BRENNPUNKT ARZNEI - KVHH
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<strong>BRENNPUNKT</strong> <strong>ARZNEI</strong><br />
Jhrg. 18, Nr. 2 – Juni 2013<br />
Pharmakotherapie<br />
Rationale und rationelle Pharmakotherapie in der Praxis<br />
Neue Medikamente als Praxisbesonderheiten eingestuft<br />
Kein Freibrief für beliebige Verordnung!<br />
Das Sozialrecht ändert sich mit gewisser Regelmäßigkeit. Neuerdings gilt beispielsweise<br />
die Therapie mit neuen und meist ziemlich teueren Medikamenten, denen<br />
ein Zusatznutzen bescheinigt wurde, nach entsprechenden Preisverhandlungen mit<br />
den Kassen als Praxisbesonderheit. Manch ein Pharmareferent flüstert den Ärzten<br />
nun ein, dass diese Medikament beliebig und ohne Regressgefahr verordnet werden<br />
könnten – was so pauschal aber nicht stimmt. Seite 7<br />
Neues bei den „Blutverdünnern“<br />
Cumarin oder ein<br />
neues und teures Antikoagulanz?<br />
Zu den neuen Medikamenten zählen einige Antikoagulanzien. Sie sind zwar teuer,<br />
aber gegenüber den guten alten Cumarinen zumindest einfacher anzuwenden. In<br />
den letzten Monaten wurde daher – auch in KVH aktuell – ziemlich heftig diskutiert,<br />
ob sie unterm Strich für die Patienten mit nichtvalvulärem Vorhofflimmern wirklich<br />
besser sind als die Cumarine. Nun kommen zwei neue Aspekte in die Diskussion:<br />
Zum Einen hat das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen<br />
(IQWiG) einer der neuen Substanzen einen beträchtlichen Zusatznutzen für einen<br />
Teil der Patienten bescheinigt. Und eine große Studie zu den Cumarinen hat deren<br />
Nachteile klar ausgeleuchtet. Was bedeutet das? Seite 4<br />
ACE-Hemmer mit Sartan oder Aliskiren kombinieren?<br />
Doppelt blockieren bringt nichts<br />
ACE-Hemmer, Sartane und Aliskiren haben unterschiedliche Ansatzpunkte im<br />
Renin-Angiotensin-System, und deshalb gab es die Vorstellung, dass man mit einem<br />
kombinierten Einsatz besonders viel Gutes tun könnte – vor allem bei herzinsuffizienten<br />
Patienten. Eine große Metaanalyse kommt nun zu dem ernüchternden<br />
Ergebnis: Mit einer solchen Kombination erreicht man vor allem mehr Nebenwirkungen<br />
– aber keine Vorteile für die Patienten. Seite 10<br />
Wann und womit anfangen, wann Substanz wechseln?<br />
Osteoporose-Therapie kompakt<br />
Dass zur Osteoporose-Behandlung eine Basis-Therapie mit Vitamin D und ggf.<br />
auch Kalzium gehört, ist klar – aber welches Bisphosphonat oder welches andere<br />
Antiosteoporotikum sollte man verordnen und anhand welcher Parameter<br />
wird die Therapie heutzutage eingeleitet, kontrolliert und justiert? Wann ist<br />
eventuell ein Substanzwechsel sinnvoll? Kann das alles auf Kassenrezept verordnet<br />
werden? Antworten auf solche Fragen gibt unser umfassender Beitrag<br />
zur Behandlung der Osteoporose auf Seite 29<br />
Herausgeber: Kassenärztliche Vereinigung Hessen
Seite 2 KVH • aktuell Nr. 2 / 2013<br />
Editorial<br />
Neu, teuer = unwirtschaftlich, oder<br />
bewährt, preisgünstig = wirtschaftlich?<br />
Sehr geehrte Frau Kollegin, sehr geehrter Herr Kollege,<br />
neue Arzneimittel, neue Therapien sind in der Regel wesentlich teurer als ältere,<br />
bewährte Vergleichstherapien. Sie werden oft als unwirtschaftlich angesehen, in<br />
erster Linie wegen ihrer hohen Kosten. Unter Prasugreltherapie treten eindeutig<br />
weniger Myokardinfarkte auf als unter Clopidogrel. Andererseits verursacht es<br />
auch deutlich mehr schwerwiegende Blutungen als Clopidogrel. Benefit und<br />
Schaden halten sich die Waage. Der Patient hat von der Therapie mit Prasugrel<br />
keinen erkennbaren Nutzen. Prasugrel ist deutlich teurer als Clopidogrel. Hier ist<br />
sicherlich festzustellen, dass die Verordnung von Prasugrel als unwirtschaftlich<br />
angesehen werden kann.<br />
Ticagrelor hat nach der frühen Nutzenbewertung durch das AMNOG bei 80<br />
Prozent seiner zugelassenen Indikationen als Thrombozytenaggregationshemmer<br />
einen beträchtlichen Zusatznutzen gegenüber Clopidogrel und Prasugrel. Damit<br />
muss man bei den entsprechenden Indikationen darüber nachdenken, ob man<br />
diese gegenüber Clopidogrel und Prasugrel bessere Therapie dem Patienten<br />
überhaupt vorenthalten kann. Es ist wesentlich teurer als Clopidogrel. Die Einschätzung<br />
„beträchtlicher Zusatznutzen“ führt zur Vereinbarung eines wirtschaftlichen<br />
Preises des Arzneimittels mit den Krankenkassen. Damit ist ein derartiges<br />
Arzneimittel in den positiv bewerteten Indikationen wirtschaftlich (beachten Sie<br />
hierzu bitte auch unsere Beiträge auf Seite 4 und Seite 7).<br />
Dabigatran und Rivaroxaban werden als therapeutischer Fortschritt bei der Schlaganfallprophylaxe<br />
von Patienten mit nicht valvulärem Vorhoffflimmern angesehen.<br />
Dies in erster Linie, weil sie, verglichen mit Cumarinen, weniger Blutungen als<br />
Nebenwirkungen aufweisen. Da sie erheblich teurer als Cumarine sind, wird eine<br />
wirtschaftliche Verordnung bei ihnen nur dann gesehen, wenn Probleme mit<br />
der Cumarintherapie bestehen. Dem dritten derartigen neuen Antikoagulanz -<br />
Apixaban - hat die frühe Nutzenbewertung einen beträchtlichen Zusatznutzen<br />
gegenüber der Marcumartherapie bescheinigt. Damit ist der gegenüber den Cumarinen<br />
noch wesentlich teurere zu vereinbarende Preis mit den Krankenkassen<br />
wirtschaftlich und diese gegenüber der Cumarintherapie bessere Behandlung<br />
kann auch diesen Patienten nicht vorenthalten werden. Damit muss aber auch<br />
die Therapie mit Dabigatran und Rivaroxaban als wirtschaftlich anerkannt werden.<br />
Hier gibt es viel zu diskutieren – tun wir dies! Dies aber unter dem Gesichtspunkt,<br />
dass „neu, teuer und damit unwirtschaftlich“ bzw. „bewährt, preisgünstig und damit<br />
wirtschaftlich“ nicht immer das richtige Maß für eine Therapieentscheidung ist.<br />
Ihr Dr. med. Wolfgang LangHeinrich<br />
Hinweis zu KVH – Brennpunkt Arznei<br />
Die vorliegende Publikation „KVH – Brennpunkt Arznei“ ist ein Informationsangebot zur rationalen und rationellen Pharmakotherapie<br />
in der Praxis. Sie wird herausgegeben und mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt von der<br />
Kassenärztlichen Vereinigung Hessen. Die enthaltenen Beiträge geben die Auffassung der Verfasser bzw. der Redaktion<br />
wieder. Aufgrund der regionalen Unterschiede können nicht alle Inhalte auf die Gegebenheiten in Hamburg übertragen<br />
werden. Für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben kann keine Gewähr übernommen werden.
Nr. 2 / 2013<br />
KVH • aktuell<br />
Seite 3<br />
Editorial 2<br />
Cumarine und neue orale Antikoagulanzien: Zeit für einen Paradigmenwechsel? 4<br />
Dr. med. Christian Albrecht<br />
Niacin-Präparat weltweit vom Markt 6<br />
Dr. med. Uwe Popert<br />
„Praxisbesonderheiten“ nach Preisverhandlungen mit dem Spitzenverband der Krankenkassen<br />
Kein Freibrief für sorglose Verordnung 7<br />
Dr. med. Jürgen Bausch<br />
ACE-Hemmer plus Sartan oder Aliskiren<br />
Doppelte Blockade des Renin-Angiotensin-Systems bringt nichts 10<br />
Dr. med. Klaus Ehrenthal<br />
Hinterfragt: Statin für 83-jährige? 12<br />
A. Telzerow, Dr. med. Uwe Popert<br />
Was bewirken Rauchverbote? 15<br />
Dr. med. Klaus Ehrenthal<br />
Einstieg mit Metformin, ein halbes Jahr später Verzögerungsinsulin 17<br />
Zur Frage aus Heft 1/2013: „Metformin reicht nicht mehr:<br />
wie gehen sie nun vor?“<br />
Leser fragt: Soll ich meinen Patienten nur noch Bewegung empfehlen? 18<br />
Nutzen einer mediterranen Diät endlich in einer sauberen Studie belegt 20<br />
Dr. med. Klaus Ehrenthal<br />
Benzodiazepine und deren Analoga<br />
Fluch oder Segen? 23<br />
Sicherer verordnen 26<br />
Dr. med. Günter Hopf<br />
Hepatotoxizität von Arzneistoffen 26<br />
Zolpidem: bei Frauen Dosis verringern 26<br />
Metoclopramid: Dosierungsprobleme bei der Tropfenform 26<br />
Tolperison: nur bei Spastizität nach Schlaganfall 27<br />
Albumin, HES oder Kristalloide zur Volumensubstitution? 27<br />
Cyproteronazetat: tödliche thromboembolische Ereignisse 27<br />
Carbamazepin: genetische Varianten und schwere Hautreaktionen 28<br />
„Pille danach“ 28<br />
Zweckmäßige medikamentöse Therapie der Osteoporose 29<br />
Leitlinie Multimedikation, Teil 2 39<br />
Tischversion der Leitlinie Multimedikation, Teil 1 55<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
Impressum<br />
Verlag: XtraDoc Verlag Dr. med. Bernhard Wiedemann, Winzerstraße 9, 65207 Wiesbaden<br />
Herausgeber und verantwortlich für die Inhalte: Kassenärztliche Vereinigung Hessen, Georg-Voigt-Straße 15,<br />
60325 Frankfurt (www.kvhessen.de)<br />
Redaktionsstab: Dr. med. Joachim Fessler (verantw.),<br />
Dr. med. Christian Albrecht, Dr. med. Klaus Ehrenthal, Dr. med. Margareta Frank-Doss, Dr. med. Jan Geldmacher, Dr. med.<br />
Harald Herholz, Klaus Hollmann, Dr. med. Günter Hopf, Dr. med. Wolfgang LangHeinrich, Dr. med. Alexander Liesenfeld,<br />
Dr. med. Uwe Popert, Karl Matthias Roth, Dr. med. Michael Viapiano, Petra Bendrich, Dr. med. Jutta Witzke-Gross<br />
Fax Redaktion: 069 / 79502 501<br />
Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. med. Ferdinand Gerlach, Institut für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt;<br />
Prof. Dr. med. Sebastian Harder, Institut für klinische Pharmakologie der Universität Frankfurt<br />
Die von Mitgliedern der Redaktion oder des Beirats gekennzeichneten Berichte und Kommentare sind redaktionseigene Beiträge; darin zum Ausdruck gebrachte Meinungen entsprechen<br />
der Auffassung des Herausgebers. Mit anderen als redaktionseignen Signa oder mit Verfassernamen gekennzeichnete Beiträge geben die Auffassung der Verfasser wieder und decken<br />
sich nicht zwangsläufig mit der Auffassung des Herausgebers. Sie dienen der umfassenden Meinungsbildung. Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.<br />
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in dieser Veröffentlichung berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass<br />
solche Namen im Sinne der Warenzeichen- oder Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.<br />
Wie alle anderen Wissenschaften sind Medizin und Pharmazie ständigen Entwicklungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere, was<br />
Behandlung und medikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in dieser Broschüre eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass Autor und<br />
Herausgeber große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angaben dem Wissensstand bei Fertigstellung der Broschüre entsprechen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und<br />
Applikationsformen kann vom Herausgeber jedoch keine Gewähr übernommen werden. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benutzers.
Seite 4 KVH • aktuell<br />
Nr. 2 / 2013<br />
Beiträge<br />
der<br />
Redaktion<br />
Cumarine und neue orale Antikoagulanzien:<br />
Zeit für einen Paradigmenwechsel?<br />
Kommentar zu einer kanadischen Langzeitbeobachtung<br />
von 125.000 Cumarinpatienten<br />
Dr. med. Christian Albrecht<br />
Im vergangenen Jahr gab es im Bereich der oralen Antikoagulation bei Vorhofflimmern<br />
große Bewegung: Mit Dabigatran, Rivaroxaban und anderen neuen<br />
Blutverdünnern wurden neue Therapieoptionen durch große Studien (Rocket-AF,<br />
RELY, ...) in der Behandlung von Patienten mit Vorhofflimmern „salonfähig“.<br />
Neben dem Komfort für die Patienten (und Ärzte) ohne die lästigen Quick/INR-<br />
Kontrollen und ohne mühsames „Bridging“ einer Cumarinpause konnten die<br />
neuen oralen Antikoagulanzien (nOAK) zumindest ihre gleichgute Wirksamkeit,<br />
wenn nicht Überlegenheit in Bezug auf Schlaganfallschutz auf der einen und<br />
Blutungsrisiko auf der anderen Seite demonstrieren.<br />
Eine Langzeitbeobachtung von über 125.000 Warfarinpatienten [1,2] zeigt in diesem<br />
Kontext eindrücklich auf, wo die Probleme einer Therapie mit den etablierten<br />
oralen Antikoagulanzien wie Phenprocoumon oder Warfarin liegen könnten: Einerseits<br />
scheint im „real life“ die Compliance der Einnahme doch wesentlich geringer<br />
als angenommen, andererseits scheinen die Blutungskomplikationen vor allem in<br />
den ersten 30 Tagen doch deutlich höher als bisher gedacht zu sein.<br />
So lösten von diesen 125.195 Patienten knapp 9% kein zweites Rezept nach<br />
der ersten Verschreibung von Warfarin mehr ein, beendeten 31,8% die Therapie<br />
eigenmächtig innerhalb eines Jahres (43,2% in 2 Jahren, 61,3% in fünf Jahren).<br />
Insbesondere jüngerere Männer mit niedrigem Schlaganfallrisiko/CHADS-score<br />
neigten dazu, die Medikation zu beenden.<br />
Auch diese große<br />
Studie zeigt:<br />
Cumarine sind<br />
ganz sicher kein<br />
Goldstandard<br />
Diese alarmierenden Zahlen sind in Kanada generiert worden. Es scheint dem<br />
Autor fraglich, ob auch in unseren Breiten wirklich nach zwei Jahren knapp die<br />
Hälfte der Patienten die Cumarintherapie trotz Indikation und Aufklärung über<br />
deren Notwendigkeit eigenmächtig beendet. Auch ist unklar, ob die Therapie<br />
nur beendet wurde, weil die Patienten zu bequem waren, zu den notwendigen<br />
Laborkontrollen zu kommen, oder wegen tatsächlicher oder befürchteter Blutungen:<br />
Letzteres träfe ja auch auf die nOAK zu und wäre dann kein Argument,<br />
diese vorzuziehen.<br />
Hochinteressant ist auch die andere Analyse dieser Kohorte von 125.000 Patienten,<br />
die auf das Blutungsrisiko mit den klassischen Antikoagulanzien hinweist:<br />
Insbesondere im ersten Monat der Therapie lag in der „Einstellungsphase“ eine<br />
deutliche Steigerung der Blutungsrate vor, auf ein Jahr extrapoliert waren in dieser<br />
Zeit 11,8% der Patienten von einer Blutung betroffen. Über den gesamten Zeitraum<br />
von fünf Jahren Beobachtungszeit kam es im Schnitt bei 3,8% der Patienten<br />
zu Blutungen, was unterhalb der Blutungsraten in anderen OAK-Beobachtungsstudien<br />
(dort sonst ca. 7% p.a.), aber deutlich über der Rate an Blutungen liegt,<br />
die man unter Studienbedingungen beobachtet. Einschränkend muss angemerkt<br />
werden, dass leider nichts über die Korrelation zwischen Blutungshäufigkeit und<br />
den bei Blutung gemessenem INR-Wert gesagt wurde, weil dazu keine Daten akquiriert<br />
wurden. Außerdem ist anzumerken, dass die Zahl schwerer intrakranieller<br />
Blutungen unter 0,1% pro Jahr lag und es sich bei den festgestellten Blutungen<br />
ganz überwiegend um gastrointestinale Blutungen handelte.<br />
Die Daten zeigen vor allem eines eindrücklich: Die Behandlung mit Cumarinen ist<br />
eine, die von Patient und Arzt höchste Genauigkeit und Beachtung erfordert.
Nr. 2 / 2013<br />
KVH • aktuell<br />
Seite 5<br />
Wenn der Patient gut informiert und überwacht ist<br />
und der Arzt über die „Risiken und Nebenwirkungen“<br />
der Medikation genau im Bilde ist, lassen sich<br />
mutmaßlich bessere Daten für die Einnahmetreue<br />
der Patienten und die Blutungshäufigkeit erzielen.<br />
Da aber auch unter Studienbedingungen in der<br />
RELY Studie [3,4] über 30% der Patienten außerhalb<br />
des therapeutischen Bereichs lagen, was jetzt durch<br />
diese „real-life“-Daten erneut bestätigt wird, kann<br />
zumindest bezweifelt werden, ob wir trotz aller Bemühungen<br />
es schaffen, im Alltag mit unseren oral<br />
zu antikoagulierenden Patienten eine bessere INR-<br />
Einstellung, höhere Einnahmetreue und weniger<br />
Komplikationen zu erreichen.<br />
Gerade die alarmierende Zahl der Exzessblutungen in<br />
den ersten vier Wochen einer Therapie könnte Anlass<br />
zu einem Paradigmenwechsel geben: Bisher war zu<br />
Lasten der GKV nach Ansicht der KVHessen ein nOAK<br />
nur verordnungsfähig, wenn eine dokumentiert<br />
schlechte Einstellbarkeit mit stark schwankenden<br />
INR-Werten oder dokumentierten Komplikationen<br />
unter einem Cumarin vorlag.<br />
Nach der vorliegenden großen Kohortenstudie aus<br />
Kanada stellen sich nunmehr folgende Fragen:<br />
Ist der medizinische Benefit der neuen Antikoagulanzien<br />
so groß, dass das Wirtschaftlichkeitsgebot<br />
des SGB V eine Verordnung<br />
erlaubt?<br />
Ist der vom IQWIG genannte „beträchtliche<br />
Zusatznutzen“ von Apixaban auf die anderen<br />
nOAK übertragbar? Folgt der G-BA dieser<br />
Einschätzung oder ist der Kostendruck zu stark? Denn nur dann wird ein<br />
wirtschaftlicher Preis festgelegt, der den Verordner aus dem Wirtschaftlichkeitsdilemma<br />
befreit.<br />
Ist es aufgrund der erheblichen Blutungsrate in den ersten vier Wochen in<br />
der vorliegenden kanadischen Studie gerechtfertigt, Patienten PRIMÄR<br />
auf ein nOAK einzustellen – ohne vorherige Einstellung auf ein Cumarin?<br />
Was sollen wir mit solchen Patienten machen, die primär von uns oder<br />
Apixaban: Bei manchen Patienten<br />
besser als alte Substanzen<br />
Das IQWiG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit<br />
im Gesundheitswesen) hat den<br />
Nutzen des neuen Antikoagulanz Apixaban<br />
bei der Prophylaxe von Schlaganfällen und<br />
systemischen Embolien bei erwachsenen Patienten<br />
mit nichtvalvulärem Vorhofflimmern<br />
und einem oder mehreren Risikofaktoren<br />
wie Schlaganfall oder TIA in der Anamnese<br />
untersucht. Ende März 2013 wurde das Ergebnis<br />
dieser Untersuchung veröffentlicht:<br />
Bei Patienten, für die ein Cumarin in Frage<br />
kommt, gibt es einen beträchtlichen Zusatznutzen,<br />
wenn die Patienten 65 Jahre oder<br />
älter sind. Bei jüngeren Patienten sieht das<br />
IQWiG im Gegensatz zum Hersteller keinen<br />
zusätzlichen Nutzen. Bei Patienten, die nicht<br />
für ein Cumarin geeignet sind, sondern auf<br />
ASS zurückgreifen müssen, fand das IQWiG<br />
durchgängig und unabhängig vom Alter<br />
einen beträchtlichen Zusatznutzen.<br />
Die Bewertung kann auf www.iqwig.de<br />
eingesehen werden – dort in das Suchfeld<br />
Apixaban eingeben und die Suche auslösen.<br />
Über die Konsequenzen muss nun der<br />
Gemeinsame Bundesausschuss entscheiden<br />
(siehe hierzu auch Seite 7).<br />
Schreiben Sie uns!<br />
Ein konventionelles Cumarin oder doch lieber eines der neuen oralen Antikoagulanzien? Diese Frage<br />
wird sicherlich noch öfter diskutiert. Wir möchten die Diskussion nicht völlig abgehoben von der<br />
Praxis führen – daher unsere Bitte: Schreiben Sie uns doch, wie sie es halten. Beispielsweise in folgendem<br />
Fall: Ein Patient kommt nach einem Krankenhausaufenthalt oder vom Kardiologen zurück<br />
und ist auf eines der neuen Antikoagulanzien eingestellt. Wie gehen Sie damit um?<br />
Zuschriften bitte an: Redaktion KVH aktuell, KV Hessen, Georg-Voigt-Straße 15, 60325 Frankfurt<br />
oder Fax: 069 / 79502 501<br />
e-Mail: info@kvhessen.de
Seite 6 KVH • aktuell<br />
Nr. 2 / 2013<br />
den Krankenhäusern auf nOAK eingestellt sind? Wegen des Wirtschaftlichkeitsgebotes<br />
auf ein Cumarin umstellen? Was ist mit den erheblichen Gefahren<br />
einer solchen Wechselphase (Hyperkoagulabilität)?<br />
Ist damit zu rechnen, dass die Therapie mit nOAK analog zur Therapie mit<br />
Ticagrelor als „Praxisbesonderheit“ akzeptiert wird?<br />
Interessenkonflikte: keine<br />
Literatur:<br />
1 Gomes T. et al.: Canadian Medical Association Journal 2012. DOI:10.1503/cmaj.121218<br />
2 ARCH INTERN MED/VOL 172 (NO. 21), NOV 26, 2012, S. 1687<br />
3 Connolly SJ, Ezekowitz MD, Yusuf S, et al. Dabigatran versus warfarin in patients with atrial fibrillation. N Engl J<br />
Med. 2009;361(12):1139-51.<br />
4 Connolly SJ, Ezekowitz MD, Yusuf S, et al. Newly Identified Events in the RE-LY Trial. N Engl J Med. 2010;363(19):1875-6.<br />
Beiträge<br />
der<br />
Redaktion<br />
Ergebnisse der HPS2-THRIVE-Studie mit vorzeitigen Folgen:<br />
Niacin-Präparat weltweit vom Markt<br />
Dr. med. Uwe Popert<br />
Es ist normalerweise in evidenzbasierten Journalen nicht üblich, über Studien zu<br />
berichten, bevor diese in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht wurden. Hier<br />
haben wir eine Ausnahme, weil wegen der enttäuschenden Ergebnisse bereits eine<br />
weltweite Marktrücknahme des getesteten Medikamentes erfolgte.<br />
Die HPS2-THRIVE-Studie [1], (Treatment of HDL to Reduce the Incidence of<br />
Vascular Events) wurde als multizentrische, prospektive, randomisierte und placebokontrollierte<br />
Studie zur Fragestellung durchgeführt, ob eine zusätzliche Gabe<br />
von Niacin zu Statinen (plus ggf. Ezetimib) die kardiovaskulären Ereignisse senken<br />
kann. Einschlusskriterien waren Alter zwischen 50 und 80 Jahren, vorangegangener<br />
Herzinfarkt, TIA bzw. ischämischer zerebraler Insult, bestehende pAVK oder<br />
Diabetes mit KHK.<br />
Nach einer einmonatigen Run-in-Phase erhielten 25.671 männliche und weibliche<br />
Hochrisiko-Patienten entweder Niacin 2 g plus Laropiprant 40 mg oder vergleichbare<br />
Placebo-Tabletten für durchschnittlich 3,9 Jahre. In beiden Gruppen erfolgte<br />
eine Basistherapie mit 40mg Simvastatin plus ggf. 10 mg Ezetimib, falls die Lipid-<br />
Zielwerte (LDL
Nr. 2 / 2013<br />
KVH • aktuell<br />
Seite 7<br />
Was bedeutet das für die Praxis?<br />
Niacin ist seit etwa 50 Jahren als Lipidsenker auf dem Markt. Nach einigen kleineren<br />
Studien mit Hinweisen auf kardiovaskuläre Schutzwirkung wurde es wegen<br />
der häufigen Flush-Erscheinungen nur selten verwendet. Die Kombination mit<br />
dem Prostaglandin-Synthesehemmer Laropiprant führte dann zu deutlich besserer<br />
Verträglichkeit. Die HPS2-THRIVE ist mit Abstand die bisher größte Niacin-Studie<br />
und die Ergebnisse wegen des qualitativ hochwertigen Aufbaues und der Laufzeit<br />
von fast vier Jahren sehr verlässlich. Die etwas kleinere AIM-HIGH-Studie [2] wurde<br />
kurz zuvor ebenfalls wegen fehlender Wirksamkeit abgebrochen. Der Vertrieb eines<br />
Kombinationspräparates aus Nikotinsäure und Laropiprant wurde deswegen vom<br />
Hersteller im Januar 2013 nach Bekanntwerden der aktuellen Studien-Ergebnisse<br />
weltweit eingestellt.<br />
Bedeutung<br />
für<br />
unsere<br />
Praxis<br />
In Leitlinien werden Niacin-Präparate zwar noch als Ausweichmöglichkeit bei unzureichender<br />
Statinbehandlung empfohlen (SIGN, WHO, ESC, DGK). Bei Einbeziehung<br />
der negativen HPS2-THRIVE-Ergebnisse ist wegen der großen Probandenzahl<br />
der Studie auch in Metaanalysen nicht mehr mit relevanten Gesamtergebnissen zu<br />
rechnen.<br />
In Anbetracht des jetzt nachgewiesenen Nebenwirkungsprofils und des<br />
fehlenden Wirksamkeitsnachweises kann eine Behandlung auch mit den<br />
noch im Markt verbliebenen Nikotinsäure-Präparaten nicht empfohlen<br />
werden.<br />
Interessenkonflikte: keine<br />
Literatur:<br />
1 http://www.thrivestudy.org/ (besucht 14.03.2013)<br />
2 AIM-HIGH Investigators, Boden WE, Probstfield JL, Anderson T, et al.:<br />
Niacin in patients with low HDL cholesterol levels receiving intensive statin therapy.<br />
N Engl J Med. 2011 Dec 15;365(24):2255-67.<br />
„Praxisbesonderheiten“ nach Preisverhandlungen mit dem<br />
Spitzenverband der Krankenkassen<br />
Kommentar<br />
Kein Freibrief für sorglose Verordnung<br />
Dr. med. Jürgen Bausch<br />
Einführung<br />
Unser Sozialgesetzbuch V regelt in wesentlichen Teilen die medizinische Versorgung<br />
aller Versicherten im GKV-System. Danach haben die Krankenkassen ihren Versicherten<br />
Leistungen zur Verfügung zu stellen, die unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots<br />
(§12 SGB V) erbracht wurden und nicht der Eigenverantwortung des<br />
Versicherten zugeordnet werden. Qualität und Wirksamkeit der Leistungen haben<br />
dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen<br />
und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen (§ 2 Abs. 1 SGB V).<br />
Ziel der gesetzlichen Vorgaben ist: Die Vertragsärzte zu veranlassen, die Patientenprobleme<br />
nach dem Grundsatz des Paragraphen 12 SGB V zu lösen: „Ausreichend,<br />
zweckmäßig, wirtschaftlich, das Maß des Notwendigen nicht überschreitend.“
Seite 8 KVH • aktuell<br />
Nr. 2 / 2013<br />
Das sind lauter unbestimmte Rechtsbegriffe, die breiten Interpretationsspielraum<br />
eröffnen.<br />
Die Einzelheiten aller Prüfverfahren – basierend auf den Vorgaben des § 106 SGB V<br />
sind in den Prüfungsvereinbarungen geregelt. Diese werden auf Landesebene zwischen<br />
den Landesverbänden der Krankenkassen und der jeweiligen KV verbindlich<br />
für Vertragsärzte und Psychotherapeuten beschlossen.<br />
Gemeinsame Prüfstelle<br />
Die Durchführung obliegt den von Kassen und KVen unabhängigen gemeinsamen<br />
Prüfeinrichtungen (Gemeinsame Prüfungsstelle, gemeinsamer Beschwerdeausschuss,<br />
§ 106 Abs. 4 SGB V). Die Geschäftsführung ist durch eine Rechtsverordnung<br />
des BMG geregelt.<br />
Praxisbesonderheit<br />
Inner- und außerärztlich beflügelt der Begriff „Praxisbesonderheit“ die Phantasie.<br />
Mitunter so stark, dass man glaubt, sie sei in der Lage, Unwirtschaftlichkeit im<br />
Verordnungsgeschehen auf wundersame Weise zu tilgen. Was nicht der Fall ist.<br />
Immerhin: anerkannte Praxisbesonderheiten dürfen nicht regressiert werden.<br />
Definition<br />
„Praxisbesonderheiten sind objektive Gegebenheiten, welche für die Vergleichsgruppe<br />
von der Art oder dem Umfang her atypisch sind und kausal einen höheren<br />
Behandlungsaufwand und/oder erhöhte Verordnungskosten hervorrufen.“ „Die<br />
geltend gemachten Praxisbesonderheiten sind zu begründen.“ und: „Der Vertragsarzt<br />
hat die geltend gemachten Praxisbesonderheiten nachzuweisen.“ (Zitiert aus<br />
der Prüfvereinbarung zwischen der KV-Thüringen und den Landesverbänden der<br />
Krankenkassen und Ersatzkassen vom 3. März 2009).<br />
Zudem ist eine Praxisbesonderheit ein Ergebnis der ständigen höchstrichterlichen<br />
Rechtsprechung des BSG. Dahinter steht die Erkenntnis, dass ein Arzt nicht für<br />
notwendige und zweckmäßige Handlungen zur Verantwortung gezogen werden<br />
kann, die er zur Lösung von Patientenproblemen tun musste, um seinen Versorgungsauftrag<br />
ausreichend und wirtschaftlich zu erfüllen.<br />
Cave:<br />
Bei welchen<br />
Patienten ein<br />
neues Medikament<br />
laut IQWiG<br />
tatsächlich besser<br />
ist, wird nicht<br />
automatisch mit<br />
dem ICD-Code<br />
abgebildet!<br />
Daher empfiehlt<br />
sich eine eigene<br />
kurze Anmerkung<br />
in der Patientenakte.<br />
Denn<br />
eine Prüfung<br />
kann es trotz<br />
Praxisbesonderheiten<br />
geben!<br />
Um den Ärzten und den Prüfgremien unnötigen Bürokratieaufwand zu ersparen,<br />
hat man deswegen konkrete Praxisbesonderheiten definiert und in den Prüfvereinbarungen<br />
festgeschrieben. Diese Kataloge sind in allen KV-Bereichen ähnlich, aber<br />
nirgendwo identisch. Wie auch die Prüfvereinbarungen nicht genormt sind, sondern<br />
das Ergebnis von Verhandlungen auf der jeweiligen Landesebene.<br />
Was nicht konkret beschrieben und vereinbart ist – aus welchen Gründen auch<br />
immer – kann dennoch von den Prüfgremien als Praxisbesonderheit anerkannt werden.<br />
Der Arzt hat hier die Beweislast und eine Bringschuld. Er muss sich kümmern,<br />
wenn er nicht schuldlos regressiert werden möchte.<br />
Kennzeichnen von Praxisbesonderheiten<br />
Für die Verordnung von Arzneimitteln, die im Rahmen der frühen Nutzenbewertung<br />
auf Bundesebene als Praxisbesonderheit vereinbart wurden, gibt es beispielsweise<br />
in Nordrhein Symbolziffern. Dies betrifft z.B. die Arzneimittel Brilique ® (90995), Esbriet<br />
® (90994) und Zytiga ® (90993), die in den jeweils beschriebenen Indikationen<br />
als Praxisbesonderheit gelten und mit neuen Symbolziffern auf dem Abrechnungsschein<br />
gekennzeichnet werden können (Quelle: http://www.kvno.de/downloads/<br />
kvno_aktuell/kvno_aktuell_12_12.pdf). Aber das ist nur ein Beispiel, die Regeln<br />
sind nicht genormt. Und unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland.
Nr. 2 / 2013<br />
KVH • aktuell<br />
Seite 9<br />
AMNOG-Preisverhandlungen und die neuen Praxisbesonderheiten<br />
Seit 2011 werden neue Arzneimittel in Deutschland nach ihrem Nutzen bewertet<br />
und bezahlt. Das AMNOG sieht vor, dass nach der Nutzenbewertung der Hersteller<br />
mit dem Spitzenverband der Krankenkassen einen Preis verhandeln muss, der als<br />
„Erstattungsbetrag“ auf den Herstellerabgabepreis festgesetzt wird. Diese Vereinbarung<br />
nach § 130 SGB V sieht vor, dass Verordnungen des Arzneimittels von der<br />
Prüfstelle als Praxisbesonderheiten im Sinne von § 106 Abs. 5a anerkannt werden,<br />
wenn der Arzt bei der Verordnung im Einzelfall die dafür vereinbarten Anforderungen<br />
an die Verordnung eingehalten hat.<br />
Kein Persilschein<br />
Diese AMNOG-Bestimmung ist nur eine logische Fortsetzung in der Entwicklung<br />
von anzuerkennenden Praxisbesonderheiten. Und kein Persilschein für sorglose<br />
Dauerverordnungen.<br />
Es macht Sinn, für solche Arzneimittel eine Praxisbesonderheit zu deklarieren,<br />
welche nach einer frühen Nutzenbewertung vom GBA einen Zusatznutzen attestiert<br />
bekommen haben und zu einem Preis auf dem Markt sind, der von den<br />
Krankenkassen maßgeblich mitbestimmt wurde. Schwer vorstellbar, dass eine<br />
solche Verordnung – unter Beachtung der G-BA-Entscheidung – nicht zugleich<br />
auch wirtschaftlich ist.<br />
Dass eine neue<br />
Variante der<br />
Praxisbesonderheit<br />
eingeführt wurde,<br />
heißt nicht, dass<br />
nun mehr verordnet<br />
werden kann oder<br />
müsste.<br />
Anreiz zur Mengendynamik?<br />
Wenn ein neues Arzneimittel mit einem Zusatznutzen – im Vergleich zum Therapiestandard<br />
– auf den Markt kommt und dies gemäß den Prozeduren des AMNOG<br />
festgestellt und abschließend preisverhandelt wird, dann wird es auch verordnet.<br />
Der Verordnungsumfang – indikationsgerechter Einsatz vorausgesetzt – ergibt sich<br />
aus der Morbidität. Somit ist eine Mengendynamik durch eine „Praxisbesonderheit“<br />
nicht das Problem. Sondern die Morbidität einerseits und die korrekte Indikationsstellung<br />
andererseits. Im Herstellerdossier und in der Nutzenbewertung des GBA<br />
werden Angaben zum erwarteten Verordnungsumfang des neuen Arzneimittels<br />
gemacht und bei den Verhandlungen eingepreist.<br />
Die Konsequenz im Prüfverfahren wird sein:<br />
Überprüfung der Indikationsstellung!<br />
Das Prinzip „Praxisbesonderheit“ ist also nicht neu im Verordnungskontrollsystem<br />
für Vertragsärzte. Es ist deswegen keine unerwartete Mengendynamik zu erwarten,<br />
nur weil im § 130 diese Bürokratieerleichterung für die Ärzte logisch aufgenommen<br />
wurde.<br />
Kommt es aber zu einer medizinisch nicht begründbaren Mengendynamik durch<br />
Missbrauch dieser „AMNOG-Preisbesonderheit“, wird das System schnell nachreguliert<br />
werden.<br />
Pharmaaußendienste, die mit „Sorglos-Parolen“ versuchen, Ärzte aufs falsche Gleis<br />
zu locken, sind schlecht beraten. Sie provozieren den Gesetzgeber zu verschärfenden<br />
Regelungen.
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Für Sie<br />
gelesen<br />
ACE-Hemmer plus Sartan oder Aliskiren?<br />
Doppelte Blockade des Renin-<br />
Angiotensin-Systems bringt nichts<br />
Dr. med. Klaus Ehrenthal<br />
In einem systematischen Review mit Metaanalyse gingen die New Yorker Kardiologen<br />
Makani Harikrishna et al. der Frage nach, ob die duale Blockade des Renin-<br />
Angiotensin-Systems (RAS) für besondere Fälle von Herzinsuffizienz mit Hypertonie,<br />
diabetischer Nephropathie und Proteinurie auch effektiv und sicher ist [1].<br />
Hierbei sollten die Langzeitwirksamkeit und die unerwünschten Effekte (UAW)<br />
einer dualen Blockade des Renin-Angiotensin-Systems im Vergleich zu einer Monotherapie<br />
untersucht werden.<br />
Vorgehensweise:<br />
Es wurden aus dem Zeitraum von Januar 1990 bis zum August 2012 insgesamt<br />
33 randomisierte kontrollierte Studien aus PubMed, Embase, und dem Cochrane-<br />
Zentralregister mit insgesamt 68.405 Patienten (Durchschnittsalter 61 Jahre, 71%<br />
männlich, Nachuntersuchungsdauer 52 Wochen) durchgesehen. Endpunkte waren<br />
Mortalität aus verschiedener Ursache, kardiovaskuläre Mortalität und Krankenhausaufnahmen<br />
wegen Herzinsuffizienz. Als UAW wurden Hyperkaliämie (Serumkalium<br />
>5,5 mmol/l), Hypotension, Niereninsuffizienz (Serumkreatinin >2,0 mg/dl oder<br />
Verdoppelung der Ausgangswerte) und Drop-out wegen unerwünscher Ereignisse<br />
festgehalten.<br />
In den Studien war in unterschiedlicher Kombination mit den ACE-Hemmern<br />
Enalapril, Lisinopril, Ramipril, Temocapril, Benacepril, Captopril, mit den Sartanen<br />
Losartan, Candesartan, Telmisartan, Irbesartan, Valsartan oder mit dem direkten<br />
Renin-Blocker Aliskiren behandelt worden. Verglichen wurden Wirksamkeit und<br />
Sicherheit der dualen Therapie mit den Ergebnissen bei Anwendung einer RAS-<br />
Blockade durch Monotherapie.<br />
Hierzu hatten wir erst kürzlich in KVH aktuell Pharmakotherapie eine Arbeit bei<br />
kardiovaskulären Risikopatienten von Deghan et al. referiert, aus der der wesentlich<br />
höhere Nutzen einer Änderung der Lebensführung bei den 31.546 Patienten der<br />
Studie – speziell einer gesundheitsbewussten Ernährung – in der kardiovaskulären<br />
Sekundärprävention gegenüber der Wirkung von ACE-Hemmern und Sartanen<br />
deutlich wurde [2,3].<br />
Ergebnisse:<br />
Trotz des sehr sorgfältigen Vorgehens mit Durchsicht der 33 Studien dieser Metaanalyse<br />
durch zwei unabhängige Autoren fand sich bei den Ergebnissen kein<br />
signifikanter Benefit durch eine duale RAS-Blockade:<br />
Die Mortalität aus verschiedener Ursache zeigte ein relatives Risiko (RR) von<br />
0,97%, das 95%-Konfidenzinterval (KI) betrug 0,89-1,06.<br />
Die kardiovaskuläre Mortalität zeigte ein RR von 0,96, das 95%-KI betrug<br />
0,88-1,05.<br />
Im Vergleich mit einer Monotherapie betrug das RR für Krankenhausaufnahmen<br />
wegen Herzinsuffizienz 0,82 bei einem 95%-KI von 0,74-0,92.<br />
Demgegenüber wurde bei der dualen RAS-Blockade im Vergleich zur Monotherapie<br />
eine Zunahme von UAW gefunden:
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+ 55% bei Hypokaliämie (p < 0,001),<br />
+ 66% bei Hypotension (p < 0,001),<br />
+ 41% bei Niereninsuffizienz (p < 0,01) und<br />
+ 27% bei Drop-out wegen UAW (p < 0,001).<br />
Die Ergebnisse zur Wirksamkeit und Therapiesicherheit waren beim Vergleich einer<br />
dualen RAS-Blockade mit einer Monotherapie konsistent in den Kohorten mit und<br />
ohne Herzinsuffizienz mit Ausnahme der Mortalität aus verschiedenen Ursachen:<br />
Diese war bei Patienten mit Herzinsuffizienz höher (p = 0,04 versus p =0,15) und<br />
ebenso bei Patienten mit Niereninsuffizienz (p < 0,001 versus p = 0,79).<br />
Höhere Kosten, mehr Nebenwirkungen, aber kein Vorteil<br />
Wenn auch die duale Blockade des RAS-Systems Wirkungen auf einige Surrogat-<br />
Endpunkte haben mag, gelang es nicht, durch diese intensive Pharmakotherapie<br />
die Mortalität der kardiovaskulären Risikopatienten zu senken. Im Gegenzug wurde<br />
durch eine duale RAS-Blockierung verglichen mit einer Monotherapie sogar ein<br />
erheblich vermehrtes Risiko von unerwünschten Nebenwirkungen gefunden, wie<br />
Hyperkaliämie, Hypotension und Niereninsuffizienz. In diesem Zusammenhang<br />
sei auf die in einer weiteren Metaanalyse nachgewiesene zusätzliche besondere<br />
Wirksamkeit einer gesundheitsbewussten Ernährungsverbesserung und der Verbesserung<br />
der Lebensführung bei kardiovaskulären Risikofällen hingewiesen [2,3].<br />
Bedeutung<br />
für<br />
unsere<br />
Praxis<br />
Die maximale Pharmakotherapie einer dualen Blockade des Renin-Angiotensin-Systems<br />
bringt nach dieser großen Metaanalyse keinen Vorteil.<br />
Stattdessen nimmt bei Anwendung einer solchen dualen Therapie (ACE-<br />
Hemmer + Sartane oder + Aliskiren) das Nebenwirkungsrisiko deutlich zu<br />
(vermehrte Hyperkaliämie, niedriger Blutdruck, Niereninsuffizienz, Drop-outs<br />
wegen UAW).<br />
Nach wie vor haben nichtmedikamentöse Maßnahmen, wie eine gesundheitsbewusste<br />
Ernährung und die Änderung der Lebensführung, einen deutlich<br />
besseren Effekt [2,3]. Den sollte man möglichst immer mit einer Monotherapie<br />
kombinieren.<br />
Interessenkonflikte: keine<br />
Literatur:<br />
1 Makani Harikrishna, Bangalore Sripal, Desouza Kavit A , et al.: Efficacy and safety of dual blockade of the<br />
renin-angiotensin system: meta-analysis of randomized trials. BMJ 2013;346:1360, doi: 10.1136/bmj.1360<br />
(publ. 28. Jan. 2013)<br />
2 Ehrenthal K: Gesunde Ernährung bringt auf Dauer mehr als ACE-Hemmer und Sartane. KVH aktuell Pharmakotherapie<br />
2013;18(1):4-6<br />
3 Dehghan M, Mente A, Teo KK, et al.: Relationship Between Healthy Diet and Risk of Cardiovascular Disease<br />
Among Patients on Drug Therapies for Secundary Prevention: A Prospective Cohort Study of 31 546<br />
High-Risk Individuals From 40 Countries. Circulation 2012;126:2705-2712, doi: 10.1161/CIRCULA-<br />
TIONAHA.112.103234
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Medikation<br />
kritisch<br />
durchleuchtet<br />
Hinterfragt: Statin für 83-Jährige?<br />
Eine 83-jährige sehr mobile und schlanke Patientin (8 km Gehstrecke mit Hunden<br />
am Tag) kommt vom Kardiologen mit dem Zufallsbefund einer atypischen 75-prozentigen<br />
Stenose der A. carotis interna.<br />
Empfehlung des Kardiologen: Simvastatin 40 mg 0-0-1 zusätzlich.<br />
Bisher hatte sie folgende Diagnosen:<br />
beginnende hypertensive Herzerkrankung<br />
intermittierendes VHF, z.Zt. Sinusrhythmus.<br />
geringe Insuffizienz von Aorten-, Mitral-, Tricuspidalklappe<br />
kein Anhalt für höhergradige stenosierende KHK<br />
Z.n. Lungenembolie 09/2008<br />
Herzinsuffizienz NYHA II<br />
Kardiovaskuläres Risiko: Hyperlipoproteinämie, Hypertonus, Alter<br />
COPD<br />
Labor:<br />
Gesamt-Cholesterin 213 mg/dl<br />
LDL-Cholesterin 148 mg/dl<br />
HDL-Cholesterin 59 mg/dl<br />
INR 2 - 2,5<br />
Restliches Routinelabor normal.<br />
Bisherige Medikation:<br />
Flecainid 100 mg 1/2-0-1/2<br />
Verapamil 80 mg 1-0-1<br />
Ramipril 5 mg 0-0-1<br />
Digitoxin 0,07 5x Woche<br />
Marcumar nach INR<br />
und jetzt zusätzlich ein Statin?<br />
Zur Parallelnutzung von Flecainid, Digitoxin und Verapamil: Dies wurde vom Kardiologen<br />
wegen häufiger tachykarder Rhythmusstörungen nach mehreren frustranen<br />
Versuchen einer Betablocker-Therapie eingeleitet. Darunter sind die tachykarden<br />
Phasen wesentlich seltener als zuvor.<br />
Frage: Einsetzen des Lipidsenkers bei o.g. Cholesterinwerten? Wie würden Sie<br />
entscheiden? (Bisher gab es keine neurologischen Symptome.)<br />
A. Telzerow<br />
Antwort von Dr. med. Uwe Popert, Arzt für Allgemeinmedizin<br />
Lieber Herr Kollege Telzerow,<br />
Ich finde die Antwort auf Ihre Frage schwierig und spannend zugleich. Genau<br />
genommen sind es ja viele Fragen (neben der schon angesprochenen Problematik<br />
von drei AV-überleitungsverzögernden Medikamenten, die ich hier wunschgemäß<br />
ausklammern will). Hier die grundsätzlichen Überlegungen für solche Fälle:<br />
Grundsätzliche<br />
Gedankengänge<br />
in solchen Fällen:<br />
Ausgangsfrage: Statin ja oder nein?<br />
Trotz des „Cholesterin-Hypes“ gibt es weltweit keine verbindliche Definition<br />
von „Hyperlipidämie“. Das Gesamtcholesterin von 213 mg/dl ist für diese<br />
Altersgruppe in Deutschland eher ungewöhnlich niedrig und rechtfertigt
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m.E. nicht die Diagnose einer „Hyperlipidämie“. Leider wird in vielen Laborausdrucken<br />
immer noch jeder Wert über 200 mg/dl als „erhöht“ oder „Risikobereich“<br />
falsch dargestellt, obwohl für alle anderen Laborwerte immer der Schwankungsbereich<br />
der Werte in der gesunden Bevölkerung als Referenzbereich angegeben wird.<br />
Zur Analyse von Lipidwerten stellt selbst die (eher industrienahe) Lipidliga dazu fest:<br />
„… Bei der Bewertung des koronaren Risikos ist man inzwischen weltweit<br />
davon abgegangen, Cholesterinwerte isoliert zu betrachten. Wir sehen die<br />
Cholesterinkonzentration und insbesondere die LDL-Cholesterinkonzentration<br />
nicht als isolierten Risikofaktor, sondern im Rahmen des so genannten<br />
globalen Risikos ...“ [1]<br />
Ein erhöhtes globales Gefäß-Risiko wird auch durch Beschluss des Gemeinsamen<br />
Bundesausschusses (G-BA) in der Anlage III zur Arzneimittelrichtlinie [2] bei einer<br />
Statin-Verordnung für Kassenpatienten gefordert: „… bei hohem kardiovaskulärem<br />
Risiko (über 20% Ereignisrate pro10 Jahre auf der Basis der zur<br />
Verfügung stehenden Risikokalkulatoren) …“<br />
Also brauche ich (zumindest bei Kassenpatienten) eine Antwort auf die Frage: Erlauben die<br />
1) Ist das kardiovaskuläre Risiko >20% in 10 Jahren?<br />
Arzneirichtlinien<br />
Wenn ich einfach mal eine reine Primärprävention annehme und mit arriba hier prinzipiell<br />
(www.arriba-herz.de ) rechne (weiblich, Alter 83, antihypertensiv behandelt, ein Statin?<br />
RR syst geschätzt 150 mmHg, Cholesterin 213 mg/dl, HDL 59 mg/dl) erhalte<br />
ich ein Risiko von 22,5% für Herzinfarkte / Schlaganfälle in 10 Jahren:<br />
daraus folgt: Eine Statinverordnung ist legitim; eine absolute Risikoreduktion<br />
von 5% (= NNT von 20) wäre okay für die Gesundheitsökonomen.<br />
Es stellen sich aber noch weitere Fragen.<br />
2) Verringert ihre körperliche Aktivität nicht das Risiko erheblich?<br />
Ja sicher! Wenn man angesichts ihres Alters ihre tägliche ausgiebige Bewegung<br />
als Sportäquivalent betrachtet, würde ihr Risiko damit nach arriba von 22,5% auf<br />
15% in 10 Jahren verringert – allerdings ist der Einbezug von Lebensführung in den<br />
üblichen Risikokalkulatoren und damit in dem G-BA-Beschluss nicht ausdrücklich<br />
vorgesehen.<br />
In einer aktuellen CTT-Metaanalyse [4] von 2012 wurde errechnet, dass die Statin-<br />
Effekte auch bei Risiken unter 10%, ja sogar noch unter 5% signifikant nachweisbar<br />
sind. (Dann verschlechtert sich allerdings die NNT entsprechend. Aber auch darüber<br />
hat die Wissenschaft und der G-BA bisher noch nicht diskutiert.)<br />
Angenommen, beide Effekte wären offiziell – bei Einrechnung des geringeren<br />
Risikos würde die absolute Risikoreduktion von 5% auf 3%/10Jahre zusammenschrumpfen<br />
– eine entsprechende NNT von 33 wäre für Gesundheitsökonomen<br />
aber wohl auch noch akzeptabel.<br />
aber:<br />
3) Stimmt eine 20-prozentige Risikosenkung durch Statine überhaupt<br />
Stimmt die<br />
für 83-jährige Frauen ohne vorangegangenen Herzinfarkt/Schlaganfall?<br />
überhaupt<br />
Risikoberechnung<br />
Zur Primärprävention (= keine vorangegangenen Herzinfarkte oder Schlaganfälle)<br />
gibt es insbesondere 2 neue große Metaanalysen: eine CTT-Auswer-<br />
in diesem Alter?<br />
bei Frauen<br />
tung individueller Patientendaten von 2012 [4] und eine Cochrane-Analyse<br />
von 2013 [3].<br />
Beide zeigen eine relative Risikoreduktion für kardiovaskuläre Ereignisse von<br />
20 bis 25%.<br />
Aber die eingeschlossenen Studien berücksichtigen fast keine Patienten über
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75 Jahre. Dann bleibt die erwähnte PROSPER-Studie [5] (mit Patienten von 70 bis<br />
82 Jahren) mit einer relativen Risikoreduktion von 15% (Besonderheit: keine reine<br />
Primärprävention, sondern 25% Anteil von Patienten mit vorangegangenen kardiovaskulären<br />
Ereignissen).<br />
Pi mal Daumen könnten die in arriba angesetzten 20% RRR noch stimmen, aber<br />
hier treffen wir auf ein schwer einschätzbares Phänomen: das der konkurrierenden<br />
Erkrankungen bzw. Todesursachen. Je multimorbider bzw. älter, desto größer ist<br />
die Sterbewahrscheinlichkeit an einem ganzen Bündel von Ursachen. Wird die eine<br />
vermindert, schlägt die andere zu. Insofern ist eine Minderung der üblichen Risikoreduktion<br />
von Statinen wahrscheinlich bei sehr Alten und Multimorbiden bzw. bei<br />
geringer Lebenserwartung.<br />
Damit kommen wir zur nächsten Frage:<br />
Hat die Patientin<br />
4) Wie hoch ist die Lebenserwartung dieser Patientin?<br />
in der noch<br />
Die derzeitige Rest-Lebenserwartung einer durchschnittlichen 83-jährigen<br />
zu erwartenden Deutschen ist etwa 8 bis 9 Jahre [6]. Aber ist sie eine durchschnittliche<br />
Lebensspanne Frau? Sie hat Hypertonus, VHF, Herzinsuffizienz, Herzklappenfehler, Karotisstenose,<br />
COPD (raucht sie etwa noch? – das haben wir dann oben nicht<br />
von dem<br />
Medikament berücksichtigt!) und damit sicher eine Reihe von erheblichen konkurrierenden<br />
Sterbe-Risiken, die durch viel Bewegung und Marcumar nur teilweise<br />
mehr<br />
zu erwarten als neutralisiert werden können. Aber alles das ist natürlich jenseits jedes mir<br />
Nebenwirkungen? bekannten Risikokalkulators. Wir sind auf den gesunden Menschenverstand<br />
und Erfahrung angewiesen. In der Multimorbiditäts-Leitlinie [7] haben wir<br />
darauf hingewiesen, dass in dieser Altersgruppe wahrscheinlich Lebensqualität<br />
vor Lebensverlängerung geht; also Präventionsmedikation nachrangig<br />
sein könnte.<br />
Damit kommen wir – ganz im Sinne von arriba und SDM (shared decision making) –<br />
zur entscheidenden Frage:<br />
5) Was will die Patientin eigentlich?<br />
Eigentlich die beste Frage. Warum ist uns die nicht gleich eingefallen?<br />
Wahrscheinlich, weil die Patientin uns möglicherweise fragen würde:<br />
„Was würden Sie denn in dieser Situation machen?“<br />
Interessenkonflikte: keine<br />
Dr.med. Uwe Popert, Arzt für Allgemeinmedizin<br />
(Mitautor der Leitlinien „Multimedikation“ und „kardiovaskuläre Prävention“<br />
von hausärztlicher Leitliniengruppe Hessen und DEGAM)<br />
Literatur:<br />
1 http://www.lipid-liga.de/cms/index.php?option=com_content&task=view&id=22&Itemid=51#index6 (besucht<br />
am 7..4.2013)<br />
2 http://www.g-ba.de/informationen/richtlinien/anlage/16/ (besucht am 7.4.2013)<br />
3 Taylor F, Huffman MD, Macedo AF, Moore TH, Burke M, Davey Smith G, Ward K, Ebrahim S. Statins for the<br />
primary prevention of cardiovascular disease. Cochrane Database Syst Rev. 2013 Jan 31;1:CD004816. doi:<br />
10.1002/14651858.CD004816.pub5 .<br />
4 Cholesterol Treatment Trialists‘ (CTT) Collaborators, Mihaylova B, Emberson J, Blackwell L, Keech A, Simes J,<br />
Barnes EH, Voysey M, Gray A, Collins R, Baigent C. The effects of lowering LDL cholesterol with statin therapy in<br />
people at low risk of vascular disease: meta-analysis of individual data from 27 randomised trials. Lancet. 2012<br />
Aug 11;380(9841):581-90. Epub 2012 May 17.<br />
5 Shepherd J, Blauw GJ, Murphy MB, Bollen EL, Buckley BM, Cobbe SM et al. Pravastatin in elderly individuals at<br />
risk of vascular disease (PROSPER): a randomised controlled trial. Lancet 2002;360(9346):1623- 30.<br />
6 http://www.gbe-bund.de/ (besucht am 7.4.2013)<br />
7 http://www.pmvforschungsgruppe.de/pdf/03_publikationen/multimedikation_ll.pdf (besucht 7.4.2013)
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KVH • aktuell<br />
Seite 15<br />
Was bewirken Rauchverbote?<br />
Dr. med. Klaus Ehrenthal<br />
Für Sie<br />
gelesen<br />
Nachdem in vielen Staaten Rauchverbote in öffentlichen Räumen gesetzlich verankert<br />
wurden, sind Fragen nach deren Wirkung auf die Gesundheit der Bevölkerung<br />
zu beantworten.<br />
Dazu erschien kürzlich eine große Metaanalyse von Tan CE und Glanz SA,<br />
die den erhofften Benefit dieser staatlichen Maßnahmen bestätigte [1]. Sie untersuchten<br />
in insgesamt 45 Studien die Wirkung von insgesamt 37 weltweiten<br />
Nichtraucherschutzgesetzen auf Krankenhausaufnahmen oder Todesfälle durch<br />
kardiale, cerebrovaskuläre oder respiratorische Erkrankungen nach einer gesetzlich<br />
erzwungenen rauchfreien Phase mit durchschnittlich 24-monatiger Nachuntersuchung.<br />
Dabei fanden sie, dass die verordnete Rauchfreiheit am Arbeitsplatz<br />
und in öffentlichen Räumen (auch in der Gastronomie) mit einer signifikanten<br />
Reduktion von Krankenhausaufnahmen oder Todesfällen von vier untersuchten<br />
Krankheiten einherging.<br />
Die Zahl der Herzinfarkte nahm um 15% ab, die der Schlaganfälle um 16%, die<br />
der Lungenerkrankungen um 24%. Die Wirkung war dosisabhängig. Die Reduktion<br />
der Krankenhausaufnahmen war geringer, wenn nur am Arbeitsplatz nicht mehr<br />
geraucht wurde, sie war am höchsten, wenn zusätzlich Restaurants und Bars von<br />
dem Rauchverbot betroffen waren.<br />
Koronare Ereignisse RR: 0,848; 95%-KI: 0,816-0,881,<br />
andere Herzerkrankungen RR: 0,861; 95%-KI: 0,440-0,847,<br />
zerebrovaskuläre Ereignisse RR: 0,840; 95%-KI: 0,753-0,936,<br />
Atemwegserkrankungen RR: 0,760; 95%-KI; 0,682-0,846.<br />
(RR: Relatives Risiko nach Rauchverbot, 95%-KI: 95%-Konfidenzinterval).<br />
Auch die Autoren Hurt RD, Weston SA, Ebbert JO et al. berichteten in einer Studie<br />
(Rochester Epidemiology Projects in Olmsted County, Minnesota) von einem deutlichen<br />
Gesundheitsnutzen bei ihren Untersuchungen [2].<br />
Sie konnten beim Vergleich der Zeit vor den gesetzlichen Rauchverboten und nach<br />
18 Monaten mit Rauchverboten in Gaststätten einen starken Reduktionseffekt für<br />
Herzinfarkte (33%, p
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Druck, um eine Verhaltensänderung der Raucher zu erreichen, als medizinischer<br />
Fortschritt angesehen wird, versucht die Lobby der Tabakindustrie ihren Schaden<br />
klein zu halten. Die entsprechenden Bemühungen sind vielfältig, und derzeit oftmals<br />
von der Öffentlichkeit unbemerkt, um auf kommunalen Ebenen Ausnahmeregelungen<br />
zu bewirken und auf der EU-Ebene in Brüssel, wo die geplante Verschärfung<br />
der gesetzlichen Bestimmungen bekämpft wird [8].<br />
In vielen Ländern außerhalb der EU (Russland, Afrika, Ostasien) wird allerdings<br />
trotz aller Bemühungen der Ärzte und Gesundheitspolitiker weiterhin ungehemmt<br />
von gesetzlichen Regelungen geraucht.<br />
Bedeutung<br />
für<br />
unsere<br />
Praxis<br />
Was bedeutet das für die Praxis?<br />
Die weltweiten Nichtraucherschutzgesetze zum Gesundheitsschutz sind mittlerweile<br />
in zahlreichen Untersuchungen als wirksam nachgewiesen.<br />
Das gilt für Betroffene aller Altersstufen: Kinder, Schwangere, Erwachsene<br />
und Senioren.<br />
Es sollte unbedingt verhindert werden, dass statt strenger und konsequenter<br />
Bestimmungen zum Nichtraucherschutz sich wieder eine allgemeine zunehmende<br />
Toleranz breit macht, die den Interessen der Tabakindustrie dient.<br />
Besondere Aufmerksamkeit haben jugendliche Rauchanfänger verdient, hier<br />
sollte durch verständnisvolle aber eindeutige Gefahrenaufklärung die Entstehung<br />
eine Gewöhnung und Nikotinsucht nach Möglichkeit verhindert werden.<br />
Keinesfalls sollten Nikotinkonsumenten jetzt verstärkt auf Ersatz (E-Zigaretten,<br />
Shisha, mit Aromastoffen parfümierte Tabakprodukte u.s.w.) ausweichen.<br />
Der Nichtraucherschutz durch gesetzliche Rauchverbote am Arbeitsplatz<br />
und in öffentlichen Räumen sollte von uns Ärzten auch weiterhin mit<br />
Bemühungen um Entwöhnung bei immer noch weit verbreiteter Nikotinabhängigkeit<br />
zum Schutz vor den Gefahren des Tabakkonsums wahrgenommen<br />
werden.<br />
Interessenkonflikte: keine<br />
Literatur:<br />
1 Tan CE and Glantz SA: Association Between Smoke-Free Legislation and Hospitalizations for Cardiac, Cerebrovascular,<br />
and Respiratory Diseases: A Meta-Analysis. Circulation 2012;126:2177-2183,<br />
doi: 10.1161/CIRCULATIONAHA.112.121301<br />
2 Hurt RD, Weston SA, Ebbert JO, et al.: Myocardial Infarction and Sudden Cardiac Death in Olmsted County,<br />
Minnesota, Before and After Smoke-Free Workplace Laws.<br />
Circulation. 2011;124:21, oder in: Arch Intern Med 2012;():1-7, doi: 10.1001/2013.jamaintemmed.46<br />
3 Ehrenthal K: Rauchverbote wirken. KVH aktuell Pharmakotherapie 2012;17(3):12-13<br />
4 Gefährlicher Jugendtrend: Sucht-Experte warnt vorm Shisha-Rauchen. STERN 13.03.2010, http//www.stern.de/<br />
gesundheit/gefaehrlicher-jugendtrend-suchtexperte-warnt-vorm-shisha-rauchen-1550661.html<br />
5 Van den Heuvel, M: E-Zigarette: Dunstige Debatte. DocCheck Nwes 01.06.2012,<br />
http://news.doccheck.com/de/article/209378-e-zigarette-dunstige-debatte<br />
6 E-Zigarette: Gefahr für Passivraucher. BfR; 11.05.2012,<br />
http://doccheck.com/de/article/209170-e-zigarette-gefahr-fuer-passivraucher<br />
7 Vardavas CI, Anagnostopoulos N, Kougias M, et al.: Acute pulmonary effects of using an e-cigarette: impact on<br />
respiratory flow resistance, impedance and exhaled nitric oxide. Chest 2011 Dec 22,<br />
www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22194587<br />
8 Cahn Z, Siegel M: Electronic cigarettes as a harm reduction strategy for tobacco control: A step forward or a<br />
repeat of past mistakes? J Publ Health Policy 2011;32:16-31, doi:10.1057/jphp.2010.41;publ 9.Dec. 2010<br />
9 C Pauly: Blauer Dunst. SPIEGEL 26.11.2012; 48:44-46
Nr. 2 / 2013<br />
KVH • aktuell<br />
Seite 17<br />
Einstieg mit Metformin,<br />
ein halbes Jahr später<br />
Verzögerungsinsulin<br />
Zur Frage aus Heft 1/2013: „Metformin reicht nicht mehr:<br />
wie gehen sie nun vor?“<br />
Briefe an die<br />
Redaktion<br />
Herr Kollege Popert kommt in seinem Dezember-Artikel zu einem nachvollziehbarem<br />
Ergebnis: Als erster Partner zum Metformin zeigen gerade Gliptine leider eine<br />
eher enttäuschende HbA1c-Wirksamkeit.<br />
Nun ist es wohl gängige Praxis, dass mit unterjährigen Phase-III-Studien Nutzenbehauptungen<br />
getroffen werden, die dann von Meinungsbildnern unkritisch<br />
multipliziert werden.<br />
Auch mir sind keine Langzeitdaten zu Gliptinen bekannt. Derzeit sind deren Preise<br />
also in zweifacher Hinsicht zu hoch. Wir setzten sie derzeit (nach einer Phase der<br />
Euphorie) selten ein.<br />
Was bleibt uns also?<br />
Der typische diabeteskranke Patient mit Diabetes Typ 2 in unserer Hausarztpraxis<br />
ist berentet und übergewichtig. Er ist in der Regel im Vollbesitz des metabolischen<br />
Syndroms.Sein Hauptproblem ist die Insulinresistenz. Vornehmster primärer Endpunktparameter<br />
ist das symptomarme Überleben. HbA1c, Blutzucker und Gewicht<br />
sind und bleiben Surrogatparameter.<br />
Das effizienteste Mittel gegen Insulinresistenz, das wir kennen, ist körperliche Bewegung.<br />
Unser typischer diabeteskranker Patient verlangt aber vorrangig erstmal<br />
nach gängigeren Wirkstoffen.<br />
Daher beginnen wir zügig mit Metformin und eskalieren nach rund sechs Monaten<br />
mit Verzögerungsinsulin um 22 Uhr (BOT 1 ). Dazu Schulung. (Wir geben Metformin<br />
bis zur GFR von 50 (NSAR-Verbot). Bei Gewichtabnahme infolge Insulinmangels<br />
dagegen Beginn mit CT 2 oder ICT 3 (s.u.). Ggf. Fibrate zur Senkung der Triglyceride.<br />
Alles darüber hinaus geht nur zusammen mit dem Patienten.<br />
Hierzu gibt es seit letztem Jahr das Positionspapier von EASD 4 und ADA 5 zum<br />
„Hyperglykämie-Management bei Typ-2-Diabetes: ein patientenzentrierter Ansatz“<br />
Die Autoren betonen die Selbstverantwortung des geschulten Patienten und erteilen<br />
der medikamentösen Übertherapie ohne Nutzenevidenz eine Absage.<br />
Der Stellenwert regelmäßiger körperlicher Bewegung sei mit Hinblick auf die<br />
begrenzte Wirksamkeit der verfügbaren Antidiabetika stärker zu betonen (wir<br />
schulen Bewegung als „Medikament“ und kommunizieren die Konsequenzen der<br />
„Nichteinnahme“ entsprechend.)<br />
Das Papier beschreibt dabei drei Zielkorridore:<br />
1. Ein HbA1c unter/bis 7% sei oft der beste Kompromis aus kardiovaskulärem<br />
und mikrovaskulärem Risiko.<br />
2. Strengere Ziele (6,5%) bei kurzer Diabetesdauer, fehlenden kardiovaskulären<br />
Erkrankungen, fehlenden Begleiterkrankungen, hoher Motivation, stabiler<br />
Einstellbarkeit. Hier sollte zeitnah ggf. eine ICT 3 angeboten werden.<br />
3. Weniger strenge HbA1c-Ziele (7,5-8,5%) besonders bei fortgeschrittenen kardiovaskulären<br />
Erkrankungen, labiler Einstellbarkeit, schweren Hypoglykämien<br />
in der Vorgeschichte.<br />
1: BOT = Basal unterstützte orale Therapie; 2: CT = Konventionelle Therapie<br />
3: ICT = Intensivierte Konventionelle Therapie 4: EASD = European Association for the Study of Diabetes<br />
5: ADA = American Diabetes Association
Seite 18 KVH • aktuell<br />
Nr. 2 / 2013<br />
Briefe an die<br />
Redaktion<br />
Wir geben eher kein Glimepirid wegen der Hypo-Gefahr. Ggf. BOT 1 zur<br />
Dämfung der nächtlichen hepatischen Glukosefreisetzung. Sehr konsequente<br />
Blutdruckeinstellung.<br />
Dr.med. Stefan G. Grenz, M.san.<br />
Facharzt für Innere Medizin / Gastroenterologie<br />
Lieber Herr Kollege Grenz,<br />
Ihre Vorgehensweise stimmt mit der gerade veröffentlichten Nationalen Versorgungsleitlinie<br />
Diabetes überein (http://www.versorgungsleitlinien.de/themen/<br />
diabetes2). Insbesondere die deutliche Einbindung von Sport/Bewegung gefällt<br />
mir sehr gut.<br />
Nach neueren Studienergebnissen (ACCORD-LIPID) sind allerdings die Fibrate nur<br />
noch bei Statin-Unverträglichkeit und bei einem kardiovaskulären Risiko >20% in<br />
10 Jahren empfehlenswert bzw. verordnungsfähig. Das um so mehr, als die Triglyceride<br />
bei Hypergykämie wahrscheinlich sekundär erhöht sind und die Bedeutung<br />
der Triglyzeride als unabhängiger Risikofaktor zunehmend umstritten ist.<br />
Dr. med. Uwe Popert, Arzt für Allgemeinmedizin<br />
Soll ich meinen Patienten<br />
nur noch Bewegung empfehlen?<br />
Ich bin ja ein eifriger Leser der KVH aktuell, aber wenn ich die letzten Hefte Revue<br />
passieren lasse, habe ich den Eindruck, dass ich außer „kleiner Psychotherapie“ und<br />
„Rezept-auf-Bewegung“ am besten nichts mehr verordnen sollte!<br />
Ein Großteil unserer täglichen Patienten sind Schmerzpatienten und davon die<br />
Masse Alte und Multimorbide (Herzinsuffizienz/Niereninsuffizienz etc.), häufig mit<br />
ASS- oder Antikoagulanzientherapie. NSAR fallen in der Regel bei diesen Personen<br />
aus (Heft 4/2012, Seite 36). Paracetamol wurde entweder schon genommen oder ist<br />
ja in höheren Dosen selber in der Kritik (Leberschäden, Verschreibungspflicht etc.).<br />
Tramadol nimmt wegen NW keiner ein, Tilidin-Tropfen machen abhängig. Retard-<br />
Tabletten wirken bei muskuloskelettalen Schmerzen aufgrund Retardwirkung nicht<br />
so gut, Metamizol (Seite 22) ist kritisch, Fentanylpflaster (S. 19) werden verdammt,<br />
Flupirtin (S. 33) dito, Tolperison (Rote Hand Brief) fällt aus, Paracetamol comp. gibt<br />
es nur noch in Kleinpackungen; ASS-Austausch durch Clopidogrel ist nicht zulässig<br />
(S. 4 ff), d.h. man müsste ein PPI (wieder viele NW sowie ein weiteres Medikament,<br />
welches dem Ziel von möglichen 5 Medikamenten zuwider läuft) zufügen.<br />
Ja was mache ich armer Doktor nun??<br />
Ich wäre ja mal für Artikel, die mir positive Entscheidungshilfen an die Hand geben,<br />
dankbar. Bisher verstärken Sie nur von Heft zu Heft mein schlechtes Gewissen, lassen<br />
mich ansonsten aber im Regen stehen. In diesem Sinne bin ich auf zukünftige<br />
Pro-Artikel gespannt!<br />
Mit besten Grüßen von einem treuen Leser<br />
Dr. med. Andreas Rohrbeck, Arzt für Allgemeinmedizin, 63517 Rodenbach<br />
Lieber Herr Kollege Rohrbeck,<br />
Ihr Monitum ist bei uns angekommen. Denn in der Tat neigt man in der rationalen<br />
und rationellen Pharmakotherapie, der wir uns verpflichtet fühlen, gerne dazu,<br />
den Nutzen einer Medikation geringer zu erachten, als das unbestritten mögliche<br />
Schadenspotential. Das hängt natürlich mit den unterschiedlichen Rollen zusammen,<br />
die jeder an seinem Ort zu spielen hat.
Nr. 2 / 2013<br />
KVH • aktuell<br />
Seite 19<br />
Sie müssen – wie übrigens wir Autoren der Beiträge zu KVH aktuell auch – Tag<br />
für Tag Patientenprobleme lösen. Mit all den Gedanken, die Sie veranlasst haben,<br />
uns zu schreiben. Aber in unserer Autorenrolle sehen wir uns auch verpflichtet,<br />
Ihnen und allen anderen KollegInnen immer wieder zu signalisieren: „Es liegt in<br />
der Natur der Dinge, dass man nicht ein Übel beseitigen kann, ohne dass es nicht<br />
an anderer Stelle wieder auftritt.“<br />
Diese vor 500 Jahren von dem Florentiner Staatsmann Macchiavelli getroffene<br />
politische Feststellung ist durchaus auf manche Probleme in der Pharmakotherapie<br />
übertragbar. Denn an unerfreulichen Nebenwirkungen der Pharmakotherapie des<br />
Schmerzes gibt es halt keinen Mangel, was man als Autor nicht verschweigen darf.<br />
Und der Sie veranlasst hat, uns ein Leserbriefsignal zu geben. So als würden wir in<br />
der eigenen Praxis der Parole huldigen: „am besten nichts verschreiben“.<br />
Nein, so ist es nicht. Jeder von uns hat jeden Tag gerade in der Schmerztherapie<br />
eine Gratwanderung zwischen potentiellem Nutzen und möglichem<br />
Schaden vorzunehmen. Und es ist schon viel erreicht, wenn man sich<br />
dessen bewusst ist.<br />
Aber es gibt noch ein weiteres erstaunliches Phänomen zu berichten, welches<br />
man durchweg feststellen kann, wann man sich gründlich in die Details von Arzneimittelstudien<br />
vertieft. Da beobachtet man bei der Prüfung von Schmerzmitteln<br />
aller Art inklusive der Opiate, dass ein Placeboeffekt von 40% durchaus üblich ist<br />
und die Verumgruppe meist nur bescheidene 10-15 % besser abschneidet. Und<br />
wenn man sich bei Hausbesuchen einmal die Mühe macht, nachzuschauen, was<br />
an Arzneivorräten noch vorhanden ist, dann sind es überdurchschnittlich häufig<br />
angebrochene Schmerzmittelpackungen, obwohl die Patienten nicht müde waren,<br />
in der Praxis ihre Schmerzen als chronisch und glaubhaft zu beklagen.<br />
Kein Arzt kommt jedoch ohne Schmerzmittel zur Lösung von bestimmten Patientenproblemen<br />
aus. Und es gibt Fälle, wo selbst bei kritischem Einsatz ein Schaden<br />
sich als unvermeidlich erweisen wird. Dennoch: das uralte „nil nocere“ treibt die<br />
Redaktion an, an das Schadenspotential von Schmerzmitteln zu erinnern. Nicht aus<br />
Gründen der Sparsamkeit, sondern aus Verantwortung für die Patienten.<br />
Der verordnete Schmerzmittelkonsum steigt von Jahr zu Jahr, die Verordnung von<br />
Opioidanalgetika hat in den letzten 10 Jahren um 60 Prozent zugenommen. Und<br />
unter den nichtopioiden Analgetika haben die Metamizolverordnungen erneut einen<br />
deutlichen Anstieg zu verzeichnen, obwohl das schwerwiegende Agranulozytoserisiko<br />
weiter besteht (AVR 2012, S. 263). Nicht zu vergessen ist die Selbstmedikation<br />
mit rezeptfreien Analgetika, die uns Ärzten recht häufig verschwiegen wird.<br />
Nichtmedikamentöse Methoden zur Schmerzlinderung werden häufig vergessen.<br />
Meist bleibt jedoch nichts anders übrig, als im Bewusstsein eines möglichen Schadenspotentials<br />
zu verordnen, gegebenenfalls mit einem Protonenpumpenhemmer<br />
als Schutz vor der häufigsten Komplkation. Intensiv das seelische Befinden der<br />
chronischen Schmerzkranken in die Gesamtbehandlung mit einzubeziehen, ist ein<br />
dringender Wunsch, der allzu oft wegen Zeitnot unerfüllt bleibt.<br />
Dass einerseits Sucht und andererseits Therapieverweigerung zwei Seiten einer<br />
Medaille sein können, hat bereits jeder Hausarzt gerade bei Schmerzpatienten<br />
mehrfach erlebt.<br />
Aus all diesen „simplen“ Gründen sehen wir uns außerstande, Ihnen ein „gutes<br />
Gewissen“ bei der Verordnung von Schmerzmitteln machen zu können. Ein Restrisiko<br />
bleibt immer. Ohne Kompromisse in der Abwägung von Nutzen und Schaden<br />
geht es leider nicht. Schwere, ernste oder gar lebensbedrohliche unerwünschte<br />
Wirkungen von Schmerzmitteln sind jedoch – falls Ihnen das, lieber Kollege Rohrbeck,<br />
ein Trost ist – recht selten. Und ohne eine gute Analgesie sind viele Patientenprobleme<br />
nicht lösbar.<br />
Bleiben Sie uns gewogen, wir kochen auch nur mit Wasser!<br />
Dr. med. Jürgen Bausch<br />
Briefe an die<br />
Redaktion<br />
Natürlich sind<br />
Schmerzmittel<br />
unverzichtbar –<br />
aber auch im<br />
Praxisalltag darf man<br />
die Risiken nicht aus<br />
den Augen verlieren.
Seite 20 KVH • aktuell<br />
Nr. 2 / 2013<br />
Für Sie<br />
gelesen<br />
Nutzen einer mediterranen Diät endlich<br />
in einer sauberen Studie belegt<br />
Dr. med. Klaus Ehrenthal<br />
Nachdem immer wieder in prospektiven Beobachtungsstudien vom Nutzen einer<br />
sogenannten „mediterranen“ Ernährung für die Kardioprotektion berichtet wurde,<br />
ist nun endlich mit der multizentrischen PREDIMED-Studie aus Spanien (in Barcelona<br />
und Navarro) eine ausreichend große, sauber durchgeführte randomisierte<br />
Interventionsstudie zur primären Prävention kardiovaskulärer Ereignisse erschienen,<br />
um den Effekt dieser Ernährungsform zu untersuchen [1]. Zuvor lagen lediglich die<br />
Ergebnisse der “Lyon Diet Heart Study“ aus 1999 für die kardiovaskuläre Sekundärprävention<br />
vor, deren Ergebnisse wegen der kleinen Zahl von nur 423 Teilnehmern<br />
nicht ausreichend überzeugen konnten [2, 3].<br />
Die PREDIMED-Studie zeigte, dass die Wirkung der erprobten mediterranen Diät<br />
einen deutlichen Vorteil für die kardiovaskuläre Prävention hatte, sodass sie nach<br />
durchschnittlich 4,8 Jahren abgebrochen werden konnte. Schwere kardiovaskuläre<br />
Ereignisse traten signifikant seltener auf.<br />
Die auch „Mittelmeer-Diät“ genannte traditionelle mediterrane Ernährungsform, die<br />
in den südeuropäischen Ländern häufig, wenn auch nicht überall und bei jedermann<br />
gebräuchlich ist, wendet großzügig kalt gepresstes (=extra virgines) Olivenöl, Obst,<br />
Gemüse und auch Nüsse sowie Cerealien bei gemäßigtem Konsum von Fisch und<br />
Geflügel an. Dazu gehört in der Regel ein Glas Wein. Dagegen werden Milch, rotes<br />
Fleisch und Süßigkeiten seltener verzehrt.<br />
Vorgehensweise bei der PREDIMED-Studie:<br />
Aus den 7.447 Studienteilnehmern (43% Männer, 55 bis 80 Jahre alt und 57%<br />
Frauen, 60 bis 80 Jahre alt) wurden von den Autoren drei gleich große Gruppen korrekt<br />
randomisiert gebildet, die nach initialer Gesundheitsuntersuchung einschließlich<br />
der Dokumentation von Größe, Gewicht, Hüftumfang und Begleitkrankheiten und<br />
deren Medikation im weiteren Verlauf regelmäßig engmaschig individuell und auch<br />
in Gruppenberatungen betreut wurden. Sie wurden mit Hilfe spezieller Ernährungsempfehlungen<br />
zu drei untersuchten Diätformen mit dreimonatigen individuellen<br />
Ernährungsberatungen und Gruppenberatungen engmaschig beraten.<br />
Gruppe 1: mediterrane Kost + kalt gepresstes Olivenöl,<br />
Gruppe 2: mediterrane Kost + täglich 30g Nüsse,<br />
Gruppe 3: fettarme Kost zum Vergleich.<br />
Dabei wurden auch Verbrauchskontrollen des zur Verfügung gestellten kalt gepressten<br />
Olivenöls (Gruppe 1) und der Nüsse (Gruppe 2) vorgenommen.<br />
Die untersuchten drei Diätformen wurden wie folgt mit den Probanden besprochen:<br />
Gruppe 1: Empfohlen wurde die freie Verwendung von bis zu 1 Liter Olivenöl<br />
pro Woche, ansonsten keine Mengenbeschränkungen bei der Durchführung<br />
der mediterranen Essgewohnheiten der Probanden mit frischem Obst 3x<br />
täglich, Gemüse 2x täglich, Fisch 3x wöchentlich, Hülsenfrüchte 3x wöchentlich,<br />
„Sofrito“ (eine Tomaten-Zwiebel-Knobloch-Kräuter-Sauce mit Olivenöl)<br />
2x wöchentlich; außerdem weißes Fleisch statt rotem Fleisch. Wenn gewöhnt,<br />
täglich ein Glas Wein zum Essen. 1 Liter Olivenöl (extra virgines) wurde den<br />
Teilnehmern wöchentlich zur Verfügung gestellt, der Verbrauch wurde protokolliert.<br />
Abgeraten wurde vom Genuss von Soda-Getränken, Gebäck, Süßigkeiten<br />
und dem Genuss von Torten.
Nr. 2 / 2013<br />
KVH • aktuell<br />
Seite 21<br />
Gruppe 2: Auch diese Gruppe wurde gleichermaßen regelmäßig geschult,<br />
die oben beschriebene mediterrane Ernährung durchzuführen, allerdings<br />
ohne die zusätzliche Bereitstellung von Olivenöl. Es wurden dieser Gruppe<br />
zusätzlich 30 g Nüsse (15 g Walnüsse, 7,5 g Haselnüsse, 7,5g Mandeln) zum<br />
täglichen Verzehr dieser Menge zur Verfügung gestellt, der Verbrauch wurde<br />
protokolliert.<br />
Abgeraten wurde wie bei Gruppe 1 vom Genuss von Soda-Getränken, Gebäck,<br />
Süßigke#iten und von Torten.<br />
Gruppe 3: Diese Gruppe diente der Kontrolle mit einer fettarmen Diät. Den<br />
Teilnehmern wurden bei den regelmäßigen Ernährungsberatungen fettarme<br />
Produkte 3x täglich, Kohlehydrate wie Brot, Kartoffeln, Pasta, Reis bis zu 3x<br />
täglich, frisches Obst bis zu 3x täglich, Gemüse bis zu 2x wöchentlich, magerer<br />
Fisch und Meeresfrüchte bis zu 3x wöchentlich empfohlen.<br />
Abgeraten wurde vom Verzehr ölhaltiger Gemüse, üblicher Gebäckstücke,<br />
Süßigkeiten und Torten, von Nüssen, rotem und verarbeitetem fetten Fleisch,<br />
sichtbarem Fett in Fleisch und Suppen, fettem Fisch, von Meeresfrüchten in<br />
öligen Konserven, von Fettüberzug auf der Nahrung und von mehr als 2x<br />
wöchentlichem Verzehr von „Sofrito“.<br />
Die bei den Teilnehmern vorhandenen Risikofaktoren (mehr als 80% hatten eine<br />
arterielle Hypertonie, etwa 50% einen Typ-2-Diabetes, 70% eine Fettstoffwechselstörung)<br />
wurden durchgehend medikamentös behandelt. Dabei nahm die Hälfte<br />
einen ACE-Hemmer, jeder fünfte Diuretika, jeder vierte weitere Antihypertensiva,<br />
jeder dritte orale Antidiabetika oder Insulin, 40% nahmen ein Statin ein.<br />
Primärer Endpunkt der Studie war die Rate schwerer kardiovaskulärer Ereignisse<br />
(Herzinfarkte, Schlaganfall oder kardiovaskuläre Todesfälle).<br />
Diese Studie war nicht als Alternative zur medikamentösen Behandlung gedacht,<br />
sondern als Ergänzungsmöglichkeit zu der jeweiligen medikamentösen Therapie.<br />
Ergebnisse:<br />
Der primäre Endpunkt war nach durchschnittlich 4,8 (2,8-5,8) Jahren bei 288<br />
Teilnehmern aufgetreten. Die Rate der Ereignisse gliederte sich nach multivariabler<br />
Kovarianzanalyse wie folgt:<br />
Gruppe 1 (mediterrane Ernährung, reichlich extra virgines Olivenöl, 2543<br />
Fälle): Hazard Ratio (HR): 0,70; 95%-Konfidenzintervall (KI): 0,53-0,91, p =<br />
0,009.<br />
Es kam zu 96 Ereignissen<br />
Die Gesamtsterblichkeit sank jedoch nur wenig, das Ergebnis war nicht signifikant:<br />
HR 0,81; 95%-KI: 0,63-1,05, p = 0,11<br />
Gruppe 2 (mediterrane Ernährung mit zusätzlich 30 g Nüssen täglich, 2454<br />
Fälle): HR: 0,70; 95%-KI: 0,53-0,94, p = 0,02<br />
Es kam zu 83 Ereignissen<br />
Die Gesamtsterblichkeit sank auch hier nur wenig, das Ergebnis war nicht<br />
signifikant: HR: 0,95, 95%-KI:0,73-1,23, p = 0,68<br />
Gruppe 3 (Kontrollgruppe mit fettarmer Ernährung, 2450 Fälle):<br />
Es kam zu 109 Ereignissen<br />
Durch Biomarker nach 1, 3 und 5 Jahren konnte in den mediterran ernährten Gruppen<br />
1 und 2 eine durchgehend befriedigende Compliance zum Einhalten der Diät<br />
durch die Teilnehmer nachgewiesen werden.<br />
Insgesamt senkte die mediterrane Diät das kardiovaskuläre Risiko also signifikant<br />
um etwa 30%. Das bedeutet, dass etwa 3 kardiovaskuläre Ereignisse pro 1000
Seite 22 KVH • aktuell<br />
Nr. 2 / 2013<br />
Patientenjahre vermieden werden konnten. Die nur geringe und nicht signifikante<br />
Verbesserung der Gesamtsterblichkeit ist wegen der bei den Kontrollen aufgefallenen<br />
teilweise schwachen Einhaltung der Ernährungsempfehlungen (weniger<br />
Olivenölverbrauch als empfohlen, weniger Fischverzehr, weniger Gemüseverzehr<br />
als empfohlen) sicherlich noch steigerungsfähig, wodurch der mögliche Vorteil einer<br />
mediterranen Ernährung noch grösser ausfallen kann.<br />
Die sogenannte „Mittelmeerdiät“ mit kalt gepresstem, also ungehärtetem extra<br />
virginem Olivenöl entspricht in vielen Punkten der herzgesunden Ernährung, deren<br />
Effekte von Deghan et al [4] auf dem Boden der jüngsten Empfehlungen des Department<br />
of Nutrition der Harvard School of Public Health [5] in der kardiovaskulären<br />
Sekundärprävention nachgewiesen wurden. Wir hatten darüber ausführlich<br />
berichtet [6]. Die in der PREDIMED-Studie gewählte mediterrane Diät (Gruppe 1 +<br />
2) dürfte im Vergleich zur fettarmen Diät (Gruppe 3) bei konsequenter Anwendung<br />
gegenüber anderen Diätformen [5] noch wirksamer sein.<br />
Bedeutung<br />
für<br />
unsere<br />
Praxis<br />
Geringeres kardiovaskuläres Risiko ohne Kalorienverzicht<br />
Eine konsequente Umstellung auf mediterrane Kost bringt zusätzlich zu einer<br />
medikamentösen Therapie einen Nutzen für kardiovaskuläre Risikofälle (z.B.<br />
für Raucher, Hypertoniker, Typ-2-Diabetiker, Übergewichtige, Fälle mit familiärer<br />
kardiovaskulärer Belastung).<br />
Die mediterrane Ernährungsform ist schmackhaft, sättigend und steigert nicht<br />
das Körpergewicht. In den Studien nahmen die Probanden sogar ab.<br />
Sie zwingt nicht zu besonderem Kalorienverzicht.<br />
Hausärzte haben mit dieser Empfehlung eine durchaus wirksame nichtmedikamentöse<br />
Möglichkeit, ihre medikamentösen Maßnahmen zur Abwehr von<br />
kardiovaskulärem Risiko zu unterstützen.<br />
Wir hatten in KVH aktuell Pharmakotherapie zu der neuen Harvard-Diät<br />
berichtet [6]. Hier dürfte die mediterrane Ernährungsform besonders vom<br />
Nutzen in der kardiovaskulären Prävention sein, da sie in vielen Empfehlungen<br />
sehr ähnlich ist. Dieser übertrifft nach den Ergebnissen von Estruch et al. [1]<br />
jedenfalls den Nutzen einer fettreduzierten Ernährung.<br />
Interessenkonflikte: keine<br />
Literatur:<br />
1 Estruch R, Ros E, Salas-Salvado J, t al. for the PREDIMED-Investigators: Primary Prevention of Cardiovascular<br />
Disease with a Mediterranean Diet. (PREDIMED-Study) 2013; N Engl J Med vom 25.02.2013, doi:10.1056/<br />
NEJMoa1200303<br />
2 De Longeril M, Salem P, Martin JL, et al.: Mediterranean diet, traditional risk factors, and the rate of cardiovascular<br />
complications after myocardial infarction: final report of the Lyon Diet Heart Study. Circulation<br />
1999;99:779-785<br />
3 Kris-Etherton P, Eckel RH, Howard BV, et al.: Lyon Diet Heart Study: Benefits of a Mediterranean Style, National<br />
Colesterol Education Program / American Heart Association Step 1 Dietary. Circulation 2001;103:1823-1825,<br />
doi: 10.1161/01Cir.103.13.1823<br />
4 Deghan M, Mente A, Teo KK, et al.: Relationship Between Healthy Diet and Risk of Cardiovascular Disease<br />
Among Patients on Drug Therapies for Secundary Prevention: A Prospective Cohort Study of 31 546 High-Risk<br />
Individuals from 40 Countries. Circulation 2012;126:2705-2712,<br />
doi: 10.1161/CIRCULATIONAHA.112.103234<br />
5 Department of Nutrition. Harvard School of Public Health: The new healthy eating plate. / The healthy eating<br />
pyramid. 2005. www.thenutritionsource.org<br />
6 Ehrenthal K: Gesunde Ernährung bringt auf Dauer mehr als ACE-Hemmer und Sartane. KVH aktuell Pharmakotherapie<br />
2013;(18)1:4-6
Nr. 2 / 2013<br />
KVH • aktuell<br />
Seite 23<br />
Fluch oder Segen?<br />
Benzodiazepine und deren Analoga<br />
Der<br />
Gastbeitrag<br />
Im Jahr 1960 kam das erste Benzodiazepinpräparat mit dem Wirkstoff Chlordiazepoxid<br />
auf den Arzneimittelmarkt, 1963 folgte Diazepam. Seit Anfang der<br />
1990er Jahre sind zusätzlich die sogenannten Z-Substanzen (Zopiclon, Zolpidem,<br />
Zaleplon), die wir im Folgenden als Analoga bezeichnen, verfügbar. Während die<br />
übrigen Benzodiazepine sowie Zolpidem nur ab größeren Wirkstoffmengen der<br />
Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV) unterliegen, unterstehen<br />
Zubereitungen mit Flunitrazepam (z. B. Rohypnol ® ) seit dem 1. November 2011<br />
ohne Ausnahme allen betäubungsmittelrechtlichen Vorschriften (25. BtMÄndV).<br />
Wir erläutern die möglichen Problemfelder beim Einsatz in der Praxis und geben<br />
praktische Tipps für die Verordnung.<br />
Druck mit<br />
freundlicher<br />
Genehmigung<br />
der KV Baden-<br />
Württemberg<br />
Aus: KVBW<br />
Verordnungsforum<br />
25; Februar 2013<br />
Nebenwirkungen<br />
Bei Dauergebrauch kann es zu<br />
mnestischen Störungen, psychomotorischer<br />
Behinderung und/oder<br />
Affektverflachung kommen.<br />
Paradoxe Wirkungen sind möglich.<br />
In Kombination mit Alkohol können<br />
erhebliche Verhaltensstörungen mit<br />
Amnesie für die betreffende Zeit<br />
ausgelöst werden.<br />
Benzodiazepine können zu Missbrauch<br />
und Abhängigkeit führen [1].<br />
Wirkung<br />
Indikationsgebiet<br />
Benzodiazepine<br />
anxiolytisch, sedierend Angsterkrankungen,Erregungszustände<br />
hypnotisch<br />
Schlafstörungen<br />
muskelrelaxierend Muskelspasmen<br />
antikonvulsiv<br />
cerebrale Krampfanfälle<br />
amnestisch<br />
Prämedikation für operative Eingriffe<br />
Benzodiazepin-Analoga (Z-Wirkstoffe)<br />
hypnotisch<br />
Schlafstörungen<br />
Problemfelder beim Einsatz von Benzodiazepinen in der Praxis<br />
Oftmals werden die Benzodiazepine auch bei unspezifischen Beschwerden wie chronischen<br />
Schlafstörungen, Niedergeschlagenheit, Unausgeglichenheit, Lustlosigkeit,<br />
bei Angst- und Stresssymptomen verschrieben, wodurch eine exakte Diagnostik und<br />
eine gezielte indikationsgerechte Therapie verhindert werden. Denn die Einnahme<br />
mildert zunächst den subjektiven Leidensdruck des Patienten. Die Symptomatik wird<br />
gelindert, die zugrunde liegenden Probleme können chronifizieren. Es kann leicht<br />
ein Dauerkonsum entstehen, der Folgen haben kann:<br />
Einschränkung von Gedächtnis- und Merkfähigkeit,<br />
Muskelschwäche und Koordinationsstörungen,<br />
Gefühlsverflachung,<br />
Zunahme von Angst und Depressionen durch Verlust der hypnotischen und<br />
sedierenden Wirkung (Dauergebrauch),<br />
Gefahr der Wirkstoffkumulation bei älteren Menschen (verzögerter Abbau).<br />
Die daraus resultierenden Beeinträchtigungen können zu gefährlichen Sturzverletzungen<br />
mit komplizierten Frakturen (Schenkelhalsbruch) führen oder das Bild<br />
einer „Scheindemenz“ hervorrufen.<br />
Nach § 2 Abs. 2 Berufsordnung sind Ärzte zu einer gewissenhaften Berufsausübung<br />
verpflichtet. Darüber hinaus dürfen sie nach § 7 Abs. 8 Berufsordnung einer<br />
missbräuchlichen Anwendung ihrer Verschreibung keinen Vorschub leisten. Maßgeblich<br />
sind außerdem die Arzneimittelrichtlinien, die Fachinformationen und die<br />
Richtlinien der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten<br />
Behandlung Opiatabhängiger [1].
Seite 24 KVH • aktuell<br />
Nr. 2 / 2013<br />
Praktische Tipps zur Verordnung<br />
Um die oben genannten potentiellen Auswirkungen einer Verordnung von Benzodiazepinen<br />
zu minimieren, kann folgende Merkhilfe – die „4 K’s“ – den Einsatz<br />
klarer und sicherer gestalten.<br />
Klare Indikation<br />
Die Verordnung von Benzodiazepinen bedarf sowohl bei Kassen- als auch bei<br />
Privatpatienten einer kritisch geprüften Indikation mit klaren Therapiezielen sowie<br />
einer regelmäßigen Überprüfung. Eine Verordnung nur auf Wunsch des Patienten<br />
ist nicht möglich. Bei Befindlichkeitsstörungen und vielen somatischen Beschwerden<br />
sind mögliche zugrunde liegende psychische Belastungen abzuklären.<br />
Die Therapie mit Benzodiazepinen erfordert eine genaue Dokumentation, mit der<br />
sich die therapeutische Entscheidung nachvollziehen lässt.<br />
Korrekte Dosierung<br />
Es ist auf eine korrekte und geringstmögliche Dosierung zu achten. Besondere<br />
Vorsicht ist bei einer Dosissteigerung geboten. Besondere Gefahr droht bei der<br />
Verordnung durch mehrere Ärzte.<br />
Kurze Anwendung<br />
Nach der Arzneimittelrichtlinie ist die Anwendungsdauer von Hypnotika grundsätzlich<br />
auf vier Wochen begrenzt, wie schon in der Fachinformation hinterlegt. Von<br />
dieser Regel darf nur in medizinisch begründeten, dokumentierten Einzelfällen abgewichen<br />
werden. Eine langfristige Verordnung von Benzodiazepinen beispielsweise<br />
bei schweren psychiatrischen Erkrankungen setzt eine engmaschige, regelmäßige<br />
Überprüfung des therapeutischen Nutzens und der aufgetretenen Nebenwirkungen<br />
voraus und sollte grundsätzlich nur nach Einholen einer zweiten Meinung eines<br />
in der Suchtmedizin erfahrenen Arztes oder eines Psychiaters erfolgen. In diesem<br />
Zusammenhang sollte Wiederholungsrezepten besondere Beachtung geschenkt<br />
werden.<br />
Patienten müssen in die Entscheidungen einbezogen werden sowie über die<br />
Zweckmäßigkeit der Behandlung, über Wirkungen, Nebenwirkungen und Abhängigkeitspotentiale<br />
genau aufgeklärt werden. Das Ziel, eine Langzeitverordnung zu<br />
vermeiden, kann nur erreicht werden, wenn der Patient lernt, alternative Methoden<br />
der Problembewältigung zu entwickeln.<br />
Kein abruptes Absetzen bei hoher Dosierung und/oder längerem Gebrauch<br />
Zu diesem Thema und zum Problem der Entwöhnung werden Sie in einem der<br />
kommenden Hefte Details finden.<br />
Hypnotika/Hypnogene und Sedativa<br />
Nach Punkt 32 der Anlage III der Arzneimittel-Richtlinie [2]<br />
sind Hypnotika/Hypnogene oder Sedativa (schlaferzwingende,<br />
schlafanstoßende, schlaffördernde oder beruhigende Mittel) zur<br />
Behandlung von Schlafstörungen, nicht verordnungsfähig,<br />
ausgenommen zur Kurzzeittherapie bis zu vier Wochen,<br />
ausgenommen für eine länger als vier Wochen dauernde<br />
Behandlung in medizinisch begründeten Einzelfällen.<br />
Eine längerfristige Anwendung von Hypnotika/Hypnogenen oder<br />
Sedativa ist besonders zu begründen.<br />
Unterschied zwischen<br />
Benzodiazepinen<br />
und Analoga<br />
Als Schlaf- und Beruhigungsmittel<br />
lösten die Benzodiazepine<br />
die früher in diesem Indikationsspektrum<br />
verwendeten Barbiturate<br />
ab. Inzwischen werden<br />
sie ihrerseits wiederum häufig<br />
durch die Benzodiazepin-Analoga<br />
mit Wirkstoffen wie Zolpidem,<br />
Zopiclon und Zaleplon<br />
ersetzt.<br />
Auch für die Benzodia-
Nr. 2 / 2013<br />
KVH • aktuell<br />
Seite 25<br />
zepin-Analoga zeichnet sich ab, dass sich die Annahme eines deutlich geringeren<br />
Abhängigkeitsrisikos möglicherweise nicht aufrechterhalten lässt: Die WHO hat<br />
Zolpidem bezüglich des Missbrauchs- und Abhängigkeitsrisikos bereits den Benzodiazepinen<br />
gleichgestellt. Hier wiederholt sich, was bei neuen Arzneimitteln häufig<br />
geschieht: Die Risiken und Nebenwirkungen sind noch nicht ausreichend bekannt<br />
oder werden unterschätzt. [1]<br />
Fazit<br />
Benzodiazepine und deren Analoga sind ein Segen bei adäquater Indikationsstellung<br />
und ein Fluch bei gewohnheitsmäßiger Dauertherapie.<br />
Hinweis<br />
Dieser Text wurde in Abstimmung mit den Landesverbänden der Krankenkassen<br />
und dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) erstellt.<br />
Literatur<br />
1 Bundesärztekammer, AkdÄ (Hrsg). Medikamente – schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit. Leitfaden für die<br />
ärztliche Praxis. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 2007<br />
2 Arzneimittel-Richtlinie Anlage III Stand 1.10.2011<br />
Benzodiazepine im Sozialrecht<br />
Die Verordnung von Benzodiazepinen (oder Z-Benzodiazepinen) und Schlafmitteln ist zu Lasten der<br />
GKV eingeschränkt. Die Arzneimittel-Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses der Ärzte<br />
und Krankenkassen formulieren in der Anlage 3 folgendes:<br />
Tranquillantien sind nicht verordnungsfähig,<br />
ausgenommen zur Kurzzeittherapie bis zu 4 Wochen<br />
ausgenommen für eine länger als 4 Wochen dauernde Behandlung in medizinisch begründeten<br />
Einzelfällen.<br />
Eine längerfristige Anwendung von Tranquillantien ist besonders zu begründen.<br />
Die längerfristige Behandlung mit Benzodiazepinen beispielsweise als Schlafmittel oder Muskelrelaxanzien<br />
stellt keine evidenzbasierte Medizin dar und ist wegen der Nebenwirkungen, in erster Linie<br />
dem Abhängigkeitspotential, unbedingt zu vermeiden. Diese führt zu Einzelregressen.<br />
Eine längerfristige Benzodiazepintherapie ist medizinisch zu begründen und zu dokumentieren.<br />
Bei psychiatrischen Erkrankungen kann diese erforderlich sein. Nach der evidenzbasierten Leitlinie<br />
„Angst- und Zwangsstörungen“ der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft haben die<br />
Benzodiazepine bei Angst- und Panikstörungen einen dokumentierten Nutzen. Die Medikation sollte<br />
nach Möglichkeit nicht länger als 8 bis 12 Wochen durchgeführt werden und erst nachdem andere<br />
Arzneimitteltherapien versagt haben.<br />
Es gibt aber Einzelfälle, bei denen eine Langzeittherapie gerechtfertigt ist.<br />
In der Palliativmedizin kann ebenfalls eine Therapie über einen längeren Zeitraum erforderlich sein.<br />
Die Wirkung von Benzodiazepinen bei Zwangsstörungen ist nicht belegt.<br />
Hol
Seite 26 KVH • aktuell<br />
Nr. 2 / 2013<br />
Sicherer<br />
verordnen<br />
Dr. med.<br />
Günter Hopf<br />
Hepatotoxizität von Arzneistoffen<br />
Immer wieder müssen neue Arzneistoffe wegen hepatotoxischen UAW aus dem<br />
Handel genommen werden oder bei lange angewandten Arzneimitteln zeigt sich<br />
nach genauerer Untersuchung doch noch ein hepatotoxisches Potenzial. Grobe<br />
Einteilung einer Arzneistoff-induzierten Leberzellschädigung:<br />
Hepatozelluläre Schädigung (z.B. Isoniazid, Paracetamol)<br />
Cholestatische Schädigung (z.B. Co-Amoxiclav, Estrogene)<br />
Mischformen (z.B. Azathioprin, Phenytoine).<br />
Mindestens sechs unterschiedliche Mechanismen auf zellulärer Ebene bestimmen<br />
die Art einer Schädigung. Sofern eine Schädigung idiosynkratisch ist, kann sie weder<br />
vorhergesagt werden noch ist sie dosisabhängig. Sie treten auch so selten auf, dass<br />
sie in klinischen Studien kaum entdeckt werden. Es mehren sich die Hinweise, dass<br />
genetische Besonderheiten eines Patienten ursächlich für einen Leberschaden sein<br />
können. Der interessante Übersichtsartikel zeigt, dass grundsätzlich auf mögliche<br />
hepatotoxische UAW geachtet werden sollte.<br />
Quelle: Dtsch.Apo. Ztg. 2012; 152: 5534 – 42<br />
Zolpidem: bei Frauen Dosis verringern<br />
Für Zolpidem (Bicalm ® , Stilnox ® , Generika), einem Benzodiazepin-Analogon zur<br />
Therapie von Schlafstörungen, sollte nach einer Information der amerikanischen<br />
Arzneimittelbehörde bei Frauen generell eine Dosis von 5 mg empfohlen werden.<br />
Frauen bauen Zolpidem langsamer ab als Männer, so dass bei Frauen unter einer<br />
10 mg-Gabe am Morgen noch wirksame Blutspiegel gemessen werden konnten.<br />
Daraus könnte eine unterschwellige Beeinflussung z.B. beim Autofahren resultieren.<br />
Bei Männern sollte abgewogen werden, ob eine höhere Dosis als 5 mg notwendig<br />
ist. Cave: Nicht alle Handelspräparate in Deutschland bieten auch Tabletten in einer<br />
Wirkstärke von 5 mg an !<br />
Quellen: www.fda.gov./Safety/MedWatch, Pharm. Ztg. 2013; 158: 120<br />
Metoclopramid: Dosierungsprobleme<br />
bei der Tropfenform<br />
Metoclopramid (Gastronerton ® , Paspertin ® , Generika) wird als zentraler Dopamin-<br />
Antagonist zur Therapie bei Motilitätsstörungen und bei Übelkeit/Erbrechen eingesetzt.<br />
In der Tropfenform kommt es bei unterschiedlichen Herstellern zu unterschiedlich<br />
großen Tropfen, die bei gleicher Tropfenanzahl zu einer Unter- (bis ein<br />
Viertel weniger) oder Überdosierung (bis ein Drittel mehr) führen können. Auch die<br />
Position der Tropfflasche spielt eine Rolle: bei einem Randtropfer muss die Flasche<br />
in einem Winkel von etwa 45 Grad gehalten, bei Zentraltropfer muss die Flasche<br />
senkrecht gehalten werden, um die vorgesehen Tropfengröße zu gewährleisten<br />
(Abweichungen beim falschen Halten um 22% möglich). Bei kurzfristiger Gabe<br />
scheint das Problem wenig relevant, nicht jedoch bei chronischer Gabe bei lang<br />
andauernden Motilitätsstörungen oder bei Kindern. UAW wie Sehstörungen oder<br />
Muskelkrämpfe treten bei Kindern bereits ab 0,9 mg/kg KG auf, ab 3 mg/kg KG<br />
kommt es zu motorischen Störungen. Bei Erwachsenen können Verwirrtheit und<br />
Unruhe bis hin zum Parkinsonoid auftreten.<br />
Quelle: Dtsch. Apo. Ztg. 2012; 152: 4822-4
Nr. 2 / 2013<br />
KVH • aktuell<br />
Seite 27<br />
Tolperison: nur bei Spastizität nach<br />
Schlaganfall<br />
Die AkdÄ berichtet über eine Empfehlung der europäischen Arzneimittelagentur<br />
EMA, Tolperison (Mydocalm ® , Generika) nur noch oral zur Therapie von Spastizität<br />
nach Schlaganfall einzusetzen. In anderen Indikationen, z.B. Spastizität bei<br />
MS oder Erkrankungen der Wirbelsäule, sei eine therapeutische Wirksamkeit des<br />
Muskelrelaxans nicht ausreichend belegt. Darüber hinaus sei das Risiko von Hypersensitivitätsreaktionen<br />
höher als vorher angenommen. Patienten müssen über die<br />
entsprechenden Überempfindlichkeitsymptome aufgeklärt werden, da bei Auftreten<br />
die Therapie mit Tolperison sofort unterbrochen werden muss. Die EMA empfiehlt<br />
einen generellen Stopp der Injektionsform von Tolperison: diese Darreichungsform<br />
ist bei uns jedoch nicht im Handel.<br />
Quelle: AkdÄ Drug Safety Mail 1012-211<br />
Sicherer<br />
verordnen<br />
Dr. med.<br />
Günter Hopf<br />
Albumin, HES oder Kristalloide zur<br />
Volumensubstitution?<br />
Zwei kommentierte Zusammenfassungen von Originalarbeiten lassen die Gabe<br />
von Albumin oder HES (Hydroxyaethylstärke) in der Intensivmedizin fragwürdig<br />
erscheinen.<br />
Albumin zeigte keine Überlegenheit bei kritisch kranken Patienten: sowohl bei<br />
Schock, nach ausgedehnten Verbrennungen oder klinisch bedeutsamen Hypoproteinämien<br />
war das relative Mortalitätsrisiko unter Albumin-Infusionen erhöht. Da<br />
zur Zeit noch Studien zum Einsatz von Humanalbumin durchgeführt werden, bleibt<br />
offen, ob sich für bestimmte Populationen noch ein Vorteil herausstellen wird.<br />
HES verursachte bei Patienten mit Sepsis in zwei Studien im Vergleich zu Kristalloiden<br />
eine erhöhte Sterblichkeit und eine erhöhte Rate an akutem Nierenversagen,<br />
in einer dritten Studie war die 90-Tage-Mortalität zwar gleich, die unerwünschten<br />
Wirkungen von HES bis hin zum Nierenversagen jedoch erhöht. Die europäische<br />
Zulassungsbehörde hat Ende 2012 angekündigt, das Nutzen-Risiko-Verhältnis von<br />
HES-Lösungen zu überprüfen.<br />
Grundsätzlich sollten derzeit sowohl Albumin als auch HES nur nach sorgfältigem<br />
Abwägen eingesetzt werden.<br />
Quellen: Dtsch.med.Wschr, 2013; 138: 14 und 66<br />
Cyproteronazetat: tödliche<br />
thromboembolische Ereignisse<br />
Cyproteronazetat wird in Kombination mit Ethinylestradiol (Diane ® ) zur Therapie<br />
ausgeprägter Formen von Akne verordnet, als „Nebenwirkung“ hat das Präparat<br />
auch eine empfängnisverhütende Wirkung. In Frankreich soll das Arzneimittel aufgrund<br />
zahlreicher aufgetretener Thromboembolien und nach einigen Todesfällen<br />
innerhalb von 3 Monaten vom Markt genommen werden. Eine Erhöhung thromboembolischer<br />
Ereignisse unter oralen Kontrazeptiva ist lange bekannt – insbesondere<br />
Rauchen und Übergewicht erhöhen das Risiko. Derzeit wird von der europäischen<br />
Überwachungsbehörde EMA überprüft, ob zur Therapie von Akne Diane ® unverzichtbar<br />
ist. Ebenfalls geprüft wird die Sicherheit der Kontrazeptiva der dritten und<br />
vierten Generation.<br />
Quellen: www.aerzteblatt.de/nachrichten/53214, Pharm. Ztg. 2013; 158: 107
Seite 28 KVH • aktuell<br />
Nr. 2 / 2013<br />
Sicherer<br />
verordnen<br />
Dr. med.<br />
Günter Hopf<br />
Carbamazepin: genetische Varianten<br />
und schwere Hautreaktionen<br />
Schon seit Jahren ist bekannt, dass unerwünschte Wirkungen (UAW) bei bestimmten<br />
genetischen Konstellationen vermehrt auftreten können. Schwere Hautreaktionen<br />
wie das Stevens-Johnson Syndrom (SJS) oder die toxische epidermale Nekrolyse<br />
(TEN) unter einer Therapie mit Carbamazepin (Tegretal ® , Generika) sind assoziiert<br />
mit bestimmten Allelen von humanen Leukozytenantigenen (HLA). Bei Trägern<br />
des HLA-A*3101 (Europa 2 bis 5%, Japan 10% der Bevölkerung) kann das Risiko<br />
schwerer Hautreaktionen von 5% in der Allgemeinbevölkerung auf 26% steigern.<br />
Die Erkenntnisse sind jedoch noch begrenzt, so dass eine Bestimmung des Trägerstatus<br />
derzeit noch nicht generell empfohlen wird. Bei Trägern des HLA-B*1502<br />
sollte jedoch eine Genotypisierung für Han-Chinesen und Personen thailändischer<br />
Herkunft durchgeführt werden (bei Europäern kommt HLA-B*1502 nicht vor), da<br />
eine Therapie mit Carbamazepin nicht begonnen werden sollte..<br />
Quelle: Pharm. Ztg. 2013; 158: 106<br />
„Pille danach“<br />
Die deutsche Gesellschaft für Gynäkologische Endokrinologie und Fortpflanzungsmedizin<br />
(DGGEF) hat zur Notfallkontrazeption eine gemeinsame Stellungnahme<br />
mit dem Berufsverband der Frauenärzte verfasst. Darin werden die verschiedenen<br />
Möglichkeiten einer Notfallkontrazeption neutral zusammengefasst.<br />
Primär [1] wird die Gabe von 30 mg Ulipristal (ellaOne ® ) empfohlen, sekundär die<br />
von 1,5 mg Levonorgestrel (PiDaNa ® ). Beide Arzneistoffe sind in den angegebenen<br />
Dosen nicht implantationshemmend oder abortiv, wirken jedoch nicht zu 100%<br />
(abhängig z.B. von der vergangenen Zeit und auch vom Körpergewicht). Sie erfordern<br />
einen Schwangerschaftstest, wenn die Menstruation eine Woche nachdem<br />
erwarteten Zeitpunkt noch nicht eingesetzt hat oder schwächer als üblich ausfällt.<br />
Als eine zu 99% sichere Verhütung wird die Einlage eines zugelassenen Kupfer-<br />
IUD (z.B. GyneFix ® ) empfohlen, die Spirale wirkt über eine Implantationshemmung.<br />
Medizinisch zählen Spiralen zu den Verhütungsmethoden (im Gegensatz zu einem<br />
Schwangerschaftsabbruch mit Mifepriston, Mifegyne ® ).<br />
Quelle: www.seminarbuch-gyn-endo.de<br />
1 Anmerkung: In einer pharmakritischen Zeitschrift wird noch 2010 angezweifelt<br />
(und diese Zweifel gegen eine Beschwerde des Herstellers verteidigt), dass Ulipristal<br />
primär angewandt werden sollte.<br />
Quelle: Prescrire internat. 2010; 19: 53 ff und 265-6<br />
Ulipristal: Wirklich besser als Levonorgestrel?<br />
Auch das arznei-telegramm (at) hat sich mehrfach und ausführlich mit Ulipristal<br />
auseinandergesetzt, zuletzt aufgrund der Anfrage eines Lesers in Jg. 44 (2013),<br />
Heft Nr.2, Seite 21. Auch in diesem aktuellen Beitrag zum Thema bleibt das<br />
Fazit kritisch. Sinngemäß schreibt das at: Während der ersten 72 Stunden<br />
nach ungeschütztem Geschlechtsverkehr ist die Überlegenheit von Ulipristal<br />
gegenüber Levonorgestrel nicht bewiesen. Ulipristal kommt allenfalls an Tag<br />
4 und 5 nach ungeschütztem Geschlechtsverkehr in Betracht.
Nr. 2 / 2013<br />
KVH • aktuell<br />
Seite 29<br />
Zweckmäßige medikamentöse<br />
Therapie der Osteoporose<br />
Fachgruppen, die viele Osteoporose-Patienten behandeln, riskieren Regressforderungen,<br />
wenn sie unkritisch teure Antiosteoporotika verordnen. Der folgende<br />
Artikel soll die zweckmäßige Auswahl eines geeigneten Arzneimittels und damit<br />
eine wirtschaftliche Therapie unterstützen. Grundsätzlich ist eine frühzeitige Diagnosestellung<br />
bei der Osteoporose wichtig, denn hier werden in der Regel keine<br />
klinischen Beschwerden behandelt. Es wird vielmehr durch eine zweckmäßige<br />
Arzneimitteltherapie versucht, klinische Endpunkte (zum Beispiel Wirbelbruch,<br />
Femurfraktur) zu verhindern.<br />
Basistherapie (Vitamin D plus Kalzium)<br />
Ernährungsmedizinisch wird im Erwachsenenalter eine Gesamtaufnahme von 600<br />
bis 1500 mg/d Kalzium (über Ernährung, Flüssigkeitskonsum und Supplementation)<br />
empfohlen [48]. Neuesten Erkenntnissen zufolge ist eine kalziumreiche Diät nicht<br />
mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko assoziiert [9, 10, 37, 39].<br />
Wenn Kalzium supplementiert werden soll, dann erfolgt dies immer in Kombination<br />
mit Vitamin D. Empfohlen wird eine Aufnahme von 800 bis 2.000 IE /d<br />
Vitamin D [2, 4, 17, 29]. Auch für die Kombinationsbehandlung mit Kalzium und<br />
Vitamin D gibt es bei Osteoporosepatienten keinen Hinweis auf eine erhöhte Mortalität<br />
[35, 41].<br />
Bei gravierenden Risikofaktoren und ohne Vorliegen osteoporotischer Brüche ist<br />
bei normaler (T-Wert > -1) oder osteopenischer Knochendichte (T-Wert -1 bis -2,5)<br />
eine Basistherapie mit Kalzium und Vitamin D zweckmäßig [17].<br />
Spezifische medikamentöse Therapie<br />
Die Indikation zur Behandlung einer primären Osteoporose mit einem spezifischen<br />
Antiosteoporotikum zusätzlich zur Basistherapie (siehe oben) wird anhand des individuellen<br />
Risikoprofils unter Berücksichtigung von Knochendichte (T-Wert), Alter<br />
und Geschlecht gestellt (Tabelle 1). Bei einem 10-Jahres-Wirbelkörperfrakturrisiko<br />
≥ 30 % liegt eine solche Indikation vor [17].<br />
Der<br />
Gastbeitrag<br />
Druck mit<br />
freundlicher<br />
Genehmigung<br />
der KV Baden-<br />
Württemberg<br />
Aus: KVBW<br />
Verordnungsforum<br />
25; Februar 2013<br />
Cave,<br />
Regressgefahr:<br />
Niedrige<br />
Vitamin-D-<br />
Spiegel im<br />
Serum rechtfertigen<br />
kein<br />
Kassenrezept<br />
für Vitamin D!<br />
Kassen-Verordnung von Kalzium und Vitamin D<br />
Die Verordnungsfähigkeit verschreibungsfreier Kalzium- und Vitamin-D-Präparate ist verbindlich<br />
in der Arzneimittel-Richtlinie Anlage I (OTC-Ausnahmeliste) geregelt. Kalziumverbindungen (mind.<br />
300 mg Kalzium-Ion/Dosiereinheit) und Vitamin D (freie oder fixe Kombination) sind bei folgenden<br />
Indikationen zulasten der GKV verordnungsfähig:<br />
zur Behandlung der manifesten Osteoporose (Osteoporose mit Fraktur ohne adäquates<br />
Trauma),<br />
zeitgleich zur Glukokortikoid-Therapie bei Erkrankungen, die voraussichtlich einer mindestens<br />
sechsmonatigen Therapie mit mindestens 7,5 mg/d Prednisolonäquivalent bedürfen,<br />
bei Bisphosphonat-Behandlung gemäß Angabe in der jeweiligen Fachinformation bei zwingender<br />
Notwendigkeit.<br />
Eine primärprophylaktische Basistherapie kann auch dann medizinisch sinnvoll sein, wenn keine<br />
Leistungspflicht der GKV besteht, zumal alle zulassungsrelevanten Osteoporosetherapiestudien auf<br />
der Basis einer Kalzium-Vitamin-D-Basistherapie durchgeführt wurden.<br />
Hochdosierte, verschreibungspflichtige Vitamin-D-Präparate haben in der Regel bei der Therapie<br />
der Osteoporose keine Verwendung, sondern sind vorrangig für schwere Vitamin-D-Mangelernährungszustände<br />
als Initialtherapie zugelassen.
Seite 30 KVH • aktuell<br />
Nr. 2 / 2013<br />
Tabelle 1: Schwellenwerttabelle der DVO-Leitlinien zur Indikationsstellung für eine spezifische medikamentöse Therapie der Osteoporose<br />
Lebensalter<br />
in Jahren<br />
T-Wert (Nur anwendbar auf DXA-Werte. Die Wirksamkeit einer medikamentösen<br />
Therapie ist bei T-Werten > -2,0 nicht belegt)<br />
Frau Mann -2,0 bis -2,5 -2,5 bis -3,0 -3,0 bis -3,5 -3,5 bis -4,0 < -4,0<br />
50 – 60 60 – 70 Nein Nein Nein Nein Ja<br />
60 – 65 70 – 75 Nein Nein Nein Ja Ja<br />
65 – 70 75 – 80 Nein Nein Ja Ja Ja<br />
70 – 75 80 – 85 Nein Ja Ja Ja Ja<br />
> 75 > 85 Ja Ja Ja Ja Ja<br />
Zusätzliche Risikofaktoren (Glukokortikoid-Therapie, Immobilität, Kurzdarmsyndrom)<br />
können eine Anhebung der Therapiegrenze bedingen und somit eine<br />
„frühzeitigere“ Therapie begründen, als es allein aufgrund von Alter und T-Wert<br />
erforderlich wäre. Bei einer oralen Glukokortikoid-Dauerbehandlung von ≥ 7,5 mg/d<br />
Prednisolonäquivalent über voraussichtlich mehr als drei Monate ist altersunabhängig<br />
bereits bei einem T-Wert ≤ -1,5 ein spezifisches Antiosteoporotikum indiziert.<br />
Bei T-Werten ≤ -2,0 und osteoporotischen Frakturen ist von vornherein eine spezifische<br />
medikamentöse Therapie indiziert.<br />
Es stehen Substanzen zur Verfügung, die alle eine A-Klassifizierung in den gängigen<br />
Leitlinien besitzen (= in randomisierten kontrollierten Studien nachgewiesene<br />
präventive Wirkung zumindest auf Wirbelkörperfrakturen) [2, 17]. Sie sind in der<br />
Tabelle 2 auf der gegenüberliegenden Seite aufgelistet.<br />
Östrogene haben ebenfalls eine nachgewiesene frakturpräventive Wirkung [31,<br />
51]. Nach heutigem Kenntnisstand erhöhen sie allerdings das Risiko für eine Reihe<br />
von Erkrankungen (zum Beispiel Thromboembolie, Myokardinfarkt, Schlaganfall,<br />
Mamma-/Uteruskarzinom, Alzheimer-Demenz) [30, 42], weshalb sie derzeit nicht<br />
zur Osteoporosebehandlung eingesetzt werden, sofern nicht gravierende Östrogendefizit-bedingte<br />
Beschwerdebilder im Rahmen der Postmenopause vorliegen.<br />
Vom Wirkmechanismus wird unterschieden zwischen vorwiegend antiresorptiven<br />
(Bisphosphonate, Denosumab, Raloxifen, Östrogene), anbaustimulierenden (Parathormon-Präparate)<br />
und kombiniert wirkenden Arzneimitteln (Strontiumranelat).<br />
Die Frage nach der Auswahl des patientenindividuell „idealen“ Antiosteoporotikums<br />
wird immer wieder zu Recht gestellt. Hierzu muss zunächst festgehalten werden,<br />
dass es direkte (Head-to-Head-)Vergleichsstudien zu Osteoporosetherapien mit<br />
Frakturendpunkten nicht gibt.<br />
Evidenzbasierte Therapie/Leitlinien<br />
Eine zweckmäßige medizinische Therapie (und ebenso Diagnostik)<br />
ist evidenzbasiert, nachhaltig und wirtschaftlich. Jedoch wird nicht<br />
jede Patientenkonstellation von der DVO-Leitlinie erfasst (Patienten<br />
unter 50 Jahren, Patienten mit juveniler Osteoporose). In diesen<br />
Fällen ist ein begründetes, risikoadaptiertes Vorgehen zweckmäßig<br />
und mit dem Leistungsträger abzustimmen.<br />
Darüber hinaus ist zu beachten, dass leitlinienkonforme Therapien<br />
nicht automatisch leistungsrechtliche Relevanz haben.<br />
Näherungsweise werden deshalb<br />
Wirkstärkenvergleiche anhand<br />
von Metaanalysen angestrebt<br />
[22, 38, 40], die jedoch<br />
nicht immer zu konsistenten<br />
Ergebnissen führen. Eventuelle<br />
Wirkstärkenunterschiede als Ergebnis<br />
von Metaanalysen sind<br />
daher ohne konkurrierende<br />
Vergleichsstudien nicht ausreichend<br />
belastbar und damit
Nr. 2 / 2013<br />
KVH • aktuell<br />
Seite 31<br />
Tabelle 2: Dosierungen, Darreichungsformen, zugelassene Indikationen und Jahrestherapiekosten von Osteoporose-Arzneimitteln<br />
mit hohem Evidenzniveau<br />
Wirkstoff Präparat Dosierung Darreichungsform<br />
Alendronsäure<br />
Risedronsäure<br />
Ibandronsäure<br />
Zoledronsäure<br />
Raloxifen<br />
PMO Mann GIO Jahrestherapiekosten<br />
Alendronsäure-<br />
Generika<br />
Alendronsäure-<br />
Generika<br />
10 mg/Tag Tablette 240,41 € –<br />
290,08 €<br />
70 mg/Woche<br />
Tablette 151,40 € –<br />
203,97 €<br />
Tevanate ® 10 mg/Tag Tablette 290,08 €<br />
Tevanate ®<br />
70 mg/Woche<br />
Tablette 198,84 €<br />
Fosamax ® 10 mg/Tag Tablette 290,08 €<br />
Fosamax ®<br />
70 mg/Woche<br />
Risedronsäure-<br />
Generika<br />
Risedronsäure-<br />
Generika<br />
35 mg/<br />
Woche<br />
2 x 75 mg/<br />
Monat<br />
Tablette 290,37 €<br />
Filmtablette 208,11 € –<br />
328,12 €<br />
Filmtablette 238,72 € –<br />
323,16 €<br />
Actonel ® 5 mg/Tag Filmtablette 1 1 331,52 €<br />
Actonel ®<br />
Actonel ®<br />
Bonviva ® 150<br />
mg Filmtabletten<br />
Ibandronsäure-<br />
Generika (Filmtabletten)<br />
Ibandronsäure-<br />
Generika Fertigspritzen)<br />
Bonviva ® 3 mg<br />
Injektionslösung<br />
Aclasta ® 5 mg<br />
Infusionslösung<br />
Raloxifen HCl<br />
Hexal<br />
35 mg/<br />
Woche<br />
2 x 75 mg/<br />
Monat<br />
150 mg/<br />
Monat<br />
150 mg/<br />
Monat<br />
3 mg/<br />
Quartal<br />
3 mg/<br />
Quartal<br />
5 mg/Jahr<br />
i.v.-Infusion<br />
Filmtablette 328,12 €<br />
Filmtablette 328,92 €<br />
Filmtablette 239,20 € –<br />
384,64 €<br />
Filmtablette 328,92 €<br />
i.v.-Injektion 423,48 € –<br />
479,16 €<br />
i.v.-Injektion 563,72 €<br />
547,65 €<br />
60 mg/Tag Filmtablette 504,18 €<br />
Evista ® , Optruma ® 60 mg/Tag Filmtablette 618,75 €<br />
Strontiumranelat Protelos ® 2 g/Tag p.o.-Suspension<br />
Denosumab Prolia ® 60 mg/<br />
Halbjahr<br />
599,79 €<br />
s.c.-Injektion 2 622,82 €<br />
Parathormon (PTH 1-84) Preotact ® 100 μg/Tag s.c.-Injektion 7.674,38 €<br />
Teriparatid (PTH 1-34) Forsteo ® 20 μg/Tag s.c.-Injektion 8.071,37 €<br />
Datengrundlage: Lauer-Taxe (Stand: 01.12.2012), größte verfügbare Packung (für Einzelverordnungen), Originalhersteller (kein Reimporteur)<br />
PMO: Zulassung für die Behandlung der postmenopausalen Osteoporose<br />
Mann: Zulassung für die Behandlung der männlichen Osteoporose<br />
GIO: Zulassung für die Behandlung der Glukokortikoid-induzierten Osteoporose bei Frauen und Männern (sofern nicht anders angegeben)<br />
1 Zulassung nur bei Frauen<br />
2 nur im Zusammenhang mit antiandrogener Therapie bei Patienten mit Prostatakarzinom
Seite 32 KVH • aktuell<br />
Nr. 2 / 2013<br />
nicht relevant für eine Priorisierung der Substanzverordnung, so dass die Auswahl<br />
eines geeigneten Arzneimittels anhand der individuellen Patientenkonstellation<br />
(Risikoprofil, Kontraindikationen, Begleiterkrankungen, Unverträglichkeiten) und<br />
der Kosten getroffen werden muss [40].<br />
Beginn einer spezifischen medikamentösen Osteoporosetherapie<br />
Die Einleitung einer Antiosteoporosetherapie erfolgt stets mit einer Basistherapie<br />
plus einem oralen Bisphosphonat [2]. Hierbei muss überprüft werden:<br />
die Verträglichkeit der Substanz,<br />
die Einhaltung einer strikt regelmäßigen Einnahme unter Beachtung des<br />
Einnahmemodus (nüchtern, 30 bis 60 Minuten vor dem Frühstück mit einem<br />
großen Glas Wasser in aufrechter Position),<br />
die Vermeidung einer gleichzeitigen Einnahme von Kalziumpräparaten (cave:<br />
Komplexbildung zwischen Kalzium und Bisphosphonat).<br />
Für den Beginn einer gezielten Therapie mit Alendronsäure oder Risedronsäure (vergleiche<br />
Leitsubstanzen gemäß der Arzneimittel-Vereinbarung Baden-Württemberg<br />
2013, Seite 4) sprechen das breite zugelassene Indikationsspektrum, die orale Darreichungsform,<br />
bekannte Langzeitwirkungen und wirtschaftliche Gründe (Kosten,<br />
Verfügbarkeit generischer Präparate).<br />
Zweckmäßiger Algorithmus zur Einleitung einer<br />
medikamentösen Therapie der primären Osteoporose<br />
Orales Bisphosphonat plus orale Kalzium-Vitamin-D-Basistherapie*<br />
Unverträglichkeit, Malassimilation, fragliche Compliance<br />
Bisphosphonat i.v. (statt oral) plus orale Basistherapie<br />
Unverträglichkeit, Kreatinin-Clearance
Nr. 2 / 2013<br />
KVH • aktuell<br />
Seite 33<br />
Off-Label-Use<br />
Für eine mögliche Kostenübernahme durch die Krankenkasse müssen folgende drei Voraussetzungen<br />
erfüllt sein:<br />
Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung,<br />
keine Therapiealternativen,<br />
begründete Aussicht auf Therapieerfolg.<br />
Die Haftungsproblematik des Off-Label-Use bleibt von einer Kostenübernahme durch die GKV<br />
unberührt.<br />
Ein intravenöses Bisphosphonat ist gerechtfertigt bei<br />
zeitlich eindeutig assoziierbaren gastrointestinalen Unverträglichkeitsreaktionen<br />
unter oraler Bisphosphonat-Therapie,<br />
Bettlägerigkeit,<br />
Malassimilation (zum Beispiel M. Crohn, Colitis ulcerosa, Pankreasinsuffizienz),<br />
eingeschränkter Compliance unter oraler Bisphosphonat-Therapie [46].<br />
Vorhofflimmern ist keine Kontraindikation für Bisphosphonate, ebenso wenig wie<br />
eine kürzliche Fraktur, eine endoprothetische oder erfolgte zahnärztliche Versorgung<br />
[3, 15]. Zahnärztliche Eingriffe, die den Kieferknochen betreffen (Zahnextraktionen,<br />
Wurzelspitzenresektionen, parodontalchirurgische Maßnahmen, Wurzelkanalbehandlungen),<br />
sollten zuerst durchgeführt werden und abheilen, bevor wenige<br />
Wochen später mit der Bisphosphonat-Therapie begonnen wird (eine Basistherapie<br />
kann sofort initiiert werden). Geringfügige zahnärztliche Beschwerden, die nur eine<br />
Behandlung der Zähne erfordern (Kariesbehandlung, Zahnreinigung), können jederzeit<br />
durchgeführt werden, völlig unabhängig von jeder Osteoporosebehandlung.<br />
Bei Bisphosphonat-Unverträglichkeit oder fragwürdiger Wirksamkeit (trotz guter<br />
Compliance keine Abnahme der Frakturhäufigkeit in den ersten ein bis zwei Jahren<br />
der Behandlung) können alternativ bei Frauen Denosumab, Strontiumranelat,<br />
Raloxifen und Parathormon-Präparate sowie bei Männern Strontiumranelat und<br />
Teriparatid eingesetzt werden (siehe „Substanzwechsel“). Denosumab und 1-84-Parathormon<br />
können ebenfalls pharmakologisch sinnvoll sein, sind bei Männern mit<br />
primärer Osteoporose jedoch nicht zugelassen (vergleiche obenstehenden Kasten<br />
„Off-Label-Use“).<br />
Antiosteoporotische Kombinationstherapien (z. B. Bisphosphonat plus Parathormon)<br />
zusätzlich zur Basistherapie sind nicht zweckmäßig, da keine additiven Wirkungen<br />
auf die Senkung des Frakturrisikos belegt sind [5, 19, 20].<br />
Substanzwechsel<br />
Die Konstanz der Knochendichte ist ein realistisches Ziel einer medikamentösen<br />
Osteoporosetherapie (in den Zulassungsstudien werden in der Regel Knochendichtezunahmen<br />
zwischen drei und acht Prozent in den ersten drei Jahren der Behandlung<br />
beobachtet). Trotz konstanter oder sogar leicht abfallender Knochendichte<br />
unter einem Bisphosphonat sinkt das Frakturrisiko über den üblichen dreijährigen<br />
Therapiezeitraum [14, 23, 49].<br />
Dennoch ist eine Fraktur trotz Therapie kein zwingender Grund für einen Substanzwechsel<br />
bei einer neu initiierten oder erst ein bis zwei Jahre laufenden und<br />
gut verträglichen medikamentösen Osteoporosebehandlung ohne relevante
Seite 34 KVH • aktuell<br />
Nr. 2 / 2013<br />
Abnahme der Knochendichte.<br />
Nimmt die Knochendichte unter einer gut verträglichen Behandlung nach ein bis<br />
zwei Jahren an der LWS oder im Gesamtfemurbereich signifikant um mehr als drei<br />
Prozent des DXA-Absolutwerts in g/cm² pro Jahr ab (sogenannte progrediente Osteoporose)<br />
[36, 43] oder treten mindestens zwei Frakturen ohne relevantes Trauma<br />
auf, ist zunächst<br />
1. die Zuverlässigkeit der Knochendichteverlaufsmessung (Gerätewechsel?<br />
Lagerungsfehler?),<br />
2. die Diagnose primäre Osteoporose und<br />
3. auch die Compliance des Patienten zu prüfen.<br />
Treten nach (nicht während) 18-monatiger konsequenter Behandlung mit einem<br />
Bisphosphonat oder einem anderen Antiosteoporotikum einschließlich Basistherapie<br />
mindestens zwei Osteoporose-assoziierte Knochenbrüche auf, kann nach Überprüfung<br />
(und gegebenenfalls Beseitigung) eventueller Sturzrisiken (neurologisch<br />
bedingte Stürze, Einnahme von Tranquillantien, Sehfehler) ein Substanzwechsel<br />
zweckmäßig sein. Grundsätzlich erscheint der Wechsel auf ein Präparat mit anderem<br />
Wirkmechanismus sinnvoll, also beispielsweise von Bisphosphonat zu Strontiumranelat<br />
(vgl. Abschnitt „Spezifische medikamentöse Therapie“ auf Seite 29).<br />
Eine Parathormon-Therapie kann insbesondere bei der Glukokortikoid-induzierten<br />
Osteoporose erwogen werden, wenn trotz ein- bis zweijähriger Behandlung mit<br />
einem antiresorptiven Präparat eine Progredienz der Osteoporose vorliegt [34].<br />
Spezifische Aspekte der medikamentösen<br />
Differentialtherapie der Osteoporose<br />
Strontiumionen werden teilweise in das Kristallgitter der anorganischen Knochensubstanz<br />
eingelagert und verursachen einen um fast 50 Prozent falsch hohen<br />
Knochendichtezuwachs (der also nicht neuer Knochensubstanz entspricht), was<br />
bei der osteodensitometrischen Einschätzung des Therapieerfolges zu berücksichtigen<br />
ist. Bei Patienten, die schon einmal ein Arzneimittelexanthem hatten oder<br />
eine Hautrötung unter Strontiumranelat bemerken, sollte dieses Arzneimittel nicht<br />
verabreicht werden.<br />
Strontiumranelat und Raloxifen sind bei bereits aufgetretenen Thromboembolien<br />
kontraindiziert. Wegen der Erhöhung des Thromboembolie-Risikos sollten diese<br />
Arzneimittel auch nicht bei adipösen oder Tumor-Patienten eingesetzt werden.<br />
Allerdings kann Raloxifen bei Patientinnen mit gleichzeitigem östrogenrezeptorpositiven<br />
Mammakarzinom günstig sein, kann aber andererseits Postmenopause-<br />
Beschwerden auslösen oder verstärken.<br />
Denosumab kann bei einer Kreatinin-Clearance ≤ 35 ml / min oder bei Bisphosphonat-Unverträglichkeit<br />
verabreicht werden. Bei Patienten mit immunsuppressiver<br />
Therapie oder bei Autoimmunerkrankungen sollte dieser Antikörper bis zum Vorliegen<br />
entsprechender Studien nicht eingesetzt werden [16, 32].<br />
Der Wechsel auf ein Parathormon-Präparat kann sinnvoll sein, wenn trotz ein- bis<br />
zweijähriger konsequenter Pharmakotherapie einer primären Osteoporose mehrere<br />
neue Knochen- oder Wirbelbrüche aufgetreten sind (siehe „Substanzwechsel“)<br />
[27]. Bei manifester Glukokortikoidinduzierter Osteoporose mit mehreren Knochenbrüchen<br />
kann auch der primäre Parathormon-Einsatz zweckmäßig sein, wobei<br />
die Therapie immer nach maximal zwei Jahren beendet und kein zweites Mal<br />
durchgeführt wird.
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KVH • aktuell<br />
Seite 35<br />
Anschließende Therapien mit Bisphosphonaten nach einer Parathormon-Therapie<br />
zeigen positive Wirkungen auf die Knochendichteverläufe, ohne dass jedoch eine<br />
weitere Reduktion des Frakturrisikos belegt ist [6, 13].<br />
Gegenüber Bisphosphonaten wurde keine stärkere frakturrisikosenkende Wirkung<br />
des rund 35-mal teureren Teriparatids nachgewiesen [27]. Zu den leistungsrechtlichen<br />
Aspekten einer Teriparatid-Verordnung gibt die Arzneimittel-Richtlinie<br />
in Anlage IV konkrete Therapiehinweise [24]. Demnach ist Teriparatid zur Behandlung<br />
der manifesten Osteoporose bei postmenopausalen Frauen nur Mittel<br />
der zweiten Wahl. Die Verordnung bleibt folgenden Ausnahmefällen vorbehalten:<br />
nur bei manifester Osteoporose mit mindestens zwei neuen Frakturen in den<br />
letzten 18 Monaten (die beispielsweise nach initialer ein- bis zweijähriger<br />
Bisphosphonat-Therapie auftreten)<br />
und<br />
bei keinem ausreichenden Ansprechen auf eine direkte und adäquate Vorbehandlung<br />
über mindestens 1 Jahr (z. B. mit einem Bisphosphonat) oder<br />
nach Absetzen des Bisphophonats oder anderer Antiosteoporotika aufgrund<br />
von Unverträglichkeiten (ösophageale Ulcera, Erosionen, Strikturen oder entsprechende<br />
schwere gastrointestinale Symptome) oder<br />
bei Kontraindikationen oder Unverträglichkeiten gegenüber Raloxifen.<br />
Bei malignen Grunderkrankungen, schwerer Niereninsuffizienz oder Kindern/<br />
Jugendlichen sind Parathormon-Präparate kontraindiziert.<br />
Wirkdauer der Antiosteoporotika<br />
Bisphosphonate akkumulieren als potente Chelatbildner mit hoher Affinität zur<br />
anorganischen Knochensubstanz und wirken daher häufig auch noch Jahre nach<br />
Absetzen antiresorptiv auf den Knochenstoffwechsel [45]. Auch Strontiumranelat<br />
bleibt nach Therapieende viele Monate im Knochen gespeichert [21].<br />
Die Wirkung der Parathormon-Präparate, von Denosumab und von Raloxifen auf<br />
die Knochendichte klingen hingegen innerhalb von wenigen Monaten ab, so dass<br />
die in der Regel nach zwei- oder dreijähriger Therapie angestiegene Knochendichte<br />
innerhalb eines Jahres wieder auf das Ausgangsniveau abfällt, wobei die Bedeutung<br />
dieses Abfalls nach Therapieende für das Frakturrisiko unklar ist [6, 11, 32].<br />
Behandlungsdauer, Behandlungspause<br />
und Knochendichteverlaufskontrollen<br />
Die übliche Behandlungsdauer mit einem spezifischen Antiosteoporotikum beträgt<br />
in der Regel drei bis fünf Jahre (Parathormon-Präparate: maximal zwei Jahre); die<br />
Basistherapie soll danach weitergeführt werden. Ob antiosteoporotische Therapien<br />
über fünf Jahre hinaus noch den frakturpräventiven Nutzen weiter signifikant und<br />
klinisch relevant erhöhen, ist nicht erwiesen [12, 48]. Zudem sind auch mögliche<br />
Behandlungsrisiken verstärkt zu bedenken.<br />
Die sehr seltenen Komplikationen wie Kiefernekrosen, atypische Femurschaftfrakturen<br />
oder Ösophaguskarzinome scheinen mit Dauer und Dosis der Therapie<br />
assoziiert zu sein [1, 18, 25, 28, 33, 47, 50, 52]. Allerdings können die Kiefernekrosen<br />
bei entsprechender Risikokonstellation (Parodontitis, Prothesendruckstellen,<br />
Immunsuppression) auch ohne Bisphosphonat-Therapie auftreten [7]. Bei den<br />
atypischen Femurschaftfrakturen scheint es sich um ein sporadisches Ereignis ohne<br />
gesicherten pathophysiologischen Bezug zu einer langjährigen Bisphosphonat-<br />
Therapie zu handeln [8]. Langzeiterfahrungen über mehr als 20 Jahre wie bei
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den Bisphosphonaten liegen naturgemäß für die neueren Antiosteoporotika noch<br />
nicht vor, wobei Kiefernekrosen unter hochdosiertem Denosumab bisher nur bei<br />
onkologischen Patienten beobachtet wurden [26].<br />
Knochendichteverlaufskontrollen zur Therapieüberwachung erscheinen bei oraler<br />
Antiosteoporotikatherapie alle ein bis zwei Jahre, bei intravenöser Therapie alle zwei<br />
Jahre und während einer Therapiepause jährlich (erstmalig bereits 9 bis 12 Monate<br />
nach Therapieende) sinnvoll.<br />
Die Wiederaufnahme einer Osteoporosebehandlung sollte reevaluiert werden<br />
bei einem neuerlichen signifikanten Knochendichteabfall von > 3 % des DXA-<br />
Absolutwerts in g/cm² pro Jahr (LWS oder Gesamtfemurbereich),<br />
bei mehr als zwei neuen Frakturen ohne gravierende Traumata oder<br />
bei anderen neu oder wieder aufgetretenen Risikofaktoren (Glukokortikoid-<br />
Dauertherapie, Organtransplantation mit Immunsuppression, Aromatasehemmer-<br />
oder Antiandrogen-Therapie).<br />
Bedeutung<br />
für<br />
unsere<br />
Praxis<br />
Fazit<br />
Die Indikation für eine antiosteoporotische Therapie erfolgt nach dem Risikoprofil,<br />
das die Kriterien T-Wert, Alter, Geschlecht und eine Reihe von möglichen<br />
Risikofaktoren berücksichtigt (siehe DVO-Leitlinie).<br />
Leitsubstanzen innerhalb der Bisphosphonate (Therapieoption der ersten<br />
Wahl) sind Alendronsäure und Risedronsäure.<br />
Da es zwischen den Osteoporotika mit Evidenzklasse A keine belegten Wirkunterschiede<br />
hinsichtlich der Frakturrisikoreduktion gibt, erfolgt die Auswahl<br />
anhand individueller Kontraindikationen, Begleiterkrankungen oder Unverträglichkeiten<br />
sowie nach ökonomischen Gesichtspunkten.<br />
Ein Substanzwechsel oder eine Wiederaufnahme der medikamentösen Behandlung<br />
nach abgeschlossener Therapie mit einem First-Line-Antiosteoporotikum<br />
kann bei neuerlichem Knochendichteabfall oder bei neu aufgetretenen<br />
Risikofaktoren sinnvoll sein.<br />
Bezüglich der Verordnungsfähigkeit der spezifischen Antiosteoporosemedikamente<br />
zulasten der GKV sind Unterschiede in den zugelassenen Indikationen<br />
sowie das allgemeine Wirtschaftlichkeitsgebot zu beachten.<br />
Eine Basistherapie mit Vitamin D und gegebenenfalls mit zusätzlicher Kalzium-Supplementierung<br />
soll in jedem Fall erfolgen. Bezüglich der Verordnungsfähigkeit<br />
zulasten der GKV sind die Regelungen der Arzneimittel-Richtlinie<br />
(OTC -Ausnahmeliste) zu beachten.<br />
Autor: Dieser Artikel wurde verfasst in Kooperation mit Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Christian<br />
Kasperk, Leiter der Sektion Osteologie der Abteilung Innere Medizin I und Klinische<br />
Chemie der Medizinischen Universitätsklinik Heidelberg.<br />
Hinweis: Dieser Text wurde in Abstimmung mit den Landesverbänden der Krankenkassen<br />
und dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) erstellt.<br />
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§ 92 Abs. 2 Satz 7 SGB V i. V. m. § 17 AM-RL zur wirtschaftlichen Verordnungsweise von Arzneimitteln, letzte<br />
Änderung in Kraft getreten am 01.05.2012. http://www.g-ba.de/informationen/richtlinien/anlage/10/<br />
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Nr. 2 / 2013<br />
KVH • aktuell<br />
Seite 39<br />
Hausärztliche Leitlinie<br />
Multimedikation<br />
Empfehlungen zum Umgang mit Multimedikation<br />
bei Erwachsenen und geriatrischen Patienten<br />
Konsentierung Version 1.00<br />
16.01.2013<br />
Revision bis spätestens<br />
Januar 2016<br />
Version 1.00 vom 16.01.2013<br />
Anmerkung:<br />
Hausärztliche Leitlinie<br />
Hausärztliche Leitlinie<br />
Multimedikation<br />
Multimedikation<br />
Empfehlungen zum Umgang mit Multimedikation<br />
Empfehlungen bei Erwachsenen zum und Umgang geriatrischen mit Multimedikation<br />
Patienten<br />
bei Erwachsenen und geriatrischen Patienten<br />
Die Leitlinie Konsentierung Multimediaktion Version umfasst 1.00 insgesamt knapp<br />
100 Seiten. Wir veröffentlichen angesichts des Umfangs<br />
Konsentierung 16.01.2013 Version 1.00<br />
nur die wichtigsten Aspekte, aufgeteilt auf mehrere Hefte.<br />
In diesem 16.01.2013 Heft finden Sie den zweiten Teil.<br />
Revision bis spätestens<br />
Die gesamte Leitlinie einschließlich der im Text erwähnten<br />
Anhänge Revision Januar und 2016 bis Literaturstellen spätestens (Ziffern in eckigen<br />
Klammern), Januar die hier 2016 nicht abgedruckt sind, finden Sie im<br />
Internet unter www.kvhessen.de/Leitlinie oder www.<br />
pmvforschungsgruppe.de. Auf dieser Webseite bitte<br />
den Cursor in der Menü-Leiste im oberen Teil der Seite<br />
auf Publikationen Version 1.00 positionieren vom 16.01.2013 und im aufklappenden<br />
Untermenü Version auf Leitlinien 1.00 vom klicken. 16.01.2013 Dann können Sie die<br />
gesamte Leitlinie einsehen bzw. als PDF-Datei auf Ihren<br />
Computer herunterladen. Eine weitere Bezugsquelle finden<br />
Sie unter www.leitlinien.de. Dort oben auf „Leitlinie<br />
finden“ klicken, dann links Anbieter auswählen, anschließend<br />
führt unter L die „Leitliniengruppe Hessen“ zu den<br />
hausärztlichen Leitlinien.<br />
F. W. Bergert<br />
M. Braun<br />
K. Ehrenthal<br />
J. Feßler<br />
J. Gross<br />
U. Hüttner<br />
B. Kluthe<br />
A. Liesenfeld<br />
J. Seffrin<br />
G. Vetter<br />
M. Beyer (DEGAM)<br />
C. Muth (DEGAM)<br />
U. Popert (DEGAM)<br />
S. Harder<br />
(Klin. Pharmakol., Ffm)<br />
H. Kirchner (PMV)<br />
I. Schubert (PMV)<br />
F. W. Bergert<br />
F. W. M. Bergert Braun<br />
K. Ehrenthal<br />
M. Braun<br />
K. Ehrenthal J. Feßler<br />
J. J. Feßler Gross<br />
U. J. Hüttner Gross<br />
U. B. Hüttner Kluthe<br />
A. Liesenfeld<br />
B. Kluthe<br />
A. Liesenfeld J. Seffrin<br />
J. G. Seffrin Vetter<br />
M. Beyer (DEGAM)<br />
G. Vetter<br />
M. C. Beyer Muth (DEGAM)<br />
U. C. Popert Muth (DEGAM)<br />
U. Popert (DEGAM)<br />
S. Harder<br />
(Klin. Pharmakol., S. Harder Ffm)<br />
(Klin. H. Pharmakol., Kirchner (PMV) Ffm)<br />
H. I. Schubert Kirchner (PMV)<br />
I. Schubert (PMV)
Seite 40 KVH • aktuell<br />
Nr. 2 / 2013<br />
Medikationsprozess<br />
Schritt 3: Abstimmung der<br />
Therapieziele mit dem Patienten<br />
Vor Erstellung eines Verordungsvorschlags (s.<br />
nächster Schritt) sollten die Erwartungen und Vorstellungen<br />
des Patienten zu seiner Therapie sowie<br />
dessen Therapieziele (s. Abschnitt Priorisierung)<br />
eruiert und im Medikationsplan berücksichtigt<br />
werden. So ist aus der Adhärenzforschung bekannt,<br />
dass die Therapietreue in hohem Maße<br />
mit Einstellungen zu Gesundheit und Krankheit<br />
assoziiert ist. Medikamentöse Therapietreue ist<br />
Ausdruck der Einsicht in die Notwendigkeit einer<br />
Therapie, die andererseits jedoch durch allgemeine<br />
und spezielle Befürchtungen zur Wirksamkeit bzw.<br />
Schädlichkeit von Medikamenten konterkariert<br />
wird [68, 69]. Diese Einstellungen sind in der Regel<br />
zwar nur schwer zu beeinflussen, deren Kenntnis<br />
kann jedoch die Einschätzung erleichtern, ob eine<br />
(zusätzliche) medikamentöse Verordnung zuverlässig<br />
eingenommen wird. Hierbei sind folgende<br />
Fragen und Überlegungen hilfreich:<br />
Erwartet der Patient eine medikamentöse<br />
Therapie? Der Behandler muss hierbei auch<br />
seine eigenen »Erwartungserwartungen«<br />
hinterfragen, d. h., seine – in der Regel nicht<br />
überprüfte – Annahme, der Patient würde<br />
eine Verordnung erwarten.<br />
Welchen Stellenwert misst der Patient der Erkrankung<br />
und der (medikamentösen) Behandlung<br />
selbst bei?<br />
Welches Krankheitskonzept verfolgt der<br />
Patient? Hat er die Vorstellung, selbst einen<br />
aktiven Beitrag zur Linderung/Heilung seiner<br />
Krankheit/Beschwerden leisten zu können?<br />
Welchen Stellenwert hat ein bestimmtes<br />
Medikament für den Patienten, das der Arzt<br />
aufgrund der Medikationsbewertung abzusetzen<br />
plant?<br />
Bestehen Vorbehalte/Ängste gegenüber bestimmten<br />
Arzneimitteln oder Arzneimitteln<br />
ganz allgemein?<br />
Dieser Schritt im Medikationsprozess erlaubt auch<br />
festzustellen, ob der Patient über seine Erkrankung<br />
und die möglicherweise vorhandenen verschiedenen<br />
Therapieoptionen ausreichend informiert ist.<br />
Schritt 4: Verordnungsvorschlag<br />
Im oben dargestellten Szenario des Medikationsprozesses<br />
werden in Bezug auf den Verordnungsvorschlag<br />
die folgenden Möglichkeiten unterschieden:<br />
Entscheidung gegen eine medikamentöse<br />
Verordnung<br />
Sofern möglich, bevorzugen Sie nichtmedikamentöse<br />
Strategien! Stellen Sie gemeinsam mit dem<br />
Patienten sicher, dass er in der Lage ist, diese Empfehlungen<br />
umzusetzen. Erhält der Patient bereits<br />
mehrere Wirkstoffe, kann es zur Vermeidung von<br />
arzneimittelbezogenen Problemen sinnvoll sein,<br />
weniger drängende Indikationen vorerst nicht<br />
medikamentös zu behandeln, vor allem, wenn<br />
allgemeine Maßnahmen ausreichend erscheinen<br />
(konservatives Verordnungsverhalten). Eine Entscheidung<br />
gegen eine Medikation kann auch durch<br />
einen gemeinsamen Priorisierungsprozess zur Begrenzung<br />
der Anzahl verschiedener Arzneimittel<br />
erfolgen (s. hierzu weiter unten).<br />
Neue Verordnung<br />
Eine neue Verordnung kann notwendig werden<br />
durch das Auftreten einer neuen Erkrankung oder<br />
eines neuen Symptoms, aus Gründen medikamentöser<br />
Präventionsmaßnahmen (z. B. Impfung,<br />
Verhinderung kardiovaskulärer Ereignisse) oder<br />
zur Intensivierung der Therapie bei fehlendem<br />
Ansprechen auf die bisherige (nichtmedikamentöse)<br />
Therapie. Zur Verhinderung von unnötiger<br />
Multimedikation ist zu prüfen, ob ggf. nichtmedikamentöse<br />
Maßnahmen ausreichend sind, ob<br />
neu aufgetretene Beschwerden evtl. auf eine vorhandene<br />
Medikation zurückzuführen sind (cave:<br />
Verordnungskaskade [117]). Des Weiteren sind<br />
die Aspekte Evidenz, Interaktion, Kontraindikation,<br />
Dosierung zu prüfen (s. MAI) und sicherzustellen,<br />
dass es nicht zu einer Doppelverordnung (z. B.<br />
durch Substanzwechsel oder durch Mitbehandler)<br />
kommt.<br />
Trotz Multimedikation kann es zu einer Unterversorgung,<br />
d. h. unterlassener Therapie trotz<br />
Indikation kommen. Die Wahrscheinlichkeit einer<br />
Unterversorgung steigt mit der Anzahl der bereits<br />
eingenommenen Medikamente [81]. So war in<br />
einer Beobachtungsstudie bei geriatrischen Patienten<br />
bei rund 30% eine nach Leitlinien empfohlene<br />
Medikation ohne nachvollziehbare Gründe nicht<br />
verordnet worden; bei Patienten mit 5 und mehr<br />
Arzneimitteln stieg der Anteil auf 43%, bei denen<br />
mit weniger als 5 Arzneimitteln lag er bei 13% [81].<br />
Bei der Bewertung der vorhandenen Medika-
Nr. 2 / 2013<br />
KVH • aktuell<br />
Seite 41<br />
tion und Beurteilung der Qualität der Versorgung<br />
ist jedoch zu berücksichtigen, ob sich Arzt und Patient<br />
in einem gemeinsamen Entscheidungsprozess<br />
bewusst gegen eine entsprechende Verordnung<br />
entschieden haben (z. B. vor dem Hintergrund der<br />
Multimedikation, Verträglichkeit oder individuellen<br />
Präferenz) oder ob die Notwendigkeit für eine Medikation<br />
überhaupt nicht geprüft wurde. Letzteres<br />
wäre als Unterversorgung zu werten. Die folgenden<br />
Konstellationen sollen für mögliche Unterversorgung<br />
sensibilisieren:<br />
Situationen mit fehlender Medikation in absteigender Reihenfolge (mod. nach [81]):<br />
Symptom / Diagnose / Situation<br />
oftmals fehlende Medikation<br />
trotz Evidenz für Wirksamkeit<br />
Unterversorgung in %<br />
Schmerzbehandlung mit Opiaten Laxans 61,5%<br />
Myokardinfarkt Beta-Blocker 60%<br />
Herzinsuffizienz ACE-Hemmer 47%<br />
Vorhofflimmern orales Antikoagulanz 42%<br />
Osteoporose Bisphosphonate 29%<br />
Hypercholesterinämie* Statin 23%<br />
Hypertonie Antihypertensiva 23%<br />
Angina pectoris, Schlaganfall, TIA, PaVK Thrombozytenaggregationshemmer 21%<br />
NSAID bei Risikopatienten PPI 21%<br />
*bei kardiovaskulärem Risiko<br />
Die sogenannten START-Kriterien (Screening Tool<br />
to Alert Doctors to Right Treatment [48]) zeigen<br />
für ältere Patienten typische Situationen, in denen<br />
oftmals eine indizierte Verordnung unterbleibt. Hier<br />
ist zu überprüfen, warum die Verordnung nicht<br />
getätigt wurde (Therapiepräferenz, Interaktion u.<br />
a.). Die Ursachen für die Unterversorgung sind unterschiedlich<br />
und lassen sich in 4 Gruppen einteilen:<br />
1. Eine indizierte Therapie wird nicht begonnen<br />
(z. B. Phenprocoumon, Laxans, Statin, ACE-<br />
Hemmer, Schmerzmittel, Osteoporosemittel).<br />
2. Eine begonnene Therapie wird nicht fortgeführt<br />
(z. B. Miconazol).<br />
3. Es erfolgt keine oder eine fehlerhafte Therapieanpassung<br />
(z. B. Antidiabetika, Antiasthmatika,<br />
COPD-Mittel).<br />
4. Therapieabbruch einer wirksamen Therapie<br />
(z.B. Propranolol bei Tremor).<br />
Aus den START-Kriterien hat die Leitliniengruppe<br />
einige, die für den deutschen Versorgungskontext<br />
als besonders relevant erachtet wurden, ausgewählt,<br />
auch vor dem Hintergrund, dass eine große<br />
Anzahl an Kriterien für den Einsatz im Praxisalltag<br />
nicht als praktikabel angesehen wird.<br />
Die folgenden Therapien sind für Patienten > 65<br />
Lebensjahre mit folgenden Indikationen geeignet,<br />
falls keine Kontraindikationen vorliegen (übersetzt<br />
nach [48]).<br />
Kardiovaskuläres System<br />
Phenprocoumon (Warfarin) bei<br />
Vorhofflimmern.<br />
ACE-Hemmer bei chronischer<br />
Herzinsuffizienz.<br />
Bronchopulmonales System<br />
Inhalative Glucocorticoide für mittelschweres<br />
bis schweres Asthma (ggf. COPD), falls der<br />
FEV1 < 50%.<br />
Endokrines System<br />
Metformin bei Typ II Diabetes.<br />
ACE-Hemmer oder AT1 Blocker bei Diabetes<br />
mit Nephropathie (Proteinurie oder Mikroalbuminurie<br />
> 30 mg/24 h oder<br />
eGFR < 50 mg/min).<br />
Fortführung der Medikation<br />
Dies erfolgt, wenn keine Gründe oder keine Alternativen<br />
für eine neue Medikation oder eine Veränderung<br />
des Therapieschemas vorliegen, wenn der<br />
Patient es wünscht und eine Indikation gegeben ist.<br />
In der Broschüre »Praxiswissen – Mehr Sicherheit<br />
in der Arzneimitteltherapie« [74] wird auf folgende<br />
Fehlermöglichkeiten beim Ausstellen eines Wiederholungsrezeptes<br />
hingewiesen:<br />
Ein bereits abgesetztes oder in der Do-
Seite 42 KVH • aktuell<br />
Nr. 2 / 2013<br />
sierung verändertes Medikament wird erneut<br />
verordnet.<br />
Es erfolgt eine Verordnung, obwohl das Medikament<br />
nicht mehr indiziert ist.<br />
Eine nur als kurzfristig intendierte Therapie (z.<br />
B. Benzodiazepine) wird fortgesetzt.<br />
Fehler können vermieden werden, wenn keine<br />
blanco unterschriebenen Rezepte vorhanden sind<br />
und das Unterzeichnen einer Verordnung in Ruhe<br />
(und nicht nebenbei) erfolgt.<br />
Änderung des vorhandenen Therapieregimes<br />
Unter Änderungen versteht die Leitliniengruppe folgendes:<br />
Verordnung eines alternativen Wirkstoffs,<br />
Änderung der Dosierung oder Darreichungsform.<br />
Dies kann notwendig werden aufgrund einer aufgetretenen<br />
Unverträglichkeit der Therapie (UAW),<br />
einer Verschlechterung der Erkrankung oder der<br />
Symptome, bei Problemen mit dem Therapieregime<br />
(Adhärenz) oder auch der Handhabung der<br />
Medikation (Tropfen zählen, Tabletten teilen). Auch<br />
aus Kostengründen (Budget/Zuzahlung) kann es zu<br />
Umstellungen der Medikation kommen.<br />
Beenden einer Medikation<br />
Aus der Medikationsbewertung kann sich auch<br />
ergeben, dass Verordnungen beendet werden<br />
sollten, dies muss geschehen [9]:<br />
wenn Gegenanzeigen oder unerwünschte Arzneimittelwirkungen<br />
(Interaktionen) auftreten,<br />
der Verordnungsanlass (Indikation) entfallen ist.<br />
Außerdem soll das Absetzen eines Medikamentes<br />
erwogen werden, wenn die Bewertung ergibt, dass<br />
das Nutzen-Risiko-Verhältnis ungünstig (geworden)<br />
ist, z. B. Nutzen in der erwarteten Lebenszeit<br />
des Patienten, Auftreten von kognitiven<br />
Beeinträchtigungen oder Gebrechlichkeit,<br />
wenn eine bessere Alternative denkbar ist,<br />
die Wirksamkeit fraglich (geworden) ist (ein<br />
Auslassversuch kann indiziert sein),<br />
der Patient andere Präferenzen äußert.<br />
Eine indizierte Medikation kann auch durch einen<br />
gemeinsamen Entscheidungsprozess von Arzt und<br />
Patient z. B. im Sinne einer individuellen Präferenzsetzung<br />
zur Begrenzung der Anzahl verschiedener<br />
Arzneimittel abgesetzt bzw. nicht angesetzt<br />
werden (s. w. u.).<br />
Für die Beurteilung der Nutzen-Risiko-Relation<br />
können die PRISCUS-Liste (s. w. u.) und die sogenannten<br />
STOPP-Kriterien (Screening Tool of Older<br />
Persons Potentially inappropriate Prescriptions)<br />
[48, 49] herangezogen werden. Beide Kriterienlisten<br />
sind sehr umfangreich. Für die routinemäßige<br />
Nutzung in der eigenen Praxis sollte man sich, in<br />
Abhängigkeit von den eigenen Verordnungsgewohnheiten,<br />
eine Prioritätenliste mit etwa 15 bis<br />
20 Positionen daraus auswählen. Einige STOPP-<br />
Kriterien sind im Folgenden aufgelistet. Ein Übersetzung<br />
der kompletten STOPP-Kriterien [48] findet<br />
sich in KVH aktuell Nr. 4/2012 (ab S. 34). Bei der<br />
Bewertung der Gesamtliste sind neue Erkenntnisse<br />
seit der Publikation in 2008 zu berücksichtigen.<br />
STOPP-Kriterien<br />
Die folgenden Verordnungen können bei Patienten<br />
ab 65 Jahren problematisch werden und sollten<br />
kritisch überdacht werden:<br />
Kardiovaskuläres System<br />
Dauerbehandlung mit Digoxin in einer Dosis<br />
über 125µg pro Tag (erhöhtes Toxizitätsrisiko).<br />
Betablocker zusammen mit Verapamil (Risiko<br />
symptomatischer kardialer Reizleitungsstörungen,<br />
AV Block 3. Grades).<br />
Diltiazem oder Verapamil bei Herzinsuffizienz<br />
NYHA III oder IV (Hinweis der Leitliniengruppe:<br />
Laut ESC-Leitlinie 2012 [145] sind diese<br />
Substanzen bei systolischer Herzinsuffizienz<br />
und kombinierter systolischer und diastolischer<br />
Herzinsuffizienz kontraindiziert (NYHA<br />
I-IV); bei einer diastolischen Herzinsuffizienz<br />
ggf. aber angemessen).<br />
Gehirn und Psyche<br />
Trizyklische Antidepressiva bei Demenz (kognitive<br />
Leistung kann sich weiter verschlechtern).<br />
Trizyklische Antidepressiva bei gleichzeitigen<br />
kardialen Reizleitungsstörungen (proarrhythmischer<br />
Effekt) (Hinweis der Leitliniengruppe:<br />
Trizyklika sind bei Herzinsuffizienz zu vermeiden<br />
[145]).<br />
Über einen Monat langwirksame Benzodiazepine<br />
wie Chlordiazepoxid, Fluazepam, Nitrazepam,<br />
Chlorazepat oder Benzodiazepine mit<br />
langwirksamen Metaboliten wie z. B. Diazepam<br />
(Gefahr einer prolongierten Sedierung,<br />
von Verwirrtheit, Gleichgewichtsstörungen,<br />
Stürze).<br />
Respiratorisches System<br />
Theophyllin als Monotherapie (es gibt sichere<br />
und wirksame Alternativen; Risiko für UAW<br />
aufgrund enger therapeutischer Breite).
Nr. 2 / 2013<br />
KVH • aktuell<br />
Seite 43<br />
Bewegungsapparat<br />
NSAR bei moderater bis schwerer Hypertonie<br />
(> 160/100 mmHg) (Gefahr der Exazerbation).<br />
NSAR bei gleichzeitiger Herzinsuffizienz (Herzfunktion<br />
kann sich verschlechtern).<br />
Coumarine und NSAR (gastrointestinales Blutungsrisiko!).<br />
NSAR bei Patienten mit chronischem Nierenversagen<br />
(GFR 20 bis 50 ml/min) (Gefahr der<br />
Verschlechterung der Nierenfunktion).<br />
Urogenitalsystem<br />
Anticholinergika zur Inkontinenzbehandlung<br />
an Demente verordnen (Verwirrtheit kann verstärkt<br />
werden, es kann zu Agitiertheit kommen).<br />
Alphablocker bei Männern mit häufiger Inkontinenz<br />
(Gefahr einer höheren Miktionsfrequenz,<br />
Verschlechterung der Inkontinenz).<br />
Medikamente bei Sturzgefährdeten (Faustregel<br />
für erhöhte Sturzgefahr: Ein Sturz in den zurückliegenden<br />
drei Monaten).<br />
Benzodiazepine (beeinträchtigen Aufmerksamkeit<br />
und Gleichgewichtssinn).<br />
Neuroleptika (können Gang-Dyspraxie und<br />
Parkinsonismus verursachen).<br />
Einen sehr radikalen Handlungsentwurf hat der<br />
israelische Geriater Garfinkel [51, 52] vorgestellt:<br />
Bei hochbetagten Patienten hatte er nach einer sehr<br />
kritischen und ressourcenintensiven Bewertung der<br />
Medikation (z. B. hinsichtlich Evidenz, Eignung für<br />
die Altersgruppe, Nebenwirkungsrisiko bzw. -symptomatik,<br />
und Dosierung) dieser multimedizierten<br />
Patienten mehr als die Hälfte der Verordnungen<br />
beendet bzw. zum Absetzen vorgeschlagen. Ohne<br />
dass er schwere Zwischenfälle feststellte, musste er<br />
nur zwei Prozent der Medikamente neu ansetzen.<br />
Zugleich berichtete er über teilweise deutlich reduzierte<br />
Beschwerden.<br />
Bisher wurde dieser Ansatz jedoch nur in kleinen<br />
Studien erprobt [51, 52], es wird nicht berichtet,<br />
nach welcher Methode diese teilweise umfangreichen<br />
Um- und Absetzungen realisiert und wie<br />
schwere Zwischenfälle definiert wurden. Außerdem<br />
ist davon auszugehen, dass die Rahmenbedingungen,<br />
unter denen diese Medikationsbewertung<br />
durchgeführt wurde, sich deutlich vom Arbeitsalltag<br />
deutscher Hausarztpraxen unterscheiden.<br />
Der von Garfinkel vorgestellte Ansatz kann in<br />
dieser Form noch nicht generell für die Praxis empfohlen<br />
werden. Es wurden geriatrische Patienten im<br />
Grenzbereich zur Palliativmedizin untersucht. Hierbei<br />
ist die generelle Therapieindikation nicht kurativ,<br />
sondern die palliative Phase rückt schrittweise<br />
in den Vordergrund. Dabei geht es überwiegend<br />
um Symptomkontrolle. Dieser Aspekt verändert<br />
die Beurteilung einer Medikation erheblich. Das<br />
Vorgehen von Garfinkel verdeutlicht aber,<br />
welche Gestaltungsmöglichkeiten bei Multimedikation<br />
– insbesondere bei hochbetagten/<br />
palliativen Patienten – möglicherweise bestehen<br />
(zum Algorithmus s. Anhang).<br />
Aus geriatrischer Sicht hat Zeeh [164] diesen<br />
Vorschlag von Garfinkel aufgegriffen und für ein<br />
Kliniksetting modifiziert. Eine »individualisierte<br />
supervidierte Medikamentenoptimierung« sollte<br />
seines Erachtens durchgeführt werden, wenn die<br />
folgenden drei Fragen nicht alle mit »Ja« beantwortet<br />
werden können:<br />
1. Ist der Allgemeinzustand des Patienten gut?<br />
2. Werden die Therapieziele durch die Polymedikation<br />
erreicht?<br />
3. Ist die Compliance gut?<br />
Liegt der Grund für eine Verschlechterung des<br />
Allgemeinzustandes im Auftreten unerwünschter<br />
Arzneimittelwirkungen oder werden Punkt 2 und<br />
3 mit Nein beantwortet, empfiehlt er zunächst die<br />
Reduktion von Medikamenten mit hohem Nebenwirkungsrisiko<br />
und/oder ungünstigem Nutzen-Risiko-Verhältnis.<br />
Sein »Notfallkoffer Polypharmazie«<br />
umfasst auch die in dieser Leitlinie vorgestellten<br />
Instrumente (MAI, STOPP, START, PRISCUS, Brown<br />
Bag, persönliche Arzneimittelliste etc.).<br />
Unter http://www.sozialwerk-meiningen.de/sites/<br />
default/files/polypharmazieliste12-2012.pdf findet<br />
sich eine tabellarische Zusammenstellung von Wirkstoffen/Wirkstoffgruppen<br />
und Kriterien, bei denen<br />
Zeeh einen Auslassversuch oder ein Absetzen/Ausschleichen<br />
erwägen würde.<br />
Leider ist das Absetzen von Medikamenten in<br />
Studien bisher wenig untersucht worden, so dass<br />
man meist auf Erfahrungswissen und Plausibilität<br />
angewiesen ist [70]. Wichtig ist es, systematisch<br />
vorzugehen (s. hierzu [9]):<br />
Identifikation des abzusetzenden Medikaments<br />
/ der Medikamente.<br />
Rangliste der abzusetzenden Medikamente<br />
erstellen: Welches sollte als erstes abgesetzt<br />
werden?<br />
Nach Möglichkeit nur ein Präparat auf einmal<br />
absetzen, beginnend mit dem Medikament<br />
mit der wichtigsten »Absetz-Indikation«.
Seite 44 KVH • aktuell<br />
Nr. 2 / 2013<br />
Ausschleichen oder Reduzieren der Dosis.<br />
Gute Planung und Kommunikation mit dem<br />
Patienten, ggf. mitbehandelnden Ärzten und<br />
Angehörigen.<br />
Überwachung von positiven wie negativen<br />
Effekten des Absetzens.<br />
Tipps zum Vorgehen<br />
Mehrere Medikamente gleichzeitig nur bei akuten<br />
Ereignissen (z. B. Urtikaria) absetzen. Ansonsten<br />
möglichst nicht mehrere Arzneimittel gleichzeitig<br />
absetzen, um mögliche Reaktionen auf<br />
das Absetzen bewerten zu können. Der Prozess<br />
des Absetzens kann einige Tage, aber auch bis<br />
zu mehreren Monaten dauern (Rebound-Effekte<br />
kontrollieren).<br />
Ausschleichen: Insbesondere nach längerfristiger<br />
Verordnung von psychotropen Substanzen<br />
(Benzodiazepine), Antihypertensiva (insbesondere<br />
Betablocker), Kortikoide, Levodopa, Opioide ist die<br />
Dosis schrittweise zu reduzieren, da hier bei plötzlichem<br />
Absetzen teilweise schwere Symptomatiken<br />
ausgelöst werden können [86]. Besteht Unklarheit,<br />
ob die Medikation sofort beendet werden kann,<br />
sollte die Dosis eher schrittweise reduziert werden.<br />
Hinweis: In manchen Fällen kann das kontrollierte<br />
Absetzen von Medikamenten zu bedenklichen negativen<br />
Effekten führen [52, 70], derer sich der behandelnde<br />
Arzt bewusst sein sollte. Hierzu zählen:<br />
Entzugserscheinungen: Sie treten häufig<br />
bei zentralnervös wirkenden Medikamenten<br />
auf, wie z. B. Antidepressiva. Bei SSRI treten<br />
die Symptome ca. 1 Woche nach dem Absetzen<br />
auf, verlaufen relativ mild und verschwinden<br />
nach ca. 10 Tagen wieder. Abruptes Absetzen<br />
von Benzodiazepinen kann ernsthafte<br />
Entzugssymptome mit Verwirrtheitszuständen,<br />
Halluzinationen und Krämpfen auslösen.<br />
Rebound-Phänomene: Typisch sind Rebound-Tachykardien<br />
und Blutdruckanstiege<br />
nach dem Absetzen von Betablockern, die<br />
Hypersekretion von Magensäure nach einem<br />
Therapie-Stopp von Protonenpumpenhemmern<br />
oder Schlaflosigkeit nach dem Absetzen<br />
von Hypnotika.<br />
Wiederauftreten von Symptomen der<br />
Ursprungserkrankung: Bei einigen Medikamenten<br />
(z. B. Blutdruckmedikamente) kann<br />
die Symptomatik der zugrundeliegenden<br />
Erkrankung wieder stark zunehmen, wenn die<br />
Medikamente plötzlich abgesetzt werden.<br />
Absetzwirkungen: Ein Therapiestopp von<br />
Levodopa kann zu Muskelsteifheit und Bewusstseinsstörungen<br />
führen. Bei Patienten,<br />
die Kortikoide als Dauertherapie erhalten,<br />
kann durch eine plötzliche Beendigung der<br />
Therapie eine Addison-Krise ausgelöst werden.<br />
Eine Therapie zu beenden, ist auch für uns Ärzte<br />
emotional nicht immer einfach, da wir evtl. Therapien<br />
beenden, die wir selbst – oder ein Kollege –<br />
vor einiger Zeit vielleicht noch für relevant angesehen<br />
haben. Auch mag es Befürchtungen geben,<br />
dass eine mögliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes<br />
des Patienten (es handelt sich ja<br />
um multimorbide Patienten) mit dem abgesetzten<br />
Präparat in Verbindung gebracht wird. Deshalb wird<br />
eine engmaschige Kontrolle empfohlen. Auch ist<br />
dem Patienten zu verdeutlichen, dass das Beenden<br />
einer Therapie kein »Aufgeben« bedeutet, sondern<br />
helfen soll, seine Lebensqualität zu verbessern.<br />
Der Kommunikation mit den Patienten (und<br />
ggf. ihren Angehörigen) kommt beim Prozess des<br />
Absetzens deshalb eine hohe Bedeutung zu, da<br />
die unerwünschten Wirkungen z. T. vorhersehbar<br />
sind und gegen die Überzeugungen des Patienten<br />
ein Absetzen bzw. ein Entzug kaum erfolgversprechend<br />
ist. Im Gespräch mit dem Patienten ist<br />
insbesondere zu klären bzw. zu verdeutlichen<br />
von welchen Wirkungen des Medikaments<br />
der Patient überzeugt ist,<br />
welche Wirkungen (und ggf. Entlastung von<br />
Störsymptomen) er von der Absetzung der<br />
Medikation zu erwarten hat,<br />
welche Symptome er im Absetzprozess zu<br />
tolerieren bereit ist,<br />
dass er jederzeit auf Tempo oder Abbruch<br />
eines Absetzversuchs Einfluss nehmen kann,<br />
und<br />
dass das Absetzen medizinisch gewissenhaft<br />
beobachtet wird.<br />
Das Instrument Medication Appropriateness Index<br />
(MAI, siehe KVH aktuell 1/2013) hilft mit seinen<br />
Leitfragen zur Medikationsbewertung, unnötige<br />
bzw. vermeidbare Medikation zu erkennen und<br />
die Anwendungssicherheit zu unterstützen, wohingegen<br />
die individuelle Priorisierung Arzneistoffe<br />
zum Absetzen vorschlägt, die nach der Bewertung<br />
mittels MAI als sinnvoll erachtet und vorerst beibehalten<br />
wurden. Die Priorisierung erfolgt somit<br />
erst nach MAI und nur bei besonderen Anlässen.<br />
Mit anderen Worten: Nach einer Medikations-
Nr. 2 / 2013<br />
KVH • aktuell<br />
Seite 45<br />
bewertung kann sich die Notwendigkeit ergeben,<br />
die Zahl der Arzneimittel auch bei gegebener<br />
Evidenz auf Wunsch des Patienten, weniger Arzneimittel<br />
einzunehmen, einzuschränken. Sieht der<br />
Arzt aufgrund der Vielzahl der einzunehmenden<br />
Arzneimittel die Möglichkeit einer Gefährdung des<br />
Patienten oder vermutet er, dass das Therapieregime<br />
nicht adäquat umgesetzt werden kann, ist das<br />
Gespräch mit dem Patienten über die Möglichkeit<br />
des Absetzens zu suchen.<br />
Es finden sich in der internationalen Literatur<br />
Vorschläge zum Absetzen von Medikamenten<br />
(z. B. Garfinkel-Algorithmus [51], Bain et al. [9]),<br />
die noch hinsichtlich ihrer Umsetzbarkeit unter<br />
deutschen Gegebenheiten (hier vor allem im<br />
Rahmen der hausärztlichen Versorgung) evaluiert<br />
werden müssen. Es wird dabei implizit davon<br />
ausgegangen, dass sich bei einer kritischen Medikationsbewertung<br />
eine Reduktion der Zahl der<br />
Medikamente von selbst ergibt. Eine Priorisierung<br />
bei gegebener Evidenz ist in diesen Algorithmen<br />
nicht vorgesehen.<br />
Besteht nach der Medikationsbewertung der<br />
Wunsch des Patienten oder die Notwendigkeit die<br />
Zahl der Arzneimittel noch weiter zu reduzieren,<br />
schließt sich, um zu einer Verordnungsentscheidung<br />
zu kommen, die Phase der individuellen<br />
Priorisierung an.<br />
Die Leitliniengruppe schlägt unter Bezug auf Steinman<br />
und Hanlon [139] folgendes Vorgehen vor. In<br />
einem ersten Schritt werden nach Durchführung<br />
einer Medikationsbewertung mit Hilfe des erweiterten<br />
MAI (s. o.) alle noch vorhandenen Arzneimittel<br />
mit Indikation, ggf. beobachteten Problemen und<br />
Überlegungen zu den Folgen eines Therapieverzichtes<br />
gelistet. Dabei kann unterschieden werden,<br />
ob die Verordnung primär zur Verbesserung der<br />
Lebenserwartung (Mortalität), oder der Symptome<br />
und des Krankheitsverlaufs (Morbidität) erfolgte,<br />
wobei es auch Wirkstoffe wie ACE-Hemmer gibt,<br />
die beides beeinflussen [139].<br />
In Anlehnung an die Arbeiten von Tinetti und Fried<br />
[44, 45] sollten die Patienten zu ihren bevorzugten<br />
Therapiezielen befragt werden. Dabei sollten nicht<br />
nur erwünschte Ergebnisse, wie z. B. der erwartete<br />
Nutzen, sondern auch unerwünschte Effekte wie<br />
z.B. Nebenwirkungen von Medikamenten, und<br />
welche davon als intolerabel angesehen werden,<br />
erfragt werden. Es sollte folglich im Gespräch mit<br />
dem Patienten herausgefunden werden, wie sich<br />
seine persönliche Prioritätensetzung hinsichtlich der<br />
folgenden Aspekte darstellt:<br />
Selbständige Lebensführung / Unabhängigkeit<br />
(Funktionsverbesserung),<br />
Überleben / Prognoseverbesserung,<br />
Schmerzlinderung,<br />
Symptomverbesserung (Übelkeit, Kurzatmigkeit,<br />
Schwindel etc.).<br />
Vor diesem Hintergrund kann eine individuelle Entscheidungsfindung<br />
(Präferenzsetzung / Priorisierung)<br />
der Medikation vorgenommen werden. Diese<br />
ist sogar unvermeidlich, wenn beispielsweise nicht<br />
alle Ziele gleichzeitig erreichbar sind (konfligierende<br />
Outcomes). Hierbei werden für jedes Medikament<br />
die folgenden Punkte festgehalten (s. hierzu<br />
w. u. einige Fragen):<br />
Was erwartet der Patient von der medikamentösen<br />
Therapie? Was ist für den Patienten<br />
zur Zeit das Wichtigste? Worin besteht für ihn<br />
der konkrete Nutzen?<br />
Für Herzkreislauf-Erkrankungen kann die Abschätzung<br />
der Prognoseverbesserung z. B. mit<br />
Hilfe des ARRIBA Rechners erfolgen.<br />
Wie schätzt der Behandler die Notwendigkeit<br />
der Medikation vor dem Hintergrund der<br />
individuellen Therapieziele des Patienten ein?<br />
Die Tabellen auf den beiden folgenden Seiten<br />
bieten etliche Hilfestellungen beim individuellen<br />
Aufspüren von Präferenzen.
Seite 46 KVH • aktuell<br />
Nr. 2 / 2013<br />
Hilfe zur Präferenzsetzung von symptom- und funktionsverbessernden Medikamenten<br />
(nicht alle Symptome werden unmittelbar vom Patienten selber wahrgenommen,<br />
z. B. psychosoziale Einschränkungen).<br />
Frage<br />
Welche Beschwerden haben Sie?<br />
Welche Bedeutung haben die<br />
Beschwerden für Sie? Können Sie<br />
damit leben? Wie stark sind Sie<br />
beeinträchtigt?<br />
Welches ist Ihre stärkste Beschwerde?<br />
Welche Beschwerden schränken Sie im<br />
Alltag/Kontakt ein?«<br />
Was trauen Sie sich nicht mehr zu?<br />
Wobei fühlen Sie sich stark<br />
eingeschränkt? Was möchten Sie<br />
gern wieder können?<br />
Haben Sie sich im vergangenen Monat<br />
oft niedergeschlagen oder hoffnungslos<br />
gefühlt? Hatten Sie im letzten Monat<br />
häufig wenig Freude bei den Dingen,<br />
die Sie tun?<br />
Wobei benötigen Sie Fremdhilfe? »Fehlen<br />
Ihnen Menschen, denen Sie vertrauen<br />
und auf deren Hilfe Sie zählen können?«<br />
Informationsgewinnung<br />
z. B. Schmerzen, Schwindel, Müdigkeit, Abgeschlagenheit,<br />
Ohrensausen, Vergesslichkeit, Inkontinenz,<br />
Verstopfung, Appetitlosigkeit, Gangstörungen,<br />
Sturzneigung, trockener Mund, trockene Haut/Juckreiz,<br />
Kältegefühl, Schlafstörung<br />
Hinweise auf Beeinträchtigung im täglichen Leben,<br />
über Kompensationsmöglichkeiten, psychosoziale<br />
Belastungen.<br />
Hinweise auf vorrangige Belastungen und Therapieziele.<br />
Eine Einschränkung von sozialen Kontakten sollte<br />
rechtzeitig festgestellt werden.<br />
Hilft, die Relevanz von Beschwerden einzuordnen<br />
und die Kompetenz zu den Aktivitäten des täglichen<br />
Lebens zu überprüfen, Stellenwert für unabhängige<br />
Lebensführung.<br />
Überprüft die psychosoziale Aktivität,gibt Hinweise<br />
zur Abklärung einer Depression [5]<br />
Überprüft die psychosoziale Kompetenz, aber auch die<br />
Einbindung in ein soziales Netzwerk.<br />
Hilfe zur Präferenzsetzung von prognosebessernden Medikamenten<br />
Information<br />
Das Medikament kann Ihr Leben<br />
verlängern.<br />
Dieses Medikament kann folgende<br />
Komplikationen vermeiden…<br />
Ggf. prüfen: Liegen für die Alters- oder<br />
Zielgruppe zuverlässige Informationen<br />
vor, ob das Medikament das Leben<br />
verlängert oder Komplikationen<br />
verhindert?<br />
Frage an Patienten<br />
Welche Bedeutung hat das für Sie? Glauben Sie,<br />
dass dies auch für Sie zutrifft? Welche Nebenwirkung<br />
sind Sie bereit, dafür zu akzeptieren? Welche Risiken<br />
sind Sie bereit, zu akzeptieren?<br />
Welche Bedeutung hat das für Sie? Welche<br />
Nebenwirkung sind Sie bereit, dafür zu akzeptieren?<br />
Welche Risiken sind Sie bereit, zu akzeptieren?<br />
Wollen Sie das Medikament trotzdem versuchen,<br />
auch wenn für Ihre Altersgruppe keine sichere<br />
Aussage möglich ist?
Nr. 2 / 2013<br />
KVH • aktuell<br />
Seite 47<br />
Es bietet sich an, für jedes Arzneimittel die folgende<br />
Tabelle auszufüllen. Die Reihenfolge der Arzneimittel<br />
stellt noch keine individuelle Bewertung dar.<br />
Leitfrage für Patient: Welche Beschwerde steht<br />
für Sie im Vordergrund (z. B. Luftnot, Schmerzen,<br />
Beweglichkeit)? Was soll mit der Therapie erreicht<br />
werden? Welche Nebenwirkung ist für Sie nicht<br />
tolerabel?<br />
Leitfrage für Arzt: Welche Medikation wird als<br />
unentbehrlich angesehen?<br />
Checkliste als Hilfestellung zur individuellen Präferenzsetzung<br />
Medikament<br />
Indikation/<br />
Beschwerden<br />
Evidenz:<br />
Lebensverlängerung/<br />
Morbidität/ Symptom-<br />
/ Funktionsverbesserung<br />
Arzt:<br />
Einschätzung<br />
der Relevanz<br />
Patient<br />
Einschätzung<br />
der Relevanz<br />
Kommentar/<br />
Entscheidung<br />
1 1 L<br />
2 M<br />
3 S<br />
2 1<br />
L: Lebensverlängerung, M: Morbidität beeinflussend, S: Symptomverbesserung; F: Funktionsverbesserung<br />
Dieser Vorschlag der Leitliniengruppe muss noch erprobt werden.<br />
Mit der gemeinsamen Erstellung der Liste gelangt<br />
man zu einer Einschätzung der Relevanz<br />
aus Patienten- und Arztsicht. Es kann durch das<br />
intensive Gespräch mit dem Patienten auch der<br />
Fall auftreten, dass eine im Vordergrund stehende<br />
Beschwerde bislang nicht adäquat therapiert<br />
wurde und eine Neuverordnung notwendig wird.<br />
Andererseits steht für einen hochbetagten Patienten<br />
meist die symptomlindernde Medikation<br />
im Vordergrund.
Seite 48 KVH • aktuell<br />
Nr. 2 / 2013<br />
Schritt 5: Kommunikation<br />
Der Prozess endet nicht mit einem Therapievorschlag.<br />
Die Entscheidung muss mit dem Patienten<br />
besprochen und abgestimmt werden. Jüngere<br />
Untersuchungen zur medikationsbezogenen Arzt-<br />
Patienten-Kommunikation haben gezeigt, dass<br />
Ärzte in der Konsultation vorzugsweise auf den<br />
Nutzen einer Therapie hinweisen, auf deren Risiken<br />
und potentielle Nebenwirkungen jedoch nur selten<br />
eingehen. Inbesondere erhalten Patienten oftmals<br />
keine Informationen darüber, wie sie sich im Falle<br />
des Auftretens von potentiellen Nebenwirkungen<br />
verhalten sollen. Auch überzeugen sich Ärzte nur<br />
selten davon, welche Informationen ihre Patienten<br />
tatsächlich verstanden haben [121, 140]. Unter<br />
der Maxime, dass ein gut informierter Patient eine<br />
hilfreiche Sicherheitsbarriere gegen arzneimittelbezogene<br />
Probleme darstellt [74], sollte das Gespräch<br />
mit dem Patienten folgende Punkte umfassen:<br />
Aktualisierung des Medikamentenplanes im<br />
Praxis-PC,<br />
dem Patienten einen Ausdruck des aktuellen<br />
Medikationsplans aushändigen,<br />
Erläuterung der aktuellen Therapie und ggf.<br />
der vorgenommenen Änderungen,<br />
dem Patienten mögliche arzneimittelbezogene<br />
Probleme, die auftreten können, erläutern<br />
[93],<br />
Einnahmehinweise geben,<br />
Verhaltenshinweise geben für den Fall, dass<br />
Nebenwirkungen auftreten oder die Einnahme<br />
vergessen wurde,<br />
Verständnis und Umsetzungsmöglichkeit abfragen,<br />
Termine für Kontrolluntersuchung vereinbaren.<br />
Ebenso ist zu erfragen, ob die seitens des Arztes<br />
vorgesehene Therapie vom Patienten akzeptiert<br />
wird und ob ggf. Anwendungsprobleme zu erwarten<br />
sind. Prüfen Sie bei diesem Gespräch, ob der<br />
Patient zusätzliche Informationen für ein besseres<br />
Verständnis seiner Erkrankung und zur Förderung<br />
der Adhärenz und Eigenaktivität benötigt (Patientenleitlinien,<br />
werbungsfreie Informationsschriften).<br />
Ggf. ist eine Kontaktaufnahme zu mitbehandelnden<br />
Spezialisten und/oder pflegenden Angehörigen<br />
notwendig.<br />
Dem Zusammenhang zwischen »Gesundheitsverständnis«<br />
(health literacy) und gesundheitlicher<br />
Lage sowie Mortalität wird erst seit einigen Jahren<br />
mehr Aufmerksamkeit gewidmet [10, 141].<br />
So sehen beispielsweise die WH0 und das US<br />
Department of Health and Human Services darin<br />
einen wichtigen Einflussfaktor auf die Gesundheit<br />
[152, 163]. Eine aktuelle Studie zeigte, dass Patienten,<br />
die die Informationen eines Beipackzettels<br />
schlecht wiedergeben konnten, auch nach Adjustierung<br />
auf eine Vielzahl von Variablen wie Alter,<br />
Geschlecht, Schulabschluss, Gesundheitszustand<br />
und Gesundheitsverhalten eine höhere Mortalität<br />
aufwiesen im Vergleich zu denen, die sich besser an<br />
die Informationen der Packungsbeilage erinnerten<br />
[21]. Aus der Studie kann zwar nicht abgeleitet<br />
werden, ob eine intensivere Beratung durch den<br />
Arzt einen Einfluss auf die Fähigkeit der Patienten<br />
hat, gesundheitsbezogene Informationen zu verarbeiten<br />
und wiederzugeben, dennoch empfiehlt die<br />
Leitliniengruppe, sich bei der Erläuterung der Medikation<br />
Zeit zu nehmen und davon auszugehen,<br />
dass der Patient nicht seinerseits aktiv nachfragt,<br />
wenn er etwas nicht verstanden hat.<br />
Aus Projekten zum Konzept der partizipativen<br />
Entscheidungsfindung (shared decision making)<br />
lässt sich ableiten, dass gut informierte, aufgeklärte<br />
Patienten<br />
realistischere Erwartungen in Bezug auf die<br />
Therapieziele haben. Damit wächst die Zufriedenheit<br />
mit den Behandlungsergebnissen.<br />
sich aktiver an der eigenen Behandlung beteiligen<br />
und eine höhere Therapietreue zeigen.<br />
Zum Abschluss des Gesprächs muss eine Einigung<br />
erzielt werden, ob und welche Arzneistoffe abgesetzt<br />
werden. Die auf diese Weise neu festgelegte<br />
Therapie muss anfangs engmaschig kontrolliert<br />
werden.<br />
Mögliche Hilfsmittel für die Patientenkommunikation<br />
sind z. B.<br />
arriba ® (http://arriba-hausarzt.de)<br />
www.patientenleitlinien.de<br />
www.gesundheitsinformation.de<br />
www.aok.de/bundesweit/gesundheit/<br />
aok-entscheidungshilfen-28557.php<br />
Ein zentraler Stellenwert in der erfolgreichen Umsetzung<br />
der Therapie kommt der Erstellung/Aktualisierung<br />
eines übersichtlichen Medikationsplans<br />
zu. Dieser sollte unterscheiden zwischen<br />
Verordnungen des Hausarztes,<br />
Verordnungen anderer Spezialisten (sind entsprechende<br />
Briefe vorhanden?),<br />
Selbstmedikation des Patienten.
Nr. 2 / 2013<br />
KVH • aktuell<br />
Seite 49<br />
Der Medikationsplan ist bei jeder Medikamentenänderung<br />
zu aktualisieren und dem Patienten auszuhändigen.<br />
Die gemeinsam mit dem Patienten<br />
vorgenommene Medikationsbewertung bietet<br />
die Möglichkeit, ihn (so weit möglich) anzuleiten,<br />
den Medikationsplan jedem verordnenden Arzt<br />
vorzulegen, Dosisänderungen sowie Präparate der<br />
Selbstmedikation einzutragen (Beispiel für einen<br />
Medikationsplan s. nächste Seite).<br />
Folgende Mindestanforderungen sind an einen<br />
Medikationsplan zu stellen: Alle eingenommenen<br />
Medikamente sollten mit<br />
Wirkstoff- und Handelsname,<br />
Wirkstärke,<br />
Darreichungsform und<br />
genauer Dosierung<br />
aufgeführt sein. Vermerkt werden sollten nicht nur<br />
die dauerhaft vom Hausarzt oder vom Spezialisten<br />
verordneten Präparate und die Selbstmedikation,<br />
sondern auch Medikamente, die nur gelegentlich<br />
(»bei Bedarf«) eingenommen werden sowie kurzzeitige<br />
Verordnungen, wie bspw. Antibiotika.<br />
Bei Bedarfsmedikamenten sollten mindestens<br />
Angaben zur Einzeldosis sowie zur maximalen<br />
Gesamttagesdosis und zur Indikation gemacht<br />
werden (z. B. bei Kreuzschmerzen Ibuprofen<br />
400 mg 2x1, bis max. 6x1 pro Tag).<br />
Bei kurzzeitigen Verordnungen sollten das<br />
Start- und das voraussichtliche Enddatum der<br />
Einnahme vermerkt werden.<br />
Zusätzlich sollte es möglich sein, im Medikationsplan<br />
die Indikation sowie Hinweise wie z. B.<br />
Allergien aufzuführen. In der Pflegedokumentation<br />
sind bereits Indikation, Name des verordnenden<br />
Arztes, Beginn und ggf. Ende der Medikation aufgenommen.<br />
Besondere Einnahmevorschriften sollten in patientenverständlicher<br />
Form notiert werden. Dazu zählen<br />
z. B. tageszeitliche Ausnahmen von der vierstufigen<br />
Gliederung (morgens – mittags –abends – zur<br />
Nacht), wie etwa Kortikoide in frühen Morgenstunden<br />
oder das Einnehmen mit viel Flüssigkeit, vor,<br />
zu oder nach dem Essen etc.<br />
Außer Namen und Geburtsdatum des Patienten<br />
sollten auf dem Medikamentenplan auch die Kontaktdaten<br />
des Hausarztes / der Hausärztin sowie das<br />
Datum der Ausstellung deutlich lesbar aufgeführt<br />
sein.<br />
Weitere wichtige Informationen, die eine ggf.<br />
erforderliche Mitbehandlung durch andere Ärzte<br />
erleichtern, sind<br />
Angaben über ggf. bestehende Arzneimittelunverträglichkeiten<br />
oder Allergien,<br />
eine optisch auffällige Kennzeichnung bei der<br />
Einnahme von z. B. Phenprocoumon sowie<br />
bei eingeschränkter Nierenfunktion unterhalb<br />
von 50 ml/min (eGFR nach MDRD).<br />
Auf der Übersicht für den Patienten sollten noch<br />
folgende Hinweise aufgenommen werden:<br />
Keinen Grapefruitsaft trinken (kann die Wirkung<br />
der Arzneimittel ungünstig beeinflussen)!<br />
Rücksprache bei Einnahme von Arzneimitteln<br />
(auch pflanzliche wie z. B. Johanniskraut!) in<br />
Selbstmedikation (Gefahr von Wechselwirkungen).<br />
Eine Arbeitsgruppe im Rahmen des nationalen Aktionsplans<br />
Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) hat<br />
im Juni 2012 den Entwurf eines einheitlichen, elektronisch<br />
unterstützten Medikationsplans veröffentlicht<br />
[http://www.akdae.de/AMTS/Massnahmen/<br />
docs/ Medikationsplan.pdf]. Der Plan ist geeignet,<br />
alle wesentlichen Informationen zwischen den Beteiligten<br />
im Medikationsprozess kontinuierlich weiterzugeben<br />
(siehe Abb. auf der folgenden Seite).<br />
Grundidee ist, dass der Patient ein Dokument in<br />
die Hand bekommt, das jeweils seine komplette<br />
Medikation enthält und für ihn klar lesbar alle relevanten<br />
Informationen zur Einnahme etc. enthält.<br />
Der Patient kann diesen Plan bei jedem weiteren<br />
Kontakt mit einer Arztpraxis oder einer Apotheke<br />
aktualisieren lassen, sofern er ihn vorlegt – es ist<br />
ein ‚patient-held record’ ohne zentrale Datenspeicherung.<br />
Die technische Grundlage – zu der die Softwareindustrie<br />
allgemein die Zusage gegeben hat, sie<br />
in ihren Software-Produkten zukünftig zu unterstützen<br />
– besteht darin, dass die Klartextinformationen<br />
auf diesem Plan durch den 2D-Barcode<br />
(oben rechts) automatisch ausgelesen werden,<br />
nach Möglichkeit in die jeweils eigene Software<br />
(mit ihren Dokumentations- und Prüfmodulen)<br />
übernommen und verarbeitet werden, und mit<br />
den entsprechenden Anpassungen/Änderungen<br />
wieder als Medikationsplan ausgedruckt werden<br />
kann. Aus verschiedenen Gründen ist im Augeblick<br />
nicht zu erwarten, dass die ‚elektronische Gesundheitskarte’<br />
in der näheren Zukunft die gleiche oder<br />
eine erweiterte Funktionalität enthalten wird.<br />
Die in der hausärztlichen Pharmakotherapie
Seite 50 KVH • aktuell<br />
Nr. 2 / 2013<br />
Quelle: Spezifikation für einen patientenbezogenen Medikationsplan. Koordinierungsgruppe zur Umsetzung<br />
und Fortschreibung des Aktionsplans zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit in<br />
Deutschland. Bearbeitet von Dr. Farid Aly, Berlin; Dr. Gunter Hellmann, Erlangen; Dr. Horst Möller, Bonn<br />
http://www.akdae.de/AMTS/Massnahmen/docs/Medikationsplan.pdf<br />
Legende: zN zur Nacht<br />
Der Plan ist individuell nach Einscannen veränderbar.<br />
Betei-ligten – Ärzte, Apotheker und Patienten –<br />
sollten daher darauf dringen, dass diese ‚low-tech’-<br />
Lösung möglichst breit angewendet und von den<br />
Software-Systemen unterstützt wird.<br />
Schritt 6: Arzneimittelabgabe<br />
Diese erfolgt in der Regel durch die Apotheke.<br />
Patienten (und insbesonderen solchen mit Multimedikation)<br />
sollte dazu geraten werden, eine<br />
Hausapotheke zu wählen, die<br />
bei der Arzneimittelabgabe gezielte Anwendungshinweise<br />
gibt,<br />
die Selbstmedikation kritisch hinterfragt und<br />
begleitet [38],<br />
die korrekte Handhabung (z. B. Asthmaspray,<br />
Insulinpen, BZ-Messung) demonstriert,<br />
auf arzneimittelbezogene Probleme achtet<br />
[38, 55, 59],<br />
Interaktionschecks durchführen und<br />
ein elektronisches Medikationsprofil erstellen<br />
kann.<br />
Bei den Interaktionschecks sollte unbedingt die<br />
Selbstmedikation berücksichtigt und in den Medikationsplan<br />
eingetragen werden. Ebenso sollten<br />
Probleme (z. B. Doppeleinnahme, Einnahme der<br />
falschen Dosierung, die durch einen Präparatewechsel<br />
aufgrund der Rabattverträge entstehen<br />
können) antizipiert und der Patient entsprechend<br />
instruiert werden. Ebenso sollten durch das Medikationsprofil<br />
Doppelverordnungen durch verschiedene<br />
Ärzte auffallen und deren Einnahme verhindert<br />
werden.<br />
Eine gute Kooperation zwischen behandelndem<br />
Arzt und betreuender Apotheke vorausgesetzt,<br />
besteht hier die Möglichkeit, dass bei Führen eines<br />
Medikationsprofils durch die Apotheke die sichere<br />
Arzneimittelanwendung durch gezielte Informationen<br />
und Hilfestellung in der Handhabung der Medikamente<br />
sowie durch Abgleich mit zusätzlicher<br />
Medikation (Selbstbehandlung oder Verordnung<br />
anderer Behandler) unterstützt wird. Ideal wäre,<br />
wenn seitens der Apotheke das jeweils abgegebene<br />
Präparat (wg. Rabattvertrag) in den Medikationsplan<br />
des Patienten eingetragen würde.
Nr. 2 / 2013<br />
KVH • aktuell<br />
Seite 51<br />
Zurzeit bestehen verschiedene Aktivitäten, für<br />
ausgewählte Zielgruppen (z. B. 5 und mehr Arzneimittel<br />
im Dauergebrauch, Heimbewohner,<br />
Insulinpatienten) ein Medikationsmanagement in<br />
Kooperation von Ärzten und Apothekern durchzuführen<br />
(s. ATHINA – Arzneimitteltherapiesicherheit<br />
in Apotheken, ein Projekt der Apothekerkammer<br />
Nordrhein; PharmCHF Studie der ABDA – www.<br />
pharm-chf.de; WestGEM-Studie: Entwicklung und<br />
modellhafte Erprobung eines Konzepts zur integrierten<br />
Zusammenarbeit von niedergelassenen<br />
Ärzten (behandelnder Primärarzt), Apothekern<br />
sowie Pflege- und Wohnberatern).<br />
Schritt 7: Arzneimittelanwendung<br />
Der Medikationsprozess schließt auch Hilfestellungen<br />
für eine sichere und verordnungsgemäße<br />
Arzneimittelanwendung mit ein. Im Folgenden<br />
sind in Anlehnung an v. Renteln-Kruse [157] einige<br />
Aspekte zusammengetragen. Eine sichere Arzneimittelanwendung<br />
kann durch verschiedene Berufsgruppen/Einrichtungen<br />
(Arzt, MFA, Apotheke,<br />
Pflege) unterstützt werden.<br />
Wiederholtes Erfragen und Identifikation<br />
der individuellen Probleme eines Patienten.<br />
Dies dient dem Erkennen von Behinderungen<br />
(Feinmotorik, Sehbehinderung) bei der<br />
Anwendung oder von Verständnisproblemen<br />
(Sprache, Hören).<br />
Vorteile durch vereinfachte Therapie<br />
nutzen: Zahl der Medikamente senken (z. B.<br />
durch Kombinationspräparate, Prioritätensetzung)<br />
Dosierung vereinfachen, Einnahmehilfen<br />
anbieten (Dosetten).<br />
Informationen mündlich und schriftlich<br />
weitergeben, z. B. Verordnungsplan, Patienteninformationen<br />
mitgeben.<br />
»Verstärker« nutzen: Einbeziehen von Angehörigen,<br />
Schulungen, Hinweis auf Gesundheitsportvereine.<br />
Ggf. direktes Einbeziehen von an der<br />
Versorgung Beteiligter/Angehöriger: Hierdurch<br />
soll sichergestellt werden, dass nicht<br />
nur der Patient die für die Therapie wichtigen<br />
Informationen erhalten hat.<br />
Bei Prüfen des Behandlungserfolges (Monitoring):<br />
Werte erläutern, Feedback zur Therapie<br />
geben, nach Therapieproblemen fragen.<br />
Möglichkeiten für sinnvolle Selbstkontrollen<br />
ansprechen (z. B. Gewichtskontrolle, Blutzucker-Messungen),<br />
Anwendung von Inhalern,<br />
Pens zeigen lassen.<br />
Auch zur Stärkung der Adhärenz sind unterstützende<br />
Maßnahmen möglich:<br />
Maßnahmen zur Arzneimitteleinnahme/<br />
Durchführung von Übungen individualisieren,<br />
z. B. spezielle Erinnerungstricks.<br />
Gewohnheiten (Ritualisierung) bilden, z. B.<br />
Tabletten immer vor dem Nachtisch oder dem<br />
Zubettgehen einnehmen (sofern keine anderen<br />
Vorgaben).<br />
Wiederholungseffekte nutzen, ggf. häufiger<br />
einbestellen nach Neubeginn der Therapie.<br />
Patienten sollten bei jedem Besuch darauf<br />
hingewiesen werden, wie wichtig die Therapie<br />
ist (z. B. Blutdhochdruckbehandlung).<br />
Verständnis für Chronozität der Erkrankung<br />
herstellen: Erläuterung der Notwendigkeit<br />
einer Dauerbehandlung trotz Zielerreichung.<br />
Über Risikofaktoren aufklären (Risikokommunikation):<br />
z. B. mittels arriba ® , Antirauchermaßnahmen.<br />
Erläuterung von Nebenwirkungen, die<br />
erfahrungsgemäß oftmals zu Non-Adhärenz<br />
führen (z. B. Potenzstörung, Gewichtszunahme):<br />
Hier sollten die Aussagen in der<br />
Packungsbeilage auf den Patienten bezogen<br />
erläutert und Hinweise zum Verhalten gegeben<br />
werden.<br />
Antizipieren, dass Patient evtl. die Therapie<br />
eigenständig verändert: Hinweise<br />
geben, welche Medikamente nicht eigenständig<br />
abgesetzt, pausiert oder in der Dosierung<br />
verändert werden sollten.<br />
Nachfragen nach Eigenaktivität der Patienten<br />
(als Ausdruck von Mitwirkung an<br />
Therapie) wie alternative, antroposophische<br />
Heilverfahren, Heilpraktiker u. a. Erläutern,<br />
dass die Kenntnis darüber für den behandelnden<br />
Arzt notwendig sei, da evtl. Arzneimittel<br />
abgesetzt oder andere zusätzlich genommen<br />
werden<br />
Schritt 8: Monitoring (Assessment)<br />
Änderungen in der Medikation sind hinsichtlich<br />
ihrer Wirkungen (therapeutische Effekte, Nebenwirkungen,<br />
Notwendigkeit) zu beobachten. Hierzu<br />
ist ein Kontrolltermin, ggf. auch zur Überwachung<br />
klinischer Parameter, mit dem Patienten zu vereinbaren.<br />
Jedes Monitoring ist somit eine Bestandsaufnahme<br />
und mündet damit in einen neuen Behandlungskreislauf<br />
(s. Abb. zum Medikati-
Seite 52 KVH • aktuell<br />
Nr. 2 / 2013<br />
onsprozess). So stellt das Monitoring eine gute<br />
Gelegenheit dar, nach unspezifischen Symptomen<br />
zu fragen, da diese Folgen einer Therapieänderung<br />
sein könnten, wie z. B.:<br />
Trockener Mund<br />
Abgeschlagenheit, Müdigkeit, Schläfrigkeit<br />
oder reduzierter Wachsamkeit<br />
Schlafstörung<br />
Schwäche<br />
Bewegungsstörungen, Tremor, Stürze<br />
Obstipation, Diarrhoe oder Inkontinenz, Appetitlosigkeit,<br />
Übelkeit<br />
Hautausschläge, Juckreiz<br />
Depression oder mangelndes Interesse an den<br />
üblichen Aktivitäten<br />
Verwirrtheit (zeitweise oder dauerhaft)<br />
Halluzinationen<br />
Angst und Aufregung<br />
Nachlassen des sexuellen Interesses<br />
Schwindel<br />
Ohrgeräusche<br />
Ebenso sollte beim Monitoring nach Problemen<br />
in der Umsetzung der Therapie gefragt und die<br />
Adhärenz überprüft werden (s. Abschnitt Adhärenz<br />
im Medikationsprozess Schritt 1). Empfehlenswert<br />
ist es, sich die Anwendung von Asthmainhalern<br />
oder Insulinpens, das Vorhandensein des Medikationsplanes<br />
oder Diabetespasses sowie ggf. Blutzucker-<br />
oder RR-Aufzeichnungen zeigen zu lassen.<br />
Zum Monitoring gehören auch Routinekontrollen.<br />
Medikamente, die regelmäßige Laborkontrollen<br />
oder auch eine EKG-Kontrolle erfordern, sind in<br />
nachfolgender Tabelle (Schmiemann G, Biesewig-<br />
Siebenmorgen J, Egidi G [126]) aufgeführt. Die<br />
Liste ist das Ergebnis mehrerer Diskussionen in<br />
Qualitätszirkeln und Fortbildungsveranstaltungen.<br />
Grundlage ist neben der klinischen Erfahrung der<br />
Teilnehmer eine selektive Literatursuche. Trotz<br />
gewissenhafter Prüfung ist die Auswahl der Kontrollen<br />
letztlich subjektiv und stellt keine verbindliche<br />
Empfehlung dar.<br />
Für spezielle Wirkstoffe (z. B. Immunsuppressiva,<br />
Antiepileptika) sollte man die Fachinformation<br />
konsultieren, da hier sehr komplexe und nach<br />
Indikation auch unterschiedliche Laborkontrollen<br />
empfohlen sind.<br />
Die in der unten beginnenden Tabelle vorgeschlagenen<br />
Routinekontrollen stellen das Ergebnis aus<br />
Diskussionen in Qualitätszirkeln und Fortbildungsveranstaltungen<br />
dar [126]).<br />
Vorschlag für sinnvolle Routinekontrollen bei häufig eingesetzten Wirkstoffen [126]<br />
Wirkstoff(gruppe)<br />
ACE-Hemmer/Sartane (z. B: Ramipril/Candesartan)<br />
Thiazid- Diuretika (Hygroton ® )<br />
Schleifendiuretikum<br />
(z. B. Furosemid, Torasemid)<br />
ß-Blocker<br />
Amiodaron (Cordarex ® , Generika)<br />
Spirolonacton (Aldactone ® , Generika<br />
Digoxin/Digitoxin<br />
Allopurinol<br />
Systemische Kortikoide<br />
(Prednisolon/Decortin H ® )<br />
Statine<br />
(z. B: Simvastatin/ Pravastatin)<br />
Metformin<br />
Kontrollen<br />
Vor/bei Therapiebeginn und bei Niereninsuffizienz nach 1 Woche<br />
Kreatinin (eGFR*), Kalium, dann 1x im Jahr Krea und Kalium [63]<br />
Vor/bei Therapiebeginn und 1x im Jahr Kreatinin (eGFR), Kalium<br />
(Cave: Kreatinin >1,8 mg/dl ist Kontraindikation), Natrium<br />
Vor/bei Therapiebeginn und 1x im Jahr Krea (eGFR), Kalium, Natrium<br />
abhängig von der Dosierung mindestens 1x jährlich<br />
Evtl. EKG vor Therapie<br />
Vor/bei Therapiebeginn Spirometrie/Rö-Thorax, TSH, fT3, fT4, Spirometrie<br />
alle 6 Monate oder bei Dyspnoe, 1x jährlich TSH + augenärztliche<br />
Kontrolle [73, 134] + EKG (s. Hinweis)*<br />
Kreatinin, Kalium alle 6 Monate<br />
EKG, Kreatinin, Kalium 1x im Jahr, keine Routine-Spiegelbestimmung<br />
bei klinisch stabilen Patienten [134]<br />
Vor/bei Therapiebeginn und 1x im Jahr Kreatinin (eGFR), GOT/GPT,<br />
Harnsäure<br />
Ab 7,5 mg/Tag: BZ 1x pro Quartal; ab einer Therapiedauer<br />
> 3 Monate an Osteodensitometrie denken<br />
CK und GOT/GPT 1x nach Therapiebeginn (Grenzwerte beachten!),<br />
CK danach nur bei Beschwerden<br />
Vor/bei Therapiebeginn und 1x im Jahr BB, Kreatinin (eGFR), HbA1c<br />
1x/Quartal. Bei Makrozytose: Folsäure, Vit. B
Nr. 2 / 2013<br />
KVH • aktuell<br />
Seite 53<br />
Wirkstoff(gruppe)<br />
Dabigatran (Pradaxa ® )<br />
Phenprocoumon (Marcumar ® )<br />
Niedermolekulare Heparine<br />
Enoxaparin (Clexane ® )<br />
Azathioprin<br />
Methotrexat (Lantarel ® )<br />
Lithium (Quilonum ® )<br />
Kontrollen<br />
Vor/bei Therapiebeginn und 1x im Quartal BB, 1x im Jahr Kreatinin<br />
(eGFR) [6]<br />
1 x im Quartal kleines BB, gGT und GPT<br />
INR auch bei sehr stabilen Werten mind. alle 3 Monate [56]<br />
Vor/bei Therapiebeginn und 2 Wochen lang 2 x in der Woche kleines<br />
Blutbild, wenn das Risiko für HIT > 1% [56]<br />
Vor/bei Therapiebeginn und dann wöchentlich für 1-3 Monate BB,<br />
Kreatinin, yGT, GPT, danach alle 1-3 Monate. Cave: Kombination mit<br />
Allopurinol<br />
Vor/bei Therapiebeginn Diff-BB, GPT, GOT, gGT, AP, Bilirubin, Kreatinin-Clearance<br />
(Reduktion bei GFR 1x /Quartal TSH + BB [134]. BB im<br />
Verlauf eher nicht geeignet, um Agranulozytoserisiko zu erkennen<br />
(Patienten über Hinweise auf Agranulozytose – Infekte, insbesondere<br />
Halsschmerzen – informieren)<br />
Vor/bei Therapiebeginn und 1x im Quartal kleines BB, gGT, GPT (laut<br />
Fachinformation zu Beginn häufiger)<br />
Vor/bei Therapiebeginn 1x im Quartal BB, AP, PT, Kreatinin (laut Fachinformation:<br />
zu Beginn häufiger und auch Urin-Status). Nach Fieber/<br />
ZNS-Symptomen und Exanthemen fragen.<br />
SSRI (Citalopram/Cipramil ® ) Natrium-Kontrolle, EKG (Kontrolle QTc-Zeit) [159]<br />
Antiepileptika<br />
Carbamazepin<br />
Kreatinin, Na 1x pro Jahr; Spiegel-Kontrollen nur in Einstellungsphase<br />
und bei häufigen Krampfanfällen. Dann morgendlicher Talspiegel vor<br />
Tabletteneinnahme.<br />
Vor/bei Therapiebeginn und 1x im Quartal kleines BB, Harnstoff, Na,<br />
yGT, GPT (laut Fachinformation zunächst wöchentlich)<br />
Hinweis zu Amiodoron aus Fachinformation: Infolge der Lungentoxizität besteht das Risiko, schwere entzündliche Lungenerkrankungen<br />
(Hypersensitivitätspneumonitis, alveoläre oder interstitielle Pneumonien, Fibrosen, Pleuritis, Bronchiolitis obliterans mit Pneumonie/BOOP)<br />
zu entwickeln. Nichtproduktiver Husten und Atemnot sind häufig erste Anzeichen der vorgenannten Lungenveränderungen. Des Weiteren<br />
können Gewichtsverlust, Fieber, Schwächegefühl auftreten. Daher sollte vor Behandlungsbeginn eine Rö-Thorax sowie ein Lungenfunktionstest<br />
durchgeführt werden. Im weiteren Behandlungsverlauf sollen diese Untersuchungen in Abständen von 3 bis 6 Monaten wiederholt<br />
werden. Ebenso sollten diese Untersuchungen bei Auftreten von Atembeschwerden (Symptom möglicher lungentoxischer Wirkung) durchgeführt<br />
werden. Bei Patienten mit schweren Lungenerkrankungen ist die Lungenfunktion ggf. häufer zu kontrollieren, da diese Patienten bei<br />
Auftreten lungentoxischer Wirkungen eine schlechte Prognose haben.<br />
Weitere Hinweise<br />
Kreatinin i.S.: bei Fieber, Flüssigkeitsverlust oder anderweitigem Verdacht auf Exsikkose häufiger kontrollieren, nach Rekompensation evtl.<br />
Dosisanpassungen überprüfen; eGFR = estimated GFR<br />
*Vorgehen bei Lithiumspiegel: Blutabnahme12 Stunden nach der letzten Tabletteneinnahme.
Seite 54 KVH • aktuell<br />
Nr. 2 / 2013<br />
Unterstützende Rahmenbedingungen<br />
Ein Medikationsreview kann durch folgende Rahmenbedingungen<br />
unterstützt werden:<br />
Medikationsreview als Bestandteil der Gesundheitsuntersuchung<br />
bei Älteren,<br />
durch einen Medikamentenplan, der von allen<br />
Ärzten und Apothekern geführt wird.<br />
Sinnvoll wäre auch ein Hausarztmodell, in<br />
dem dem Hausarzt alle Informationen – also<br />
auch Medikamentenverordnungen – übermittelt<br />
werden, so dass der Medikamentenplan<br />
fortlaufend aktualisiert und die Medikation bei<br />
Gefahr von Interaktionen verändert werden<br />
kann (z. B. elektronischer Interaktionscheck).<br />
Ein Medikationscheck sollte in eine gesetzliche<br />
Struktur eingebettet werden, ähnlich<br />
einem DMP oder einer Gesundheitsuntersuchung.<br />
Er sollte bei Patienten mit Multimedikation<br />
einmal pro Jahr durchgeführt werden.<br />
Die Medikationsbewertung ist ein zeitintensiver<br />
Prozess, der auch entsprechende Qualifikationen<br />
voraussetzt. Geeignete Kooperationen mit Apothekern<br />
und Pflegekräften für ein gemeinsames<br />
Medikationsmanagement sind zu erproben, ebenso<br />
Aufgabenteilungen innerhalb der Arztpraxis. Auch<br />
ist eine Finanzierung hinsichtlich zusätzlicher Untersuchungen<br />
(Blutabnahmen, EKG, Lungenfunktion)<br />
vorzusehen.<br />
Einteilung der Evidenzstärke (level of evidence,<br />
Übersetzung in Anlehnung an ÄZQ [108])<br />
In den Leitlinien wie auch generell in KV aktuell werden immer wieder die Evidenzgrade und -typen<br />
erwähnt. Die folgende Aufstellung zeigt die Bedeutung der Abkürzungen.<br />
Grad und Evidenztyp<br />
Ia Evidenz aufgrund von Metaanalysen randomisierter<br />
kontrollierter Studien<br />
Ib Evidenz aufgrund von mindestens einer randomisierten<br />
kontrollierten Studie<br />
IIa Evidenz aufgrund mindestens einer gut angelegten,<br />
kontrollierten Studie ohne Randomisierung<br />
IIb Evidenz aufgrund einer gut angelegten, quasi<br />
experimentellen Studie<br />
III Evidenz aufgrund einer gut angelegten nichtexperimentellen<br />
deskriptiven Studie<br />
(z. B. Vergleichsstudien, Korrelationsstudien<br />
und Fall-Kontroll-Studien)<br />
IV Evidenz aufgrund von Berichten oder Meinungen<br />
von Expertenkreisen, Konsensuskonferenzen<br />
und/oder klinischer Erfahrung anerkannter<br />
Autoritäten<br />
Stufen der Empfehlung<br />
A Beruhend auf den Graden Ia und Ib des<br />
Evidenztyps, d. h. die Empfehlung stützt sich<br />
auf Veröffentlichungen guter Qualität, die<br />
mindestens eine randomisierte kontrollierte<br />
Studie enthalten.<br />
B Beruhend auf den Graden IIa, IIb und III des<br />
Evidenztyps; d. h. die Empfehlung stützt sich<br />
auf gut angelegte, nicht randomisierte, klinische<br />
Studien.<br />
C Beruhend auf Evidenzgrad IV, d. h. die Empfehlung<br />
leitet sich ab aus Berichten oder<br />
Meinungen von Expertenkreisen, Konsensuskonferenzen<br />
und/oder klinischer Erfahrung<br />
anerkannter Autoritäten. Die Stufe C weist<br />
auf das Fehlen direkt anwendbarer klinischer<br />
Studien guter Qualität hin.
Tischversion<br />
Multimedikation<br />
• Medikationsbewertung: Zentraler Bestandteil im<br />
Prozess der Verordnungsentscheidung ist die kritische<br />
Prüfung und Bewertung der vorhandenen<br />
Medikation. Hilfreich hierfür sind Leitfragen, die die<br />
Verordnungsentscheidung lenken. Die Leitliniengruppe<br />
empfiehlt, die Fragen des Medication<br />
Appropriateness Index (MAI) – hier auch als<br />
Instrument zu Medikationserfassung als Voraussetzung<br />
zur Bewertung der Angemessenheit für<br />
gezielte Intervention bezeichnet – heranzuziehen.<br />
Diese reichen von der Frage nach der Indikation,<br />
dem Erkennen von Kontraindikation über Interaktion,<br />
Dosierung, Angemessenheit bis zur Wirtschaftlichkeit<br />
der Therapie.<br />
• Abstimmung mit dem Patienten: Vor der Entwicklung<br />
eines Verordnungsvorschlags steht die Abstimmung<br />
mit dem Patienten über seine Bedürfnisse<br />
und Vorstellungen zur Arzneitherapie.<br />
• Verordnungsvorschlag: Dies umfasst sowohl die<br />
Entscheidung, keine neue Arzneimittelverordnung<br />
auszustellen bis hin zum Beenden einer Therapie<br />
aufgrund der Medikationsbewertung mittels des<br />
MAI. Das Beenden einer Therapie kann darüber<br />
hinaus durch die gemeinsame Entscheidung von<br />
Arzt und Patient erfolgen, indizierte Verordnungen<br />
z. B. aus Gründen der Lebensqualität und Problemen<br />
in der Therapiehandhabung abzusetzen. Die<br />
Leitlinie gibt hier auch Hinweise auf die Prüfung<br />
möglicher Unterversorgung, die trotz Multimedikation<br />
bestehen kann.<br />
• Kommunikation: Für den Erfolg der Behandlung<br />
und zur Reduktion arzneimittelbezogener Therapieprobleme<br />
ist sicherzustellen, dass der Patient gut<br />
über die Therapie informiert ist und einen aktuellen<br />
Medikationsplan mit Hinweisen zur Einnahme besitzt.<br />
Die Leitlinie weist auf Mindestanforderungen<br />
für den Medikationsplan hin und empfiehlt den Plan<br />
des Aktionsbündnis Arzneimitteltherapiesicherheit –<br />
AMTS.<br />
• Arzneimittelabgabe: Diese erfolgt in der Regel<br />
durch die Apotheke. Patienten mit Multimedikation<br />
sollte dazu geraten werden, eine Hausapotheke zu<br />
wählen, die Interaktionschecks durchführen und ein<br />
elektronisches Medikationsprofil erstellen kann.<br />
Hierbei sollte auch die Selbstmedikation hinsichtlich<br />
möglicher Interaktionen geprüft und in den Plan<br />
eingetragen werden.<br />
• Arzneimittelanwendung: Eine sichere Arzneimittelanwendung<br />
kann durch verschiedene Berufsgruppen/Einrichtungen<br />
(Arzt, Medizinische Fachangestellte,<br />
Apotheke, Pflege) sowie schriftliche<br />
Informationen unterstützt werden.<br />
• Monitoring: Jedes Monitoring (Prüfung der Behandlungsergebnisse,<br />
Erfassung unerwünschter<br />
Wirkungen – UAW) stellt eine erneute Bestandsaufnahme<br />
(s. o.) dar. Für ausgewählte kritische<br />
Arzneimittelgruppen gibt die Leitlinie Empfehlungen<br />
zur Häufigkeit von Kontrollen.<br />
Allgemeine Hinweise zur Reduktion unerwünschter<br />
Multimedikation<br />
• Leitfragen des MAI als Hilfestellung zur Medikationsbewertung<br />
heranziehen.<br />
• Keine Therapie ohne Medikamenten-Anamnese<br />
durchführen (nach früheren Unverträglichkeiten,<br />
Selbstmedikation und Mitbehandler-Medikation<br />
fragen, Medikationsplan prüfen).<br />
• Patienten in die Entscheidung einer Verordnung mit<br />
einbeziehen (nicht primär von einem Verordnungswunsch<br />
ausgehen, jedoch auch nicht jeden Verordnungswunsch<br />
erfüllen).<br />
• Klären, ob eine Pharmakotherapie überhaupt erforderlich<br />
und erfolgversprechend ist.<br />
• Bei der Verordnungsentscheidung den Langzeitnutzen<br />
der Therapie berücksichtigen.<br />
• Absetzen der Pharmakotherapie, wenn sie nicht<br />
mehr nötig ist, keine gewohnheitsmäßigen Dauertherapien<br />
durchführen.<br />
• Bei neuen Patienten, nach Krankenhausaufenthalt<br />
oder bei zusätzlichen Arztkontakten immer Medikamentenplan<br />
neu prüfen und besprechen.<br />
• Auf unerwünschte Wirkungen achten (Patienten<br />
Verhaltenshinweise für das Auftreten möglicher<br />
Nebenwirkungen geben, überprüfen, ob neue<br />
Symptome evtl. UAWs darstellen).<br />
Die Leitlinienautoren weisen auf notwendige Rahmenbedingungen<br />
– elektronische und finanzielle Unterstützung<br />
– zur Durchführung eines umfassenden Arzneimittelreviews<br />
hin.<br />
Hinweis<br />
Die Leitlinie wurde von der Hausärztlichen Leitliniengruppe<br />
Hessen gemeinsam mit der DEGAM erstellt.<br />
Korrespondenzadresse<br />
PMV forschungsgruppe<br />
Fax: 0221-478-6766<br />
Email: pmv@uk-koeln.de<br />
http:\\www.pmvforschungsgruppe.de<br />
Ausführliche Leitlinie im Internet<br />
www.pmvforschungsgruppe.de<br />
> publikationen > leitlinien<br />
www.leitlinien.de/mdb/downloads/lghessen/<br />
multimedikation-lang.pdf<br />
Hausärztliche Leitlinie<br />
»Multimedikation«<br />
Tischversion 1.0 März 2013
XtraDoc Verlag Dr. Wiedemann, Winzerstraße 9, 65207 Wiesbaden<br />
PVSt Deutsche Post AG, Entgelt bezahlt, 68689<br />
PH863453V<br />
Hausärztliche Leitlinie<br />
Multimedikation<br />
Tischversion<br />
Multimorbidität<br />
Multimorbidität geht in der Regel mit Multimedikation<br />
einher. Diese ist z. B. durch Interaktionen oder Fehlanwendungen<br />
mit Risiken verbunden und stellt an den<br />
Hausarzt als Koordinator der Medikation, aber auch an<br />
den Patienten erhöhte Anforderungen. Voraussetzung<br />
für eine sichere Arzneitherapie und Grundlage jedes<br />
Medikationsmanagements stellt ein aktueller Medikamentenplan<br />
dar.<br />
Die Leitliniengruppe unterscheidet eine aufgrund der<br />
Erkrankungen des Patienten notwendige Multimedikation<br />
von unerwünschter Multimedikation. Letzteres hat<br />
vielfältige Ursachen wie unkoordinierte Therapie verschiedener<br />
Behandlungen, Selbstmedikation, Weiterführen<br />
von Akutbehandlungen, nichterkannte Verordnungskaskaden<br />
u. a. m. Hier finden sich Ansatzpunkte<br />
für eine Reduktion der Zahl der Arzneimittel.<br />
Die Empfehlungen der Leitlinie beruhen auf einer Literaturrecherche<br />
zu Studien zum Medikamentenreview.<br />
Diese wurden nicht im Setting einer Hausarztpraxis in<br />
Deutschland durchgeführt und weisen auch hinsichtlich<br />
des Nutzens durchaus widersprüchliche Ergebnisse<br />
auf. Dennoch empfiehlt die Leitliniengruppe ein<br />
Medikamentenreview, da hierdurch nachweislich Therapieprobleme<br />
aufgedeckt, die Arzneimittelsicherheit<br />
und Lebensqualität erhöht werden können.<br />
Die Leitlinienautoren sehen auch in Patienten mit psychosozialer<br />
Belastung eine Zielgruppe für die Risikoprävention.<br />
Medikationsprozess<br />
Um die Sicherheit und Qualität der Arzneitherapie zu<br />
optimieren und zu gewährleisten, muss der gesamte<br />
Verordnungsprozess betrachtet werden. In der vorliegenden<br />
Leitlinie wird dieser Prozess in die folgenden<br />
Schritte eingeteilt, die zyklisch durchlaufen werden:<br />
• Bestandsaufnahme: An erster Stelle steht die<br />
Anamnese über die Beschwerden und Anliegen<br />
des Patienten sowie seine aktuelle Medikation.<br />
Unspezifische Beschwerden sind vor dem Hintergrund<br />
möglicher Nebenwirkungen der vorhandenen<br />
Medikation zu bewerten. Grundlage der Bewertung<br />
ist bei bekannten Patienten neben den Selbstangaben<br />
des Patienten zu seiner Medikation, der Medikationsplan.<br />
Bei Patienten mit Therapieproblemen<br />
und Multimedikation sollte einmal jährlich eine Erfassung<br />
der gesamten Medikation inkl. der Selbstmedikation<br />
erfolgen. Zur Bestandsaufnahme zählt<br />
auch die Ermittlung der Adhärenz des Patienten mit<br />
der Medikation und die Erhebung von Anwendungsproblemen.