,<br />

die Hersteller der Phosphodiesterase-5-Inhibitoren Sildenafil (Viagra ® ), Tardalafil<br />

(Cialis ® ) und Vardenafil (Levitra ® ) aufzufordern, vor diesem vermutlichen Risiko zu<br />

warnen. Bei Auftreten eines Hörverlustes sollen Patienten die Präparate absetzen<br />

und Rücksprache mit ihrem Arzt nehmen.<br />

Quelle: Dtsch.Apo.Ztg. 2007; 147: 5076<br />

Sicherer<br />

verordnen<br />

Dr. med.<br />

Günter Hopf<br />

Fluorochinolone: Achillessehnenruptur<br />

Tendinitiden bis hin zu Sehnenrupturen sind unter der Einnahme aller Fluorochinolone<br />

(u. a. Ciprofloxacin, Levofloxacin, Norfloxacin, Ofloxacin) bekannt. Diese UAW<br />

wurde in dieser Serie bereits beschrieben, darunter auch der Fall einer Kollegin, bei<br />

der freitags nach provisorischer Versorgung einer Achillessehnenruptur und geplanter<br />

Operation am darauf folgenden Montag beim Stolpern am Sonntag auch die<br />

andere Achillessehne riss. In einem aktuellen Fallbericht wird noch einmal auf die<br />

Risikofaktoren hingewiesen, unter denen eine Tendopathie vermehrt auftreten kann<br />

(Grunddaten: Tendinitis: 0,1 – 0,01 % der behandelten Patienten, Sehnenruptur:<br />

weniger als 0,01 %):<br />

höheres Alter (bis 7-fach erhöhtes Risiko)<br />

Gabe von Glukokortikoiden (circa 3-fach erhöhtes Risiko)<br />

chronische Niereninsuffizienz (keine Risikoberechnung, Dosisanpassung bei<br />

eingeschränkter Nierenfunktion erforderlich).<br />

Eine Kombination dieser Risikofaktoren erhöht die Möglichkeit des Auftretens einer<br />

Tendopathie. Darüber hinaus kann eine erhebliche Latenzzeit zwischen der Einnahme<br />

und dem Auftreten einer Tendopathie bestehen (1 bis 510 Tage, Median 6 Tage).<br />

Die Beurteilung einer Kausalitätsbeziehung ist bei spätem Auftreten erschwert.<br />

Quelle: Dtsch Med. Wschr. 2008; 133: 241<br />

Neues Abfallgesetz macht es möglich<br />

Normale Arzneimittel<br />

in den Hausmüll werfen<br />

Letztes Jahr traten ein Gesetz zur Vereinfachung der abfallrechtlichen<br />

Überwachung und eine entsprechende Verordnung<br />

in Kraft. Nach Informationen der Arzneimittelkommission<br />

der Apotheker (AKApo) wird nur noch unterschieden zwischen<br />

den Kategorien „Arzneimittel“ und „zytotoxische und zytostatische<br />

Arzneimittel“. Erstere können – nachdem eine Lagerung von<br />

Hausmüll in Mülldeponien nicht mehr zulässig ist – in zuge lassenen<br />

Abfallverbrennungsanlagen (Hausmüllverbrennung) entsorgt<br />

werden, letztere gelten als besonders überwachungsbedürftiger<br />

Abfall und müssen mit Entsorgungsnachweis in zugelassenen<br />

Abfallverbrennungseinrichtungen (z.B. Sonderabfallverbrennung)<br />

entsorgt werden.<br />

Bei Patientenanfragen kann daher empfohlen werden, Restbestände<br />

von Arzneimitteln der ersten Kategorie mit dem normalen Hausmüll<br />

zu entsorgen. Die Arzneimittelkommission de Apotheker empfiehlt,<br />

Tabletten vor dem Wegwerfen aus den Blisterpackungen zu drücken<br />

und möglichst zu zerdrücken, Lösungen in aufsaugende Materialien<br />

wie Zellstoff, Streu etc. aufzunehmen.


Seite 22 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Nr. 2 / 2008<br />

Sicherer<br />

verordnen<br />

Dr. med.<br />

Günter Hopf<br />

Wichtig ist es, keine Arzneimittel über Abwasserleitungen zu entsorgen!<br />

Arzneimittel, insbesondere biologisch aktive Verbindungen wie Antibiotika, könnten<br />

biologische Klärstufen schädigen. Die Belastung durch Arzneimittel und deren Abbauprodukte<br />

aus menschlichen und tierischen Ausscheidungen war bereits Anlass<br />

von Untersuchungen. In Deponiesickerwässern konnten bundesweit u.a. Analgetika<br />

wie Diclofenac, Antibiotika wie Tetrazykline und Sulfonamide, Antiepileptika wie<br />

Carbamazepin und verschiedene Röntgenkontrastmittel in Konzentrationen bis<br />

100 μg/l, in Oberflächengewässern ein Summengehalt aller Medikamente von über<br />

1 μg/l gefunden werden.<br />

Quellen: Pharm.Ztg. 2008; 153: 125, Drucksache 13/5449 des Landtages NRW vom 13.05.2004<br />

Piroxicam: Anwendungseinschränkungen<br />

In einem Rote-Hand-Brief der Hersteller/Vertreiber Piroxicam-haltiger Arzneimittel<br />

(viele Generika) wird auf neue Anwendungseinschränkungen hingewiesen. Der<br />

europäische Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) hatte dieses nicht-steroidale<br />

Antiphlogistikum (NSAID) mit erhöhtem Risiko gastrointestinaler UAW und Hautreaktionen<br />

neu bewertet. Piroxicam ist u.a.<br />

nur noch angezeigt bei aktivierter Arthrose, rheumatoider Arthritis oder M.<br />

Bechterew<br />

kein Arzneimittel der ersten Wahl<br />

nur bis zu einer maximalen Tagesdosis von 20 mg, nur in niedrigst wirksamer<br />

Dosis in kürzest erforderlichem Zeitraum anzuwenden, Anwendung bei Patienten<br />

über 80 Jahren vermeiden<br />

nicht angezeigt bei bekannten Risikogruppen für NSAID, insbesondere bei<br />

bekannten schwerwiegenden allergischen Hautreaktionen in der Anamnese,<br />

in Kombination mit anderen NSAID (cave Selbstmedikation!) oder Antikoagulantien.<br />

Die aufgezählten Einschränkungen, Gegenanzeigen und Vorsichtsmaßnahmen<br />

lassen die Frage zu, ob Piroxicam angesichts einer Vielzahl verfügbarer NSAIDs<br />

überhaupt noch eingesetzt werden sollte. Das Nutzen/Risiko-Verhältnis dieses<br />

Arzneistoffes ist grundsätzlich negativ zu bewerten, auch wenn unsere Überwachungsbehörde<br />

BfArM mit Schreiben vom 01.10.2007 ähnliche, nicht ganz so weit<br />

gehende Änderungen im Beipackzettel und der Fachinformation der anderen nicht<br />

selektiven NSAIDs angeordnet hat.<br />

Quellen: Rote-Hand-Brief, Dt.Apo.Ztg. 2007; 147: 4552<br />

Off-Label-Use:<br />

Lassen Sie es sich<br />

von der Kasse<br />

schriftlich geben<br />

Off-Label-Use: Kasse muss sich festlegen<br />

Neben dem Haftungsrisiko eines Off-Label-Uses besteht für den Arzt noch das<br />

Kos tenrisiko eines so genannten „Sonstigen Schadens“, den die Kassen in Form<br />

eines Regresses geltend machen können. Das Bundessozialgericht hat bereit 2006<br />

festgestellt (Az.: B6 KA 53/05 B), dass das Recht einer Ausweitung des Leistungskataloges<br />

der gesetzlichen Krankenkassen nur bei der Kasse selbst liege. Ein Arzt<br />

oder Patient muss daher vor einer Anwendung die Auffassung einer Kasse zu einem<br />

Off-Label-Use erfragen. Die Sachbearbeiter einer Kasse müssen erklären, warum<br />

die Kasse z.B. die Kosten nicht übernimmt. Der oft gehörte bequeme Hinweis der<br />

Kassensachbearbeiter an den Patienten „Fragen Sie doch Ihren Arzt“ ist nach Auffassung<br />

des BSG nicht mehr möglich.<br />

Quelle: Internist 2007; 48(11): 1260<br />

Interessenkonflikte Dr. Hopf: keine


Nr. 2 / 2008<br />

<strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Seite 23<br />

Aus dem Krankenhaus in die Hausarztpraxis<br />

Entlassmedikation verbesserungswürdig<br />

Veit Eck, Krankenhausapotheker *<br />

Zu umfangreich, zu teuer, zu schlecht abgestimmt – die Entlassmedikation<br />

der Krankenhäuser steht bei vielen niedergelassenen Ärzten und<br />

den Krankenkassen in der Kritik. Dabei gibt es gute Konzepte, um diese<br />

Schnittstelle zwischen dem stationären und dem ambulanten Bereich zu<br />

verbessern.<br />

Wenn ein Patient aus dem Krankenhaus entlassen wird, muss ihm meist ein niedergelassener<br />

Arzt sehr rasch ein Rezept ausstellen. Dabei kann die mangelnde Abstimmung<br />

an der Schnittstelle zwischen der stationären und ambulanten Versorgung<br />

unangenehme Folgen haben. Dazu zählen vor allem Compliance-Probleme beim<br />

Patienten und mögliche unerwünschte Neben- und Wechselwirkungen infolge von<br />

Arzneimittelumstellungen.<br />

Besonders häufig an der Entlassmedikation aus dem Krankenhaus kritisieren niedergelassene<br />

Ärzte einen Mangel an Informationen im Arztbrief. In manchen Fällen<br />

fehlen darin Angaben zur Dosierung der verordneten Arzneistoffe. Rückfragen<br />

des weiterbehandelnden Arztes können umständlich und langwierig sein, da der<br />

Verordner nicht greifbar ist. Den Patienten droht ein Abriss in der Versorgung und<br />

der Verlust der Arzneimittelwirkung.<br />

Zudem werden in den Krankenhäusern oft zu viele Arzneimittel verordnet. Das<br />

kann zu – mitunter schwer erkennbaren – Wechselwirkungen führen und Patienten<br />

überfordern, besonders wenn ihnen kein häuslicher Pflegedienst mit Hilfe zur Seite<br />

steht. In den Krankenhäusern stellt das Pflegepersonal die Medikamente und achtet<br />

auf die korrekte Einnahme. Diese Bedingungen fehlen, sobald der Patient wieder zu<br />

Hause ist. Wann er welches Arzneimittel einnehmen soll, ist ihm manchmal völlig<br />

unklar.<br />

In den Kliniken kommen häufig auch nicht verschreibungspflichtige Medikamente<br />

zum Einsatz, die im ambulanten Bereich nicht mehr zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung<br />

(G<strong>KV</strong>) verordnungsfähig sind. Über diese unerwarteten späteren<br />

Kosten werden die Patienten in den Kliniken nur selten informiert.<br />

Kritische<br />

Analyse<br />

In der ambulanten<br />

Welt geht es<br />

anders zu als im<br />

Krankenhaus<br />

Viele Originalia, kaum Generika<br />

Auch werden Patienten in der Klinik oft auf teure Markenpräparate eingestellt, die<br />

die Herstellerunternehmen zu einem symbolischen Preis an die Krankenhausapotheke<br />

liefern. In den Kliniken liegt der Anteil von Generika viel niedriger als im ambulanten<br />

Bereich, der von Me-Too-Präparaten dagegen weitaus höher. Bei Letzteren<br />

handelt es sich um chemische Abwandlungen von bereits eingeführten Wirkstoffen<br />

mit einer geringen therapeutischen Relevanz. In den Arztbriefen, die Patienten bei<br />

der Entlassung aus dem Krankenhaus erhalten, werden oft Handelsnamen anstatt<br />

der Wirkstoffe genannt. Doch die Weiterverordnung vieler Originalpräparate ist für<br />

den niedergelassenen Arzt unwirtschaftlich, besonders wenn preisgünstige Generika<br />

zur Verfügung stehen. Infolge einer teuren Entlassmedikation droht ihm sogar ein<br />

erhöhtes Regressrisiko.<br />

Kliniken in der Pflicht<br />

Das Krankenhaus ist gefordert, Modelle für eine bessere Entlassmedikation zu entwickeln.<br />

Von den Ergebnissen könnten alle Seiten profitieren: Der niedergelassene<br />

Arzt durch eine wirtschaftlichere Arzneitherapie, das Krankenhaus durch eine<br />

* Apotheke der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik, Großenbaumer Allee 250, 47249 Duisburg.<br />

E-Mail: veit.eck@bgu-duisburg.de


Seite 24 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Nr. 2 / 2008<br />

Uniklinik und<br />

Niedergelassene<br />

entwickelten<br />

gemeinsames<br />

Modell<br />

Mit den<br />

Niedergelassenen<br />

gemeinsame<br />

Strategie zur<br />

Arzneitherapie<br />

abstimmen<br />

Optimierung seiner Ressourcen und der Patient durch eine sichere und unkomplizierte<br />

Versorgung.<br />

Doch gibt es bisher nur wenige Ansätze zur Entwicklung einer gemeinsamen<br />

Schnittstelle stationär/ambulant. Als Bespiel kann das Modell Heicare dienen, das<br />

2005 von der Uniklinik Heidelberg und niedergelassenen Ärzten entwickelt wurde.<br />

Unter anderem wird bei der stationären Einweisung eines Patienten seine bisherige<br />

hausärztliche Medikation elektronisch an das Krankenhaus übermittelt. So lässt sie<br />

sich gegebenenfalls fortführen oder auf Alternativen umstellen, die in der Krankenhausapotheke<br />

vorrätig sind. Bei Entlassung des Patienten erfolgt eine Rückübersetzung<br />

auf die besonderen Verhältnisse unter ambulanten Bedingungen.<br />

Eine weitere Kooperation besteht seit 2007 in Remscheid zwischen dem SANA-<br />

Klinikum und niedergelassenen Ärzten vor Ort. Dabei wurde für die kardiovaskuläre<br />

Therapie eine gemeinsame Arzneimittelliste entwickelt.<br />

Als erster Schritt auf dem Weg zur Schnittstelle sollte jedes Krankenhaus bestrebt<br />

sein, ein geeignetes Konzept für die Entlassmedikation zu entwickeln. Dazu zählen<br />

eine strukturelle Überarbeitung der hauseigenen Arzneimittelliste und die Arztbriefschreibung<br />

ausschließlich mit dem internationalen Freinamen. Im Mittelpunkt<br />

aller Überlegungen steht immer die Optimierung der Arzneimitteltherapie und<br />

des Einsatzes der Ressourcen. Bei der Entwicklung der Konzepte ist pharmaökonomisches<br />

Wissen erforderlich. Dazu gehören Kenntnisse des Generika- und Festbetragsmarktes<br />

in Deutschland.<br />

Das Resultat dieser Überlegungen ist die Festlegung von Standards. Dabei lässt sich<br />

für jede Indikation ein Arzneistoff als Leitsubstanz definieren. Als ergänzende, wichtige<br />

Information dient die Angabe der »defined daily dose« (DDD) in Milligramm.<br />

Sie entspricht der durchschnittlichen Tagesdosis eines erwachsenen Patienten in<br />

einer bestimmten Indikation.<br />

Mit diesen Angaben lassen sich Arzneitherapien mit einem ähnlichen therapeutischen<br />

Nutzen wirtschaftlich vergleichen. Man kann die Kosten teurer Arzneimittel<br />

als ein Mehrfaches der Kosten für die DDD einer Leitsubstanz darstellen. Weiterhin<br />

sind mögliche Einsparpotenziale berechenbar, wenn eine Therapie konsequent mit<br />

der Leitsubstanz bevorzugt wird.<br />

Auf diese Weise lässt sich im Krankenhaus für jede Therapie eine Strategie erarbeiten,<br />

damit sie hohen qualitativen Ansprüchen genügt und zugleich wirtschaftlich<br />

ist. Bei welchen Indikationen sollte die Leitsubstanz bevorzugt werden? Für welche<br />

kommen die anderen Arzneistoffe der Gruppe infrage? Entsprechend werden die<br />

Arzneimittellisten des Krankenhauses überarbeitet.<br />

Im nächsten Schritt könnte mit den niedergelassenen Ärzten vor Ort eine gemeinsame<br />

Strategie zur Arzneitherapie abgestimmt werden. Die Verordner im stationären<br />

und ambulanten Bereich schaffen eine gemeinsame Plattform, entweder als Vertrag<br />

oder Arzneimittelliste – die Schnittstelle ist geschaffen.<br />

Leicht gekürzter Nachdruck aus der Pharmazeutischen Zeitung Nr. 5 / 2008.<br />

Wir bedanken uns bei Redaktion und Autor für die frreundliche Genehmigung.


Nr. 2 / 2008<br />

<strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Seite 25<br />

Den Industrie-Einfluss beschränken<br />

Dr. med. Dieter Lehmkuhl<br />

Den Einfluss der Gesundheitsindustrie auf Ärztinnen und Ärzte einzudämmen, ist<br />

das Ziel einer Kommission des American Board of Internal Medicine und des Institute<br />

of Medicine as Profession der New Yorker Columbia-Universität. Das Gremium hat<br />

eine weitreichende Reformagenda erarbeitet, deren Veröffentlichung im Journal<br />

of the American Medical Association (JAMA) im Januar 2006 [1] in Deutschland<br />

allerdings bislang wenig beachtet wurde. Dabei ist eine breite innerärztliche wie<br />

auch gesellschaftliche Diskussion dieser Thematik auch hierzulande überfällig.<br />

Trotz aller bisherigen Anstrengungen würden die Grenzen zwischen Patientenwohl<br />

und Profit regelmäßig überschritten, schreiben die Autoren im JAMA. Das<br />

Verhalten der Ärzte sei dabei ein großer Teil des Problems. Das Ansehen des Berufsstands<br />

und die Vertrauenswürdigkeit der Industrie stünden auf dem Spiel. Die<br />

Annahme, es reiche aus, Interessenkonflikte offenzulegen, um die wissenschaftliche<br />

Glaubwürdigkeit und das Patientenwohl zu wahren, sei ein Mythos. In Anbetracht<br />

dessen, dass 90 Prozent des 21 Milliarden Dollar umfassenden Marketingbudgets<br />

der US-Pharmaindustrie direkt auf Ärzte abzielen, sind nach Ansicht der Autoren<br />

strenge Regeln erforderlich, die die gängige Praxis der Zuwendungen beenden. Die<br />

Empfehlungen im Einzelnen:<br />

Es ist verboten, Geschenke oder Essenseinladungen anzunehmen sowie sich<br />

Reisekosten oder die Teilnahme an Tagungen oder Onlinefortbildungen finanzieren<br />

zu lassen.<br />

Ärzte sollen keine Medikamentenmuster annehmen. Ein Gutscheinsystem soll<br />

die Versorgung bedürftiger Patienten sicherstellen.<br />

Ärzte mit finanziellen Verbindungen zur Industrie sollen aus Kommissionen<br />

ausgeschlossen werden, die über die Erstattungsfähigkeit von Medikamenten<br />

oder den Kauf von Medizingeräten beraten oder entscheiden.<br />

Die Unterstützung zertifizierter Weiter- und Fortbildung durch die Industrie ist<br />

verboten. Firmen, die medizinische Fortbildung fördern wollen, sollten stattdessen<br />

in einen zentralen Fonds einzahlen.<br />

Beratungs- oder Vortragshonorare für Ärzte sollten ebenso wie die zu erbringenden<br />

Leistungen vertraglich festgehalten werden. „Fördermittel“ für Wissenschaftler,<br />

an die keine Bedingungen geknüpft sind, kommen Geschenken gleich<br />

und sind deshalb zu unterlassen.<br />

Industriegelder sollten statt an einzelne Wissenschaftler direkt an die Universitäten<br />

fließen und allgemeinen Forschungszwecken dienen.<br />

Mit der Umsetzung dieser Empfehlungen erhofft sich die Kommission eine Senkung<br />

der Arzneimittelausgaben, eine rationalere Pharmakotherapie und eine stärkere<br />

Orientierung an der ärztlichen Ethik. Einige renommierte medizinische Fakultäten<br />

haben diese Empfehlungen bereits umgesetzt, darunter die der Universitäten von<br />

Stanford, Pennsylvania und Yale. Seit Anfang des Jahres unterstützt eine Kampagne,<br />

die vom Prescription Project organisiert und von der gemeinnützigen Pew-Stiftung<br />

in Boston mit sechs Millionen Dollar unterstützt wird, die Umsetzung dieser Empfehlungen<br />

(www.pewtrusts.com; www.prescriptionproject.org).<br />

Kurze<br />

Meldung<br />

Die Korruption hat<br />

viele Gesichter<br />

Literatur:<br />

1 Brennan TA et al.: Health Industry Practices: That Create Conflicts of Interest. JAMA 2006; 295:429-33.<br />

Nachdruck aus Dtsch Arztebl 2007; 104(45): A-3091.<br />

Wir bedanken uns bei Redaktion und Autor für die freundliche Genehmigung<br />

Anmerkung der <strong>KV</strong>H-aktuell-Redaktion: In Deutschland kümmert sich das Netzwerk<br />

„MEZIS – Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte“ um ein sauberes<br />

und klares Verhältnis der Ärzte zur Pharmaindustrie und wehrt sich gegen die<br />

allfälligen Beeinflussungsversuche aus der Industrie. Kontakt: www.mezis.de.


Seite 26 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Nr. 2 / 2008<br />

Beiträge<br />

der<br />

Redaktion<br />

Die evidenzbasierte Medizin und das geozentrische Weltbild<br />

Steht der Hausarzt<br />

im Mittelpunkt der Welt?<br />

Dr. med. Joachim Feßler<br />

Der Streit, den die evidenzbasierte Medizin auslöst, und besonders die Diskussionen<br />

im hausärztlichen Bereich erinnern mich immer wieder an ein Thema, das mich<br />

schon zur Schulzeit fasziniert hat. Es geht um die Diskussion, ob das geozentrische<br />

Weltbild oder das heliozentrische Weltbild das Richtige ist. Da die katholische Kirche<br />

das geozentrische Weltbild übernahm, hat sie es auch heftig verteidigt. Zahlreiche<br />

Prozesse, Haft, Verbannung und Todesurteile wurden durch diesen im Mittelalter<br />

recht heftig geführten Disput ausgelöst.<br />

Wie konnte es dazu kommen? Erinnern wir uns an die theoretischen Grundlagen:<br />

Im geozentrischen Weltbild steht die kugelförmige Erde im Zentrum des Universums.<br />

Alle weiteren Himmelskörper (Mond, Sonne, Planeten) umkreisen die Erde<br />

in konzentrischen Sphären (durchsichtigen Hohlkugeln). Die äußerste Sphäre wird<br />

von den Fixsternen besetzt (das geozentrische Weltbild darf nicht mit dem Konzept<br />

der flachen Erde verwechselt werden!).<br />

Das geozentrische Weltbild wurde im klassischen Altertum in Griechenland eingeführt<br />

und setzte sich gegen frühe Meinungen, nicht die Erde, sondern die Sonne<br />

stehe im Mittelpunkt des Kosmos (Heliozentrisches Weltbild), durch. Bis zum Ende<br />

des Mittelalters war es in Europa allgemein verbreitet; daneben wurde es auch im<br />

alten China gelehrt. Wichtigster und einflussreichster Verfechter war Ptolemäus,<br />

weswegen wir auch vom Ptolemäischen Weltbild sprechen.<br />

Jeder war ein Experte<br />

und kannte aus<br />

eigener Erfahrung<br />

die „Beweise“<br />

Das geozentrische Weltbild basiert auf der Ansicht, dass die Erde mit den Menschen<br />

das Zentrum des Universums sei und dass die Schöpfung alle Himmelskörper auf<br />

perfekte Kreisbahnen geschickt habe. Wichtigster Beweis für die Annahme des<br />

geozentrischen Weltbildes war die Beobachtung der Schwerkraft: Alles Gewichtige,<br />

schloss man daraus, strebt seinem natürlichen Ort zu, dem Mittelpunkt der ganzen<br />

Welt. Von der Sonne und den Planeten nahm man dagegen an, sie bestünden aus<br />

einem überirdischen fünften Element (lateinisch Quintessenz), dessen natürliche<br />

Bewegung die perfekte Kreisbahn sei.<br />

Die eminenzbasierte Erkenntnis<br />

Jeder war Experte für dieses Weltbild, denn jeder konnte selbst beobachten, dass<br />

sich die Sonne anscheinend um die Erde drehte. Diesen Beobachter nennen wir mal<br />

Eminenz (im Sinne von Experte). Somit war es eine eminenzbasierte Meinung, die<br />

sicherlich auf gewissenhafter Beobachtung beruhte. Sie wurde mit anderen Beobachtern<br />

diskutiert, die alle auf Grund der ihnen zur Verfügung stehen Methoden<br />

zu dem gleichen Resultat kamen. So wurde es Lehrmeinung der Eminenzen, später<br />

auch Lehrmeinung der katholischen Kirche.<br />

Erst die Arbeiten von Kopernikus und Keppler, die mit neueren Beobachtungen und<br />

Messmethoden (z.B. elliptische Planetenbahnen) einzelnen Zweifeln am geozentrischen<br />

Weltbild nachgingen (u.a. Fernrohre, neue Methoden der Mathematik, die Erkenntnisse<br />

der Gravitationstheorie etc.) erwiesen das heliozentrische Weltbild als das Richtige.<br />

An diesem jahrhundertealten und -langen Disput kann man gut erkennen, dass die<br />

einzelne Wahrnehmung (eminenzbasiert) relativ ist und durchaus – obwohl in<br />

sich schlüssig – nicht den wahren Sachverhalt wiedergeben muss.


Nr. 2 / 2008<br />

<strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Seite 27<br />

Das geozentrische<br />

Weltbild des<br />

Ptolemäus hielt<br />

sich unter anderem<br />

deswegen so<br />

hartnäckig, weil es<br />

vielen Zeitgenossen<br />

angesichts der eigenen<br />

Erfahrungen plausibel<br />

erschien. Die neuen<br />

wissenschaftlichen<br />

Erkenntnisse setzten<br />

sich erst langsam durch<br />

und stießen nicht nur<br />

bei den Eminenzen<br />

auf Widerwillen. Hier<br />

zeigen sich gewisse<br />

Parallelen zur heutigen<br />

evidenzbasierten<br />

Medizin.<br />

Die Medizin hat heute ähnliche Probleme<br />

Womit die Brücke zur evidenzbasierten Medizin geschlagen ist: Auch sie trifft auf<br />

ein Weltbild, das durch Einzelbeobachtungen geprägt ist, die durch jahrelange<br />

Erfahrung als Kontrollinstrument selten hinterfragt werden. Der Kern der evidenzbasierten<br />

Medizin ist es jedoch, den Beobachter möglichst ohne Einfluss auf das<br />

Geschehen zu machen. So werden die Untersucher und Patienten „verblindet“, die<br />

zu untersuchenden Therapien zufällig auf die Gruppen verteilt (z.B. Verum versus<br />

Placebo), also randomisiert. Darüber hinaus wird die Zahl der untersuchten Patienten<br />

so groß gewählt, dass einzelne „Zufälle“ keinen Einfluss mehr auf das Gesamtergebnis<br />

gewinnen können. Die Ergebnisse werden nun statistisch ausgewertet und<br />

berechnet, man nimmt einen Effekt an, wenn die Unterschiede „signifikant“ sind.<br />

Sie sind somit evidenzbasiert.<br />

Diese Ergebnisse können nun von den Theorien und Lehrmeinungen, die durch<br />

Beobachtung, Einschätzung und vielleicht Fehlinterpretation einzelner „Zufälle“<br />

entstanden sind, abweichen, ihnen teils widersprechen. Dass hierdurch heftige<br />

Diskussionen ausgelöst werden, liegt auf der Hand. Dies gilt besonders, wenn die<br />

neuen „Beobachtungsinstrumente“ nicht anerkannt und gewürdigt werden.<br />

Ein bisweilen schmerzlicher Weg für Hausärzte<br />

Nichtsdestoweniger müssen auch wir Hausärzte, die wir durch jahrelange Erfahrung<br />

geprägt sind, diesen schmerzlichen Weg gehen und anerkennen, dass gewisse<br />

Ereignisse erst sichtbar werden, wenn Tausende von gleichen „Fällen“ beobachtet<br />

werden, und dass die Ergebnisse nur glaubhaft sind, wenn „randomisiert und verblindet“<br />

wurde und weitere statistische Spielregeln (unter anderem Powerberechnung,<br />

intention to treat Auswertung etc.) eingehalten wurden.<br />

Ein Weg, der genauso schmerzhaft sein kann, wie der Weg, den die Anhänger<br />

des geozentrischen Weltbildes gehen mussten.<br />

Jedoch gewinnen wir nun eine ganz neue Aufgabe: Die Erkenntnisse dieser<br />

zahlreichen Studien sind nicht so ohne Weiteres auf unsere einzelnen, haus-<br />

Beweis ersetzt<br />

die Behauptung<br />

ex cathedra<br />

Eine neue Aufgabe<br />

für Hausärzte


Seite 28 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Nr. 2 / 2008<br />

Multimorbidität<br />

bildet sich<br />

in Studien selten ab<br />

Unsere Patienten<br />

sind oft<br />

anders als die<br />

Studienpopulationen<br />

ärztlichen Patienten übertragbar. Unsere Patienten können sich erheblich von einer<br />

Studienpopulation unterscheiden, d.h. sie finden sich im Studiendesign nur bedingt<br />

wieder. Sie sind häufig multimorbide und haben eine Multimedikation, teils treten<br />

Interaktionen durch die hohe Anzahl gleichzeitig eingenommener Arzneimittel<br />

auf oder es bestehen schlicht Unverträglichkeiten oder Kontraindikationen. Die<br />

Studienpopulation hingegen hat enge Einschluss- bzw. Ausschlusskriterien, häufig<br />

ist maximal eine Begleitkrankheit zum Einschluss zulässig.<br />

Zudem wird an der Studienpopulation meistens nur ein Wirkstoff gegen Placebo<br />

gemessen, jedoch nicht konkurrierende Wirkstoffe gegeneinander. In vielen Studien<br />

sind Frauen unterrepräsentiert, die Patienten häufig jünger als 70 Jahre, viele Studien<br />

werden nicht an Mitgliedern der in Europa häufigen Bevölkerung kaukasischer<br />

Abstammung durchgeführt. Unsere Problempatienten unterliegen im Allgemeinen<br />

den Ausschlusskriterien einer Studienpopulation, werden also in einer Studie gar<br />

nicht repräsentiert.<br />

Oder – was gar nicht selten ist – sie nehmen ihre individuellen Patientenrechte<br />

wahr und lehnen eine vorgeschlagene Therapie einfach ab, da ihnen die Vorteile<br />

und die Nachteile zu nahe beieinander zu liegen scheinen.<br />

Erfahrung und Evidenz sind Markenzeichen des guten Hausarztes<br />

Doch zu allen diesen Problemen braucht der Patient einen fachkundigen Berater<br />

und Vertrauten, der ihm hilft, dies alles auf seinen Fall anzuwenden und ihm seine<br />

individuell geeignete Therapie vorzuschlagen. Insofern müssen wir Hausärzte die<br />

evidenzbasierte Therapie als große Chance begreifen, unsere Patienten gut und<br />

valide informieren zu können und unsere eminenzbasierten Erkenntnisse auf die<br />

Bereiche zu beschränken, wo es keine oder nur unsicherer Evidenzlagen gibt.<br />

So liegt hier ein Unterschied zu dem Beispiel mit den Weltbildern, bei denen es<br />

ein objektiv Richtiges gibt. Die evidenzbasierte Medizin fordert die bestverfügbare<br />

Evidenz, und um diese richtig anzuwenden eben doch auch die „Eminenz“. Und<br />

diese Eminenz sollte ihr Tun immer kritisch hinterfragen, ihr Handeln begründbar<br />

darlegen und bereit sein, neue Evidenzen zu prüfen und anzuerkennen, so dass sie<br />

in das weitere ärztliche Handeln einfließen können.<br />

Informationen zum geozentrischen Weltbild: http://de.wikipedia.org/wiki/Geozentrisches_Weltbild


Nr. 2 / 2008<br />

<strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Seite 29<br />

Hausärztliche Leitlinie<br />

Hausärztliche Palliativversorgung Leitlinie<br />

Palliativversorgung<br />

Konsentierung Version 1.00<br />

18. Juli 2007<br />

Konsentierung Version 1.00<br />

18. Juli 2007<br />

Revision bis spätestens<br />

Juli 2010<br />

Revision bis spätestens<br />

Juli 2010<br />

Hausärztliche Leitlinie<br />

Palliativversorgung<br />

Hausärztliche Leitlinie<br />

Venöse Thromboembolien<br />

Version 1.07 vom 21.01.2008<br />

Version 1.07 vom 21.01.2008<br />

Anmerkung:<br />

Die Leitlinie Behandlung Palliativversorgung der venösen umfasst Thromboembolien<br />

insgesamt 97 Seiten.<br />

Wir veröffentlichen angesichts des Umfangs nur die<br />

wichtigsten Aspekte. Im letzten <strong>KV</strong>H aktuell war der erste<br />

Teil der Konsentierung Stand<br />

Leitlinie bis einschließlich Version 1.00 Husten abgedruckt. In<br />

diesem Heft 18. 08. bringen Juli 2007 2006 wir die weiteren Themen einschließlich<br />

gastrointestinaler Symptome, Wunden und Blutungen.<br />

In Heft 3/2008 Revision folgt bis die spätestens<br />

Leitlinie Schmerztherapie, deren<br />

Inhalte auch für die palliative Schmerztherapie gelten.<br />

Juli August 20102009<br />

Die Seitenzahlen am unteren Rand der Seite korrespondieren<br />

mit Version den Seitenzahlen 1.01 der Original-Leitlinie. Die<br />

Seitenzahlen am oberen Rand entsprechen den Seitenzahlen<br />

dieses <strong>KV</strong>H aktuell.<br />

Version 1.07 vom 21.01.2008<br />

Die ansonsten im Text erwähnten Anhänge und Literaturstellen<br />

(Ziffern in Klammern), die hier nicht abgedruckt<br />

sind, finden Sie in der vollständigen Leitlinie. Sie<br />

ist im Internet unter www.pmvforschungsgruppe.de<br />

verfügbar. Auf dieser Webseite bitte den Cursor in der<br />

Menü-Leiste im oberen Teil der Seite auf Publikationen<br />

positionieren und im aufklappenden Untermenü auf<br />

Leitlinien klicken.<br />

F. W. Bergert<br />

M. Braun<br />

F. W.<br />

H.<br />

Bergert<br />

Clarius<br />

K.<br />

M.<br />

Ehrenthal<br />

Braun<br />

H.<br />

J.<br />

Clarius<br />

Feßler<br />

K. Ehrenthal<br />

J. Gross<br />

K. Gundermann<br />

J. Feßler<br />

H.<br />

J. Gross<br />

Hesse<br />

K. Gundermann<br />

J. Hintze<br />

U.<br />

H.<br />

Hüttner<br />

Hesse<br />

B.<br />

J. Hintze<br />

Kluthe<br />

W. LangHeinrich<br />

U. Hüttner<br />

A. Liesenfeld<br />

B. Kluthe<br />

W. LangHeinrich<br />

E. Luther<br />

A. Liesenfeld<br />

R. Pchalek<br />

J.<br />

E. Luther<br />

Seffrin<br />

R. Pchalek<br />

T. Sitte<br />

A.<br />

J.<br />

Sterzing<br />

Seffrin<br />

F. W. Bergert<br />

G.<br />

T.<br />

Vetter<br />

Sitte<br />

M. Braun<br />

H.-J.<br />

A. Sterzing<br />

Wolfring H. Clarius<br />

U. Zimmermann<br />

G. Vetter<br />

K. Ehrenthal<br />

In Kooperation<br />

H.-J. Wolfring<br />

mit J. Feßler<br />

U. Zimmermann<br />

J. Gärtner J. Gross<br />

In Kooperation<br />

C. Ostgathe<br />

mit<br />

K. Gundermann<br />

J.<br />

R.<br />

Gärtner<br />

Voltz H. Hesse<br />

J. Hintze<br />

C. Ostgathe<br />

R. Voltz<br />

U. Hüttner<br />

F. W. Bergert<br />

B. Kluthe<br />

M. Braun<br />

W. LangHeinrich<br />

D. Conrad<br />

A. Liesenfeld<br />

K. Ehrenthal<br />

E. Luther<br />

N. Fenner<br />

R. Pchalek<br />

J. Feßler<br />

J. Seffrin<br />

J. Gross<br />

T. Sitte<br />

K. Gundermann<br />

A. Sterzing<br />

H. Hesse<br />

G. Vetter<br />

U. Hüttner<br />

H.-J. Wolfring<br />

B. Kluthe<br />

U. Zimmermann<br />

W. LangHeinrich<br />

In Kooperation mit<br />

A. Liesenfeld<br />

J. Gärtner<br />

E. Luther<br />

C. Ostgathe<br />

R. Pchalek<br />

R. Voltz<br />

J. Seffrin<br />

A. Sterzing<br />

H.-J. Wolfring<br />

U. Zimmermann


Seite 30 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Nr. 2 / 2008<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

03 Kontext und Kooperation<br />

04 Verantwortlichkeit<br />

05 Palliative Betreuung durch den Hausarzt<br />

Relevanz und Ziele der Leitlinie , Definitionen<br />

06 Hausärztliche Schlüsselfragen<br />

08 Organisationsstrukturen<br />

Ambulante Dienste<br />

09 Hospiz, Palliativstation<br />

10 Schnittstellen und Kooperation<br />

11 Kommunikation<br />

SPIKES-Modell<br />

13 Palliative Therapie<br />

Grundverständnis und Aufbau der Leitlinie<br />

14 Schwäche<br />

Ursachen , Hausärztliche Aspekte<br />

16 Fatigue<br />

Definition , Unterstützende Maßnahmen<br />

17 Unruhe<br />

19 Angst<br />

20 Depression<br />

21 Bewusstseinsstörungen<br />

22 Hirndruck/Kopfschmerzen<br />

23 Dyspnoe<br />

26 Husten<br />

27 Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust<br />

28 Mundtrockenheit<br />

29 Dysphagie<br />

30 Gastrointestinale Symptome<br />

Schluckauf , Übelkeit und Erbrechen<br />

31 Übelkeit und Erbrechen: Therapie<br />

32 Übelkeit und Erbrechen: Wirkstoffgruppen für<br />

die Therapie<br />

34 Aszites<br />

35 Obstipation: Ursachen<br />

36 Obstipation: Therapie<br />

37 Gastrointestinale Obstruktion (Sub-/Ileus)<br />

39 Flüssigkeitstherapie und künstliche Ernährung<br />

40 Wunden und Blutungen<br />

Exulzerierende Wunden<br />

Infizierte Wunden mit Geruchsbelästigung<br />

41 Akute Blutungen<br />

42 Palliative Schmerztherapie<br />

Schmerzdiagnose<br />

43 Schmerzarten und -ursachen<br />

44 Schmerzmessung , Schmerzanamnese<br />

45 Ursachen unzureichender Schmerztherapie<br />

46 Stufenschema der WHO<br />

50 Opioid-Ängste<br />

Dosisfindung bei Einleitung einer<br />

Opioidtherapie<br />

51 Transdermale Systeme<br />

52 Parenterale Analgetikatherapie<br />

Teilen und Auflösen von Medikamenten<br />

53 Opioidwechsel<br />

Invasive Maßnahmen<br />

54 Behandlung der Durchbruchschmerzen<br />

55 Opioidnebenwirkungen<br />

56 Neuropathische Schmerzen, Koanalgetika<br />

57 Unterstützende Maßnahmen<br />

58 Portpflege<br />

59 Hinweise zur Subkutaninfusion<br />

60 Zusammenfassende Grundsätze<br />

61 Beispiel für einen Medikamentenplan<br />

62 Palliative Therapie in der Terminal-/Finalphase<br />

Terminalphase , Finalphase = Sterbephase<br />

63 Palliative Therapie in der Finalphase<br />

Sterbebegleitung<br />

64 Todesrasseln , Flüssigkeitsgabe , Terminale Agitation<br />

65 Hilfestellungen<br />

66 Spiritualität und Trauer<br />

69 Rechtliches<br />

Vorausschauende<br />

Willenserklärung/Patientenverfügung<br />

Vorsorgevollmacht<br />

70 Ärztliche Sterbebegleitung<br />

Passive Sterbehilfe<br />

Indirekte Sterbehilfe<br />

Aktive Sterbehilfe<br />

71 Dokumentation in der Palliativmedizin<br />

72 HOPE Basisbogen<br />

74 Zusammenfassung<br />

75 Literatur<br />

82 Anhang: Information für Angehörige<br />

84 Anhang<br />

93 Anhang: Myoklonus<br />

95 Informationen zur Leitliniengruppe Hessen<br />

97 Disclaimer und Internetadressen<br />

Anmerkung:<br />

Die hier angegebenen Seitennummern beziehen sich auf die Seiten<br />

der Leitlinie am unteren Rand der Seiten.<br />

01 / 02


Nr. 2 / 2008<br />

<strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Seite 31<br />

Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust<br />

Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust<br />

Appetitlosigkeit und Schwäche sind Ausdruck des<br />

Fortschreitens der Grunderkrankung und selten<br />

behandelbar. Allerdings wird dieses Symptom häufig<br />

sehr stark wahrgenommen und von den Patienten<br />

und ihrem Umfeld beklagt.<br />

Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust können erneut<br />

Anlass sein, mit dem Patienten und Angehörigen<br />

über die Prognose der Erkrankung zu sprechen.<br />

Die Sorge des Patienten, Angehörigen und<br />

Pflegenden, dass der Patient verhungern oder<br />

verdursten könne, kann beispielsweise wie folgt<br />

angesprochen werden: »Wir wissen, dass Sie<br />

weiter Gewicht verlieren werden, auch wenn wir<br />

Sie jetzt, obwohl Sie gar keinen Hunger haben,<br />

künstlich ernähren würden«. Offen und ehrlich<br />

sollten die Wünsche und Ängste hinter der Aussage<br />

»Du musst doch etwas essen« besprochen<br />

werden. Die Angehörigen können unterstützt werden,<br />

andere Formen der Zuwendung und Fürsorge<br />

zu entwickeln.<br />

• Es ist wenig sinnvoll, appetitlose (Tumor-)<br />

Patienten zum Essen zu drängen!<br />

• Manchmal können Kortikoide appetitsteigernd<br />

wirken.<br />

• Künstliche Ernährung und Infusion von Flüssigkeit<br />

sind in der terminalen Phase nicht sinnvoll.<br />

Mundtrockenheit<br />

Mundtrockenheit<br />

Mundtrockenheit (Xerostomie) ist ein bei Palliativpatienten<br />

sehr häufig auftretendes Symptom und<br />

wird von den Betroffenen als starke Beeinträchtigung<br />

ihrer Lebensqualität empfunden [92]. Meist<br />

sind die Patienten gezwungen, ihre Ernährungsgewohnheiten<br />

zu ändern. Sie müssen häufiger und<br />

mehr Trinken und vermeiden feste, trockene Speisen.<br />

Mundtrockenheit kann die Entwicklung einer<br />

Stomatitis und orale Infektionen (z. B. Soor)<br />

begünstigen.<br />

Anamnese: Eine Dehydratation ist nur in einem<br />

Teil der Fälle die Ursache der Mundtrockenheit.<br />

Bei vielen Patienten tritt Mundtrockenheit unabhängig<br />

vom Hydratationszustand auf [28, 93].<br />

• Eine Vielzahl von Medikamenten (z. B. trizyklische<br />

Antidepressiva, Antiemetika, Opioide,<br />

Spasmolytika, Anticholinergika, Antihistaminika,<br />

Neuroleptika, Diuretika u. a.) kann Mundtrockenheit<br />

verursachen, daher sollte ihre Notwendigkeit<br />

überprüft und die Gabe gegebenenfalls<br />

reduziert oder beendet werden.<br />

• Außer einer genauen (Medikamenten-)Anamnese<br />

ist die Inspektion der Lippen und Mundhöhle<br />

wichtig. Rötungen, Erosionen, Ulzera,<br />

Aphthen, Foetor und Soorbeläge weisen auf<br />

eine Infektion hin.<br />

Die gewissenhafte Mundpflege ist der wichtigste<br />

Bestandteil der Vorsorge und Behandlung der<br />

Mundtrockenheit.<br />

• Besonders wichtig ist es, sich über die Invasivität<br />

und Intimität der Maßnahme bewusst zu<br />

sein. Daher ist nicht nur die »gewissenhafte«,<br />

sondern auch die »respektvolle« und »achtsame«<br />

Durchführung der Mundpflege von<br />

größter Bedeutung. Die Einbindung der Angehörigen<br />

in diese Maßnahme kann helfen,<br />

Distanz zum Schwerstkranken zu überwinden<br />

und eine Form der intensiven Zuwendung<br />

darstellen.<br />

• Kreative Ideen (Mundpflege mit Flüssigkeiten,<br />

die der Patient gerne getrunken hat z. B. gefrorene<br />

Cola, Säfte) können für den Patienten<br />

auch in dieser belasteten Situation Lebensqualität<br />

bedeuten. Das Lutschen eingefrorener<br />

27/28


Seite 32 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Nr. 2 / 2008<br />

Mundtrockenheit, Dysphagie<br />

Ananasstückchen kann zudem helfen, über das<br />

darin enthaltene Enzym der Ananas, Borken<br />

auf Zunge und Schleimhäuten zu lösen.<br />

• Mit einem Wattestäbchen (Tee, Eiswasser,<br />

nicht Glycerin, da subjektiv unangenehm) oder<br />

mit einem angefeuchteten Baumwollhandschuh<br />

können die Wangentaschen gut ausgewischt<br />

werden. Dabei kann man auch die Verklebungen<br />

durch Mundsoor gut lösen.<br />

• Bei Soor: Antimykotika.<br />

• Bei Ulzera/Erosion: D-Panthenollösung, Gel mit<br />

Lokalanästhetika, Volon-A Haftsalbe.<br />

Dysphagie<br />

Die Häufigkeit von Schluckstörungen ist bei Palliativpatienten<br />

mit neurologischen Erkrankungen wie<br />

Schlaganfall, bestimmten Muskelerkrankungen,<br />

amyotropher Lateralsklerose, Multipler Sklerose,<br />

dem Parkinson-Syndrom und Demenz am höchsten.<br />

Auch bei Tumorpatienten ist die Dysphagie<br />

ein häufiges, belastendes Problem [87].<br />

Schluckbeschwerden bei festen Speisen und erst<br />

später auch bei weicher und schließlich flüssiger<br />

Nahrung sind ein Hinweis für das Vorliegen einer<br />

mechanischen Ursache der Schluckstörung (z. B.<br />

Tumorobstruktion).<br />

Neurogene Schluckstörungen beeinträchtigen<br />

meist zuerst die Aufnahme von Flüssigkeiten und<br />

später auch das Schlucken fester Speisen. Ein<br />

schmerzhafter Schluckakt deutet auf eine entzündliche<br />

Ursache der Schluckstörung hin (Stomatitis,<br />

z. B. Soor) [135].<br />

Das Ausmaß der über Anamnese und körperliche<br />

Untersuchung hinausgehenden Diagnostik orientiert<br />

sich vor allem an den Bedürfnissen der einzelnen<br />

Patienten und der Prognose der Grunderkrankung.<br />

Häufig können die Symptome der Patienten<br />

schon durch Veränderungen der Körper- und Kopfhaltung,<br />

sowie Anpassung der Nahrungskonsistenz<br />

verbessert werden.<br />

Die meisten Patienten können kalte Nahrung besser<br />

schlucken als heiße und breiige besser als<br />

flüssige Nahrung. Primäres Behandlungsziel ist es,<br />

die orale Nahrungsaufnahme für die Lebensqualität<br />

und Genuss im Alltag der Patienten zu<br />

erhalten. Erst wenn diese Möglichkeiten ausgeschöpft<br />

sind, oder die Patienten sich durch den<br />

erschwerten Schluckakt zu belastet fühlen, kann je<br />

nach Fortschritt der Erkrankung in Abstimmung mit<br />

dem Patienten eine enterale Sondenernährung<br />

indiziert sein. Bei weit fortgeschrittener Erkrankung<br />

kann die Ernährung auch eingestellt werden.<br />

Ein medikamentöser Behandlungsversuch mit<br />

Glukokortikoiden (cave: Soor) ist im Fall einer<br />

Tumorobstruktion oder -infiltration von Nervengewebe<br />

indiziert.<br />

• Dosierung: 2 x tgl. bis zu 8 mg Dexamethason<br />

(p.o., s.c.) über max. fünf Tage; Absetzen,<br />

wenn kein Erfolg, da sonst qualvoller Effekt mit<br />

Appetitsteigerung [13] (BZ-Kontrollen durchführen!)<br />

Invasive Behandlungsoptionen (z. B. Bougierung,<br />

Lasertherapie oder Stentimplantationen)<br />

können das Symptom der Schluckstörung verbessern,<br />

gehen aber oft mit ausgeprägten Nebenwirkungen<br />

und einer Reduktion des Allgemeinzustandes<br />

der Patienten einher. Lebensqualität und<br />

Lebenserwartung der Patienten werden so häufig<br />

vermindert [97].<br />

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Nr. 2 / 2008<br />

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Seite 33<br />

Gastrointestinale Symptome<br />

Schluckauf<br />

Übelkeit und Erbrechen: Ursachen und<br />

Diagnostik<br />

Schluckauf<br />

Schluckauf (Singultus) tritt bei Palliativpatienten<br />

häufig auf und wird meist als belastend empfunden.<br />

Eine ursächliche Behandlung ist nur in seltenen<br />

Fällen möglich. Zur Therapie haben sich die<br />

Gabe von folgenden Substanzen bewährt [13]:<br />

• Baclofen: z. B. Lioresal 5-10 mg 8-stdl., p.o.<br />

• Haloperidol 5-10 mg p.o. oder subkutan zur<br />

Nacht<br />

• Nifedipin: 10-20 mg 8-stdl.<br />

Übelkeit und Erbrechen<br />

Im Gegensatz zur palliativen Schmerztherapie liegen<br />

für die Behandlung von Übelkeit und Erbrechen<br />

bisher keine allgemein anerkannten Therapieempfehlungen<br />

vor. Die beiden Symptome sollten<br />

klar voneinander unterschieden werden, da<br />

Erbrechen unabhängig von Übelkeit auftreten kann<br />

und gesondert behandelt werden muss.<br />

Ursachen<br />

Übelkeit und Erbrechen bei Tumorpatienten können<br />

gastrointestinale, metabolische, toxische, zentrale<br />

oder psychosomatische Ursachen haben<br />

(s. nachstehende Tabelle) [103].<br />

Ursachen von Übelkeit und Erbrechen (mod. nach Mannix, 2004 [77])<br />

gastrointestinal<br />

CTZ oder<br />

Brechzentrum<br />

zerebral<br />

psychisch<br />

CTZ: Chemorezeptortriggerzone<br />

Mukositis, Soor (Mund oder Speiseröhre), Gastritis, Ulzera, NSAR, Blut im<br />

Magen, gastrale Stase (z. B. durch Opioide, gastrointestinale Obstruktion,<br />

Aszites oder Anticholinergika)<br />

Elektrolyte (häufig Hyperkalzämie), Urämie, Infektionen, Toxine, Medikamente:<br />

Opioide, Antikonvulsiva, Glykoside, Antibiotika, NSAR, Zytostatika<br />

Hirndruck (z. B. durch Raumforderungen oder Meningeosis), Innenohrschäden<br />

(z. B. durch Metastasen in der Schädelbasis)<br />

Angst, Schmerz, Aufregung, Depression, Konditionierung (v. a. nach<br />

Chemotherapie)<br />

Diagnostik<br />

Vor der Behandlung sollte eine genaue Anamnese<br />

und Untersuchung durchgeführt werden. Nicht<br />

vergessen werden sollte dabei die Inspektion der<br />

Mundhöhle und des Rachens (Soor oder Mukositis?)<br />

und die Palpation und Perkussion des Abdomens,<br />

um Zeichen für einen Subileus, Aszites,<br />

Hepatomegalie und intraabdominelle Raumforderungen<br />

zu erfassen.<br />

In vielen Fällen ist aber auch eine gastrale Stase<br />

Ursache von Erbrechen. Klassischerweise leiden<br />

diese Patienten häufig nur kurz vor dem Erbrechen<br />

an Übelkeit und erbrechen dann entweder unverdaute<br />

Nahrungsreste (Magen-Darm-Hypomotilität)<br />

oder große Mengen Sekret (gastrointestinale<br />

Obstruktion s. u.).<br />

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Seite 34 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Nr. 2 / 2008<br />

Gastrointestinale Symptome<br />

Übelkeit und Erbrechen: Therapie<br />

Therapieprinzipien<br />

Es ist wichtig, mit den Patienten ein erreichbares<br />

Therapieziel zu vereinbaren. Ihnen sollte vermittelt<br />

werden, dass die Verminderung seiner Beschwerden<br />

auf ein erträgliches Maß ein realistischer Therapieauftrag<br />

ist [77]. Unverzichtbar: Gespräch mit<br />

Patienten und Angehörigen über den Teufelskreis<br />

des »Essen müssens« (s. Appetitlosigkeit und<br />

Schwäche).<br />

Nichtmedikamentöse Ansätze<br />

Unterstützend sind die Vermeidung unangenehmer<br />

Gerüche oder das Anrichten kleiner, appetitlicher<br />

Speisen [65]. Die Wirksamkeit von Aromatherapie,<br />

Massage, Akupunktur, Akupressur, Ingwer und die<br />

Verwendung traditioneller chinesischer Kräutermischungen<br />

lässt sich bisher nicht eindeutig belegen.<br />

Diese Maßnahmen können vor allem bei Patienten,<br />

die für alternative Therapieoptionen offen<br />

sind, zu einer kurzfristigen Entspannung und damit<br />

auch zu einer Symptomreduktion führen [40, 45,<br />

130].<br />

Medikamentöse Therapie<br />

Unabhängig von der Klärung der Ursache sollte<br />

unverzüglich eine medikamentöse, symptomatische<br />

Therapie mit einem Antiemetikum begonnen<br />

werden. Die angewendeten Substanzen unterscheiden<br />

sich je nach Wirkort (Chemorezeptortriggerzone,<br />

Brechzentrum, Gastrointestinaltrakt,<br />

zerebraler Kortex) und Wirkprinzip. Mehrheitlich ist<br />

die Wirkung der Antiemetika rezeptorvermittelt und<br />

je nach Lokalisation des Rezeptors einsetzbar.<br />

Opioidbedingte Übelkeit tritt bei etwa 20% der<br />

Patienten auf und kann etwa 7-10 Tage anhalten<br />

[103]. Aufgrund der starken Belastung für den<br />

Patienten und der häufig damit verbundenen Ablehnung,<br />

das Opioid weiter einzunehmen, ist bei<br />

allen Patienten für diesen Zeitraum eine antiemetische<br />

Behandlung indiziert. Zur Prophylaxe und/<br />

oder Therapie von opioidbedingter Nausea und<br />

Emesis wird häufig das niedrigpotente Neuroleptikum<br />

Haloperidol (z. B. 3 x 0,3-0,5 mg p.o./s.c.)<br />

[132], oder Metocopramid 3-5 x 10 mg p.o./s.c./i.v.)<br />

eingesetzt [52].<br />

Hinweise zur Therapie<br />

• Antiemetika werden nach der zu Grunde liegenden<br />

Ursache, ihrem Wirkort und nach einem<br />

festen Zeitschema entsprechend der Wirkdauer<br />

verordnet.<br />

• Die gewählte Substanz sollte ggf. zusätzlich<br />

bei Bedarf verabreicht werden. Dabei ist auf<br />

eine ausreichende Dosierung im Bereich der<br />

Tageshöchstdosis zu achten.<br />

• Wird keine Linderung erreicht, sollte eine Kombinationsbehandlung<br />

durchgeführt werden.<br />

Hier sollte das zweite Antiemetikum einen anderen<br />

Wirkort und Wirkmechanismus haben als<br />

die Ausgangssubstanz [29]. Die meisten Patienten<br />

benötigen zwei Antiemetika [13].<br />

• Die Medikamente sollten nur oral verabreicht<br />

werden, um Übelkeit vorzubeugen, oder wenn<br />

diese nicht stark ausgeprägt ist. Insbesondere<br />

bei Erbrechen sollten andere Applikationswege<br />

(rektal/subkutan, i.v.) gewählt werden [77].<br />

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Nr. 2 / 2008<br />

<strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Seite 35<br />

Gastrointestinale Symptome<br />

Übelkeit und Erbrechen: Wirkstoffgruppen für<br />

die Therapie<br />

Beipiele für Antiemetika (mod. nach Mannix, 2004 [77])<br />

Antiemetikum Wirkdauer (h) Dosis (mg/d) Wirkort Indikation<br />

Metoclopramid 4-6 50 G, C<br />

Dimenhydrinat 8 150-450 B<br />

Haloperidol 8-12 1,5-2,5 C<br />

Gastrostase, medikamenteninduzierte<br />

Übelkeit, nicht bei<br />

Obstruktion<br />

Obstruktion, medikamentös induzierte<br />

und zentral bedingte Übelkeit<br />

Obstruktion, medikamentös<br />

induzierte und zentral bedingte<br />

Übelkeit<br />

Dexamethason 8-24 4-8 zentral bedingte Übelkeit<br />

Ondansetron 8-12 4-8 C, G<br />

Wirkorte: G = Gastrointestinal,<br />

C = Chemorezeptorentriggerzone,<br />

B = Brechzentrum<br />

Obstruktion, medikamentös induzierte<br />

und zentral bedingte Übelkeit.<br />

Cave: NW Obstipation<br />

Prokinetika (z. B. Metoclopramid) können die<br />

Peristaltik verstärken, Reflux vermindern und die<br />

Magendarmpassage beschleunigen [77] sowie<br />

durch Reizung der CTZ hervorgerufene Übelkeit<br />

vermindern [52].<br />

Antihistaminika wirken an zentralen und vestibulocochleären<br />

H 1 -Rezeptoren und führen häufig zu<br />

Müdigkeit [77]. In Deutschland wird häufig Dimenhydrinat<br />

(z. B. 150-300 mg/d p.o., i.v. oder rektal)<br />

verwendet.<br />

Neuroleptika (z. B. Haloperidol 3 x 5 Trpf. p.o.<br />

oder 3 x 1 mg s.c.) wirken über die Hemmung von<br />

Dopaminrezeptoren gegen Übelkeit und Erbrechen.<br />

Eine Sonderstellung nimmt das Levomepromazin<br />

ein. Durch Wirkung an unterschiedlichen<br />

Rezeptoren (Histamin-, Acetylcholin-, Dopaminund<br />

Serotoninrezeptoren) kann es als »Breitspektrumantiemetikum«<br />

beim Versagen der anderen<br />

Substanzklassen eingesetzt werden (z. B. ½ Amp.<br />

s.c. oder 3-5 Trp. p.o. 1 x tgl.).<br />

32


Seite 36 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Nr. 2 / 2008<br />

Gastrointestinale Symptome<br />

Übelkeit und Erbrechen: Wirkstoffgruppen für<br />

die Therapie (Fortsetzung)<br />

Steroide entfalten ihre antiemetische Wirkung<br />

möglicherweise aufgrund einer Reduktion der<br />

Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke und der<br />

Reduktion inhibitorischer Substanzen am Hirnstamm<br />

[77]. Sie können einen aufgrund von zerebralen<br />

Raumforderungen erhöhten intrakraniellen<br />

Druck ebenso vermindern wie gastrointestinale<br />

Obstruktionen aufgrund abdomineller Tumoren.<br />

Beides kann zu einer Verringerung von Übelkeit<br />

und Erbrechen führen. Dexamethason, als das in<br />

der Palliativmedizin am häufigsten verwendete<br />

Steroid, wird in einer Dosierung von 4-12 mg/d (im<br />

Falle von Hirndruck ggfls. bis 36 mg/d) oral,<br />

intravenös oder subkutan eingesetzt [74]. Eine<br />

einmalige (morgendliche) Gabe von Steroiden<br />

reicht in der Regel aus [52]. Zur Prophylaxe eines<br />

Magenulkus sollten gleichzeitig Protonenpumpeninhibitoren<br />

(z. B. 1 x tgl. 40 mg PPl) verabreicht<br />

werden [21].<br />

Da Übelkeit auch über zentrale und periphere<br />

muskarinerge Acetycholinrezeptoren vermittelt<br />

wird, können vor allem in der Kombination mit<br />

anderen Wirkstoffen Anticholinergika wie zum<br />

Beispiel Scopolamin (z. B. 0,2 mg s.c. bei Bedarf)<br />

eingesetzt werden [77].<br />

Während die Wirksamkeit von 5-HT 3 Antagonisten<br />

zur Prophylaxe von Chemotherapie induzierter<br />

Übelkeit unstrittig ist, sollten sie in der<br />

Palliativmedizin nur dann alleine oder in Kombination<br />

mit anderen Wirkstoffen verwendet werden,<br />

wenn die Kombination anderer, oben genannter<br />

Wirkstoffe in ausreichenden Dosierungen nicht<br />

erfolgreich ist [77]. Kontraindiziert sind 5-HT 3<br />

Antagonisten (z. B. Ondansetron 4-8 mg/d) bei der<br />

in der Palliativmedizin häufig mit Übelkeit und<br />

Erbrechen einhergehenden Magen-Darm-Hypomotilität.<br />

Die Wirkungen und Nebenwirkungen von Cannabinoiden,<br />

insbesondere des Delta-9-Hydrocannabinol<br />

(THC) wird zentralnervös und peripher über<br />

eigene Rezeptoren vermittelt. Cannabinoide gelten<br />

in der Palliativmedizin noch als »last-line« Medikamente<br />

[112]. Bei Patienten mit therapieresistentem<br />

Erbrechen kann ein Therapieversuch lohnend<br />

sein (wird nicht durch die G<strong>KV</strong> erstattet): THC<br />

(z. B. Dronabinol ® ) als ölige Tropfen (2,5 mg in 3<br />

Trpf. oder Drgs. á 2,5 mg) (BtM). Man beginnt mit<br />

einer Tagesdosis von 2,5 mg und steigert die<br />

Tagesdosis langsam bis zur Wirksamkeit oder dem<br />

Eintreten von Nebenwirkungen. Das Medikament<br />

wird gemäß dem »Rezepte Formularium« (NRF) in<br />

der Apotheke aus Harz hergestellt.<br />

Eine sehr häufige Ursache von Erbrechen durch<br />

gastrale Stase (oder eine sehr ausgeprägte Obstipation)<br />

ist die Magen-Darm-Hypomotilität. Zur<br />

Anregung der Peristaltik haben sich die einmalige<br />

subkutane oder mehrfache orale Verabreichung<br />

von Acetylcholinesteraseinhibitoren wie z. B.<br />

Distigmin (Ubretid ® ) bewährt. Viele Patienten erleben<br />

ein- bis zweimaliges Erbrechen am Tag als<br />

wenig belastend, solange zwischen dem Erbrechen<br />

die Übelkeit zufriedenstellend behandelt ist.<br />

33


Nr. 2 / 2008<br />

<strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Seite 37<br />

Gastrointestinale Symptome<br />

Aszites<br />

Aszites<br />

Aszites ist häufig ein Symptom der finalen<br />

Krankheitsphase.<br />

Die Therapieoptionen sind begrenzt: Die<br />

Behandlung des Aszites ist in den meisten Fällen<br />

symptomorientiert und richtet sich nach den<br />

hervorgerufenen Beschwerden (Schmerz, Luftnot,<br />

körperliche Beeinträchtigung, gestörte Magen-<br />

Darm-Passage).<br />

Die Diuretikatherapie scheint nur beim Vorliegen<br />

einer portalen Hypertension effektiv zu sein, zur<br />

Behandlung des malignen Aszites ist sie nur sehr<br />

begrenzt erfolgreich [93]. Gegebenenfalls kann ein<br />

zeitlich begrenzter Versuch mit Spironolacton<br />

(100-400 mg/d) und/oder Furosemid (20-40 mg/d)<br />

unternommen werden, jedoch führt dies meist<br />

durch den intravasalen Flüssigkeits-/Elektrolytverlust<br />

zu einer weiteren Schwächung des Patienten.<br />

Aszitespunktionen (Parazentesen) haben meist<br />

nur einen vorübergehenden Effekt und sollten nur<br />

bei ausgeprägten Symptomen versucht werden.<br />

Die Entfernung großer Aszitesvolumina (> 3 l)<br />

kann den Allgemeinzustand des Patienten nachhaltig<br />

reduzieren [83].<br />

• Die prophylaktische Substitution von Albumin<br />

wird sehr kontrovers diskutiert [125] und kann<br />

nicht allgemein empfohlen werden [127].<br />

• Die Anlage permanenter Aszitesdrainagen ist<br />

zum Teil mit schweren Komplikationen (z. B.<br />

Peritonitis) verbunden. Die Patienten fühlen<br />

sich häufig von den Drainagen behindert und<br />

nur selten können die Ableitungen oder andere<br />

invasive Maßnahmen die Symptomlast der<br />

Patienten dauerhaft verringern [127].<br />

Die intraperitoneale Gabe von Interferon, Immunstimulanzien<br />

sowie radioaktiven Isotopen kann<br />

nicht empfohlen werden [127].<br />

34


Seite 38 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Nr. 2 / 2008<br />

Gastrointestinale Symptome<br />

Obstipation: Ursachen<br />

Obstipation<br />

Obstipation ist eines der häufigsten Symptome bei<br />

Palliativpatienten. Zwischen 40 und 50% der Patienten<br />

und über 90% der mit Opioiden behandelten<br />

Patienten klagen über Obstipation [87]. Häufig<br />

liegen gleichzeitig mehrere Ursachen der Obstipation<br />

vor (s. Tab.). Am häufigsten ist die opioidbedingte<br />

Obstipation, aber auch Bettlägerigkeit<br />

und die verminderte Flüssigkeitsaufnahme fördern<br />

die Obstipation [128].<br />

Ursachen für Obstipation (mod. nach Sykes, 2004 [128])<br />

Mögliche Ursachen der Obstipation<br />

tumorbedingt<br />

reduzierter Allgemeinzustand<br />

medikamentös<br />

metabolisch<br />

Vorerkrankungen<br />

Beispiele<br />

(Sub-)Ileus aufgrund gastrointestinaler Obstruktion<br />

Immobilität oder Schwäche, verminderte Ballaststoffoder<br />

Flüssigkeitsaufnahme, Verwirrtheit, Depression<br />

Opioide, Medikamente mit anticholinergen Nebenwirkungen<br />

(trizyklische Antidepressiva, Phenothiazine,<br />

N-Butylscopolamin), 5-HT 3 Antagonisten,<br />

Diuretika, aluminiumhaltige Antazida etc.<br />

Hyperkalzämie, Hypokaliämie, Urämie<br />

Hypothyreose, Diabetes mellitus, Hämorrhoiden,<br />

Analfissuren<br />

Abgesehen von der unregelmäßigen und seltenen<br />

Darmentleerung können Patienten mit Obstipation<br />

unter anderem unter Übelkeit und Erbrechen,<br />

Inappetenz und Völlegefühl leiden.<br />

Wichtig: Sorgfältige Erhebung der bisherigen<br />

Stuhlgewohnheiten mit Frequenz der Darmentleerungen,<br />

Konsistenz und Menge des Stuhls sowie<br />

die Erfassung der bisherigen Laxanzien- und Medikamenteneinnahme.<br />

Bei der körperlichen Untersuchung<br />

ist nicht nur auf tastbare Verdickungen<br />

im Kolonbereich zu achten, sondern auch auf die<br />

Qualität der Darmgeräusche. Über Anamnese und<br />

körperliche Untersuchung hinausgehende diagnostische<br />

Maßnahmen sind selten erforderlich.<br />

35


Nr. 2 / 2008<br />

<strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Seite 39<br />

Gastrointestinale Symptome<br />

Obstipation: Therapie<br />

Therapie<br />

Die Erhöhung der Ballaststoffmenge der Ernährung,<br />

vor allem aber eine vermehrte Flüssigkeitszufuhr<br />

sowie (wenn möglich) körperliche Aktivität<br />

gehören zwar zu den sonst unverzichtbaren Allgemeinmaßnahmen<br />

bei Obstipation sind aber beim<br />

Patienten mit weit fortgeschrittener Erkrankung<br />

häufig nicht mehr durchführbar. Daher ist zur Behandlung<br />

und Prophylaxe der Obstipation bei Palliativpatienten<br />

eine medikamentöse Therapie mit<br />

Laxanzien erforderlich (s. Tab.). Hier hat sich bei<br />

Patienten, die noch in der Lage sind zu schlucken,<br />

Macrogol bewährt. Die Patienten können je nach<br />

Bedarf mehrere Beutel zu sich nehmen. Das<br />

Polymer weicht verhärteten Stuhl auf und löst<br />

intestinale Dehnungsreflexe aus. Es ist osmotisch<br />

wirksam, ohne zu Elektrolytverschiebungen oder<br />

Exsikkose zu führen. Weitere Laxantien sind in<br />

nachstehender Tabelle aufgeführt.<br />

Beispiele für in der Palliativmedizin verwendete Medikamente zur Behandlung einer Obstipation<br />

Wirkstoff Applikation Wirkung Anmerkung<br />

Macrogol oral osmotisch<br />

selten Völlegefühl oder Blähungen, keine<br />

Elektrolytverschiebung<br />

Glycerol rektal Gleitmittel weicht den Stuhl auf<br />

Laktulose oral osmotisch<br />

Natrium<br />

picosulfat<br />

bindet Wasser, Volumen des Darminhaltes nimmt zu und<br />

regt Peristaltik an. Blähungen<br />

oral osmotisch Kombination mit Gleitmittel oft erforderlich<br />

Bisacodyl oral, rektal stimulierend Kombination mit Gleitmittel oft erforderlich<br />

Distigmin s.c./oral motilitätssteigernd<br />

(modifiziert nach Klaschik, 2003 [67])<br />

v. a. bei verminderter Peristaltik, kontraindiziert bei<br />

mechanischem Ileus<br />

Bei der Pflege beachten (s. auch [13]):<br />

• Weiches Toilettenpapier, mit Wasser reinigen<br />

• Zeitdruck vermeiden, Gewohnheiten beachten<br />

• Zu reichliche Aufnahme von Ballaststoffen bei<br />

geringer Flüssigkeitszufuhr verstärkt die Obstipation<br />

durch Verhärtung des Stuhlgangs<br />

• Möglichst Mobilisation auf den Toilettenstuhl<br />

Bei verhärtetem Stuhl können rektale Maßnahmen<br />

indiziert sein. Es kann mit Stimulanzien<br />

begonnen, später können Gleitmittel eingesetzt<br />

werden. In sehr seltenen Fällen kann eine manuelle<br />

Ausräumung indiziert sein. Für diese sehr<br />

belastende Maßnahme sollte mit dem Patienten<br />

besprochen werden, ob er hierfür eine leichte<br />

Sedierung wünscht.<br />

Mögliches Stufenschema<br />

• 1. Macrogol 1-3 Btl./d<br />

• 2. Macrogol 1-3 Btl./d plus Natriumpicosulfat<br />

1-2 x 10 (bis 20) Trpf./d (bei stark verminderter<br />

Peristaltik zeitgleich Distigmin z. B. Ubretid ®<br />

einmalig ½ (bis 1) Amp. s.c. oder 3 x tgl. 1 Tbl.<br />

á 5 mg p.o. für maximal drei Tage)<br />

• 3. zusätzlich rektale Maßnahmen (Klistier,<br />

hoher Einlauf)<br />

• 4. bei Verdacht auf Kotsteine einmalig 8 Btl.<br />

Macrogol/1 l Wasser oder Tee über ½ Tag<br />

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Seite 40 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Nr. 2 / 2008<br />

Gastrointestinale Symptome<br />

Gastrointestinale Obstruktion (Sub-/Ileus)<br />

Gastrointestinale Obstruktion (Ileus, Subileus)<br />

Die häufigsten Symptome der gastrointestinalen<br />

Obstruktion sind Übelkeit und Erbrechen, Schmerzen<br />

(z. B. kolikartige, aber auch Dauerschmerzen)<br />

und Obstipation. Übelkeit muss nicht dauerhaft<br />

vorhanden sein, sondern tritt charakteristischerweise<br />

nur kurz vor dem Erbrechen auf und bessert<br />

sich zumeist nachher.<br />

Selten sind operative Eingriffe indiziert [116], Komplikationen<br />

sind häufig [46]. Eine Expertengruppe<br />

der European Association of Palliative Care<br />

(EAPC) hat darüber hinaus einige Kontraindikationen<br />

für ein operatives Vorgehen zusammengefasst<br />

(s. Tab).<br />

Kontraindikationen für operatives Vorgehen [gemäß den Empfehlungen der EAPC]<br />

Absolute Kontraindikationen<br />

vorausgegangene Laparotomie mit inoperablem<br />

Befund oder diffuser Metastasierung<br />

Befall des proximalen Magens<br />

intraabdominelle Tumoraussaat<br />

radiologisch nachgewiesene ausgeprägte<br />

Motilitätsstörung<br />

palpable intraabdominelle Tumormassen<br />

ausgeprägter Aszites (nach Punktion schnell<br />

nachlaufend)<br />

(nach Ripamonti, 2001 [116])<br />

Relative Kontraindikationen<br />

extraabdominelle Metastasierung mit schwer<br />

kontrollierbaren Symptomen (z. B. Dyspnoe)<br />

nicht-symptomatische ausgedehnte extraabdominelle<br />

Metastasierung<br />

schlechter Allgemeinzustand<br />

schlechter Ernährungszustand<br />

fortgeschrittenes Alter in Verbindung mit Kachexie<br />

vorausgegangene Strahlentherapie des Abdomens<br />

oder Beckens<br />

Bei ausgeprägtem Erbrechen von Magen-Darminhalt<br />

kann die vorübergehende Anlage einer<br />

Magensonde einige Patienten entlasten. Die Anlage<br />

der Magensonde kann ambulant durchgeführt<br />

werden, allerdings empfinden viele Patienten das<br />

Legen und das Leben mit der Magensonde als<br />

sehr unangenehm. Darüber hinaus tolerieren<br />

einige Patienten mehrmals tägliches Erbrechen,<br />

wenn die Übelkeit in der Zwischenzeit gut kontrolliert<br />

ist. Alternativ zur Anlage einer Magensonde<br />

kann das Legen einer großlumigen perkutanen<br />

endoskopischen Gastrostomie (PEG) eine dauerhafte<br />

Ableitung des Magen-Darminhaltes ermöglichen<br />

[116].<br />

37


Nr. 2 / 2008<br />

<strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Seite 41<br />

Gastrointestinale Symptome<br />

Gastrointestinale Obstruktion (Sub-/Ileus)<br />

(Fortsetzung)<br />

Wenn der Sub-/Ileus nicht ursächlich behandelt<br />

werden kann, muss die symptomorientierte<br />

Therapie gegebenenfalls auch über längere Zeit<br />

(Wochen bis Monate) zu Hause durchführbar sein.<br />

Daher werden Medikamente und Flüssigkeit vor<br />

allem subkutan, unter Umständen aber auch intravenös<br />

(Port) oder rektal verabreicht. Die Reduktion<br />

von Übelkeit und Erbrechen kann schwierig sein.<br />

Viele Patienten fühlen sich schon deutlich entlastet,<br />

wenn das Erbrechen auf 1- bis 2-mal täglich<br />

reduziert werden kann und die Übelkeit verschwindet.<br />

Medikamentös lassen sich vor allem folgende<br />

Ansätze verfolgen:<br />

• Antiemetika (s. o.) und/oder<br />

• Prokinetika (bei inkompletter Obstruktion).<br />

Kommt es nach der Gabe von Prokinetika zu<br />

einer Zunahme des Erbrechens und der kolikartigen<br />

Schmerzen, kann dieses als Hinweis für<br />

einen kompletten Verschluss gesehen werden<br />

[116]. Alle prokinetisch wirksamen Substanzen<br />

müssen abgesetzt werden.<br />

• Hemmung der gastrointestinalen Sekretion<br />

und Peristaltik (Butylscopolamin, z. B. 40 mg<br />

bis 120 mg pro Tag s.c./i.v. oder Octreotid 3 x<br />

50 µg bis 3 x 200 µg/d s.c.) [114].<br />

• Es kann versucht werden, durch die Gabe von<br />

Steroiden (z. B. Dexamethason, 8 mg morgens<br />

s.c./p.o./i.v. oder bis zu 16 mg/d) die Symptome<br />

eines Ileus zu reduzieren [46, 116]. Alternativ:<br />

initial 20-60 mg und Reduktion in den nächsten<br />

Tagen auf die Erhaltungsdosis von 4 mg/Tag<br />

([42] zit nach [62]).<br />

Wird ein partieller Verschluss vermutet (häufig mit<br />

paradoxer Diarrhöe, Wechsel von Obstipation und<br />

Durchfall) sind stimulierende Laxanzien und<br />

hohe Einläufe nicht indiziert.<br />

Patienten dürfen trotz des Vorliegens eines<br />

Sub-/Ileus essen und trinken! Sie müssen sich<br />

aber darüber im Klaren sein, dass alles, was Sie<br />

essen, auch wieder erbrochen wird (falls es nicht<br />

über eine Magensonde/PEG abläuft) und dass sich<br />

andere Symptome (Übelkeit, Schmerzen etc.)<br />

durch die Nahrungsaufnahme verschlechtern können.<br />

Nicht wenige Patienten möchten dennoch hin<br />

und wieder kleine Portionen essen, da Schmecken<br />

bzw. Schlucken für sie einen großen Teil der<br />

Lebensqualität ausmacht.<br />

In einigen Fällen kann der Flüssigkeitsverlust<br />

durch das Erbrechen symptomatisch werden<br />

(Durst, Reduktion des Allgemeinzustandes, Eintrübung).<br />

In diesen Fällen kann je nach Stand der<br />

fortgeschrittenen Erkrankung die parenterale Flüssigkeitsgabe<br />

(subkutan, i.v.) indiziert sein.<br />

38


Seite 42 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Nr. 2 / 2008<br />

Flüssigkeitstherapie und künstliche Ernährung<br />

Maßnahmen, Indikation<br />

Flüssigkeitstherapie und künstliche Ernährung<br />

in der letzten Lebensphase<br />

Die Richtlinien der Bundesärztekammer zur ärztlichen<br />

Sterbebegleitung halten fest, dass bei Sterbenden<br />

eine Basisbetreuung gewährleistet sein<br />

muss. Hierzu gehören menschenwürdige Unterbringung,<br />

Zuwendung, Körperpflege sowie das<br />

Lindern von u. a. Schmerzen, Atemnot und Übelkeit.<br />

Ausdrücklich wird festgehalten, dass zur<br />

Basisbetreuung nicht immer Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr<br />

gehören müssen, da sie für Sterbende<br />

eine schwere Belastung darstellen können.<br />

Wohingegen Hunger und Durst als subjektive<br />

Empfindungen gestillt werden müssen [23].<br />

Beide Empfindungen sind bei Patienten mit fortgeschrittenen<br />

Erkrankungen eher selten und können<br />

in der Regel mit einfachen Maßnahmen gelindert<br />

werden [80] wie<br />

• Schlucken kleiner Portionen der Lieblingsspeise<br />

• kleine Mengen Flüssigkeit oder Eisstücke ggf.<br />

von gefrorenen Säften<br />

• Mundbefeuchtung durch Ananas (gefroren)<br />

oder getränkte Wattestäbchen,<br />

• Intensive Mund- und Lippenpflege. Zunge<br />

feucht halten!<br />

(s. auch Mundtrockenheit)<br />

Dennoch wird im Gespräch des Hausarztes mit<br />

dem Patienten und den Angehörigen Flüssigkeitsgabe/Ernährung<br />

auch in der letzten Lebensphase<br />

immer wieder Thema sein. Insbesondere die Familie<br />

wird hierzu Fragen stellen: »Wird mein Angehöriger<br />

verdursten, durch den Verzicht schneller<br />

sterben, mehr leiden und wird wirklich alles<br />

getan?« Diesen Ängsten muss durch offene Kommunikation,<br />

durch Fachwissen und Sicherheit begegnet<br />

werden (s. Anhang).<br />

Eine Verbesserung klinischer Symptome durch die<br />

Gabe von Flüssigkeit bzw. parenteraler Ernährung<br />

ist in aller Regel nicht zu erwarten [93]. Auch bei<br />

fortgeschrittener Demenz wird die Sondennahrung<br />

nicht empfohlen [129]. Zudem scheint insbesondere<br />

das Symptom Durst durch Flüssigkeitsgabe in<br />

der Terminalphase nicht beeinflussbar zu sein [37].<br />

Wichtig: Aufklärung von Patient und Angehörigen,<br />

um die Angst vor dem Verdursten zu<br />

nehmen. Darauf hinweisen, dass Mundtrockenheit<br />

quälend ist (s. Anhang).<br />

Indikation für Flüssigkeitssubstitution<br />

In seltenen Indikationen kann der Einsatz von<br />

Flüssigkeit indiziert sein. Bei Unruhe, Delir und<br />

Muskelkrämpfen, die durch eine Dehydratation<br />

bedingt sind, kann ein Therapieversuch mit 500 ml<br />

- 1 l NaCl 0,9%/24 h s.c. unternommen werden.<br />

Eine einmal begonnene Flüssigkeitstherapie kann<br />

aber auch wieder beendet werden [12].<br />

Eine PEG-Sonde ist in der Terminalphase nicht<br />

sinnvoll, außer bei Ileus. Hier kann eine großlumige<br />

PEG-Sonde zur Entlastung (zur Ableitung<br />

der Sekrete) eingesetzt werden. Ansonsten ist<br />

mutmaßlicher oder geäußerter Patientenwille maßgebend<br />

in Abstimmung mit Angehörigen und Pflegepersonal<br />

(s. Hinweise zur Subkutaninfusion).<br />

39


Nr. 2 / 2008<br />

<strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Seite 43<br />

Wunden und Blutungen<br />

Exulzerierende Wunden<br />

Infizierte Wunden mit Geruchsbelästigung<br />

Exulzerierende Wunden<br />

Sie entstehen zum Beispiel bei exzessivem<br />

Tumorwachstum. Häufig führt die Nekrose des<br />

betroffenen Gewebes zu einer massiven Beeinträchtigung<br />

des Selbstbildes und der Einschränkung<br />

des sozialen Umfeldes der Patienten.<br />

Schwere Komplikationen, wie z. B. chronische<br />

oder akute Blutungen können auftreten [106].<br />

Die Patienten müssen sich häufig mit einer drastischen<br />

Veränderung ihres Selbstbildes auseinandersetzen<br />

und äußerst unangenehmen Wundgeruch<br />

erdulden. Darüber hinaus gehen ihre Mitmenschen<br />

oft dem gewohnten Kontakt aus dem Weg,<br />

oder die Patienten vermeiden das Zusammentreffen<br />

mit Freunden oder Verwandten, so dass exulzerierende<br />

Wunden häufig zu einer weitgehenden<br />

Isolation der Patienten führen.<br />

Bei der Behandlung dieser exulzerierenden Wunden<br />

ist oftmals Kreativität erforderlich. Wenn eine<br />

Wundheilung nicht mehr möglich ist, liegt neben<br />

einer adäquaten Schmerztherapie die oberste<br />

Priorität der Wundversorgung darin, Anblick und<br />

Geruch der Wunde für die Patienten und ihre Mitmenschen<br />

erträglicher zu gestalten. Ein kosmetisch<br />

akzeptabler Verband ermöglicht es den Patienten<br />

häufig, wieder in gewissem Maße am<br />

Sozialleben teilzunehmen.<br />

Mögliche Maßnahmen bei verschiedenen<br />

Wundverhältnissen (nach [65]):<br />

Sezernierende, feuchte, fistelnde Wunden<br />

• stark resorbierendes Verbandmaterial<br />

• nach Möglichkeit Sekret auffangen, nicht verteilen<br />

(Hautmazeration vermeiden)<br />

• Weiche Zinkpaste für Wundränder (Pasta zinci<br />

mollis)<br />

• Panthenolsalbe für umgebende Haut<br />

• evtl. Schutz der Umgebung durch Hautschutzplatten<br />

Nekrotische Wunden<br />

• trockene Verbände<br />

Infizierte Wunden mit Geruchsbelästigung<br />

1. Reinigung der Wundfläche<br />

• Spülen der Wunde mit NaCl 0,9%<br />

• ggf. Baden oder Duschen<br />

2. Behandlung der Infektion und der Geruchsbelästigung<br />

• Lokales Spülen oder Besprühen der Wundfläche<br />

mit Antibiotikalösung (z. B. Metronidazol)<br />

ohne zeitliche Begrenzung<br />

• ggf. systemische Therapie mit Metronidazol<br />

ohne zeitliche Begrenzung (z. B. 2 x 0,4 g/d)<br />

• Kohlepulver in saugfähige Kompressen füllen<br />

(binden Geruch und Flüssigkeit), die mit Kohle<br />

präparierte Kompresse auf die Wundgaze<br />

legen. Ggf. Verschluss mit Kolostomiebeutel<br />

• Alternativ oder bei hartnäckiger Geruchsbelästigung<br />

zusätzlich 2%ige Chlorophyllösung lokal<br />

oder p.o. (3 x 1-2 Drg.) oder auch Chlorophyll-<br />

Salbe zur Geruchsreduzierung nach Säuberung<br />

der Wunde messerrückendick auftragen<br />

• ggf. zusätzliche Saugkompresse auflegen<br />

• ggf. Kräuterduftkissen auf den Verband legen<br />

• Verbesserung der Raumluft durch Duftlampe<br />

(herbe, frische Düfte, keine süßen, schweren<br />

Düfte), häufiges Lüften oder Einsatz von<br />

Geruchsbindern (z. B. Kaffepulver, Zitronenscheiben<br />

auslegen)<br />

40


Seite 44 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Nr. 2 / 2008<br />

Wunden und Blutungen<br />

Infizierte Wunden mit Geruchsbelästigung<br />

(Fortsetzung)<br />

Akute Blutungen<br />

3. Abdecken der Wunde<br />

• Auflegen wirkstofffreier Wundgaze (z. B.<br />

Oleotüll, um ein Verkleben der Wunde mit<br />

dem Verbandmaterial zu vermeiden.<br />

• Wundränder mit weicher Zinkpaste bestreichen.<br />

• Haushaltsfrischhaltefolie über die Saugkompresse<br />

spannen und die Enden der Frischhaltefolie<br />

auf die Zinkpaste platzieren (Abdichtung).<br />

• Über Frischhaltefolie kleine Einmalunterlagen<br />

mit Netzpflaster fixieren.<br />

Blutende Wunden<br />

• Ablösen des Verbandes durch Auflegen von<br />

NaCl 0,9% oder in Salbeitee getränkten Kompressen.<br />

Auch schwarzer Tee, Eichenrinde<br />

(Tannin, z. B. Tannolact), Gerbstoffe sind<br />

blutstillend. Abreißen angetrockneter Verbände<br />

kann Wunden aufreißen. Keine Verwendung<br />

von Wasserstoffperoxid!<br />

• Komprimieren der blutenden Wunde (wenn<br />

möglich).<br />

• 1 Ampulle Adrenalin 1:1000 auf 10-20 ml<br />

isotone Kochsalzlösung verdünnen. Unmittelbar<br />

auf blutende Stelle träufeln und/oder mit einer<br />

mit der Lösung befeuchteten Kompresse<br />

komprimieren bzw. tamponieren.<br />

• Bei gefäßnahen Wunden und drohender Gefäßruptur<br />

Notfallmedikation (Sedativa etc. s. u.)<br />

und Kurzarztbrief/Patientenverfügung im Patientenzimmer<br />

deponieren.<br />

Akute Blutungen<br />

Bei drohenden akuten Blutungen, die zur Erstickung<br />

führen, sollte der Patient am Bett immer<br />

Flunitrazepam und Morphin in ausreichender<br />

Dosierung bereit gestellt bekommen (Anwendung<br />

durch Patienten selbst oder durch seine Angehörigen<br />

möglich).<br />

Hinweis: Der Leitliniengruppe sind keine Studien<br />

bekannt, die die Überlegenheit der Fertigprodukte<br />

gegenüber der adäquaten konventionellen Wundversorgung<br />

belegen. Das Vorgehen sollte mit den<br />

Pflegediensten, Wundmanagern und pflegenden<br />

Angehörigen abgesprochen werden. Der Einsatz<br />

von Fertigprodukten sollte Einzelfällen vorbehalten<br />

bleiben.<br />

Emotionen der Angehörigen und Pflegenden<br />

Angehörige und Pflegende sehen sich häufig mit<br />

eigenen Gefühlen wie Ekel und Abscheu beim Anblick<br />

und Riechen der Wunden konfrontiert. So<br />

geraten sie in den Konflikt, dem Patienten beistehen<br />

zu wollen (oder zu müssen), aber den<br />

intensiven Wunsch zu erleben, dieser Situation<br />

entgehen zu wollen. Wichtig im Umgang mit Patienten,<br />

die unter exulzerierenden Wunden leiden,<br />

ist es, eigene negative (»unerwünschte«) Gefühle<br />

(z. B. Ekel, Angst, Hilflosigkeit usw.) wahrzunehmen,<br />

sie zu akzeptieren und sich darüber auszutauschen<br />

[5].<br />

Bei chronischen Blutungen: Versuch, die Blutungsneigung<br />

durch die Gabe von Tranexamsäure (z. B.<br />

Cyklocapron 2-3 x 500 mg) zu verringern.<br />

41


Nr. 2 / 2008<br />

<strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Seite 45<br />

Palliative Therapie in der Terminal-/Finalphase<br />

Terminalphase<br />

Finalphase = Sterbephase<br />

Terminalphase<br />

Wochen bis Monate<br />

Final- oder Sterbephase<br />

Möglicher Eintritt des Todes<br />

innerhalb von Tagen<br />

Definition der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin<br />

• Wenn eine progrediente Erkrankung deutlich die Aktivität des<br />

Betroffenen beeinträchtigt, wird von Terminalphase gesprochen. Mit<br />

einem raschen Wechsel der Symptome ist zu rechnen, eine engmaschige<br />

Betreuung und vermehrte Unterstützung der jetzt noch<br />

stärker geforderten Angehörigen ist nötig. Meist zieht sich die<br />

Terminalphase über Wochen bis Monate hin, bevor sie in die Sterbephase<br />

mündet.<br />

• Die Sterbephase umfasst die letzten Stunden (selten Tage) des<br />

Lebens. Ziel der Betreuung ist es jetzt, einen friedlichen Übergang zu<br />

ermöglichen und die Angehörigen zu stützen.<br />

Hausärztliche Betreuung in der Finalphase<br />

• Ein Ziel der palliativmedizinischen Behandlung<br />

ist es, die physische, psychische und soziale<br />

Situation der Patienten so zu erhalten, dass ein<br />

Sterben zu Hause möglich ist. Sterben zu<br />

diagnostizieren ist schwer.<br />

Mögliche klinische Zeichen<br />

• Erschwertes Schlucken,<br />

• Störung der Atmung (Cheyne-Stokes-Atmung,<br />

»Röcheln«, Todesrasseln),<br />

• Arrhythmien,<br />

• Blutdruckabfall bis zur Pulslosigkeit,<br />

• Anurie,<br />

• Atonie von Blase und Darm,<br />

• Erlöschen des Muskeltonus und der<br />

Nervenreflexe,<br />

• Bewusstseinsstörung,<br />

• zunehmende »Facies hippocratica«: fahlgraue<br />

Haut, kalter Schweiß auf der Stirn, spitze und<br />

blasse kühle Nase, zurückfallendes Kinn.<br />

62


Seite 46 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Nr. 2 / 2008<br />

Palliative Therapie in der Finalphase<br />

Sterbebegleitung<br />

Die Finalphase ist eine dynamische Situation, in<br />

der neue Symptome auftreten und bestehende<br />

Symptome verstärkt oder vermindert sein können.<br />

Dies macht häufig eine Anpassung der Medikation<br />

notwendig. Alle nicht benötigten Medikamente<br />

sollten abgesetzt und neu auftretende, belastende<br />

Symptome behandelt werden (s. Tab.):<br />

Arzneimittel Fortführen/Dosisanpassung Absetzen evtl. hinzufügen<br />

Opioide<br />

Nicht-Opioide<br />

Antiemetika<br />

Laxanzien<br />

Kortikoide<br />

Antidepressiva<br />

Benzodiazepine<br />

Neuroleptika<br />

anderes Dauermedikament<br />

X<br />

X<br />

X<br />

X<br />

X<br />

X<br />

X<br />

X<br />

X<br />

Die subkutane oder intravenöse Gabe gilt dann als<br />

Applikationsart der Wahl, wenn die orale Aufnahme<br />

nicht möglich ist. Intramuskuläre Gabe ist möglichst<br />

zu vermeiden (Reduktion der Muskelmasse<br />

bei Kachexie, Infektionsgefahr, Blutungen).<br />

Schmerzen können in der Finalphase zu-, aber<br />

nicht selten auch abnehmen, somit ist die Dosierung<br />

an die jeweilige Situation anzupassen. Eine<br />

starke Zunahme der Müdigkeit (bis hin zur Somnolenz)<br />

kann nicht selten dadurch bedingt sein,<br />

dass die Vortherapie nicht angepasst wurde.<br />

Die wichtigsten subkutan applizierbaren Medikamente<br />

sind in der folgenden Tabelle (s. u.) mit<br />

möglichen Indikationen zusammengefasst.<br />

Subkutane Medikation (mod. nach Bausewein, 2005 [14])<br />

Medikament Einzeldosis Indikationen Bemerkungen<br />

Morphin 1 2,5-10 mg Schmerzen, Luftnot<br />

Scopolamin 0,2-0,4 mg Schmerzen, Rasseln alternativ: Butylscopolamin<br />

Midazolam 2,5-10 mg Angst, terminale Agitiertheit,<br />

Epileptische Anfälle<br />

s.c. Gabe möglich, aber nicht zugelassen;<br />

alternativ: Diazepam Trpf. bzw. Supp.<br />

Metoclopramid 10 mg Übelkeit, Erbrechen s.c. Gabe möglich, aber nicht zugelassen<br />

Haloperidol 0,5-10 mg Unruhe, Delirium, Übelkeit s.c. Gabe möglich, aber nicht zugelassen<br />

1<br />

bei Patienten, die bereits längerfristig mit hohen Opioiddosen<br />

behandelt wurden, gegebenenfalls deutlich mehr<br />

(s. o. »Bedarfsmedikation«).<br />

63


Nr. 2 / 2008<br />

<strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Seite 47<br />

Palliative Therapie in der Finalphase<br />

Todesrasseln<br />

Flüssigkeitsgabe<br />

Terminale Agitation<br />

Todesrasseln<br />

Ein häufiges Symptom (60-90%) in der Sterbephase<br />

ist das »tracheale Rasseln« (auch »Todesrasseln«<br />

oder »death rattle«). Aufgrund zunehmender<br />

Schwäche sammelt sich Sekret in den<br />

großen Luftwegen und im Glottisbereich und führt<br />

zu einer lautstarken Atmung [1].<br />

Während die Patienten dieses wahrscheinlich nicht<br />

wahrnehmen und keine Luftnot empfinden, kann<br />

das Geräusch für Angehörige, aber auch für Pflegende/Ärzte<br />

belastend sein.<br />

Die wichtigste Maßnahme ist die Aufklärung der<br />

Angehörigen und/oder des Pflegepersonals<br />

über das Symptom. Es ist nicht sinnvoll, den<br />

Schleim abzusaugen. Dies ist für den Patienten<br />

belastender als das Symptom selbst, insbesondere<br />

vor dem Hintergrund, dass es meist schon nach<br />

kurzer Zeit zum Wiederauftreten der Symptomatik<br />

kommt. Bei langanhaltendem Todesrasseln kann<br />

versuchsweise eine 30°Kopf-tief-Lagerung oder<br />

Seitenlagerung vorgenommen werden. Ggf. kann<br />

ein Scopolaminpflaster (Praxistipp: Scopolamin-<br />

Augentropfen oral: 3 x 3 Tropfen s.l. auf die Mundschleimhaut<br />

bzw. 3 x 0,5 mg/d) verabreicht werden.<br />

Flüssigkeitsgabe<br />

Häufig tauchen in der Finalphase Fragen nach<br />

parenteraler Flüssigkeitsgabe auf. Die Bundesärztekammer<br />

hat hierzu in ihren Richtlinien zur<br />

ärztlichen Sterbebegleitung im Jahre 2004 festgehalten,<br />

dass zur Basisbetreuung nicht immer<br />

Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr gehören, da sie<br />

für Sterbende eine schwere Belastung darstellen<br />

können. Jedoch müssen Hunger und Durst als<br />

subjektive Empfindungen gestillt werden [23].<br />

Durst ist häufig nicht vom Hydratationszustand des<br />

Patienten abhängig [41]. Zumeist kann das Durstgefühl<br />

durch eine gute Mundpflege deutlich gelindert<br />

werden. Selten ist eine parenterale Flüssigkeitsgabe<br />

sinnvoll (s. Abschnitt Mundtrockenheit).<br />

Dies mit den Familienangehörigen offen und<br />

ehrlich zu besprechen ist wichtig, da sie häufig<br />

Ängste haben, ihr Angehöriger würde verdursten.<br />

Agitation/delirante Symptome in der Terminalphase<br />

Hierunter versteht man gesteigerte motorische Unruhe<br />

und mentale Beeinträchtigung in der Sterbephase<br />

(1 Tag bis wenige Minuten vor dem Tod).<br />

Besonders belastend für Angehörige, aber auch<br />

für das betreuende Team ist die terminale Agitation,<br />

die häufig in der Finalphase auftritt. Ursachen<br />

können u. a. sein:<br />

• Angst, Alleinsein, unerledigte Angelegenheiten<br />

• Körperliche Symptome wie Schmerzen, Luftnot,<br />

Mundtrockenheit oder Harnverhalt<br />

• Opioide, Kortikosteroide, Sedativa, Entzugssymptomatik<br />

• ZNS-Veränderungen<br />

Neben allgemeinen Maßnahmen wie das Schaffen<br />

einer vertrauten Umgebung (z. B. bekannte Musik,<br />

Nachtlicht) und der ursächlichen Behandlung von<br />

Symptomen, bedarf es auch hier der Offenheit<br />

gegenüber den Angehörigen und der Erklärung,<br />

dass Unruhe nicht immer Ausdruck von Leid sein<br />

muss.<br />

64


Seite 48 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Nr. 2 / 2008<br />

Palliative Therapie in der Finalphase<br />

Hilfestellungen<br />

Den Angehörigen sollte vermittelt werden, wie sie<br />

durch eine Aufrechterhaltung eines gewissen<br />

Maßes an Normalität (Einnahme der Mahlzeiten im<br />

Zimmer, Ansehen der gewohnten Fernsehsendungen),<br />

Vertrauen und in einem bestimmten<br />

Maße auch einen Tag-Nacht-Rhythmus vermitteln<br />

können. Zu wissen, dass der Sterbende merkt,<br />

wenn er nicht allein ist, dass er es genießt, Lippen<br />

und Mund befeuchtet und die Kissen gerichtet zu<br />

bekommen, dass er Hautberührungen wahrnimmt,<br />

kann die Hilflosigkeit der Angehörigen vermindern.<br />

Das Wissen, dass sie den Patienten allein durch<br />

ihre körperliche Anwesenheit und kleinste Tätigkeiten<br />

und Gesten unterstützen können, lässt die<br />

Situation für viele Menschen erträglicher werden.<br />

In den letzten Lebensstunden sind die Patienten<br />

häufig nicht mehr in der Lage, die Augen zu öffnen<br />

oder verbal zu kommunizieren. Diese von außen<br />

wahrgenommene Reduktion des Wachheitsgrades<br />

sollte nicht mit Begriffen wie »bewusstlos« oder<br />

»nicht ansprechbar« beschrieben werden. Der<br />

Sterbende kann angesprochen werden. Es ist<br />

davon auszugehen, dass er hört und versteht,<br />

dass er Berührung wahrnimmt und sich mit<br />

seiner Umwelt beschäftigt [73, 90]. Das bedeutet<br />

auch, dass man sich im Umgang mit den Sterbenden<br />

und bei Gesprächen in seiner Gegenwart<br />

vergegenwärtigt, dass der Patient anwesend ist<br />

und ein Recht hat, an Entscheidungen und Beratungen<br />

teilzuhaben. Es kann aber auch in einzelnen<br />

Situationen gerechtfertigt sein, einige Angelegenheiten<br />

außerhalb des Patientenzimmers mit<br />

Angehörigen zu besprechen.<br />

Initialer Wunsch fast aller Patienten ist es, zuhause<br />

zu sterben. Trotzdem ändern Patienten und Angehörige<br />

ihre Meinung mit fortschreitender Krankheitsphase<br />

aus Angst und Unsicherheit. Hier sind<br />

Unterstützung durch ein multidisziplinäres Team<br />

(Palliativpflegekräfte, Hausärzte, Sozialstation,<br />

Seelsorger) mit beruflicher Kompetenz sowie persönliche<br />

Zuwendung und Mitgefühl und ständige<br />

Erreichbarkeit anzubieten, um eine kurzfristige<br />

stationäre Aufnahme des Sterbenden zu vermeiden.<br />

Einige Vorbereitungen können zu verhindern helfen,<br />

dass es noch in der Finalphase zu einer überstürzten<br />

Einweisung des Patienten ins Krankenhaus<br />

kommt (mod. nach Albrecht, 2004 [2]):<br />

• Informationsmappe am Patientenbett: Medikamentenverordnung,<br />

letzte Arztbriefe, Patientenverfügung,<br />

Vollmacht, kurze schriftliche Hinweise<br />

des Hausarztes, falls der ärztliche Notdienst<br />

hinzugezogen wird.<br />

• Ausreichende Bevorratung der Medikamente<br />

(einschließlich Bedarfsmedikation).<br />

• Anleitung der Angehörigen in die Technik der<br />

subkutanen Injektion.<br />

• Falls regional vorhanden Einbindung von<br />

spezialisierter Palliativpflege und eines ambulanten<br />

Hospizdienstes.<br />

• Klare Anweisung mit Telefonnummern, wer im<br />

Falle von Problemen angerufen werden kann.<br />

Durch eine angemessene medizinische Behandlung<br />

und Pflege verläuft die Sterbephase auch bei<br />

Patienten mit fortschreitenden inkurablen Erkrankungen<br />

meistens ruhig und friedlich [110].<br />

65


Nr. 2 / 2008<br />

<strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Seite 49<br />

Spiritualität und Trauer<br />

Spiritualität ist ein vieldeutiger Begriff, der sich<br />

einer klaren Definition entzieht. In einer Annäherung<br />

umfasst er den Wunsch nach Sinn, Transzendenz,<br />

danach, dass es außer dem physikalischen<br />

Sein noch etwas Anderes gibt, das auch<br />

nach dem individuellen Lebensende noch eine<br />

überdauernde Verbindung zum Zurückgelassenen<br />

schafft. Er drückt die Sehnsucht des Menschen<br />

nach Ganzheit und Erfüllung, nach Befreiung und<br />

Heilung aus. Christliche oder von anderen Religionen<br />

geprägte Spiritualität kann eine mögliche von<br />

zahlreichen individuell geprägten Ausdrucksformen<br />

sein [18, 123].<br />

Spirituelles Leid kann sich in physischem Leid<br />

bemerkbar machen und dieses verstärken, so<br />

dass spirituelle Begleitung auch in der ambulanten<br />

Betreuung von großer Bedeutung ist und für Wohlbefinden<br />

sorgen kann [18, 81, 120]. Der Hausarzt<br />

sollte somit spirituelle Bedürfnisse des Patienten<br />

und seiner Angehörigen beachten. Wichtig ist es,<br />

Hinweise, die der Patient oder auch der Angehörige<br />

geben, aufzugreifen. Zeichen, die der Patient<br />

über sich und seine Spiritualität gibt, können sich<br />

beispielsweise in der Zimmergestaltung finden;<br />

aufschlussreich können Bücher, Bilder, Musik oder<br />

Symbole sein und so als Anknüpfungspunkt für ein<br />

entsprechendes Gespräch dienen.<br />

Wichtig ist es, frühzeitig zu klären, inwieweit<br />

Patient und Familie professionellen seelsorgerischen<br />

Beistand wünschen. Aufgabe der Seelsorge<br />

ist es – neben dem gemeinsamen Gebet und der<br />

Spende der christlichen Sakramente – dem Patienten<br />

in seiner Spiritualität zu begegnen und ihn in<br />

seiner ganz persönlichen Lebenssituation und<br />

seelischen Verfassung zu begleiten. Dies geschieht<br />

nicht nur im Gespräch, sondern Begegnung<br />

bedeutet, empathisch mit allen Sinnen existentielle<br />

Situationen wahrzunehmen, darauf angemessen<br />

zu reagieren und »einfach da zu sein«<br />

[123, 126].<br />

Häufigste Themengebiete, die in einer schwedischen<br />

Studie [99] von Patienten in der seelsorgerischen<br />

Begleitung am Lebensende benannt wurden,<br />

waren: Sinnfragen, Tod und Sterben,<br />

Schmerz und Krankheit, zurückbleibende Angehörige.<br />

Es wurden häufiger Fragen, die von generell<br />

existentieller Bedeutung sind, angesprochen<br />

als solche, die explizit religiöser Art sind. Die<br />

seelsorgerische Begleitung kann unterstützen bei<br />

Lebensbilanzierung, Aufdecken und Bewältigung<br />

belastender Schuldgefühle und Gewissensbisse,<br />

Versöhnung mit sich selbst und anderen, der Entdeckung<br />

eigener spiritueller Ressourcen; um eine<br />

»Missionierung« geht es nicht [34]. Seelsorgerische<br />

Begleitung in der Palliativmedizin beschränkt<br />

sich natürlich nicht auf den Patienten,<br />

sondern bezieht die Angehörigen mit ein, die<br />

belastet sein können z. B. durch Trauer, Überforderung<br />

in der Pflege oder Wesensveränderung<br />

des Patienten.<br />

66


Seite 50 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Nr. 2 / 2008<br />

Spiritualität und Trauer<br />

Der Trauerprozess beginnt schon vor dem Tod des<br />

Patienten. Menschen trauern um den Angehörigen,<br />

den sie verlieren, wobei dieser Verlust bei<br />

zunehmender Wesensveränderung wie z. B. bei<br />

dementen Patienten oder Patienten mit Beteiligung<br />

des Gehirns schon zu Lebzeiten stattfindet. Wut,<br />

Ärger, Unverständnis, Sprachlosigkeit können<br />

weitere geäußerte Emotionen und Reaktionen<br />

sein, denen in der Begleitung Platz gegeben<br />

werden sollte [88]. Nach dem Tod ist es wichtig,<br />

den Angehörigen des Verstorbenen Angebote zu<br />

unterbreiten, die den Trauerprozess individuell<br />

unterstützen können. Für viele ist es hilfreich, dass<br />

sie bei – oft auch medizinischen – Fragen, die sich<br />

nach dem Tod ergeben, Möglichkeiten haben mit<br />

den in der Betreuung Beteiligten, wie dem Hausarzt,<br />

Kontakt aufzunehmen. Ein Teil der trauernden<br />

Angehörigen braucht mehr Unterstützung.<br />

Hier können Hinweise auf Trauerangebote (offener<br />

Trauertreff, Trauergruppen oder Einzelbegleitung)<br />

hilfreich sein. Informationen zu entsprechenden<br />

Angeboten sind über die regionalen Hospizgruppen<br />

zu erhalten.<br />

Jede Religion hat ihre eigene Einstellung zu<br />

Krankheit, Sterben und Tod und ggfs. damit<br />

verbundene eigene Rituale. Eine kurze Zusammenstellung<br />

sowie Psalme und Verse/Glaubenssätze<br />

geben S. Roller und C. Scheytt im Leitfaden<br />

Palliativmedizin [9]. Im Folgenden werden für einige<br />

Religionsgemeinschaften ausgewählte Aspekte<br />

zitiert.<br />

Römisch-Katholisch<br />

• Krankensalbung als Stärkung in der Krankheit<br />

ist das spezielle Sakrament für Kranke.<br />

• Liegt ein Kranker im Sterben, sollte ein Priester<br />

oder Krankenhausseelsorger gerufen werden.<br />

• Das Sakrament ist für Sterbende die »Wegzehrung«<br />

in Form einer Krankenkommunion.<br />

• Als Symbol der Auferstehung kann eine Kerze<br />

im Zimmer angezündet werden.<br />

Evangelisch<br />

• Angebot von Krankenabendmahl am Bett.<br />

• Krankensegnung und Krankensalbung in<br />

besonderen Gottesdiensten für Kranke.<br />

• Lesen von Bibeltexten, Kirchenlieder, Gebete.<br />

• Liegt ein Patient im Sterben, ist auf Wunsch der<br />

Pfarrer oder Klinikseelsorger zu benachrichtigen.<br />

Orthodox<br />

• Orthodoxe Patienten wünschen evtl. eine Bibel,<br />

ein Kruzifix oder Gebetbuch. Ikonen werden<br />

von vielen als trostreich empfunden.<br />

• Krankensalbung soll der Gesundung an Leib<br />

und Seele dienen.<br />

• Liegt ein Patient im Sterben, sollte der örtliche<br />

orthodoxe Priester gerufen werden.<br />

• Für den Umgang mit dem Leichnam gelten<br />

keine besonderen Vorschriften.<br />

67


Nr. 2 / 2008<br />

<strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Seite 51<br />

Spiritualität und Trauer<br />

Judentum<br />

• Einem jüdischen Sterbenden kann jeder Christ<br />

auf dem Boden alttestamentarischer Glaubensinhalte<br />

(z. B. Psalmen) beistehen. Kreuze,<br />

Mariengebete oder die Erwähnung Christus<br />

sind unangemessen.<br />

• Beim Krankenbesuch soll sich der Besuch auf<br />

eine Ebene mit dem Kranken geben, d. h. hinsetzen,<br />

denn »die Gnade und Herrlichkeit<br />

Gottes« schwebt über dem Kranken.<br />

• Speisegebote spielen eine große Rolle.<br />

• Dem Sterbenden darf sein Zustand nicht verheimlicht<br />

werden, damit er sich auf den Tod<br />

vorbereiten kann.<br />

• Das Sterbegebet wird von Angehörigen oder<br />

dem Sterbenden beim Herannahen des Todes<br />

gesprochen.<br />

• Der Sterbende soll nicht berührt oder bewegt<br />

werden, um das Lebenslicht nicht frühzeitig<br />

auszulöschen.<br />

• Handlungen nach dem Tod werden von Angehörigen<br />

oder anderen Juden ausgeführt.<br />

Islam<br />

• Leiden und Krankheit gelten als Folge des<br />

nichterfüllten Willen Gottes. Sein Wille ist es,<br />

die Krankheit als Bewährung aus seiner Hand<br />

anzunehmen. Die rituelle Waschung ist gerade<br />

bei Krankheit wichtig.<br />

• Liegt ein Muslim im Sterben, sind unbedingt<br />

Angehörige oder ein islamischer Seelsorger zu<br />

rufen.<br />

• Der Sterbende soll auf die rechte Seite gelegt<br />

werden, das Gesicht nach Mekka gerichtet. Ist<br />

dies nicht möglich, soll er auf den Rücken, die<br />

Füße nach Mekka zeigend, gelegt werden. Der<br />

Oberkörper soll erhöht liegen, damit das Gesicht<br />

nach Mekka zeigt.<br />

• Bei nahem Tod hebt der Sterbende den Finger<br />

und er oder ein Verwandter spricht zum Himmel<br />

zeigend das Glaubensbekenntnis. Ist kein Moslem<br />

in der Nähe, kann auch ein Christ die Hand<br />

des Sterbenden halten, jedoch ohne das Glaubensbekenntnis<br />

zu sprechen.<br />

• Die Handlungen nach dem Tod werden von<br />

Angehörigen oder anderen Muslimen ausgeführt.<br />

Atheisten<br />

Roller und Scheytt unterscheiden verschiedene<br />

Formen des Atheismus. Insgesamt gilt bei Atheisten<br />

zu beachten:<br />

• Die Erfahrung des Sterbens und die Konfrontation<br />

mit dem Tod ist die Bewährungsprobe<br />

des Atheisten. Konsequenter Atheismus stellt<br />

dabei weit höhere Anforderungen als jede<br />

Religion.<br />

• Religiöse Rituale sind nur in Ausnahmefällen<br />

angebracht, z. B. bei einer Öffnung zur Transzendenz<br />

zum Lebensende hin.<br />

• Wenn Angehörige zum Vollzug religiöser Rituale<br />

drängen, ist größte Zurückhaltung angebracht<br />

(Selbstbestimmung des Sterbenden).<br />

• An die Stelle des Rituals tritt menschliche Solidarität.<br />

• In der Trauerfeier werden der Tote und sein<br />

real gelebtes Leben gewürdigt.<br />

68


Seite 52 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Nr. 2 / 2008<br />

Rechtliches<br />

Vorausschauende Willenserklärung/<br />

Patientenverfügung<br />

Vorsorgevollmacht<br />

Die Leitliniengruppe schließt sich in der ethischen<br />

Orientierung den von der Bundesärztekammer verabschiedeten<br />

Grundsätzen zur ärztlichen Sterbebegleitung<br />

an [23]: Ärztliche Aufgabe ist es<br />

»unter Beachtung des Selbstbestimmungsrechts<br />

des Patienten« Leben zu erhalten. In der Palliativmedizin<br />

kann es jedoch zu Situationen kommen, in<br />

denen eine Abwägung für oder gegen lebensverlängernde<br />

Maßnahmen getroffen werden muss.<br />

Da möglicherweise in dieser Situation der Patient<br />

seinen Willen nicht mehr äußern kann, wird<br />

empfohlen, dass Ärzte Patienten auf diese Situation<br />

und die Möglichkeit einer Patientenverfügung<br />

hinweisen. Ist der Patient nicht mehr in der Lage,<br />

seinen Willen zu äußern, ist der Arzt verpflichtet,<br />

sich zu informieren, ob der Patient Dritte ausdrücklich<br />

bevollmächtigt hat, über die weitere Behandlung<br />

zu entscheiden (»Vorsorgevollmacht«)<br />

oder ob eine schriftliche Willenserklärung existiert.<br />

An diese Willenserklärung ist der Arzt gebunden,<br />

sofern sie sich auf die konkrete Behandlungssituation<br />

beziehen (Putz/Roller in Bausewein [107],<br />

s. BÄK [23]).<br />

Patientenverfügung<br />

Schriftliche oder mündliche Willenserklärung eines<br />

entscheidungsfähigen Patienten<br />

• über medizinische Maßnahmen,<br />

• benennt Vertrauensperson,<br />

• entbindet Arzt von der Schweigepflicht.<br />

Der geäußerte Wille gilt, wenn nicht erkennbar ist,<br />

dass der Patient jetzt anders entscheiden würde.<br />

In der Anlage ist ein Beispiel für eine Patientenverfügung<br />

und eine Vorsorgevollmacht abgedruckt<br />

[www.justiz.bayern.de, erhältlich auch über Buchhandel,<br />

Beck-Verlag; 3,90 Euro]. Synonyme für die<br />

vorausschauende Willenserklärung sind: Patientenverfügung,<br />

Patiententestament, Patientenbrief,<br />

Vorausverfügung.<br />

Hinweise zur Patientenverfügung (zit. nach [107])<br />

• Solange der Patient noch zu einer (auch schwachen)<br />

Willensäußerung in der Lage ist, muss er<br />

selbst befragt werden (auch wenn er unter Betreuung<br />

steht oder einen Bevollmächtigten hat).<br />

• Eine Patientenverfügung sollte mit einer Vorsorgevollmacht<br />

oder Betreuungsverfügung<br />

kombiniert werden.<br />

• Der Patient setzt sich bei einer Beschäftigung<br />

mit der Patientenverfügung mit seiner Erkrankung<br />

und dem Sterben auseinander.<br />

• Das Gespräch über eine Patientenverfügung<br />

gibt dem Hausarzt die Möglichkeit, die Vorstellungen<br />

und Wünsche des Patienten kennenzulernen<br />

und ihn zu beraten.<br />

• Es empfiehlt sich eine jährliche Bestätigung<br />

durch Unterschrift (sie gilt jedoch formal zeitlich<br />

unbegrenzt).<br />

Betreuungsverfügung<br />

Mit dieser Verfügung wird eine Person vorgeschlagen,<br />

die für den Fall, dass ein Betreuer als<br />

gesetzlicher Vertreter notwendig wird, bestellt werden<br />

soll; es kann auch angegeben werden, wer auf<br />

keinen Fall als Betreuer eingesetzt werden soll.<br />

Vorsorgevollmacht<br />

Eine oder mehrere Personen werden bevollmächtigt,<br />

den Vollmachtgeber in allen in der Vollmacht<br />

verfügten Bereichen rechtsverbindlich zu<br />

vertreten. Der Bevollmächtige kann Entscheidungen<br />

mit bindender Wirkung treffen. Ein Bevollmächtigter<br />

wird im Gegensatz zu einem Betreuer nicht<br />

vormundschaftlich bestellt. Bei schwerwiegenden<br />

therapeutischen Interventionen (Behandlungsabbruch)<br />

kann die Mitwirkung des Vormundschaftsgerichtes<br />

erforderlich werden. Bankvollmachten<br />

müssen bei den Kreditinstituten eingerichtet werden.<br />

69


Nr. 2 / 2008<br />

<strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Seite 53<br />

Rechtliches<br />

Ärztliche Sterbebegleitung<br />

Passive Sterbehilfe<br />

Indirekte Sterbehilfe<br />

Aktive Sterbehilfe<br />

Palliative Versorgung bedeutet, den Patienten im<br />

Sterben zu begleiten. Liegt der Patient im Sterben,<br />

sollte der Sterbeprozess nicht durch medizinische<br />

Therapie verlängert werden.<br />

In der öffentlichen Diskussion wird im Kontext der<br />

Palliativmedizin der Begriff der Sterbehilfe unterschiedlich<br />

ausgelegt. Im ärztlichen Standesrecht<br />

werden folgende Begriffe unterschieden (zit. nach<br />

[107]).<br />

Ärztliche Sterbebegleitung<br />

Ganzheitliche Betreuung des Sterbenden [69],<br />

Hilfe zum Sterben in Form von Beistand, Trost,<br />

humaner Umgebung, einfühlsamer Betreuung,<br />

Seelsorge und palliativmedizinischer Behandlung<br />

[107].<br />

Passive Sterbehilfe<br />

Behandlungsverzicht bei Sterbenden; Beendigung<br />

von Maßnahmen, die das Sterben verlängern [69].<br />

Wenn kein Patientenwille erkennbar ist, darf nur<br />

unter bestimmten Umständen auf (unzumutbare)<br />

lebensverlängernde Maßnahmen verzichtet werden.<br />

Der Arzt hat so zu handeln, wie es dem<br />

mutmaßlichen Willen des Patienten in der konkreten<br />

Situation entspricht. Dieser Wille muss aus<br />

der Gesamtsituation abgeleitet werden.<br />

Indirekte Sterbehilfe<br />

Hierunter versteht man die unbeabsichtigte Nebenwirkung<br />

einer sinnvollen therapeutischen Maßnahme,<br />

die den Eintritt des Todes beschleunigt [69].<br />

Eine Therapie mit dem Risiko der Lebensverkürzung<br />

ist straffrei, falls sie der adäquaten Symptomkontrolle<br />

des Sterbenden dient [107].<br />

Aktive Sterbehilfe<br />

Hiermit bezeichnet man das absichtliche und<br />

aktive (in der Regel ärztliche) Handeln zur Beschleunigung<br />

des Todeseintrittes auf ausdrücklichen<br />

Wunsch des Patienten [69]. Sie ist rechtswidrig<br />

(§216 StGB) und ein Tatbestand der Tötung.<br />

Beihilfe des Arztes zum Suizid bedeutet bewusstes<br />

Helfen (z. B. Bereitstellen von Medikamenten),<br />

ohne die »letzte Handlung« auszuführen. Beihilfe<br />

zum Suizid durch einen Arzt ist standesrechtlich<br />

verboten.<br />

Versorgung eines Patienten mit der notwendigen<br />

Menge eines Schmerzmittels zur Schmerztherapie<br />

ist keine Beihilfe zum Suizid, auch wenn der<br />

Patient die Schmerzmittel zum Suizid verwendet<br />

[107].<br />

Grenzen des Selbstbestimmungsrechtes<br />

»Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten beinhaltet<br />

nicht, dass er die Rechtsmacht hat, vom<br />

Arzt oder von einem Dritten die Durchführung einer<br />

Behandlung mit dem Ziel der Lebensbeendigung<br />

zu verlangen. Der Wille des Patienten kann den<br />

Arzt nicht legitimieren, die Tötung des Patienten<br />

durchzuführen, sondern er kann lediglich zum<br />

Abbruch oder zur Unterlassung einer Behandlung<br />

auf dem Boden der gesetzlichen Richtlinien zur<br />

passiven Sterbehilfe führen, sofern die Voraussetzungen<br />

dafür erfüllt sind. Bei bewusstlosen oder<br />

sonst entscheidungsunfähigen Patienten sind die<br />

dem in der konkreten Situation ermittelten mutmaßlichen<br />

Willen des Kranken entsprechenden<br />

Behandlungsmaßnahmen durchzuführen« [69].<br />

70


Seite 54 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Nr. 2 / 2008<br />

Dokumentation in der Palliativmedizin<br />

Die Dokumentation der Behandlung und Begleitung<br />

schwerkranker und sterbender Patienten<br />

ist auch in der hausärztlichen Begleitung aus medizinischer,<br />

juristischer sowie ethischer Sicht erforderlich<br />

und muss den spezifischen Anforderungen<br />

der Palliativmedizin gerecht werden. Dies bedeutet<br />

den Fokus weniger auf die üblicherweise dokumentierten<br />

Informationen (u. a. Atemfrequenz, RR,<br />

Puls, Temperatur) als auf palliativmedizinische<br />

Zielparameter zu legen.<br />

Hier kann neben der Freitextdokumentation, die<br />

eine Einbindung auch anderer im Netzwerk beteiligter<br />

Berufsgruppen ermöglicht, eine standardisierte<br />

Erfassung zur Anwendung kommen.<br />

Darüber hinaus gibt es gesetzliche Richtlinien und<br />

Vorgaben für die Dokumentation. Eine vereinheitlichte<br />

Dokumentation in der palliativmedizinischen<br />

Betreuung hat folgende Ziele:<br />

• fortlaufende Qualitätssicherung,<br />

• Verbesserung des Austausches von patientenbezogenen<br />

Informationen beim Wechsel von<br />

einer Versorgungsstruktur zur anderen (Verlegung<br />

von Patienten von der Palliativstation in<br />

den häuslichen Bereich mit ambulanter Palliativpflege<br />

oder in ein stationäres Hospiz).<br />

In Deutschland wurde von einer multidisziplinären<br />

Arbeitsgruppe eine Basisdokumentation (Hospiz<br />

und Palliativ-Evaluation – HOPE) entwickelt [33,<br />

96, 110] und in unterschiedlichen Bereichen erprobt<br />

[76]. HOPE wird seit dem Jahr 2006 von der<br />

Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP)<br />

als Standarddokumentation für Palliativpatienten<br />

empfohlen. Der Bogen soll aus der Sicht des<br />

Betreuerteams (Arzt, Pflegepersonal, und falls<br />

vorhanden Physiotherapeut oder/und Sozialarbeiter)<br />

bei Betreuungsbeginn, im Verlauf und bei<br />

Entlassung als Fremderfassung verwendet werden.<br />

Zusätzlich können neben dem Basisbogen fakultative<br />

Module benutzt werden:<br />

• die Selbsterfassung von Schmerzen, Symptomen<br />

und Allgemeinbefinden im MIDOS [109],<br />

• die Dokumentation von ethischen Entscheidungen,<br />

• die Einschätzung der Prognose,<br />

• der psychoonkologische Basisdokumentationsbogen<br />

PoBado,<br />

• der Palliative Care Outcome Scale (POS) in<br />

den Versionen für die Selbst- und Fremderfassung,<br />

• die Dokumentation der Bundesarbeitsgemeinschaft<br />

Hospiz für Ehrenamtliche Mitarbeiter,<br />

• die Trauerbegleitung,<br />

• die Erfassung der Selbstständigkeit bzw. des<br />

Hilfe- und Pflegebedarfs (Barthel-Index),<br />

• die Befragung von Angehörigen und Mitarbeitern<br />

nach Betreuungsende,<br />

• ein Bogen zur Dokumentation des Aufwandes<br />

(für stationäre Einrichtungen),<br />

• ein persönlicher Bogen zur Dokumentation<br />

wichtiger Adressen für die Betreuung,<br />

• die kontinuierliche Symptomerfassung<br />

(Wochenbogen),<br />

• ein Therapieplan zur Erfassung der therapeutischen<br />

Maßnahmen.<br />

Ein Handbuch, der aktuelle Basisbogen und die<br />

Module können auf der Homepage der DGP<br />

[www.dgpalliativmedizin.de unter dem Bereich<br />

Arbeitsgruppen] heruntergeladen werden.<br />

71


Nr. 2 / 2008<br />

<strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Seite 55<br />

Dokumentation in der Palliativmedizin<br />

HOPE Basisbogen<br />

[www.dgpalliativmedizin.de]<br />

72


Seite 56 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Nr. 2 / 2008<br />

Dokumentation in der Palliativmedizin<br />

HOPE Basisbogen (Fortsetzung)<br />

[www.dgpalliativmedizin.de]<br />

73


Nr. 2 / 2008<br />

<strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Seite 57<br />

Zusammenfassung<br />

Überblick über die zentralen Themen der<br />

Leitlinie<br />

Palliative Versorgung richtet sich an Patienten, die<br />

an einer fortschreitenden Erkrankung mit begrenzter<br />

Lebenserwartung leiden. Ziel ist der Erhalt oder<br />

die Verbesserung der Lebensqualität in der verbleibenden<br />

Lebenszeit. Nicht kurative Maßnahmen,<br />

sondern die Symptomkontrolle und die<br />

psychosoziale und spirituelle Begleitung stehen<br />

im Vordergrund. Der Umgang mit schwerkranken<br />

und sterbenden Patienten ist eine menschliche<br />

und fachliche Herausforderung. Dabei erleben<br />

viele Ärzte gerade das »Aushalten müssen« der<br />

Grenzen des ärztlichen Handelns als belastend.<br />

Dieses sollte unter keinen Umständen dazu führen,<br />

invasive und belastende diagnostische oder<br />

therapeutische Maßnamen durchzuführen, wenn<br />

diese nicht die Lebenssituation und Symptomlast<br />

des Patienten verbessern. Es soll nicht um die<br />

Abwägung gehen zu behandeln oder nicht zu behandeln,<br />

sondern um die Klärung, welche Behandlung<br />

für den Patienten angemessen ist. Ziel sollte<br />

auch sein, die Mehrzahl der Patienten zu Hause<br />

durch die gewohnten Versorgungsstrukturen<br />

(Hausarzt, ambulante Pflege) palliativmedizinisch<br />

zu betreuen. Sollten Probleme persistieren, sind<br />

spezialisierte ambulante oder stationäre (Mit-)Behandlung<br />

der Patienten durch eine Einrichtung mit<br />

besonderer palliativmedizinischer Erfahrung sinnvoll.<br />

Wichtige Bereiche der Symptomkontrolle sind:<br />

• Neurologische/psychiatrische Symptome<br />

wie Schwäche, Fatigue, Unruhe, Angst und<br />

Depression. Neben medikamentösen Maßnahmen<br />

kommt den stützenden und beruhigenden<br />

Gesprächen, dem Schaffen vertrauter Umgebung<br />

besondere Bedeutung zu.<br />

• Respiratorische Symptome wie Husten und<br />

Dyspnoe. Bei letzterer sind die wichtigsten<br />

Stoffgruppen Opioide und Benzodiazepine. In<br />

der Regel besteht in der Palliativmedizin keine<br />

Indikation für eine Sauerstoffgabe.<br />

• Gastrointestinale Symptome (Appetitlosigkeit,<br />

Mundtrockenheit, Dysphagie, Schluckauf, Übelkeit/Erbrechen,<br />

Aszites, Obstipation und Ileus).<br />

Auch für diese Symptomen stehen medikamentöse<br />

und nichtmedikamentöse Maßnahmen zur<br />

Verfügung.<br />

Die Leitlinie geht auf die wichtige Frage der Flüssigkeitstherapie<br />

und künstlichen Ernährung<br />

ein. Hier besteht bei Angehörigen und Pflegepersonal<br />

ein großer Aufklärungsbedarf über Hunger<br />

und Durst in der letzten Lebensphase. Hilfestellungen<br />

bietet die Leitlinie zur Behandlung von<br />

Wunden und Blutungen; ein weiteres zentrales<br />

Thema stellt die Schmerztherapie dar. Neben der<br />

Bedarfsmedikation werden hier Hinweise zur<br />

Behandlung des Durchbruchschmerzes und der<br />

Opioidnebenwirkungen gegeben.<br />

Die Palliativmedizin unterscheidet zwischen einer<br />

Terminalphase, die sich über Wochen bis Monate<br />

erstrecken kann und durch eine zunehmende Beeinträchtigung<br />

des Patienten (z. B. Symptomwechsel)<br />

gekennzeichnet ist, und der Final- oder<br />

Sterbephase (möglicher Eintritt des Todes innerhalb<br />

von Stunden/Tagen). Um in der Finalphase<br />

Einweisungen ins Krankenhaus zu vermeiden,<br />

sollte für evtl. hinzugezogene Notärzte eine Informationsmappe<br />

beim Patienten vorhanden sein<br />

u. a. mit Hinweisen zur Medikation, Arztbrief,<br />

Patientenverfügung, Vollmacht, Telefonnummern.<br />

Wichtig ist die Aufklärung der Angehörigen: Das<br />

Absaugen des Sekrets (beim Todesrasseln) ist<br />

nicht sinnvoll und belastet nur den Patienten, eine<br />

künstliche Ernährung ist in dieser Situation nicht<br />

erforderlich und die terminale Unruhe muss nicht<br />

Ausdruck von Leid sein. Die Angehörigen sollten<br />

ermutigt werden, bei dem Sterbenden zu bleiben.<br />

74


Seite 58 <strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Nr. 2 / 2008<br />

Anhang: Information für Angehörige<br />

Sterbebegleitung durch Angehörige: Häufig gestellte Fragen<br />

Wie sollen die Raumbedingungen/Rahmenbedingungen<br />

sein?<br />

Sprechen Sie möglichst in normaler Lautstärke,<br />

zumindest solange der Patient nicht darüber klagt;<br />

spielen Sie beruhigende Musik.<br />

Soll der Raum eher hell ausgeleuchtet oder<br />

abgedunkelt gehalten werden?<br />

Der Wunsch des Patienten nach »mehr Licht«<br />

kann ein Ausdruck für Angst sein. Sorgen Sie für<br />

blendfreies Licht.<br />

Dürfen die Fenster oder Türen geöffnet sein?<br />

Vor kalter Zugluft gilt es den Patienten zu schützen!<br />

Das Öffnen von Fenstern oder Türen oder der<br />

Einsatz eines Ventilators wird von Patienten häufig<br />

als angenehm empfunden.<br />

Was hilft bei Unruhe des Patienten?<br />

Versuchen Sie herauszufinden, ob evtl. Schmerzen<br />

bestehen bzw. ob eine ausreichende<br />

Schmerzlinderung vorgenommen wurde; ggf. großzügige<br />

Zusatzmedikation! Halten Sie die Hand des<br />

Sterbenden und/oder sprechen Sie beruhigend auf<br />

ihn ein.<br />

Kann der Patient verdursten?<br />

Fragen Sie den Patienten, ob er Durst hat. Falls ja,<br />

bieten Sie ihm Flüssigkeit an. Häufig ist aber nur<br />

der Mund trocken. Hier ist vorrangig eine entsprechende<br />

Mundpflege angezeigt, z. B. mit Wattetupfer<br />

Butter auf die Mundschleimhaut auftragen,<br />

Eisstückchen lutschen lassen, z. B. gefrorene<br />

Säfte, Fruchtstücke wie Ananas. Mit einem Wattestäbchen<br />

(Tee, Eiswasser, nicht Glycerin, da<br />

subjektiv unangenehm) oder mit einem angefeuchteten<br />

Baumwollhandschuh die Wangentaschen<br />

auswischen, Lippen eincremen.<br />

Verhungert der Patient?<br />

Für einen Sterbenden ist die Nahrungsaufnahme<br />

unbedeutend, er leidet nicht unter Hungergefühl!<br />

Was tun, wenn der Patient nicht mehr die Medikamente<br />

schluckt?<br />

Diese Situation sollte man mit dem Hausarzt<br />

besprechen. Meist kann auf die orale Multimedikation<br />

verzichtet werden.<br />

Beim Diabetiker: Wie häufig soll der Blutdruck<br />

oder Blutzucker gemessen und wie die blutzuckersenkende<br />

Medikation angepasst werden?<br />

Es macht keinen Sinn, bei Sterbenden eine häufige<br />

Blutdruck- oder Blutzuckermessung durchzuführen<br />

mit dem Ziel, Blutdruck und Blutzucker<br />

optimal einzustellen. Die antihypertensive Medikation<br />

oder Insulingabe können häufig reduziert<br />

oder sogar abgesetzt werden.<br />

Woher kommt das Röcheln, was muss getan<br />

werden?<br />

Es sammelt sich bei zunehmender Schwäche des<br />

Patienten Schleim am Kehlkopf oder in den oberen<br />

Atemwegen. Ein Absaugen erscheint meist nicht<br />

sinnvoll und ist für den Patienten belastender als<br />

das Symptom selbst, insbesondere auch vor dem<br />

Hintergrund, dass die Symptome schon nach kurzer<br />

Zeit wieder zurückkehren. In der Regel leidet<br />

der Patient nicht unter Atemnot und es bedarf weder<br />

einer Absaugung noch eines Aktionismus<br />

durch Medikamentengabe oder Lagerungsversuche.<br />

Allerdings darf offensichtlicher Schleim im<br />

Mund mit Watteträgern vorsichtig entfernt werden.<br />

Wie umfassend muss die Pflege/das Windelwechseln/Umbetten<br />

eines Sterbenden sein?<br />

Leitgedanke sollte sein, dem Patienten Leid zu<br />

ersparen. Deswegen sollte man die Körperpflege<br />

nicht erzwingen und auf ein angemessenes Maß<br />

beschränken.<br />

Kann der Patient das Umfeld noch verstehen?<br />

Es muss davon ausgegangen werden, dass auch<br />

ein anscheinend teilnahmsloser Patient Ereignisse<br />

und Gespräche, insbesondere wenn sie sich an<br />

den Patienten richten, noch versteht, dass er Berührungen<br />

wahrnimmt und sich mit seiner Umwelt<br />

beschäftigt.<br />

Der sterbende Patient will nicht alleingelassen<br />

werden!<br />

82 /83


<strong>KV</strong>H • aktuell<br />

Seite 3<br />

Tischversion Alter, Teil 1 von 2<br />

Wichtigste Risikofaktoren für UAWs im Alter<br />

• Eingeschränkte Nierenfunktion<br />

• Gebrechlichkeit: Physiologische Kompensationsmöglichkeiten<br />

sind erschöpft<br />

• Niedriges Körpergewicht<br />

• Multimorbidität und Multimedikation. Multimedikation<br />

erhöht Interaktionsgefahr!<br />

Häufige Medikamenteninduzierte Krankheitsbilder<br />

• Anticholinerges Syndrom wie Mundtrockenheit,<br />

Mydriasis, Obstipation, Harnverhaltung, Tachykardie,<br />

Unruhe, Verwirrtheit, Delirium, Krampfanfälle<br />

durch anticholinerg wirkende Medikamente z. B.<br />

Amitriptyllin, Doxepin, Haloperidol. Promethazin,<br />

Diphenhydramin, Biperiden<br />

• Verwirrtheitszustände, z. B. durch Morphin, Antidepressiva,<br />

Neuroleptika, Antiparkinsonmittel,<br />

Theophyllin<br />

• Orthostatische Dysregulation, Blutdruckabfall,<br />

Schwindel und Synkopen durch Digitalisglykoside,<br />

Antihypertensiva, Diuretika<br />

• Erhöhte Sturzgefahr: z. B. durch langwirkende<br />

Benzodiazepine (Sedierung/Standunsicherheit),<br />

Neuroleptika, Antidpressiva (Parkinson-Syxndrom)<br />

Insulin, Sulfonylharnstoffe (Hypoglykämie),<br />

Antihypertensiva, Nitrate (Hypotonie),<br />

Miotika (Störung des Sehvermögens)<br />

Verlaufskontrollen<br />

Besonders bei Therapieumstellung während und nach<br />

Krankenhausbehandlung, aber auch bei Mitbehandlung<br />

durch Spezialisten sind Verlaufskontrollen nach 4<br />

bis 5 (der im Alter meist verlängerten) Halbwertszeiten<br />

(HWZ) und nachfolgend weitmaschiger unerlässlich.<br />

Falls erforderlich, sind Blutspiegelbestimmungen erst<br />

nach Erreichen des steady-state nach 5 HWZ durchzuführen.<br />

Zur Förderung von Compliance (Adhärenz) helfen<br />

• Ausführliche, patientengerechte Aufklärung (ggf.<br />

auch einer Bezugsperson) über die Notwendigkeit<br />

und den beabsichtigten Effekt des Pharmakons.<br />

• Einfache, verständliche Medikamenten-Einnahmepläne<br />

mit altersgerechten Einnahmezeiten.<br />

• Hilfsmittel (z. B. Dosett) für das Bereitstellen der<br />

Tages- oder Wochenmedikation, Einnahmepläne.<br />

• Einmaldosierungen (statt mehrmals täglich)<br />

• Patientengerechte Darreichungsform / Verpackung.<br />

Fazit<br />

Die Häufigkeit unerwünschter Arzneimittelwirkungen<br />

im Alter korrespondiert mit der Zahl gleichzeitig verordneter<br />

Medikamente. Bei jeder Polypharmakotherapie<br />

erfolgt eine Orientierung an der Wirkung der einzelnen<br />

Stoffe, die stets langsam und mit niedriger Dosis aufdosiert<br />

und ausreichend lange nachbeobachtet werden<br />

sollten: »Start low and go slow«<br />

• Pharmakotherapie auf das Notwendige beschränken,<br />

• Teilbarkeit der Tabletten beachten (wichtig bei Rabattverträgen,<br />

ggf. »aut idem« und/oder Dosierungsangaben<br />

auf das Rezept),<br />

• Verordnungsabstände und zeitgerechter Medikamentenverbrauch<br />

sollten stets überwacht werden,<br />

• Therapieänderungen sollten langsam erfolgen.<br />

Zusammenfassende Grundsätze<br />

• In der Regel nicht Symptome, sondern führende<br />

Grundleiden therapieren.<br />

• Normales Altern und Neuerkrankungen im Alter<br />

müssen unterschieden und dem Patienten vermittelt<br />

werden.<br />

• Ein Symptom ist oftmals eine Nebenwirkung der<br />

Pharmakotherapie.<br />

• Klären, ob eine Pharmakotherapie überhaupt erforderlich<br />

und erfolgversprechend ist.<br />

• Keine Therapie ohne Medikamenten-Anamnese<br />

(nach früheren Unverträglichkeiten, Selbstmedikation<br />

und Mitbehandler-Medikationen fragen).<br />

• Bei Akutbehandlungen, z. B. mit Antibiotika, NSAR,<br />

Diuretika, Theophyllin usw., potentielle Interaktionen<br />

mit Dauertherapie berücksichtigen.<br />

• Medikamente im Alter immer nach Wirkung individuell<br />

und niedrig dosieren, keine schematische<br />

Therapie anwenden.<br />

• Absetzen der Pharmakotherapie, wenn sie nicht<br />

mehr nötig ist, keine gewohnheitsmäßigen Dauertherapien<br />

durchführen.<br />

• Compliance (Adhärenz) des Patienten, seine geistigen<br />

und körperlichen Möglichkeiten sowie seine<br />

Lebensumstände überprüfen. Einfache Einnahmepläne<br />

erstellen, wenn möglich Einmalgaben, möglichst<br />

keine Tablettenteilung und nicht zu viele<br />

unterschiedliche Einnahmezeitpunkte (einfaches<br />

Therapieregime).<br />

Korrespondenzadresse<br />

Ausführliche Leitlinie im Internet<br />

Hausärztliche Leitlinie<br />

<br />

PMV forschungsgruppe<br />

Fax: 0221-478-6766<br />

Email: pmv@uk-koeln.de<br />

http:\\www.pmvforschungsgruppe.de<br />

www.pmvforschungsgruppe.de<br />

> publikationen > leitlinien<br />

www.leitlinien.de/leitlinienanbieter/deutsch/pdf/<br />

hessenalter<br />

»Alter - Pharmakotherapie im<br />

Alter «<br />

Tischversion 1.0 April 2008


info.doc Verlag GbR, Pfingstbornstr. 38, 65207 Wiesbaden<br />

PVSt Deutsche Post AG, Entgelt bezahlt, 68689<br />

Tischversion Fettstoffwechselstörung -<br />

Dyslipidämie<br />

Tischversion Alter, Teil 1 von 2<br />

Epidemiologische Studien zeigen einen Zusammenhang<br />

zwischen dem Auftreten von Herz-Kreislauferkrankungen<br />

und hohen Serumcholesterinwerten. Diese bzw. die Höhe<br />

der Im Alter HDL- gilt und für LDL-Werte eine Pharmakotherapie: stellen jedoch nur WENIGER einen von IST<br />

mehreren MEHR! Sofern Risikofaktoren möglich, dar. sollten Deshalb nicht empfiehlt mehr als sich drei für<br />

den Arzneistoffe Hausarzt bei verordnet Vorliegen werden. einer Dyslipidämie Dies ist die eine Einteilung Idealin<br />

oder eine Zielvorstellung, Risikogruppe anhand die nicht von immer systematischen erreichbar Algorythmen<br />

wird. oder Scores (NCEP, PROCAM). Somit erfolgt eine<br />

sein<br />

Abschätzung des Risikos für kardiovaskuläre Ereignisse<br />

(10-Jahresrisiko) Im Laufe des und Lebens darauf verändern die Festlegung sich die der entscheidenden<br />

pharmakologischen mit dem Patienten. Parameter Für die Risikoeinstufung<br />

interindividuell<br />

Behandlungsstrategie<br />

orientiert sehr unterschiedlich. sich die Leitliniengruppe Die Dosierungen Hessen an der der folgenden Arzneimittel<br />

sind der im NCEP Alter (National anzupassen Cholesterol oder (meist) Education zu<br />

Einteilung<br />

Program reduzieren: des National Heart, Lung, and Blood Institute,<br />

http://www.nhlbi.nih.gov/guidelines/cholesterol/index.htm):<br />

1. Die Resorption von Medikamenten verschlechtert<br />

sich im Alter für viele Stoffe.<br />

1. Hohes Risiko (10-Jahresrisiko über 20%): a) Bestehende<br />

koronare 2. Elektrolytverschiebungen Herzkrankheit (KHK), b) KHK-Äquivalente, (z. B. Laxantienabusus, c)<br />

Diabetes Fehlernährung, mellitus, d) 2 Exsikkose) oder mehr Risikofaktoren**:<br />

können die Wirksamkeit<br />

2. Mäßig wasserlöslicher hohes Risiko Medikamente (10-Jahresrisiko behindern. 10-20%): 2 Risikofaktoren*<br />

3. Veränderungen bei errechnetem der Risiko**. Verteilungsräume:<br />

3. Moderates Risiko (10-Jahresrisiko < 10%): 2 Risikoaktoren*<br />

bei errechnetem Risiko**.<br />

a) Reduktion des Gesamtkörperwassers von 42%<br />

auf 33% des Körpergewichts (KG) sowie der Extrazellularflüssigkeit,<br />

d. h. niedrigeres Verteilungsvolu-<br />

4. Niedriges Risiko: 0-1 Risikofaktor*<br />

*Risikofaktoren: Zigaretten rauchen, Hypertonie, niedriges<br />

men hydrophiler Arzneimittel wie ACE-Hemmer,<br />

HDL-Cholesterin unter 40mg/dl, familiäre Belastung mit<br />

vorzeitiger<br />

Digoxin,<br />

KHK,<br />

Lorazepam,<br />

Alter (Männer<br />

Metronidazol,<br />

über 45 Jahre,<br />

L-Thyroxin.<br />

Frauen über<br />

Es<br />

55 Jahre); droht u. **errechnetes U. Kumulation Risiko: verstärkt Bsp. durch: mit PROCAM Score<br />

(s. Rückseite) • sinkendes oder Durstgefühl elektronischem im NCEP-Risikokalkulator<br />

Alter trotz Flüssigkeitsmangel<br />

Diabetiker (sog. »Altersexsikkose«)<br />

ohne KHK oder KHK-Äquivalente<br />

Anmerkung:<br />

und • ohne Abnahme zusätzliche der Nierenleistung<br />

Risikofaktoren profitieren bei einem<br />

LDL20%) vermindert. und Anstreben Nach eines der Formel LDL von von 100 Cockcroft mg/dl.<br />

die GFR um<br />

• Medikamentöse und Gault kann Therapie die bei Nierenclearance Patienten der Gruppe (C kreat 2 ) in<br />

und ml/min 3 nach ausreichend individueller genau Entscheidung errechnet unter werden: Berücksichtigung<br />

der Lipidwerte (140 und - Alter) nach x Gewicht Erprobung (kg) lebensstiländernder<br />

Maßnahmen. 72 x Serumkreatinin (mg/dl)<br />

Männer: C kreat =<br />

• Für Patienten der Risikogruppe (140 - Alter) 4 x (0-1 Gewicht Risikofaktor) (kg) sind<br />

lebensstilmodifizierende<br />

Frauen: C kreat =<br />

85 x Maßnahmen Serumkreatinin im Allgemeinen<br />

(mg/dl)<br />

ausreichend.<br />

Renal ausgeschiedene Wirkstoffe müssen im Alter<br />

Je nach niedriger Risikogruppe dosiert wird werden, ein LDL z. von B. 100 Ampicillin, mg/dL (Gruppe Benzylpenicillin,<br />

mg/dL (Gruppe Captopril, 2+3) Cefotaxim, bzw. 160 mg/dL Cefuroxim, (Gruppe Digoxin, 4)<br />

1), 130<br />

angestrebt. Metronidazol, Tetracyclin, Theophyllin, Triamteren.<br />

Arzneimittelauswahl: 5. Leberdurchblutung Es (40%) sollten und Wirkstoffe Lebergröße eingesetzt nehmen<br />

für ab, die Endpunktstudien die metabolische mit günstiger Kapazität NNT und ist NNH ver-<br />

werden,<br />

vorliegen schlechtert. (Simvastatin, Die Pravastatin). Initial- und Für Erhaltungsdosen Simvastatin (20 vornehmlich<br />

40 mg) und hepatisch Pravastatin eliminierter (40 mg) ist Stoffe eine Senkung müssen sowohl ange-<br />

mg<br />

und<br />

der messen Gesamtmortalität reduziert als oder auch ggf der erhöht kardiovaskulären werden (z. B. Mortalität<br />

Drugs). belegt. Bei Dosisreduktion Multimorbidität und z. B. Multimedikation bei Antiarrhythmika, sollte die<br />

Pro-<br />

Indikation Sartane, für ß-Blocker, eine medikamentöse Ca-blocker, lipidsenkende Statine, Neuroleptika,<br />

Antidepressiva, streng gestellt werden. Antiepileptika, NSAR, Benzo-<br />

Therapie<br />

besonders<br />

Merke: diazepin, Antidiabetika, PPI, Makrolid-Antibiotika.<br />

• Bei medikamentöser Therapie: CK kontrollieren!<br />

6. Interaktion und Enzyminduktion, z. B. Verdrängung<br />

aus<br />

(Rhabdomyolyse möglich!)<br />

• Keine Kombinationstherapie<br />

Eiweißbindung<br />

CSE-Hemmer<br />

(Phenprocoumon/NSAR).<br />

+ Fibrate/<br />

Makrolide/Azol-Antimykotika.<br />

Körpereigene (z. B. endogene Steroide, Östrogene),<br />

• Wechselwirkungen körperfremde Stoffe auch (Nahrungsmittel, anderen Medikamenten z. B. Grapefruit,<br />

Johanniskraut) und Medikamente können das<br />

möglich!<br />

• Bei Enzymsystem Makrolidtherapie der CSE-Hemmer P-450-Zytochrome pausieren! bei der Verstoffwechselung<br />

vor chirurgischen hemmen Eingriffen oder und induzieren bei akut auftre-<br />

und den<br />

• Statine<br />

tenden Medikamenten-Wirkspiegel schweren Erkrankungen dadurch vorübergehend verändern. absetzen!<br />

Auf Compliance achten, auf abendliche Einnahme<br />

des CSE-Hemmers hinweisen.<br />

7. Veränderung der Pharmakodynamik: Empfindlichkeitssteigerung<br />

oder paradoxe Wirkung im Alter<br />

• Evidenzbasierte Patienteninformationen sind unter<br />

für zentral wirksame Stoffe (Barbiturate, Benzodiazepine,<br />

Chlorpromazin) erfordern eine Dosisreduk-<br />

www.gesundheitsinformation.de abrufbar.<br />

tion um bis zu 50%.

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