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BRENNPUNKT ARZNEI - KVHH

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<strong>BRENNPUNKT</strong> <strong>ARZNEI</strong><br />

Jhrg. 18, Nr. 2 – Juni 2013<br />

Pharmakotherapie<br />

Rationale und rationelle Pharmakotherapie in der Praxis<br />

Neue Medikamente als Praxisbesonderheiten eingestuft<br />

Kein Freibrief für beliebige Verordnung!<br />

Das Sozialrecht ändert sich mit gewisser Regelmäßigkeit. Neuerdings gilt beispielsweise<br />

die Therapie mit neuen und meist ziemlich teueren Medikamenten, denen<br />

ein Zusatznutzen bescheinigt wurde, nach entsprechenden Preisverhandlungen mit<br />

den Kassen als Praxisbesonderheit. Manch ein Pharmareferent flüstert den Ärzten<br />

nun ein, dass diese Medikament beliebig und ohne Regressgefahr verordnet werden<br />

könnten – was so pauschal aber nicht stimmt. Seite 7<br />

Neues bei den „Blutverdünnern“<br />

Cumarin oder ein<br />

neues und teures Antikoagulanz?<br />

Zu den neuen Medikamenten zählen einige Antikoagulanzien. Sie sind zwar teuer,<br />

aber gegenüber den guten alten Cumarinen zumindest einfacher anzuwenden. In<br />

den letzten Monaten wurde daher – auch in KVH aktuell – ziemlich heftig diskutiert,<br />

ob sie unterm Strich für die Patienten mit nichtvalvulärem Vorhofflimmern wirklich<br />

besser sind als die Cumarine. Nun kommen zwei neue Aspekte in die Diskussion:<br />

Zum Einen hat das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen<br />

(IQWiG) einer der neuen Substanzen einen beträchtlichen Zusatznutzen für einen<br />

Teil der Patienten bescheinigt. Und eine große Studie zu den Cumarinen hat deren<br />

Nachteile klar ausgeleuchtet. Was bedeutet das? Seite 4<br />

ACE-Hemmer mit Sartan oder Aliskiren kombinieren?<br />

Doppelt blockieren bringt nichts<br />

ACE-Hemmer, Sartane und Aliskiren haben unterschiedliche Ansatzpunkte im<br />

Renin-Angiotensin-System, und deshalb gab es die Vorstellung, dass man mit einem<br />

kombinierten Einsatz besonders viel Gutes tun könnte – vor allem bei herzinsuffizienten<br />

Patienten. Eine große Metaanalyse kommt nun zu dem ernüchternden<br />

Ergebnis: Mit einer solchen Kombination erreicht man vor allem mehr Nebenwirkungen<br />

– aber keine Vorteile für die Patienten. Seite 10<br />

Wann und womit anfangen, wann Substanz wechseln?<br />

Osteoporose-Therapie kompakt<br />

Dass zur Osteoporose-Behandlung eine Basis-Therapie mit Vitamin D und ggf.<br />

auch Kalzium gehört, ist klar – aber welches Bisphosphonat oder welches andere<br />

Antiosteoporotikum sollte man verordnen und anhand welcher Parameter<br />

wird die Therapie heutzutage eingeleitet, kontrolliert und justiert? Wann ist<br />

eventuell ein Substanzwechsel sinnvoll? Kann das alles auf Kassenrezept verordnet<br />

werden? Antworten auf solche Fragen gibt unser umfassender Beitrag<br />

zur Behandlung der Osteoporose auf Seite 29<br />

Herausgeber: Kassenärztliche Vereinigung Hessen


Seite 2 KVH • aktuell Nr. 2 / 2013<br />

Editorial<br />

Neu, teuer = unwirtschaftlich, oder<br />

bewährt, preisgünstig = wirtschaftlich?<br />

Sehr geehrte Frau Kollegin, sehr geehrter Herr Kollege,<br />

neue Arzneimittel, neue Therapien sind in der Regel wesentlich teurer als ältere,<br />

bewährte Vergleichstherapien. Sie werden oft als unwirtschaftlich angesehen, in<br />

erster Linie wegen ihrer hohen Kosten. Unter Prasugreltherapie treten eindeutig<br />

weniger Myokardinfarkte auf als unter Clopidogrel. Andererseits verursacht es<br />

auch deutlich mehr schwerwiegende Blutungen als Clopidogrel. Benefit und<br />

Schaden halten sich die Waage. Der Patient hat von der Therapie mit Prasugrel<br />

keinen erkennbaren Nutzen. Prasugrel ist deutlich teurer als Clopidogrel. Hier ist<br />

sicherlich festzustellen, dass die Verordnung von Prasugrel als unwirtschaftlich<br />

angesehen werden kann.<br />

Ticagrelor hat nach der frühen Nutzenbewertung durch das AMNOG bei 80<br />

Prozent seiner zugelassenen Indikationen als Thrombozytenaggregationshemmer<br />

einen beträchtlichen Zusatznutzen gegenüber Clopidogrel und Prasugrel. Damit<br />

muss man bei den entsprechenden Indikationen darüber nachdenken, ob man<br />

diese gegenüber Clopidogrel und Prasugrel bessere Therapie dem Patienten<br />

überhaupt vorenthalten kann. Es ist wesentlich teurer als Clopidogrel. Die Einschätzung<br />

„beträchtlicher Zusatznutzen“ führt zur Vereinbarung eines wirtschaftlichen<br />

Preises des Arzneimittels mit den Krankenkassen. Damit ist ein derartiges<br />

Arzneimittel in den positiv bewerteten Indikationen wirtschaftlich (beachten Sie<br />

hierzu bitte auch unsere Beiträge auf Seite 4 und Seite 7).<br />

Dabigatran und Rivaroxaban werden als therapeutischer Fortschritt bei der Schlaganfallprophylaxe<br />

von Patienten mit nicht valvulärem Vorhoffflimmern angesehen.<br />

Dies in erster Linie, weil sie, verglichen mit Cumarinen, weniger Blutungen als<br />

Nebenwirkungen aufweisen. Da sie erheblich teurer als Cumarine sind, wird eine<br />

wirtschaftliche Verordnung bei ihnen nur dann gesehen, wenn Probleme mit<br />

der Cumarintherapie bestehen. Dem dritten derartigen neuen Antikoagulanz -<br />

Apixaban - hat die frühe Nutzenbewertung einen beträchtlichen Zusatznutzen<br />

gegenüber der Marcumartherapie bescheinigt. Damit ist der gegenüber den Cumarinen<br />

noch wesentlich teurere zu vereinbarende Preis mit den Krankenkassen<br />

wirtschaftlich und diese gegenüber der Cumarintherapie bessere Behandlung<br />

kann auch diesen Patienten nicht vorenthalten werden. Damit muss aber auch<br />

die Therapie mit Dabigatran und Rivaroxaban als wirtschaftlich anerkannt werden.<br />

Hier gibt es viel zu diskutieren – tun wir dies! Dies aber unter dem Gesichtspunkt,<br />

dass „neu, teuer und damit unwirtschaftlich“ bzw. „bewährt, preisgünstig und damit<br />

wirtschaftlich“ nicht immer das richtige Maß für eine Therapieentscheidung ist.<br />

Ihr Dr. med. Wolfgang LangHeinrich<br />

Hinweis zu KVH – Brennpunkt Arznei<br />

Die vorliegende Publikation „KVH – Brennpunkt Arznei“ ist ein Informationsangebot zur rationalen und rationellen Pharmakotherapie<br />

in der Praxis. Sie wird herausgegeben und mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt von der<br />

Kassenärztlichen Vereinigung Hessen. Die enthaltenen Beiträge geben die Auffassung der Verfasser bzw. der Redaktion<br />

wieder. Aufgrund der regionalen Unterschiede können nicht alle Inhalte auf die Gegebenheiten in Hamburg übertragen<br />

werden. Für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben kann keine Gewähr übernommen werden.


Nr. 2 / 2013<br />

KVH • aktuell<br />

Seite 3<br />

Editorial 2<br />

Cumarine und neue orale Antikoagulanzien: Zeit für einen Paradigmenwechsel? 4<br />

Dr. med. Christian Albrecht<br />

Niacin-Präparat weltweit vom Markt 6<br />

Dr. med. Uwe Popert<br />

„Praxisbesonderheiten“ nach Preisverhandlungen mit dem Spitzenverband der Krankenkassen<br />

Kein Freibrief für sorglose Verordnung 7<br />

Dr. med. Jürgen Bausch<br />

ACE-Hemmer plus Sartan oder Aliskiren<br />

Doppelte Blockade des Renin-Angiotensin-Systems bringt nichts 10<br />

Dr. med. Klaus Ehrenthal<br />

Hinterfragt: Statin für 83-jährige? 12<br />

A. Telzerow, Dr. med. Uwe Popert<br />

Was bewirken Rauchverbote? 15<br />

Dr. med. Klaus Ehrenthal<br />

Einstieg mit Metformin, ein halbes Jahr später Verzögerungsinsulin 17<br />

Zur Frage aus Heft 1/2013: „Metformin reicht nicht mehr:<br />

wie gehen sie nun vor?“<br />

Leser fragt: Soll ich meinen Patienten nur noch Bewegung empfehlen? 18<br />

Nutzen einer mediterranen Diät endlich in einer sauberen Studie belegt 20<br />

Dr. med. Klaus Ehrenthal<br />

Benzodiazepine und deren Analoga<br />

Fluch oder Segen? 23<br />

Sicherer verordnen 26<br />

Dr. med. Günter Hopf<br />

Hepatotoxizität von Arzneistoffen 26<br />

Zolpidem: bei Frauen Dosis verringern 26<br />

Metoclopramid: Dosierungsprobleme bei der Tropfenform 26<br />

Tolperison: nur bei Spastizität nach Schlaganfall 27<br />

Albumin, HES oder Kristalloide zur Volumensubstitution? 27<br />

Cyproteronazetat: tödliche thromboembolische Ereignisse 27<br />

Carbamazepin: genetische Varianten und schwere Hautreaktionen 28<br />

„Pille danach“ 28<br />

Zweckmäßige medikamentöse Therapie der Osteoporose 29<br />

Leitlinie Multimedikation, Teil 2 39<br />

Tischversion der Leitlinie Multimedikation, Teil 1 55<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Impressum<br />

Verlag: XtraDoc Verlag Dr. med. Bernhard Wiedemann, Winzerstraße 9, 65207 Wiesbaden<br />

Herausgeber und verantwortlich für die Inhalte: Kassenärztliche Vereinigung Hessen, Georg-Voigt-Straße 15,<br />

60325 Frankfurt (www.kvhessen.de)<br />

Redaktionsstab: Dr. med. Joachim Fessler (verantw.),<br />

Dr. med. Christian Albrecht, Dr. med. Klaus Ehrenthal, Dr. med. Margareta Frank-Doss, Dr. med. Jan Geldmacher, Dr. med.<br />

Harald Herholz, Klaus Hollmann, Dr. med. Günter Hopf, Dr. med. Wolfgang LangHeinrich, Dr. med. Alexander Liesenfeld,<br />

Dr. med. Uwe Popert, Karl Matthias Roth, Dr. med. Michael Viapiano, Petra Bendrich, Dr. med. Jutta Witzke-Gross<br />

Fax Redaktion: 069 / 79502 501<br />

Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. med. Ferdinand Gerlach, Institut für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt;<br />

Prof. Dr. med. Sebastian Harder, Institut für klinische Pharmakologie der Universität Frankfurt<br />

Die von Mitgliedern der Redaktion oder des Beirats gekennzeichneten Berichte und Kommentare sind redaktionseigene Beiträge; darin zum Ausdruck gebrachte Meinungen entsprechen<br />

der Auffassung des Herausgebers. Mit anderen als redaktionseignen Signa oder mit Verfassernamen gekennzeichnete Beiträge geben die Auffassung der Verfasser wieder und decken<br />

sich nicht zwangsläufig mit der Auffassung des Herausgebers. Sie dienen der umfassenden Meinungsbildung. Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.<br />

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in dieser Veröffentlichung berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass<br />

solche Namen im Sinne der Warenzeichen- oder Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.<br />

Wie alle anderen Wissenschaften sind Medizin und Pharmazie ständigen Entwicklungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere, was<br />

Behandlung und medikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in dieser Broschüre eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass Autor und<br />

Herausgeber große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angaben dem Wissensstand bei Fertigstellung der Broschüre entsprechen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und<br />

Applikationsformen kann vom Herausgeber jedoch keine Gewähr übernommen werden. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benutzers.


Seite 4 KVH • aktuell<br />

Nr. 2 / 2013<br />

Beiträge<br />

der<br />

Redaktion<br />

Cumarine und neue orale Antikoagulanzien:<br />

Zeit für einen Paradigmenwechsel?<br />

Kommentar zu einer kanadischen Langzeitbeobachtung<br />

von 125.000 Cumarinpatienten<br />

Dr. med. Christian Albrecht<br />

Im vergangenen Jahr gab es im Bereich der oralen Antikoagulation bei Vorhofflimmern<br />

große Bewegung: Mit Dabigatran, Rivaroxaban und anderen neuen<br />

Blutverdünnern wurden neue Therapieoptionen durch große Studien (Rocket-AF,<br />

RELY, ...) in der Behandlung von Patienten mit Vorhofflimmern „salonfähig“.<br />

Neben dem Komfort für die Patienten (und Ärzte) ohne die lästigen Quick/INR-<br />

Kontrollen und ohne mühsames „Bridging“ einer Cumarinpause konnten die<br />

neuen oralen Antikoagulanzien (nOAK) zumindest ihre gleichgute Wirksamkeit,<br />

wenn nicht Überlegenheit in Bezug auf Schlaganfallschutz auf der einen und<br />

Blutungsrisiko auf der anderen Seite demonstrieren.<br />

Eine Langzeitbeobachtung von über 125.000 Warfarinpatienten [1,2] zeigt in diesem<br />

Kontext eindrücklich auf, wo die Probleme einer Therapie mit den etablierten<br />

oralen Antikoagulanzien wie Phenprocoumon oder Warfarin liegen könnten: Einerseits<br />

scheint im „real life“ die Compliance der Einnahme doch wesentlich geringer<br />

als angenommen, andererseits scheinen die Blutungskomplikationen vor allem in<br />

den ersten 30 Tagen doch deutlich höher als bisher gedacht zu sein.<br />

So lösten von diesen 125.195 Patienten knapp 9% kein zweites Rezept nach<br />

der ersten Verschreibung von Warfarin mehr ein, beendeten 31,8% die Therapie<br />

eigenmächtig innerhalb eines Jahres (43,2% in 2 Jahren, 61,3% in fünf Jahren).<br />

Insbesondere jüngerere Männer mit niedrigem Schlaganfallrisiko/CHADS-score<br />

neigten dazu, die Medikation zu beenden.<br />

Auch diese große<br />

Studie zeigt:<br />

Cumarine sind<br />

ganz sicher kein<br />

Goldstandard<br />

Diese alarmierenden Zahlen sind in Kanada generiert worden. Es scheint dem<br />

Autor fraglich, ob auch in unseren Breiten wirklich nach zwei Jahren knapp die<br />

Hälfte der Patienten die Cumarintherapie trotz Indikation und Aufklärung über<br />

deren Notwendigkeit eigenmächtig beendet. Auch ist unklar, ob die Therapie<br />

nur beendet wurde, weil die Patienten zu bequem waren, zu den notwendigen<br />

Laborkontrollen zu kommen, oder wegen tatsächlicher oder befürchteter Blutungen:<br />

Letzteres träfe ja auch auf die nOAK zu und wäre dann kein Argument,<br />

diese vorzuziehen.<br />

Hochinteressant ist auch die andere Analyse dieser Kohorte von 125.000 Patienten,<br />

die auf das Blutungsrisiko mit den klassischen Antikoagulanzien hinweist:<br />

Insbesondere im ersten Monat der Therapie lag in der „Einstellungsphase“ eine<br />

deutliche Steigerung der Blutungsrate vor, auf ein Jahr extrapoliert waren in dieser<br />

Zeit 11,8% der Patienten von einer Blutung betroffen. Über den gesamten Zeitraum<br />

von fünf Jahren Beobachtungszeit kam es im Schnitt bei 3,8% der Patienten<br />

zu Blutungen, was unterhalb der Blutungsraten in anderen OAK-Beobachtungsstudien<br />

(dort sonst ca. 7% p.a.), aber deutlich über der Rate an Blutungen liegt,<br />

die man unter Studienbedingungen beobachtet. Einschränkend muss angemerkt<br />

werden, dass leider nichts über die Korrelation zwischen Blutungshäufigkeit und<br />

den bei Blutung gemessenem INR-Wert gesagt wurde, weil dazu keine Daten akquiriert<br />

wurden. Außerdem ist anzumerken, dass die Zahl schwerer intrakranieller<br />

Blutungen unter 0,1% pro Jahr lag und es sich bei den festgestellten Blutungen<br />

ganz überwiegend um gastrointestinale Blutungen handelte.<br />

Die Daten zeigen vor allem eines eindrücklich: Die Behandlung mit Cumarinen ist<br />

eine, die von Patient und Arzt höchste Genauigkeit und Beachtung erfordert.


Nr. 2 / 2013<br />

KVH • aktuell<br />

Seite 5<br />

Wenn der Patient gut informiert und überwacht ist<br />

und der Arzt über die „Risiken und Nebenwirkungen“<br />

der Medikation genau im Bilde ist, lassen sich<br />

mutmaßlich bessere Daten für die Einnahmetreue<br />

der Patienten und die Blutungshäufigkeit erzielen.<br />

Da aber auch unter Studienbedingungen in der<br />

RELY Studie [3,4] über 30% der Patienten außerhalb<br />

des therapeutischen Bereichs lagen, was jetzt durch<br />

diese „real-life“-Daten erneut bestätigt wird, kann<br />

zumindest bezweifelt werden, ob wir trotz aller Bemühungen<br />

es schaffen, im Alltag mit unseren oral<br />

zu antikoagulierenden Patienten eine bessere INR-<br />

Einstellung, höhere Einnahmetreue und weniger<br />

Komplikationen zu erreichen.<br />

Gerade die alarmierende Zahl der Exzessblutungen in<br />

den ersten vier Wochen einer Therapie könnte Anlass<br />

zu einem Paradigmenwechsel geben: Bisher war zu<br />

Lasten der GKV nach Ansicht der KVHessen ein nOAK<br />

nur verordnungsfähig, wenn eine dokumentiert<br />

schlechte Einstellbarkeit mit stark schwankenden<br />

INR-Werten oder dokumentierten Komplikationen<br />

unter einem Cumarin vorlag.<br />

Nach der vorliegenden großen Kohortenstudie aus<br />

Kanada stellen sich nunmehr folgende Fragen:<br />

Ist der medizinische Benefit der neuen Antikoagulanzien<br />

so groß, dass das Wirtschaftlichkeitsgebot<br />

des SGB V eine Verordnung<br />

erlaubt?<br />

Ist der vom IQWIG genannte „beträchtliche<br />

Zusatznutzen“ von Apixaban auf die anderen<br />

nOAK übertragbar? Folgt der G-BA dieser<br />

Einschätzung oder ist der Kostendruck zu stark? Denn nur dann wird ein<br />

wirtschaftlicher Preis festgelegt, der den Verordner aus dem Wirtschaftlichkeitsdilemma<br />

befreit.<br />

Ist es aufgrund der erheblichen Blutungsrate in den ersten vier Wochen in<br />

der vorliegenden kanadischen Studie gerechtfertigt, Patienten PRIMÄR<br />

auf ein nOAK einzustellen – ohne vorherige Einstellung auf ein Cumarin?<br />

Was sollen wir mit solchen Patienten machen, die primär von uns oder<br />

Apixaban: Bei manchen Patienten<br />

besser als alte Substanzen<br />

Das IQWiG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit<br />

im Gesundheitswesen) hat den<br />

Nutzen des neuen Antikoagulanz Apixaban<br />

bei der Prophylaxe von Schlaganfällen und<br />

systemischen Embolien bei erwachsenen Patienten<br />

mit nichtvalvulärem Vorhofflimmern<br />

und einem oder mehreren Risikofaktoren<br />

wie Schlaganfall oder TIA in der Anamnese<br />

untersucht. Ende März 2013 wurde das Ergebnis<br />

dieser Untersuchung veröffentlicht:<br />

Bei Patienten, für die ein Cumarin in Frage<br />

kommt, gibt es einen beträchtlichen Zusatznutzen,<br />

wenn die Patienten 65 Jahre oder<br />

älter sind. Bei jüngeren Patienten sieht das<br />

IQWiG im Gegensatz zum Hersteller keinen<br />

zusätzlichen Nutzen. Bei Patienten, die nicht<br />

für ein Cumarin geeignet sind, sondern auf<br />

ASS zurückgreifen müssen, fand das IQWiG<br />

durchgängig und unabhängig vom Alter<br />

einen beträchtlichen Zusatznutzen.<br />

Die Bewertung kann auf www.iqwig.de<br />

eingesehen werden – dort in das Suchfeld<br />

Apixaban eingeben und die Suche auslösen.<br />

Über die Konsequenzen muss nun der<br />

Gemeinsame Bundesausschuss entscheiden<br />

(siehe hierzu auch Seite 7).<br />

Schreiben Sie uns!<br />

Ein konventionelles Cumarin oder doch lieber eines der neuen oralen Antikoagulanzien? Diese Frage<br />

wird sicherlich noch öfter diskutiert. Wir möchten die Diskussion nicht völlig abgehoben von der<br />

Praxis führen – daher unsere Bitte: Schreiben Sie uns doch, wie sie es halten. Beispielsweise in folgendem<br />

Fall: Ein Patient kommt nach einem Krankenhausaufenthalt oder vom Kardiologen zurück<br />

und ist auf eines der neuen Antikoagulanzien eingestellt. Wie gehen Sie damit um?<br />

Zuschriften bitte an: Redaktion KVH aktuell, KV Hessen, Georg-Voigt-Straße 15, 60325 Frankfurt<br />

oder Fax: 069 / 79502 501<br />

e-Mail: info@kvhessen.de


Seite 6 KVH • aktuell<br />

Nr. 2 / 2013<br />

den Krankenhäusern auf nOAK eingestellt sind? Wegen des Wirtschaftlichkeitsgebotes<br />

auf ein Cumarin umstellen? Was ist mit den erheblichen Gefahren<br />

einer solchen Wechselphase (Hyperkoagulabilität)?<br />

Ist damit zu rechnen, dass die Therapie mit nOAK analog zur Therapie mit<br />

Ticagrelor als „Praxisbesonderheit“ akzeptiert wird?<br />

Interessenkonflikte: keine<br />

Literatur:<br />

1 Gomes T. et al.: Canadian Medical Association Journal 2012. DOI:10.1503/cmaj.121218<br />

2 ARCH INTERN MED/VOL 172 (NO. 21), NOV 26, 2012, S. 1687<br />

3 Connolly SJ, Ezekowitz MD, Yusuf S, et al. Dabigatran versus warfarin in patients with atrial fibrillation. N Engl J<br />

Med. 2009;361(12):1139-51.<br />

4 Connolly SJ, Ezekowitz MD, Yusuf S, et al. Newly Identified Events in the RE-LY Trial. N Engl J Med. 2010;363(19):1875-6.<br />

Beiträge<br />

der<br />

Redaktion<br />

Ergebnisse der HPS2-THRIVE-Studie mit vorzeitigen Folgen:<br />

Niacin-Präparat weltweit vom Markt<br />

Dr. med. Uwe Popert<br />

Es ist normalerweise in evidenzbasierten Journalen nicht üblich, über Studien zu<br />

berichten, bevor diese in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht wurden. Hier<br />

haben wir eine Ausnahme, weil wegen der enttäuschenden Ergebnisse bereits eine<br />

weltweite Marktrücknahme des getesteten Medikamentes erfolgte.<br />

Die HPS2-THRIVE-Studie [1], (Treatment of HDL to Reduce the Incidence of<br />

Vascular Events) wurde als multizentrische, prospektive, randomisierte und placebokontrollierte<br />

Studie zur Fragestellung durchgeführt, ob eine zusätzliche Gabe<br />

von Niacin zu Statinen (plus ggf. Ezetimib) die kardiovaskulären Ereignisse senken<br />

kann. Einschlusskriterien waren Alter zwischen 50 und 80 Jahren, vorangegangener<br />

Herzinfarkt, TIA bzw. ischämischer zerebraler Insult, bestehende pAVK oder<br />

Diabetes mit KHK.<br />

Nach einer einmonatigen Run-in-Phase erhielten 25.671 männliche und weibliche<br />

Hochrisiko-Patienten entweder Niacin 2 g plus Laropiprant 40 mg oder vergleichbare<br />

Placebo-Tabletten für durchschnittlich 3,9 Jahre. In beiden Gruppen erfolgte<br />

eine Basistherapie mit 40mg Simvastatin plus ggf. 10 mg Ezetimib, falls die Lipid-<br />

Zielwerte (LDL


Nr. 2 / 2013<br />

KVH • aktuell<br />

Seite 7<br />

Was bedeutet das für die Praxis?<br />

Niacin ist seit etwa 50 Jahren als Lipidsenker auf dem Markt. Nach einigen kleineren<br />

Studien mit Hinweisen auf kardiovaskuläre Schutzwirkung wurde es wegen<br />

der häufigen Flush-Erscheinungen nur selten verwendet. Die Kombination mit<br />

dem Prostaglandin-Synthesehemmer Laropiprant führte dann zu deutlich besserer<br />

Verträglichkeit. Die HPS2-THRIVE ist mit Abstand die bisher größte Niacin-Studie<br />

und die Ergebnisse wegen des qualitativ hochwertigen Aufbaues und der Laufzeit<br />

von fast vier Jahren sehr verlässlich. Die etwas kleinere AIM-HIGH-Studie [2] wurde<br />

kurz zuvor ebenfalls wegen fehlender Wirksamkeit abgebrochen. Der Vertrieb eines<br />

Kombinationspräparates aus Nikotinsäure und Laropiprant wurde deswegen vom<br />

Hersteller im Januar 2013 nach Bekanntwerden der aktuellen Studien-Ergebnisse<br />

weltweit eingestellt.<br />

Bedeutung<br />

für<br />

unsere<br />

Praxis<br />

In Leitlinien werden Niacin-Präparate zwar noch als Ausweichmöglichkeit bei unzureichender<br />

Statinbehandlung empfohlen (SIGN, WHO, ESC, DGK). Bei Einbeziehung<br />

der negativen HPS2-THRIVE-Ergebnisse ist wegen der großen Probandenzahl<br />

der Studie auch in Metaanalysen nicht mehr mit relevanten Gesamtergebnissen zu<br />

rechnen.<br />

In Anbetracht des jetzt nachgewiesenen Nebenwirkungsprofils und des<br />

fehlenden Wirksamkeitsnachweises kann eine Behandlung auch mit den<br />

noch im Markt verbliebenen Nikotinsäure-Präparaten nicht empfohlen<br />

werden.<br />

Interessenkonflikte: keine<br />

Literatur:<br />

1 http://www.thrivestudy.org/ (besucht 14.03.2013)<br />

2 AIM-HIGH Investigators, Boden WE, Probstfield JL, Anderson T, et al.:<br />

Niacin in patients with low HDL cholesterol levels receiving intensive statin therapy.<br />

N Engl J Med. 2011 Dec 15;365(24):2255-67.<br />

„Praxisbesonderheiten“ nach Preisverhandlungen mit dem<br />

Spitzenverband der Krankenkassen<br />

Kommentar<br />

Kein Freibrief für sorglose Verordnung<br />

Dr. med. Jürgen Bausch<br />

Einführung<br />

Unser Sozialgesetzbuch V regelt in wesentlichen Teilen die medizinische Versorgung<br />

aller Versicherten im GKV-System. Danach haben die Krankenkassen ihren Versicherten<br />

Leistungen zur Verfügung zu stellen, die unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots<br />

(§12 SGB V) erbracht wurden und nicht der Eigenverantwortung des<br />

Versicherten zugeordnet werden. Qualität und Wirksamkeit der Leistungen haben<br />

dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen<br />

und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen (§ 2 Abs. 1 SGB V).<br />

Ziel der gesetzlichen Vorgaben ist: Die Vertragsärzte zu veranlassen, die Patientenprobleme<br />

nach dem Grundsatz des Paragraphen 12 SGB V zu lösen: „Ausreichend,<br />

zweckmäßig, wirtschaftlich, das Maß des Notwendigen nicht überschreitend.“


Seite 8 KVH • aktuell<br />

Nr. 2 / 2013<br />

Das sind lauter unbestimmte Rechtsbegriffe, die breiten Interpretationsspielraum<br />

eröffnen.<br />

Die Einzelheiten aller Prüfverfahren – basierend auf den Vorgaben des § 106 SGB V<br />

sind in den Prüfungsvereinbarungen geregelt. Diese werden auf Landesebene zwischen<br />

den Landesverbänden der Krankenkassen und der jeweiligen KV verbindlich<br />

für Vertragsärzte und Psychotherapeuten beschlossen.<br />

Gemeinsame Prüfstelle<br />

Die Durchführung obliegt den von Kassen und KVen unabhängigen gemeinsamen<br />

Prüfeinrichtungen (Gemeinsame Prüfungsstelle, gemeinsamer Beschwerdeausschuss,<br />

§ 106 Abs. 4 SGB V). Die Geschäftsführung ist durch eine Rechtsverordnung<br />

des BMG geregelt.<br />

Praxisbesonderheit<br />

Inner- und außerärztlich beflügelt der Begriff „Praxisbesonderheit“ die Phantasie.<br />

Mitunter so stark, dass man glaubt, sie sei in der Lage, Unwirtschaftlichkeit im<br />

Verordnungsgeschehen auf wundersame Weise zu tilgen. Was nicht der Fall ist.<br />

Immerhin: anerkannte Praxisbesonderheiten dürfen nicht regressiert werden.<br />

Definition<br />

„Praxisbesonderheiten sind objektive Gegebenheiten, welche für die Vergleichsgruppe<br />

von der Art oder dem Umfang her atypisch sind und kausal einen höheren<br />

Behandlungsaufwand und/oder erhöhte Verordnungskosten hervorrufen.“ „Die<br />

geltend gemachten Praxisbesonderheiten sind zu begründen.“ und: „Der Vertragsarzt<br />

hat die geltend gemachten Praxisbesonderheiten nachzuweisen.“ (Zitiert aus<br />

der Prüfvereinbarung zwischen der KV-Thüringen und den Landesverbänden der<br />

Krankenkassen und Ersatzkassen vom 3. März 2009).<br />

Zudem ist eine Praxisbesonderheit ein Ergebnis der ständigen höchstrichterlichen<br />

Rechtsprechung des BSG. Dahinter steht die Erkenntnis, dass ein Arzt nicht für<br />

notwendige und zweckmäßige Handlungen zur Verantwortung gezogen werden<br />

kann, die er zur Lösung von Patientenproblemen tun musste, um seinen Versorgungsauftrag<br />

ausreichend und wirtschaftlich zu erfüllen.<br />

Cave:<br />

Bei welchen<br />

Patienten ein<br />

neues Medikament<br />

laut IQWiG<br />

tatsächlich besser<br />

ist, wird nicht<br />

automatisch mit<br />

dem ICD-Code<br />

abgebildet!<br />

Daher empfiehlt<br />

sich eine eigene<br />

kurze Anmerkung<br />

in der Patientenakte.<br />

Denn<br />

eine Prüfung<br />

kann es trotz<br />

Praxisbesonderheiten<br />

geben!<br />

Um den Ärzten und den Prüfgremien unnötigen Bürokratieaufwand zu ersparen,<br />

hat man deswegen konkrete Praxisbesonderheiten definiert und in den Prüfvereinbarungen<br />

festgeschrieben. Diese Kataloge sind in allen KV-Bereichen ähnlich, aber<br />

nirgendwo identisch. Wie auch die Prüfvereinbarungen nicht genormt sind, sondern<br />

das Ergebnis von Verhandlungen auf der jeweiligen Landesebene.<br />

Was nicht konkret beschrieben und vereinbart ist – aus welchen Gründen auch<br />

immer – kann dennoch von den Prüfgremien als Praxisbesonderheit anerkannt werden.<br />

Der Arzt hat hier die Beweislast und eine Bringschuld. Er muss sich kümmern,<br />

wenn er nicht schuldlos regressiert werden möchte.<br />

Kennzeichnen von Praxisbesonderheiten<br />

Für die Verordnung von Arzneimitteln, die im Rahmen der frühen Nutzenbewertung<br />

auf Bundesebene als Praxisbesonderheit vereinbart wurden, gibt es beispielsweise<br />

in Nordrhein Symbolziffern. Dies betrifft z.B. die Arzneimittel Brilique ® (90995), Esbriet<br />

® (90994) und Zytiga ® (90993), die in den jeweils beschriebenen Indikationen<br />

als Praxisbesonderheit gelten und mit neuen Symbolziffern auf dem Abrechnungsschein<br />

gekennzeichnet werden können (Quelle: http://www.kvno.de/downloads/<br />

kvno_aktuell/kvno_aktuell_12_12.pdf). Aber das ist nur ein Beispiel, die Regeln<br />

sind nicht genormt. Und unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland.


Nr. 2 / 2013<br />

KVH • aktuell<br />

Seite 9<br />

AMNOG-Preisverhandlungen und die neuen Praxisbesonderheiten<br />

Seit 2011 werden neue Arzneimittel in Deutschland nach ihrem Nutzen bewertet<br />

und bezahlt. Das AMNOG sieht vor, dass nach der Nutzenbewertung der Hersteller<br />

mit dem Spitzenverband der Krankenkassen einen Preis verhandeln muss, der als<br />

„Erstattungsbetrag“ auf den Herstellerabgabepreis festgesetzt wird. Diese Vereinbarung<br />

nach § 130 SGB V sieht vor, dass Verordnungen des Arzneimittels von der<br />

Prüfstelle als Praxisbesonderheiten im Sinne von § 106 Abs. 5a anerkannt werden,<br />

wenn der Arzt bei der Verordnung im Einzelfall die dafür vereinbarten Anforderungen<br />

an die Verordnung eingehalten hat.<br />

Kein Persilschein<br />

Diese AMNOG-Bestimmung ist nur eine logische Fortsetzung in der Entwicklung<br />

von anzuerkennenden Praxisbesonderheiten. Und kein Persilschein für sorglose<br />

Dauerverordnungen.<br />

Es macht Sinn, für solche Arzneimittel eine Praxisbesonderheit zu deklarieren,<br />

welche nach einer frühen Nutzenbewertung vom GBA einen Zusatznutzen attestiert<br />

bekommen haben und zu einem Preis auf dem Markt sind, der von den<br />

Krankenkassen maßgeblich mitbestimmt wurde. Schwer vorstellbar, dass eine<br />

solche Verordnung – unter Beachtung der G-BA-Entscheidung – nicht zugleich<br />

auch wirtschaftlich ist.<br />

Dass eine neue<br />

Variante der<br />

Praxisbesonderheit<br />

eingeführt wurde,<br />

heißt nicht, dass<br />

nun mehr verordnet<br />

werden kann oder<br />

müsste.<br />

Anreiz zur Mengendynamik?<br />

Wenn ein neues Arzneimittel mit einem Zusatznutzen – im Vergleich zum Therapiestandard<br />

– auf den Markt kommt und dies gemäß den Prozeduren des AMNOG<br />

festgestellt und abschließend preisverhandelt wird, dann wird es auch verordnet.<br />

Der Verordnungsumfang – indikationsgerechter Einsatz vorausgesetzt – ergibt sich<br />

aus der Morbidität. Somit ist eine Mengendynamik durch eine „Praxisbesonderheit“<br />

nicht das Problem. Sondern die Morbidität einerseits und die korrekte Indikationsstellung<br />

andererseits. Im Herstellerdossier und in der Nutzenbewertung des GBA<br />

werden Angaben zum erwarteten Verordnungsumfang des neuen Arzneimittels<br />

gemacht und bei den Verhandlungen eingepreist.<br />

Die Konsequenz im Prüfverfahren wird sein:<br />

Überprüfung der Indikationsstellung!<br />

Das Prinzip „Praxisbesonderheit“ ist also nicht neu im Verordnungskontrollsystem<br />

für Vertragsärzte. Es ist deswegen keine unerwartete Mengendynamik zu erwarten,<br />

nur weil im § 130 diese Bürokratieerleichterung für die Ärzte logisch aufgenommen<br />

wurde.<br />

Kommt es aber zu einer medizinisch nicht begründbaren Mengendynamik durch<br />

Missbrauch dieser „AMNOG-Preisbesonderheit“, wird das System schnell nachreguliert<br />

werden.<br />

Pharmaaußendienste, die mit „Sorglos-Parolen“ versuchen, Ärzte aufs falsche Gleis<br />

zu locken, sind schlecht beraten. Sie provozieren den Gesetzgeber zu verschärfenden<br />

Regelungen.


Seite 10 KVH • aktuell<br />

Nr. 2 / 2013<br />

Für Sie<br />

gelesen<br />

ACE-Hemmer plus Sartan oder Aliskiren?<br />

Doppelte Blockade des Renin-<br />

Angiotensin-Systems bringt nichts<br />

Dr. med. Klaus Ehrenthal<br />

In einem systematischen Review mit Metaanalyse gingen die New Yorker Kardiologen<br />

Makani Harikrishna et al. der Frage nach, ob die duale Blockade des Renin-<br />

Angiotensin-Systems (RAS) für besondere Fälle von Herzinsuffizienz mit Hypertonie,<br />

diabetischer Nephropathie und Proteinurie auch effektiv und sicher ist [1].<br />

Hierbei sollten die Langzeitwirksamkeit und die unerwünschten Effekte (UAW)<br />

einer dualen Blockade des Renin-Angiotensin-Systems im Vergleich zu einer Monotherapie<br />

untersucht werden.<br />

Vorgehensweise:<br />

Es wurden aus dem Zeitraum von Januar 1990 bis zum August 2012 insgesamt<br />

33 randomisierte kontrollierte Studien aus PubMed, Embase, und dem Cochrane-<br />

Zentralregister mit insgesamt 68.405 Patienten (Durchschnittsalter 61 Jahre, 71%<br />

männlich, Nachuntersuchungsdauer 52 Wochen) durchgesehen. Endpunkte waren<br />

Mortalität aus verschiedener Ursache, kardiovaskuläre Mortalität und Krankenhausaufnahmen<br />

wegen Herzinsuffizienz. Als UAW wurden Hyperkaliämie (Serumkalium<br />

>5,5 mmol/l), Hypotension, Niereninsuffizienz (Serumkreatinin >2,0 mg/dl oder<br />

Verdoppelung der Ausgangswerte) und Drop-out wegen unerwünscher Ereignisse<br />

festgehalten.<br />

In den Studien war in unterschiedlicher Kombination mit den ACE-Hemmern<br />

Enalapril, Lisinopril, Ramipril, Temocapril, Benacepril, Captopril, mit den Sartanen<br />

Losartan, Candesartan, Telmisartan, Irbesartan, Valsartan oder mit dem direkten<br />

Renin-Blocker Aliskiren behandelt worden. Verglichen wurden Wirksamkeit und<br />

Sicherheit der dualen Therapie mit den Ergebnissen bei Anwendung einer RAS-<br />

Blockade durch Monotherapie.<br />

Hierzu hatten wir erst kürzlich in KVH aktuell Pharmakotherapie eine Arbeit bei<br />

kardiovaskulären Risikopatienten von Deghan et al. referiert, aus der der wesentlich<br />

höhere Nutzen einer Änderung der Lebensführung bei den 31.546 Patienten der<br />

Studie – speziell einer gesundheitsbewussten Ernährung – in der kardiovaskulären<br />

Sekundärprävention gegenüber der Wirkung von ACE-Hemmern und Sartanen<br />

deutlich wurde [2,3].<br />

Ergebnisse:<br />

Trotz des sehr sorgfältigen Vorgehens mit Durchsicht der 33 Studien dieser Metaanalyse<br />

durch zwei unabhängige Autoren fand sich bei den Ergebnissen kein<br />

signifikanter Benefit durch eine duale RAS-Blockade:<br />

Die Mortalität aus verschiedener Ursache zeigte ein relatives Risiko (RR) von<br />

0,97%, das 95%-Konfidenzinterval (KI) betrug 0,89-1,06.<br />

Die kardiovaskuläre Mortalität zeigte ein RR von 0,96, das 95%-KI betrug<br />

0,88-1,05.<br />

Im Vergleich mit einer Monotherapie betrug das RR für Krankenhausaufnahmen<br />

wegen Herzinsuffizienz 0,82 bei einem 95%-KI von 0,74-0,92.<br />

Demgegenüber wurde bei der dualen RAS-Blockade im Vergleich zur Monotherapie<br />

eine Zunahme von UAW gefunden:


Nr. 2 / 2013<br />

KVH • aktuell<br />

Seite 11<br />

+ 55% bei Hypokaliämie (p < 0,001),<br />

+ 66% bei Hypotension (p < 0,001),<br />

+ 41% bei Niereninsuffizienz (p < 0,01) und<br />

+ 27% bei Drop-out wegen UAW (p < 0,001).<br />

Die Ergebnisse zur Wirksamkeit und Therapiesicherheit waren beim Vergleich einer<br />

dualen RAS-Blockade mit einer Monotherapie konsistent in den Kohorten mit und<br />

ohne Herzinsuffizienz mit Ausnahme der Mortalität aus verschiedenen Ursachen:<br />

Diese war bei Patienten mit Herzinsuffizienz höher (p = 0,04 versus p =0,15) und<br />

ebenso bei Patienten mit Niereninsuffizienz (p < 0,001 versus p = 0,79).<br />

Höhere Kosten, mehr Nebenwirkungen, aber kein Vorteil<br />

Wenn auch die duale Blockade des RAS-Systems Wirkungen auf einige Surrogat-<br />

Endpunkte haben mag, gelang es nicht, durch diese intensive Pharmakotherapie<br />

die Mortalität der kardiovaskulären Risikopatienten zu senken. Im Gegenzug wurde<br />

durch eine duale RAS-Blockierung verglichen mit einer Monotherapie sogar ein<br />

erheblich vermehrtes Risiko von unerwünschten Nebenwirkungen gefunden, wie<br />

Hyperkaliämie, Hypotension und Niereninsuffizienz. In diesem Zusammenhang<br />

sei auf die in einer weiteren Metaanalyse nachgewiesene zusätzliche besondere<br />

Wirksamkeit einer gesundheitsbewussten Ernährungsverbesserung und der Verbesserung<br />

der Lebensführung bei kardiovaskulären Risikofällen hingewiesen [2,3].<br />

Bedeutung<br />

für<br />

unsere<br />

Praxis<br />

Die maximale Pharmakotherapie einer dualen Blockade des Renin-Angiotensin-Systems<br />

bringt nach dieser großen Metaanalyse keinen Vorteil.<br />

Stattdessen nimmt bei Anwendung einer solchen dualen Therapie (ACE-<br />

Hemmer + Sartane oder + Aliskiren) das Nebenwirkungsrisiko deutlich zu<br />

(vermehrte Hyperkaliämie, niedriger Blutdruck, Niereninsuffizienz, Drop-outs<br />

wegen UAW).<br />

Nach wie vor haben nichtmedikamentöse Maßnahmen, wie eine gesundheitsbewusste<br />

Ernährung und die Änderung der Lebensführung, einen deutlich<br />

besseren Effekt [2,3]. Den sollte man möglichst immer mit einer Monotherapie<br />

kombinieren.<br />

Interessenkonflikte: keine<br />

Literatur:<br />

1 Makani Harikrishna, Bangalore Sripal, Desouza Kavit A , et al.: Efficacy and safety of dual blockade of the<br />

renin-angiotensin system: meta-analysis of randomized trials. BMJ 2013;346:1360, doi: 10.1136/bmj.1360<br />

(publ. 28. Jan. 2013)<br />

2 Ehrenthal K: Gesunde Ernährung bringt auf Dauer mehr als ACE-Hemmer und Sartane. KVH aktuell Pharmakotherapie<br />

2013;18(1):4-6<br />

3 Dehghan M, Mente A, Teo KK, et al.: Relationship Between Healthy Diet and Risk of Cardiovascular Disease<br />

Among Patients on Drug Therapies for Secundary Prevention: A Prospective Cohort Study of 31 546<br />

High-Risk Individuals From 40 Countries. Circulation 2012;126:2705-2712, doi: 10.1161/CIRCULA-<br />

TIONAHA.112.103234


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Medikation<br />

kritisch<br />

durchleuchtet<br />

Hinterfragt: Statin für 83-Jährige?<br />

Eine 83-jährige sehr mobile und schlanke Patientin (8 km Gehstrecke mit Hunden<br />

am Tag) kommt vom Kardiologen mit dem Zufallsbefund einer atypischen 75-prozentigen<br />

Stenose der A. carotis interna.<br />

Empfehlung des Kardiologen: Simvastatin 40 mg 0-0-1 zusätzlich.<br />

Bisher hatte sie folgende Diagnosen:<br />

beginnende hypertensive Herzerkrankung<br />

intermittierendes VHF, z.Zt. Sinusrhythmus.<br />

geringe Insuffizienz von Aorten-, Mitral-, Tricuspidalklappe<br />

kein Anhalt für höhergradige stenosierende KHK<br />

Z.n. Lungenembolie 09/2008<br />

Herzinsuffizienz NYHA II<br />

Kardiovaskuläres Risiko: Hyperlipoproteinämie, Hypertonus, Alter<br />

COPD<br />

Labor:<br />

Gesamt-Cholesterin 213 mg/dl<br />

LDL-Cholesterin 148 mg/dl<br />

HDL-Cholesterin 59 mg/dl<br />

INR 2 - 2,5<br />

Restliches Routinelabor normal.<br />

Bisherige Medikation:<br />

Flecainid 100 mg 1/2-0-1/2<br />

Verapamil 80 mg 1-0-1<br />

Ramipril 5 mg 0-0-1<br />

Digitoxin 0,07 5x Woche<br />

Marcumar nach INR<br />

und jetzt zusätzlich ein Statin?<br />

Zur Parallelnutzung von Flecainid, Digitoxin und Verapamil: Dies wurde vom Kardiologen<br />

wegen häufiger tachykarder Rhythmusstörungen nach mehreren frustranen<br />

Versuchen einer Betablocker-Therapie eingeleitet. Darunter sind die tachykarden<br />

Phasen wesentlich seltener als zuvor.<br />

Frage: Einsetzen des Lipidsenkers bei o.g. Cholesterinwerten? Wie würden Sie<br />

entscheiden? (Bisher gab es keine neurologischen Symptome.)<br />

A. Telzerow<br />

Antwort von Dr. med. Uwe Popert, Arzt für Allgemeinmedizin<br />

Lieber Herr Kollege Telzerow,<br />

Ich finde die Antwort auf Ihre Frage schwierig und spannend zugleich. Genau<br />

genommen sind es ja viele Fragen (neben der schon angesprochenen Problematik<br />

von drei AV-überleitungsverzögernden Medikamenten, die ich hier wunschgemäß<br />

ausklammern will). Hier die grundsätzlichen Überlegungen für solche Fälle:<br />

Grundsätzliche<br />

Gedankengänge<br />

in solchen Fällen:<br />

Ausgangsfrage: Statin ja oder nein?<br />

Trotz des „Cholesterin-Hypes“ gibt es weltweit keine verbindliche Definition<br />

von „Hyperlipidämie“. Das Gesamtcholesterin von 213 mg/dl ist für diese<br />

Altersgruppe in Deutschland eher ungewöhnlich niedrig und rechtfertigt


Nr. 2 / 2013<br />

KVH • aktuell<br />

Seite 13<br />

m.E. nicht die Diagnose einer „Hyperlipidämie“. Leider wird in vielen Laborausdrucken<br />

immer noch jeder Wert über 200 mg/dl als „erhöht“ oder „Risikobereich“<br />

falsch dargestellt, obwohl für alle anderen Laborwerte immer der Schwankungsbereich<br />

der Werte in der gesunden Bevölkerung als Referenzbereich angegeben wird.<br />

Zur Analyse von Lipidwerten stellt selbst die (eher industrienahe) Lipidliga dazu fest:<br />

„… Bei der Bewertung des koronaren Risikos ist man inzwischen weltweit<br />

davon abgegangen, Cholesterinwerte isoliert zu betrachten. Wir sehen die<br />

Cholesterinkonzentration und insbesondere die LDL-Cholesterinkonzentration<br />

nicht als isolierten Risikofaktor, sondern im Rahmen des so genannten<br />

globalen Risikos ...“ [1]<br />

Ein erhöhtes globales Gefäß-Risiko wird auch durch Beschluss des Gemeinsamen<br />

Bundesausschusses (G-BA) in der Anlage III zur Arzneimittelrichtlinie [2] bei einer<br />

Statin-Verordnung für Kassenpatienten gefordert: „… bei hohem kardiovaskulärem<br />

Risiko (über 20% Ereignisrate pro10 Jahre auf der Basis der zur<br />

Verfügung stehenden Risikokalkulatoren) …“<br />

Also brauche ich (zumindest bei Kassenpatienten) eine Antwort auf die Frage: Erlauben die<br />

1) Ist das kardiovaskuläre Risiko >20% in 10 Jahren?<br />

Arzneirichtlinien<br />

Wenn ich einfach mal eine reine Primärprävention annehme und mit arriba hier prinzipiell<br />

(www.arriba-herz.de ) rechne (weiblich, Alter 83, antihypertensiv behandelt, ein Statin?<br />

RR syst geschätzt 150 mmHg, Cholesterin 213 mg/dl, HDL 59 mg/dl) erhalte<br />

ich ein Risiko von 22,5% für Herzinfarkte / Schlaganfälle in 10 Jahren:<br />

daraus folgt: Eine Statinverordnung ist legitim; eine absolute Risikoreduktion<br />

von 5% (= NNT von 20) wäre okay für die Gesundheitsökonomen.<br />

Es stellen sich aber noch weitere Fragen.<br />

2) Verringert ihre körperliche Aktivität nicht das Risiko erheblich?<br />

Ja sicher! Wenn man angesichts ihres Alters ihre tägliche ausgiebige Bewegung<br />

als Sportäquivalent betrachtet, würde ihr Risiko damit nach arriba von 22,5% auf<br />

15% in 10 Jahren verringert – allerdings ist der Einbezug von Lebensführung in den<br />

üblichen Risikokalkulatoren und damit in dem G-BA-Beschluss nicht ausdrücklich<br />

vorgesehen.<br />

In einer aktuellen CTT-Metaanalyse [4] von 2012 wurde errechnet, dass die Statin-<br />

Effekte auch bei Risiken unter 10%, ja sogar noch unter 5% signifikant nachweisbar<br />

sind. (Dann verschlechtert sich allerdings die NNT entsprechend. Aber auch darüber<br />

hat die Wissenschaft und der G-BA bisher noch nicht diskutiert.)<br />

Angenommen, beide Effekte wären offiziell – bei Einrechnung des geringeren<br />

Risikos würde die absolute Risikoreduktion von 5% auf 3%/10Jahre zusammenschrumpfen<br />

– eine entsprechende NNT von 33 wäre für Gesundheitsökonomen<br />

aber wohl auch noch akzeptabel.<br />

aber:<br />

3) Stimmt eine 20-prozentige Risikosenkung durch Statine überhaupt<br />

Stimmt die<br />

für 83-jährige Frauen ohne vorangegangenen Herzinfarkt/Schlaganfall?<br />

überhaupt<br />

Risikoberechnung<br />

Zur Primärprävention (= keine vorangegangenen Herzinfarkte oder Schlaganfälle)<br />

gibt es insbesondere 2 neue große Metaanalysen: eine CTT-Auswer-<br />

in diesem Alter?<br />

bei Frauen<br />

tung individueller Patientendaten von 2012 [4] und eine Cochrane-Analyse<br />

von 2013 [3].<br />

Beide zeigen eine relative Risikoreduktion für kardiovaskuläre Ereignisse von<br />

20 bis 25%.<br />

Aber die eingeschlossenen Studien berücksichtigen fast keine Patienten über


Seite 14 KVH • aktuell<br />

Nr. 2 / 2013<br />

75 Jahre. Dann bleibt die erwähnte PROSPER-Studie [5] (mit Patienten von 70 bis<br />

82 Jahren) mit einer relativen Risikoreduktion von 15% (Besonderheit: keine reine<br />

Primärprävention, sondern 25% Anteil von Patienten mit vorangegangenen kardiovaskulären<br />

Ereignissen).<br />

Pi mal Daumen könnten die in arriba angesetzten 20% RRR noch stimmen, aber<br />

hier treffen wir auf ein schwer einschätzbares Phänomen: das der konkurrierenden<br />

Erkrankungen bzw. Todesursachen. Je multimorbider bzw. älter, desto größer ist<br />

die Sterbewahrscheinlichkeit an einem ganzen Bündel von Ursachen. Wird die eine<br />

vermindert, schlägt die andere zu. Insofern ist eine Minderung der üblichen Risikoreduktion<br />

von Statinen wahrscheinlich bei sehr Alten und Multimorbiden bzw. bei<br />

geringer Lebenserwartung.<br />

Damit kommen wir zur nächsten Frage:<br />

Hat die Patientin<br />

4) Wie hoch ist die Lebenserwartung dieser Patientin?<br />

in der noch<br />

Die derzeitige Rest-Lebenserwartung einer durchschnittlichen 83-jährigen<br />

zu erwartenden Deutschen ist etwa 8 bis 9 Jahre [6]. Aber ist sie eine durchschnittliche<br />

Lebensspanne Frau? Sie hat Hypertonus, VHF, Herzinsuffizienz, Herzklappenfehler, Karotisstenose,<br />

COPD (raucht sie etwa noch? – das haben wir dann oben nicht<br />

von dem<br />

Medikament berücksichtigt!) und damit sicher eine Reihe von erheblichen konkurrierenden<br />

Sterbe-Risiken, die durch viel Bewegung und Marcumar nur teilweise<br />

mehr<br />

zu erwarten als neutralisiert werden können. Aber alles das ist natürlich jenseits jedes mir<br />

Nebenwirkungen? bekannten Risikokalkulators. Wir sind auf den gesunden Menschenverstand<br />

und Erfahrung angewiesen. In der Multimorbiditäts-Leitlinie [7] haben wir<br />

darauf hingewiesen, dass in dieser Altersgruppe wahrscheinlich Lebensqualität<br />

vor Lebensverlängerung geht; also Präventionsmedikation nachrangig<br />

sein könnte.<br />

Damit kommen wir – ganz im Sinne von arriba und SDM (shared decision making) –<br />

zur entscheidenden Frage:<br />

5) Was will die Patientin eigentlich?<br />

Eigentlich die beste Frage. Warum ist uns die nicht gleich eingefallen?<br />

Wahrscheinlich, weil die Patientin uns möglicherweise fragen würde:<br />

„Was würden Sie denn in dieser Situation machen?“<br />

Interessenkonflikte: keine<br />

Dr.med. Uwe Popert, Arzt für Allgemeinmedizin<br />

(Mitautor der Leitlinien „Multimedikation“ und „kardiovaskuläre Prävention“<br />

von hausärztlicher Leitliniengruppe Hessen und DEGAM)<br />

Literatur:<br />

1 http://www.lipid-liga.de/cms/index.php?option=com_content&task=view&id=22&Itemid=51#index6 (besucht<br />

am 7..4.2013)<br />

2 http://www.g-ba.de/informationen/richtlinien/anlage/16/ (besucht am 7.4.2013)<br />

3 Taylor F, Huffman MD, Macedo AF, Moore TH, Burke M, Davey Smith G, Ward K, Ebrahim S. Statins for the<br />

primary prevention of cardiovascular disease. Cochrane Database Syst Rev. 2013 Jan 31;1:CD004816. doi:<br />

10.1002/14651858.CD004816.pub5 .<br />

4 Cholesterol Treatment Trialists‘ (CTT) Collaborators, Mihaylova B, Emberson J, Blackwell L, Keech A, Simes J,<br />

Barnes EH, Voysey M, Gray A, Collins R, Baigent C. The effects of lowering LDL cholesterol with statin therapy in<br />

people at low risk of vascular disease: meta-analysis of individual data from 27 randomised trials. Lancet. 2012<br />

Aug 11;380(9841):581-90. Epub 2012 May 17.<br />

5 Shepherd J, Blauw GJ, Murphy MB, Bollen EL, Buckley BM, Cobbe SM et al. Pravastatin in elderly individuals at<br />

risk of vascular disease (PROSPER): a randomised controlled trial. Lancet 2002;360(9346):1623- 30.<br />

6 http://www.gbe-bund.de/ (besucht am 7.4.2013)<br />

7 http://www.pmvforschungsgruppe.de/pdf/03_publikationen/multimedikation_ll.pdf (besucht 7.4.2013)


Nr. 2 / 2013<br />

KVH • aktuell<br />

Seite 15<br />

Was bewirken Rauchverbote?<br />

Dr. med. Klaus Ehrenthal<br />

Für Sie<br />

gelesen<br />

Nachdem in vielen Staaten Rauchverbote in öffentlichen Räumen gesetzlich verankert<br />

wurden, sind Fragen nach deren Wirkung auf die Gesundheit der Bevölkerung<br />

zu beantworten.<br />

Dazu erschien kürzlich eine große Metaanalyse von Tan CE und Glanz SA,<br />

die den erhofften Benefit dieser staatlichen Maßnahmen bestätigte [1]. Sie untersuchten<br />

in insgesamt 45 Studien die Wirkung von insgesamt 37 weltweiten<br />

Nichtraucherschutzgesetzen auf Krankenhausaufnahmen oder Todesfälle durch<br />

kardiale, cerebrovaskuläre oder respiratorische Erkrankungen nach einer gesetzlich<br />

erzwungenen rauchfreien Phase mit durchschnittlich 24-monatiger Nachuntersuchung.<br />

Dabei fanden sie, dass die verordnete Rauchfreiheit am Arbeitsplatz<br />

und in öffentlichen Räumen (auch in der Gastronomie) mit einer signifikanten<br />

Reduktion von Krankenhausaufnahmen oder Todesfällen von vier untersuchten<br />

Krankheiten einherging.<br />

Die Zahl der Herzinfarkte nahm um 15% ab, die der Schlaganfälle um 16%, die<br />

der Lungenerkrankungen um 24%. Die Wirkung war dosisabhängig. Die Reduktion<br />

der Krankenhausaufnahmen war geringer, wenn nur am Arbeitsplatz nicht mehr<br />

geraucht wurde, sie war am höchsten, wenn zusätzlich Restaurants und Bars von<br />

dem Rauchverbot betroffen waren.<br />

Koronare Ereignisse RR: 0,848; 95%-KI: 0,816-0,881,<br />

andere Herzerkrankungen RR: 0,861; 95%-KI: 0,440-0,847,<br />

zerebrovaskuläre Ereignisse RR: 0,840; 95%-KI: 0,753-0,936,<br />

Atemwegserkrankungen RR: 0,760; 95%-KI; 0,682-0,846.<br />

(RR: Relatives Risiko nach Rauchverbot, 95%-KI: 95%-Konfidenzinterval).<br />

Auch die Autoren Hurt RD, Weston SA, Ebbert JO et al. berichteten in einer Studie<br />

(Rochester Epidemiology Projects in Olmsted County, Minnesota) von einem deutlichen<br />

Gesundheitsnutzen bei ihren Untersuchungen [2].<br />

Sie konnten beim Vergleich der Zeit vor den gesetzlichen Rauchverboten und nach<br />

18 Monaten mit Rauchverboten in Gaststätten einen starken Reduktionseffekt für<br />

Herzinfarkte (33%, p


Seite 16 KVH • aktuell<br />

Nr. 2 / 2013<br />

Druck, um eine Verhaltensänderung der Raucher zu erreichen, als medizinischer<br />

Fortschritt angesehen wird, versucht die Lobby der Tabakindustrie ihren Schaden<br />

klein zu halten. Die entsprechenden Bemühungen sind vielfältig, und derzeit oftmals<br />

von der Öffentlichkeit unbemerkt, um auf kommunalen Ebenen Ausnahmeregelungen<br />

zu bewirken und auf der EU-Ebene in Brüssel, wo die geplante Verschärfung<br />

der gesetzlichen Bestimmungen bekämpft wird [8].<br />

In vielen Ländern außerhalb der EU (Russland, Afrika, Ostasien) wird allerdings<br />

trotz aller Bemühungen der Ärzte und Gesundheitspolitiker weiterhin ungehemmt<br />

von gesetzlichen Regelungen geraucht.<br />

Bedeutung<br />

für<br />

unsere<br />

Praxis<br />

Was bedeutet das für die Praxis?<br />

Die weltweiten Nichtraucherschutzgesetze zum Gesundheitsschutz sind mittlerweile<br />

in zahlreichen Untersuchungen als wirksam nachgewiesen.<br />

Das gilt für Betroffene aller Altersstufen: Kinder, Schwangere, Erwachsene<br />

und Senioren.<br />

Es sollte unbedingt verhindert werden, dass statt strenger und konsequenter<br />

Bestimmungen zum Nichtraucherschutz sich wieder eine allgemeine zunehmende<br />

Toleranz breit macht, die den Interessen der Tabakindustrie dient.<br />

Besondere Aufmerksamkeit haben jugendliche Rauchanfänger verdient, hier<br />

sollte durch verständnisvolle aber eindeutige Gefahrenaufklärung die Entstehung<br />

eine Gewöhnung und Nikotinsucht nach Möglichkeit verhindert werden.<br />

Keinesfalls sollten Nikotinkonsumenten jetzt verstärkt auf Ersatz (E-Zigaretten,<br />

Shisha, mit Aromastoffen parfümierte Tabakprodukte u.s.w.) ausweichen.<br />

Der Nichtraucherschutz durch gesetzliche Rauchverbote am Arbeitsplatz<br />

und in öffentlichen Räumen sollte von uns Ärzten auch weiterhin mit<br />

Bemühungen um Entwöhnung bei immer noch weit verbreiteter Nikotinabhängigkeit<br />

zum Schutz vor den Gefahren des Tabakkonsums wahrgenommen<br />

werden.<br />

Interessenkonflikte: keine<br />

Literatur:<br />

1 Tan CE and Glantz SA: Association Between Smoke-Free Legislation and Hospitalizations for Cardiac, Cerebrovascular,<br />

and Respiratory Diseases: A Meta-Analysis. Circulation 2012;126:2177-2183,<br />

doi: 10.1161/CIRCULATIONAHA.112.121301<br />

2 Hurt RD, Weston SA, Ebbert JO, et al.: Myocardial Infarction and Sudden Cardiac Death in Olmsted County,<br />

Minnesota, Before and After Smoke-Free Workplace Laws.<br />

Circulation. 2011;124:21, oder in: Arch Intern Med 2012;():1-7, doi: 10.1001/2013.jamaintemmed.46<br />

3 Ehrenthal K: Rauchverbote wirken. KVH aktuell Pharmakotherapie 2012;17(3):12-13<br />

4 Gefährlicher Jugendtrend: Sucht-Experte warnt vorm Shisha-Rauchen. STERN 13.03.2010, http//www.stern.de/<br />

gesundheit/gefaehrlicher-jugendtrend-suchtexperte-warnt-vorm-shisha-rauchen-1550661.html<br />

5 Van den Heuvel, M: E-Zigarette: Dunstige Debatte. DocCheck Nwes 01.06.2012,<br />

http://news.doccheck.com/de/article/209378-e-zigarette-dunstige-debatte<br />

6 E-Zigarette: Gefahr für Passivraucher. BfR; 11.05.2012,<br />

http://doccheck.com/de/article/209170-e-zigarette-gefahr-fuer-passivraucher<br />

7 Vardavas CI, Anagnostopoulos N, Kougias M, et al.: Acute pulmonary effects of using an e-cigarette: impact on<br />

respiratory flow resistance, impedance and exhaled nitric oxide. Chest 2011 Dec 22,<br />

www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22194587<br />

8 Cahn Z, Siegel M: Electronic cigarettes as a harm reduction strategy for tobacco control: A step forward or a<br />

repeat of past mistakes? J Publ Health Policy 2011;32:16-31, doi:10.1057/jphp.2010.41;publ 9.Dec. 2010<br />

9 C Pauly: Blauer Dunst. SPIEGEL 26.11.2012; 48:44-46


Nr. 2 / 2013<br />

KVH • aktuell<br />

Seite 17<br />

Einstieg mit Metformin,<br />

ein halbes Jahr später<br />

Verzögerungsinsulin<br />

Zur Frage aus Heft 1/2013: „Metformin reicht nicht mehr:<br />

wie gehen sie nun vor?“<br />

Briefe an die<br />

Redaktion<br />

Herr Kollege Popert kommt in seinem Dezember-Artikel zu einem nachvollziehbarem<br />

Ergebnis: Als erster Partner zum Metformin zeigen gerade Gliptine leider eine<br />

eher enttäuschende HbA1c-Wirksamkeit.<br />

Nun ist es wohl gängige Praxis, dass mit unterjährigen Phase-III-Studien Nutzenbehauptungen<br />

getroffen werden, die dann von Meinungsbildnern unkritisch<br />

multipliziert werden.<br />

Auch mir sind keine Langzeitdaten zu Gliptinen bekannt. Derzeit sind deren Preise<br />

also in zweifacher Hinsicht zu hoch. Wir setzten sie derzeit (nach einer Phase der<br />

Euphorie) selten ein.<br />

Was bleibt uns also?<br />

Der typische diabeteskranke Patient mit Diabetes Typ 2 in unserer Hausarztpraxis<br />

ist berentet und übergewichtig. Er ist in der Regel im Vollbesitz des metabolischen<br />

Syndroms.Sein Hauptproblem ist die Insulinresistenz. Vornehmster primärer Endpunktparameter<br />

ist das symptomarme Überleben. HbA1c, Blutzucker und Gewicht<br />

sind und bleiben Surrogatparameter.<br />

Das effizienteste Mittel gegen Insulinresistenz, das wir kennen, ist körperliche Bewegung.<br />

Unser typischer diabeteskranker Patient verlangt aber vorrangig erstmal<br />

nach gängigeren Wirkstoffen.<br />

Daher beginnen wir zügig mit Metformin und eskalieren nach rund sechs Monaten<br />

mit Verzögerungsinsulin um 22 Uhr (BOT 1 ). Dazu Schulung. (Wir geben Metformin<br />

bis zur GFR von 50 (NSAR-Verbot). Bei Gewichtabnahme infolge Insulinmangels<br />

dagegen Beginn mit CT 2 oder ICT 3 (s.u.). Ggf. Fibrate zur Senkung der Triglyceride.<br />

Alles darüber hinaus geht nur zusammen mit dem Patienten.<br />

Hierzu gibt es seit letztem Jahr das Positionspapier von EASD 4 und ADA 5 zum<br />

„Hyperglykämie-Management bei Typ-2-Diabetes: ein patientenzentrierter Ansatz“<br />

Die Autoren betonen die Selbstverantwortung des geschulten Patienten und erteilen<br />

der medikamentösen Übertherapie ohne Nutzenevidenz eine Absage.<br />

Der Stellenwert regelmäßiger körperlicher Bewegung sei mit Hinblick auf die<br />

begrenzte Wirksamkeit der verfügbaren Antidiabetika stärker zu betonen (wir<br />

schulen Bewegung als „Medikament“ und kommunizieren die Konsequenzen der<br />

„Nichteinnahme“ entsprechend.)<br />

Das Papier beschreibt dabei drei Zielkorridore:<br />

1. Ein HbA1c unter/bis 7% sei oft der beste Kompromis aus kardiovaskulärem<br />

und mikrovaskulärem Risiko.<br />

2. Strengere Ziele (6,5%) bei kurzer Diabetesdauer, fehlenden kardiovaskulären<br />

Erkrankungen, fehlenden Begleiterkrankungen, hoher Motivation, stabiler<br />

Einstellbarkeit. Hier sollte zeitnah ggf. eine ICT 3 angeboten werden.<br />

3. Weniger strenge HbA1c-Ziele (7,5-8,5%) besonders bei fortgeschrittenen kardiovaskulären<br />

Erkrankungen, labiler Einstellbarkeit, schweren Hypoglykämien<br />

in der Vorgeschichte.<br />

1: BOT = Basal unterstützte orale Therapie; 2: CT = Konventionelle Therapie<br />

3: ICT = Intensivierte Konventionelle Therapie 4: EASD = European Association for the Study of Diabetes<br />

5: ADA = American Diabetes Association


Seite 18 KVH • aktuell<br />

Nr. 2 / 2013<br />

Briefe an die<br />

Redaktion<br />

Wir geben eher kein Glimepirid wegen der Hypo-Gefahr. Ggf. BOT 1 zur<br />

Dämfung der nächtlichen hepatischen Glukosefreisetzung. Sehr konsequente<br />

Blutdruckeinstellung.<br />

Dr.med. Stefan G. Grenz, M.san.<br />

Facharzt für Innere Medizin / Gastroenterologie<br />

Lieber Herr Kollege Grenz,<br />

Ihre Vorgehensweise stimmt mit der gerade veröffentlichten Nationalen Versorgungsleitlinie<br />

Diabetes überein (http://www.versorgungsleitlinien.de/themen/<br />

diabetes2). Insbesondere die deutliche Einbindung von Sport/Bewegung gefällt<br />

mir sehr gut.<br />

Nach neueren Studienergebnissen (ACCORD-LIPID) sind allerdings die Fibrate nur<br />

noch bei Statin-Unverträglichkeit und bei einem kardiovaskulären Risiko >20% in<br />

10 Jahren empfehlenswert bzw. verordnungsfähig. Das um so mehr, als die Triglyceride<br />

bei Hypergykämie wahrscheinlich sekundär erhöht sind und die Bedeutung<br />

der Triglyzeride als unabhängiger Risikofaktor zunehmend umstritten ist.<br />

Dr. med. Uwe Popert, Arzt für Allgemeinmedizin<br />

Soll ich meinen Patienten<br />

nur noch Bewegung empfehlen?<br />

Ich bin ja ein eifriger Leser der KVH aktuell, aber wenn ich die letzten Hefte Revue<br />

passieren lasse, habe ich den Eindruck, dass ich außer „kleiner Psychotherapie“ und<br />

„Rezept-auf-Bewegung“ am besten nichts mehr verordnen sollte!<br />

Ein Großteil unserer täglichen Patienten sind Schmerzpatienten und davon die<br />

Masse Alte und Multimorbide (Herzinsuffizienz/Niereninsuffizienz etc.), häufig mit<br />

ASS- oder Antikoagulanzientherapie. NSAR fallen in der Regel bei diesen Personen<br />

aus (Heft 4/2012, Seite 36). Paracetamol wurde entweder schon genommen oder ist<br />

ja in höheren Dosen selber in der Kritik (Leberschäden, Verschreibungspflicht etc.).<br />

Tramadol nimmt wegen NW keiner ein, Tilidin-Tropfen machen abhängig. Retard-<br />

Tabletten wirken bei muskuloskelettalen Schmerzen aufgrund Retardwirkung nicht<br />

so gut, Metamizol (Seite 22) ist kritisch, Fentanylpflaster (S. 19) werden verdammt,<br />

Flupirtin (S. 33) dito, Tolperison (Rote Hand Brief) fällt aus, Paracetamol comp. gibt<br />

es nur noch in Kleinpackungen; ASS-Austausch durch Clopidogrel ist nicht zulässig<br />

(S. 4 ff), d.h. man müsste ein PPI (wieder viele NW sowie ein weiteres Medikament,<br />

welches dem Ziel von möglichen 5 Medikamenten zuwider läuft) zufügen.<br />

Ja was mache ich armer Doktor nun??<br />

Ich wäre ja mal für Artikel, die mir positive Entscheidungshilfen an die Hand geben,<br />

dankbar. Bisher verstärken Sie nur von Heft zu Heft mein schlechtes Gewissen, lassen<br />

mich ansonsten aber im Regen stehen. In diesem Sinne bin ich auf zukünftige<br />

Pro-Artikel gespannt!<br />

Mit besten Grüßen von einem treuen Leser<br />

Dr. med. Andreas Rohrbeck, Arzt für Allgemeinmedizin, 63517 Rodenbach<br />

Lieber Herr Kollege Rohrbeck,<br />

Ihr Monitum ist bei uns angekommen. Denn in der Tat neigt man in der rationalen<br />

und rationellen Pharmakotherapie, der wir uns verpflichtet fühlen, gerne dazu,<br />

den Nutzen einer Medikation geringer zu erachten, als das unbestritten mögliche<br />

Schadenspotential. Das hängt natürlich mit den unterschiedlichen Rollen zusammen,<br />

die jeder an seinem Ort zu spielen hat.


Nr. 2 / 2013<br />

KVH • aktuell<br />

Seite 19<br />

Sie müssen – wie übrigens wir Autoren der Beiträge zu KVH aktuell auch – Tag<br />

für Tag Patientenprobleme lösen. Mit all den Gedanken, die Sie veranlasst haben,<br />

uns zu schreiben. Aber in unserer Autorenrolle sehen wir uns auch verpflichtet,<br />

Ihnen und allen anderen KollegInnen immer wieder zu signalisieren: „Es liegt in<br />

der Natur der Dinge, dass man nicht ein Übel beseitigen kann, ohne dass es nicht<br />

an anderer Stelle wieder auftritt.“<br />

Diese vor 500 Jahren von dem Florentiner Staatsmann Macchiavelli getroffene<br />

politische Feststellung ist durchaus auf manche Probleme in der Pharmakotherapie<br />

übertragbar. Denn an unerfreulichen Nebenwirkungen der Pharmakotherapie des<br />

Schmerzes gibt es halt keinen Mangel, was man als Autor nicht verschweigen darf.<br />

Und der Sie veranlasst hat, uns ein Leserbriefsignal zu geben. So als würden wir in<br />

der eigenen Praxis der Parole huldigen: „am besten nichts verschreiben“.<br />

Nein, so ist es nicht. Jeder von uns hat jeden Tag gerade in der Schmerztherapie<br />

eine Gratwanderung zwischen potentiellem Nutzen und möglichem<br />

Schaden vorzunehmen. Und es ist schon viel erreicht, wenn man sich<br />

dessen bewusst ist.<br />

Aber es gibt noch ein weiteres erstaunliches Phänomen zu berichten, welches<br />

man durchweg feststellen kann, wann man sich gründlich in die Details von Arzneimittelstudien<br />

vertieft. Da beobachtet man bei der Prüfung von Schmerzmitteln<br />

aller Art inklusive der Opiate, dass ein Placeboeffekt von 40% durchaus üblich ist<br />

und die Verumgruppe meist nur bescheidene 10-15 % besser abschneidet. Und<br />

wenn man sich bei Hausbesuchen einmal die Mühe macht, nachzuschauen, was<br />

an Arzneivorräten noch vorhanden ist, dann sind es überdurchschnittlich häufig<br />

angebrochene Schmerzmittelpackungen, obwohl die Patienten nicht müde waren,<br />

in der Praxis ihre Schmerzen als chronisch und glaubhaft zu beklagen.<br />

Kein Arzt kommt jedoch ohne Schmerzmittel zur Lösung von bestimmten Patientenproblemen<br />

aus. Und es gibt Fälle, wo selbst bei kritischem Einsatz ein Schaden<br />

sich als unvermeidlich erweisen wird. Dennoch: das uralte „nil nocere“ treibt die<br />

Redaktion an, an das Schadenspotential von Schmerzmitteln zu erinnern. Nicht aus<br />

Gründen der Sparsamkeit, sondern aus Verantwortung für die Patienten.<br />

Der verordnete Schmerzmittelkonsum steigt von Jahr zu Jahr, die Verordnung von<br />

Opioidanalgetika hat in den letzten 10 Jahren um 60 Prozent zugenommen. Und<br />

unter den nichtopioiden Analgetika haben die Metamizolverordnungen erneut einen<br />

deutlichen Anstieg zu verzeichnen, obwohl das schwerwiegende Agranulozytoserisiko<br />

weiter besteht (AVR 2012, S. 263). Nicht zu vergessen ist die Selbstmedikation<br />

mit rezeptfreien Analgetika, die uns Ärzten recht häufig verschwiegen wird.<br />

Nichtmedikamentöse Methoden zur Schmerzlinderung werden häufig vergessen.<br />

Meist bleibt jedoch nichts anders übrig, als im Bewusstsein eines möglichen Schadenspotentials<br />

zu verordnen, gegebenenfalls mit einem Protonenpumpenhemmer<br />

als Schutz vor der häufigsten Komplkation. Intensiv das seelische Befinden der<br />

chronischen Schmerzkranken in die Gesamtbehandlung mit einzubeziehen, ist ein<br />

dringender Wunsch, der allzu oft wegen Zeitnot unerfüllt bleibt.<br />

Dass einerseits Sucht und andererseits Therapieverweigerung zwei Seiten einer<br />

Medaille sein können, hat bereits jeder Hausarzt gerade bei Schmerzpatienten<br />

mehrfach erlebt.<br />

Aus all diesen „simplen“ Gründen sehen wir uns außerstande, Ihnen ein „gutes<br />

Gewissen“ bei der Verordnung von Schmerzmitteln machen zu können. Ein Restrisiko<br />

bleibt immer. Ohne Kompromisse in der Abwägung von Nutzen und Schaden<br />

geht es leider nicht. Schwere, ernste oder gar lebensbedrohliche unerwünschte<br />

Wirkungen von Schmerzmitteln sind jedoch – falls Ihnen das, lieber Kollege Rohrbeck,<br />

ein Trost ist – recht selten. Und ohne eine gute Analgesie sind viele Patientenprobleme<br />

nicht lösbar.<br />

Bleiben Sie uns gewogen, wir kochen auch nur mit Wasser!<br />

Dr. med. Jürgen Bausch<br />

Briefe an die<br />

Redaktion<br />

Natürlich sind<br />

Schmerzmittel<br />

unverzichtbar –<br />

aber auch im<br />

Praxisalltag darf man<br />

die Risiken nicht aus<br />

den Augen verlieren.


Seite 20 KVH • aktuell<br />

Nr. 2 / 2013<br />

Für Sie<br />

gelesen<br />

Nutzen einer mediterranen Diät endlich<br />

in einer sauberen Studie belegt<br />

Dr. med. Klaus Ehrenthal<br />

Nachdem immer wieder in prospektiven Beobachtungsstudien vom Nutzen einer<br />

sogenannten „mediterranen“ Ernährung für die Kardioprotektion berichtet wurde,<br />

ist nun endlich mit der multizentrischen PREDIMED-Studie aus Spanien (in Barcelona<br />

und Navarro) eine ausreichend große, sauber durchgeführte randomisierte<br />

Interventionsstudie zur primären Prävention kardiovaskulärer Ereignisse erschienen,<br />

um den Effekt dieser Ernährungsform zu untersuchen [1]. Zuvor lagen lediglich die<br />

Ergebnisse der “Lyon Diet Heart Study“ aus 1999 für die kardiovaskuläre Sekundärprävention<br />

vor, deren Ergebnisse wegen der kleinen Zahl von nur 423 Teilnehmern<br />

nicht ausreichend überzeugen konnten [2, 3].<br />

Die PREDIMED-Studie zeigte, dass die Wirkung der erprobten mediterranen Diät<br />

einen deutlichen Vorteil für die kardiovaskuläre Prävention hatte, sodass sie nach<br />

durchschnittlich 4,8 Jahren abgebrochen werden konnte. Schwere kardiovaskuläre<br />

Ereignisse traten signifikant seltener auf.<br />

Die auch „Mittelmeer-Diät“ genannte traditionelle mediterrane Ernährungsform, die<br />

in den südeuropäischen Ländern häufig, wenn auch nicht überall und bei jedermann<br />

gebräuchlich ist, wendet großzügig kalt gepresstes (=extra virgines) Olivenöl, Obst,<br />

Gemüse und auch Nüsse sowie Cerealien bei gemäßigtem Konsum von Fisch und<br />

Geflügel an. Dazu gehört in der Regel ein Glas Wein. Dagegen werden Milch, rotes<br />

Fleisch und Süßigkeiten seltener verzehrt.<br />

Vorgehensweise bei der PREDIMED-Studie:<br />

Aus den 7.447 Studienteilnehmern (43% Männer, 55 bis 80 Jahre alt und 57%<br />

Frauen, 60 bis 80 Jahre alt) wurden von den Autoren drei gleich große Gruppen korrekt<br />

randomisiert gebildet, die nach initialer Gesundheitsuntersuchung einschließlich<br />

der Dokumentation von Größe, Gewicht, Hüftumfang und Begleitkrankheiten und<br />

deren Medikation im weiteren Verlauf regelmäßig engmaschig individuell und auch<br />

in Gruppenberatungen betreut wurden. Sie wurden mit Hilfe spezieller Ernährungsempfehlungen<br />

zu drei untersuchten Diätformen mit dreimonatigen individuellen<br />

Ernährungsberatungen und Gruppenberatungen engmaschig beraten.<br />

Gruppe 1: mediterrane Kost + kalt gepresstes Olivenöl,<br />

Gruppe 2: mediterrane Kost + täglich 30g Nüsse,<br />

Gruppe 3: fettarme Kost zum Vergleich.<br />

Dabei wurden auch Verbrauchskontrollen des zur Verfügung gestellten kalt gepressten<br />

Olivenöls (Gruppe 1) und der Nüsse (Gruppe 2) vorgenommen.<br />

Die untersuchten drei Diätformen wurden wie folgt mit den Probanden besprochen:<br />

Gruppe 1: Empfohlen wurde die freie Verwendung von bis zu 1 Liter Olivenöl<br />

pro Woche, ansonsten keine Mengenbeschränkungen bei der Durchführung<br />

der mediterranen Essgewohnheiten der Probanden mit frischem Obst 3x<br />

täglich, Gemüse 2x täglich, Fisch 3x wöchentlich, Hülsenfrüchte 3x wöchentlich,<br />

„Sofrito“ (eine Tomaten-Zwiebel-Knobloch-Kräuter-Sauce mit Olivenöl)<br />

2x wöchentlich; außerdem weißes Fleisch statt rotem Fleisch. Wenn gewöhnt,<br />

täglich ein Glas Wein zum Essen. 1 Liter Olivenöl (extra virgines) wurde den<br />

Teilnehmern wöchentlich zur Verfügung gestellt, der Verbrauch wurde protokolliert.<br />

Abgeraten wurde vom Genuss von Soda-Getränken, Gebäck, Süßigkeiten<br />

und dem Genuss von Torten.


Nr. 2 / 2013<br />

KVH • aktuell<br />

Seite 21<br />

Gruppe 2: Auch diese Gruppe wurde gleichermaßen regelmäßig geschult,<br />

die oben beschriebene mediterrane Ernährung durchzuführen, allerdings<br />

ohne die zusätzliche Bereitstellung von Olivenöl. Es wurden dieser Gruppe<br />

zusätzlich 30 g Nüsse (15 g Walnüsse, 7,5 g Haselnüsse, 7,5g Mandeln) zum<br />

täglichen Verzehr dieser Menge zur Verfügung gestellt, der Verbrauch wurde<br />

protokolliert.<br />

Abgeraten wurde wie bei Gruppe 1 vom Genuss von Soda-Getränken, Gebäck,<br />

Süßigke#iten und von Torten.<br />

Gruppe 3: Diese Gruppe diente der Kontrolle mit einer fettarmen Diät. Den<br />

Teilnehmern wurden bei den regelmäßigen Ernährungsberatungen fettarme<br />

Produkte 3x täglich, Kohlehydrate wie Brot, Kartoffeln, Pasta, Reis bis zu 3x<br />

täglich, frisches Obst bis zu 3x täglich, Gemüse bis zu 2x wöchentlich, magerer<br />

Fisch und Meeresfrüchte bis zu 3x wöchentlich empfohlen.<br />

Abgeraten wurde vom Verzehr ölhaltiger Gemüse, üblicher Gebäckstücke,<br />

Süßigkeiten und Torten, von Nüssen, rotem und verarbeitetem fetten Fleisch,<br />

sichtbarem Fett in Fleisch und Suppen, fettem Fisch, von Meeresfrüchten in<br />

öligen Konserven, von Fettüberzug auf der Nahrung und von mehr als 2x<br />

wöchentlichem Verzehr von „Sofrito“.<br />

Die bei den Teilnehmern vorhandenen Risikofaktoren (mehr als 80% hatten eine<br />

arterielle Hypertonie, etwa 50% einen Typ-2-Diabetes, 70% eine Fettstoffwechselstörung)<br />

wurden durchgehend medikamentös behandelt. Dabei nahm die Hälfte<br />

einen ACE-Hemmer, jeder fünfte Diuretika, jeder vierte weitere Antihypertensiva,<br />

jeder dritte orale Antidiabetika oder Insulin, 40% nahmen ein Statin ein.<br />

Primärer Endpunkt der Studie war die Rate schwerer kardiovaskulärer Ereignisse<br />

(Herzinfarkte, Schlaganfall oder kardiovaskuläre Todesfälle).<br />

Diese Studie war nicht als Alternative zur medikamentösen Behandlung gedacht,<br />

sondern als Ergänzungsmöglichkeit zu der jeweiligen medikamentösen Therapie.<br />

Ergebnisse:<br />

Der primäre Endpunkt war nach durchschnittlich 4,8 (2,8-5,8) Jahren bei 288<br />

Teilnehmern aufgetreten. Die Rate der Ereignisse gliederte sich nach multivariabler<br />

Kovarianzanalyse wie folgt:<br />

Gruppe 1 (mediterrane Ernährung, reichlich extra virgines Olivenöl, 2543<br />

Fälle): Hazard Ratio (HR): 0,70; 95%-Konfidenzintervall (KI): 0,53-0,91, p =<br />

0,009.<br />

Es kam zu 96 Ereignissen<br />

Die Gesamtsterblichkeit sank jedoch nur wenig, das Ergebnis war nicht signifikant:<br />

HR 0,81; 95%-KI: 0,63-1,05, p = 0,11<br />

Gruppe 2 (mediterrane Ernährung mit zusätzlich 30 g Nüssen täglich, 2454<br />

Fälle): HR: 0,70; 95%-KI: 0,53-0,94, p = 0,02<br />

Es kam zu 83 Ereignissen<br />

Die Gesamtsterblichkeit sank auch hier nur wenig, das Ergebnis war nicht<br />

signifikant: HR: 0,95, 95%-KI:0,73-1,23, p = 0,68<br />

Gruppe 3 (Kontrollgruppe mit fettarmer Ernährung, 2450 Fälle):<br />

Es kam zu 109 Ereignissen<br />

Durch Biomarker nach 1, 3 und 5 Jahren konnte in den mediterran ernährten Gruppen<br />

1 und 2 eine durchgehend befriedigende Compliance zum Einhalten der Diät<br />

durch die Teilnehmer nachgewiesen werden.<br />

Insgesamt senkte die mediterrane Diät das kardiovaskuläre Risiko also signifikant<br />

um etwa 30%. Das bedeutet, dass etwa 3 kardiovaskuläre Ereignisse pro 1000


Seite 22 KVH • aktuell<br />

Nr. 2 / 2013<br />

Patientenjahre vermieden werden konnten. Die nur geringe und nicht signifikante<br />

Verbesserung der Gesamtsterblichkeit ist wegen der bei den Kontrollen aufgefallenen<br />

teilweise schwachen Einhaltung der Ernährungsempfehlungen (weniger<br />

Olivenölverbrauch als empfohlen, weniger Fischverzehr, weniger Gemüseverzehr<br />

als empfohlen) sicherlich noch steigerungsfähig, wodurch der mögliche Vorteil einer<br />

mediterranen Ernährung noch grösser ausfallen kann.<br />

Die sogenannte „Mittelmeerdiät“ mit kalt gepresstem, also ungehärtetem extra<br />

virginem Olivenöl entspricht in vielen Punkten der herzgesunden Ernährung, deren<br />

Effekte von Deghan et al [4] auf dem Boden der jüngsten Empfehlungen des Department<br />

of Nutrition der Harvard School of Public Health [5] in der kardiovaskulären<br />

Sekundärprävention nachgewiesen wurden. Wir hatten darüber ausführlich<br />

berichtet [6]. Die in der PREDIMED-Studie gewählte mediterrane Diät (Gruppe 1 +<br />

2) dürfte im Vergleich zur fettarmen Diät (Gruppe 3) bei konsequenter Anwendung<br />

gegenüber anderen Diätformen [5] noch wirksamer sein.<br />

Bedeutung<br />

für<br />

unsere<br />

Praxis<br />

Geringeres kardiovaskuläres Risiko ohne Kalorienverzicht<br />

Eine konsequente Umstellung auf mediterrane Kost bringt zusätzlich zu einer<br />

medikamentösen Therapie einen Nutzen für kardiovaskuläre Risikofälle (z.B.<br />

für Raucher, Hypertoniker, Typ-2-Diabetiker, Übergewichtige, Fälle mit familiärer<br />

kardiovaskulärer Belastung).<br />

Die mediterrane Ernährungsform ist schmackhaft, sättigend und steigert nicht<br />

das Körpergewicht. In den Studien nahmen die Probanden sogar ab.<br />

Sie zwingt nicht zu besonderem Kalorienverzicht.<br />

Hausärzte haben mit dieser Empfehlung eine durchaus wirksame nichtmedikamentöse<br />

Möglichkeit, ihre medikamentösen Maßnahmen zur Abwehr von<br />

kardiovaskulärem Risiko zu unterstützen.<br />

Wir hatten in KVH aktuell Pharmakotherapie zu der neuen Harvard-Diät<br />

berichtet [6]. Hier dürfte die mediterrane Ernährungsform besonders vom<br />

Nutzen in der kardiovaskulären Prävention sein, da sie in vielen Empfehlungen<br />

sehr ähnlich ist. Dieser übertrifft nach den Ergebnissen von Estruch et al. [1]<br />

jedenfalls den Nutzen einer fettreduzierten Ernährung.<br />

Interessenkonflikte: keine<br />

Literatur:<br />

1 Estruch R, Ros E, Salas-Salvado J, t al. for the PREDIMED-Investigators: Primary Prevention of Cardiovascular<br />

Disease with a Mediterranean Diet. (PREDIMED-Study) 2013; N Engl J Med vom 25.02.2013, doi:10.1056/<br />

NEJMoa1200303<br />

2 De Longeril M, Salem P, Martin JL, et al.: Mediterranean diet, traditional risk factors, and the rate of cardiovascular<br />

complications after myocardial infarction: final report of the Lyon Diet Heart Study. Circulation<br />

1999;99:779-785<br />

3 Kris-Etherton P, Eckel RH, Howard BV, et al.: Lyon Diet Heart Study: Benefits of a Mediterranean Style, National<br />

Colesterol Education Program / American Heart Association Step 1 Dietary. Circulation 2001;103:1823-1825,<br />

doi: 10.1161/01Cir.103.13.1823<br />

4 Deghan M, Mente A, Teo KK, et al.: Relationship Between Healthy Diet and Risk of Cardiovascular Disease<br />

Among Patients on Drug Therapies for Secundary Prevention: A Prospective Cohort Study of 31 546 High-Risk<br />

Individuals from 40 Countries. Circulation 2012;126:2705-2712,<br />

doi: 10.1161/CIRCULATIONAHA.112.103234<br />

5 Department of Nutrition. Harvard School of Public Health: The new healthy eating plate. / The healthy eating<br />

pyramid. 2005. www.thenutritionsource.org<br />

6 Ehrenthal K: Gesunde Ernährung bringt auf Dauer mehr als ACE-Hemmer und Sartane. KVH aktuell Pharmakotherapie<br />

2013;(18)1:4-6


Nr. 2 / 2013<br />

KVH • aktuell<br />

Seite 23<br />

Fluch oder Segen?<br />

Benzodiazepine und deren Analoga<br />

Der<br />

Gastbeitrag<br />

Im Jahr 1960 kam das erste Benzodiazepinpräparat mit dem Wirkstoff Chlordiazepoxid<br />

auf den Arzneimittelmarkt, 1963 folgte Diazepam. Seit Anfang der<br />

1990er Jahre sind zusätzlich die sogenannten Z-Substanzen (Zopiclon, Zolpidem,<br />

Zaleplon), die wir im Folgenden als Analoga bezeichnen, verfügbar. Während die<br />

übrigen Benzodiazepine sowie Zolpidem nur ab größeren Wirkstoffmengen der<br />

Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV) unterliegen, unterstehen<br />

Zubereitungen mit Flunitrazepam (z. B. Rohypnol ® ) seit dem 1. November 2011<br />

ohne Ausnahme allen betäubungsmittelrechtlichen Vorschriften (25. BtMÄndV).<br />

Wir erläutern die möglichen Problemfelder beim Einsatz in der Praxis und geben<br />

praktische Tipps für die Verordnung.<br />

Druck mit<br />

freundlicher<br />

Genehmigung<br />

der KV Baden-<br />

Württemberg<br />

Aus: KVBW<br />

Verordnungsforum<br />

25; Februar 2013<br />

Nebenwirkungen<br />

Bei Dauergebrauch kann es zu<br />

mnestischen Störungen, psychomotorischer<br />

Behinderung und/oder<br />

Affektverflachung kommen.<br />

Paradoxe Wirkungen sind möglich.<br />

In Kombination mit Alkohol können<br />

erhebliche Verhaltensstörungen mit<br />

Amnesie für die betreffende Zeit<br />

ausgelöst werden.<br />

Benzodiazepine können zu Missbrauch<br />

und Abhängigkeit führen [1].<br />

Wirkung<br />

Indikationsgebiet<br />

Benzodiazepine<br />

anxiolytisch, sedierend Angsterkrankungen,Erregungszustände<br />

hypnotisch<br />

Schlafstörungen<br />

muskelrelaxierend Muskelspasmen<br />

antikonvulsiv<br />

cerebrale Krampfanfälle<br />

amnestisch<br />

Prämedikation für operative Eingriffe<br />

Benzodiazepin-Analoga (Z-Wirkstoffe)<br />

hypnotisch<br />

Schlafstörungen<br />

Problemfelder beim Einsatz von Benzodiazepinen in der Praxis<br />

Oftmals werden die Benzodiazepine auch bei unspezifischen Beschwerden wie chronischen<br />

Schlafstörungen, Niedergeschlagenheit, Unausgeglichenheit, Lustlosigkeit,<br />

bei Angst- und Stresssymptomen verschrieben, wodurch eine exakte Diagnostik und<br />

eine gezielte indikationsgerechte Therapie verhindert werden. Denn die Einnahme<br />

mildert zunächst den subjektiven Leidensdruck des Patienten. Die Symptomatik wird<br />

gelindert, die zugrunde liegenden Probleme können chronifizieren. Es kann leicht<br />

ein Dauerkonsum entstehen, der Folgen haben kann:<br />

Einschränkung von Gedächtnis- und Merkfähigkeit,<br />

Muskelschwäche und Koordinationsstörungen,<br />

Gefühlsverflachung,<br />

Zunahme von Angst und Depressionen durch Verlust der hypnotischen und<br />

sedierenden Wirkung (Dauergebrauch),<br />

Gefahr der Wirkstoffkumulation bei älteren Menschen (verzögerter Abbau).<br />

Die daraus resultierenden Beeinträchtigungen können zu gefährlichen Sturzverletzungen<br />

mit komplizierten Frakturen (Schenkelhalsbruch) führen oder das Bild<br />

einer „Scheindemenz“ hervorrufen.<br />

Nach § 2 Abs. 2 Berufsordnung sind Ärzte zu einer gewissenhaften Berufsausübung<br />

verpflichtet. Darüber hinaus dürfen sie nach § 7 Abs. 8 Berufsordnung einer<br />

missbräuchlichen Anwendung ihrer Verschreibung keinen Vorschub leisten. Maßgeblich<br />

sind außerdem die Arzneimittelrichtlinien, die Fachinformationen und die<br />

Richtlinien der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten<br />

Behandlung Opiatabhängiger [1].


Seite 24 KVH • aktuell<br />

Nr. 2 / 2013<br />

Praktische Tipps zur Verordnung<br />

Um die oben genannten potentiellen Auswirkungen einer Verordnung von Benzodiazepinen<br />

zu minimieren, kann folgende Merkhilfe – die „4 K’s“ – den Einsatz<br />

klarer und sicherer gestalten.<br />

Klare Indikation<br />

Die Verordnung von Benzodiazepinen bedarf sowohl bei Kassen- als auch bei<br />

Privatpatienten einer kritisch geprüften Indikation mit klaren Therapiezielen sowie<br />

einer regelmäßigen Überprüfung. Eine Verordnung nur auf Wunsch des Patienten<br />

ist nicht möglich. Bei Befindlichkeitsstörungen und vielen somatischen Beschwerden<br />

sind mögliche zugrunde liegende psychische Belastungen abzuklären.<br />

Die Therapie mit Benzodiazepinen erfordert eine genaue Dokumentation, mit der<br />

sich die therapeutische Entscheidung nachvollziehen lässt.<br />

Korrekte Dosierung<br />

Es ist auf eine korrekte und geringstmögliche Dosierung zu achten. Besondere<br />

Vorsicht ist bei einer Dosissteigerung geboten. Besondere Gefahr droht bei der<br />

Verordnung durch mehrere Ärzte.<br />

Kurze Anwendung<br />

Nach der Arzneimittelrichtlinie ist die Anwendungsdauer von Hypnotika grundsätzlich<br />

auf vier Wochen begrenzt, wie schon in der Fachinformation hinterlegt. Von<br />

dieser Regel darf nur in medizinisch begründeten, dokumentierten Einzelfällen abgewichen<br />

werden. Eine langfristige Verordnung von Benzodiazepinen beispielsweise<br />

bei schweren psychiatrischen Erkrankungen setzt eine engmaschige, regelmäßige<br />

Überprüfung des therapeutischen Nutzens und der aufgetretenen Nebenwirkungen<br />

voraus und sollte grundsätzlich nur nach Einholen einer zweiten Meinung eines<br />

in der Suchtmedizin erfahrenen Arztes oder eines Psychiaters erfolgen. In diesem<br />

Zusammenhang sollte Wiederholungsrezepten besondere Beachtung geschenkt<br />

werden.<br />

Patienten müssen in die Entscheidungen einbezogen werden sowie über die<br />

Zweckmäßigkeit der Behandlung, über Wirkungen, Nebenwirkungen und Abhängigkeitspotentiale<br />

genau aufgeklärt werden. Das Ziel, eine Langzeitverordnung zu<br />

vermeiden, kann nur erreicht werden, wenn der Patient lernt, alternative Methoden<br />

der Problembewältigung zu entwickeln.<br />

Kein abruptes Absetzen bei hoher Dosierung und/oder längerem Gebrauch<br />

Zu diesem Thema und zum Problem der Entwöhnung werden Sie in einem der<br />

kommenden Hefte Details finden.<br />

Hypnotika/Hypnogene und Sedativa<br />

Nach Punkt 32 der Anlage III der Arzneimittel-Richtlinie [2]<br />

sind Hypnotika/Hypnogene oder Sedativa (schlaferzwingende,<br />

schlafanstoßende, schlaffördernde oder beruhigende Mittel) zur<br />

Behandlung von Schlafstörungen, nicht verordnungsfähig,<br />

ausgenommen zur Kurzzeittherapie bis zu vier Wochen,<br />

ausgenommen für eine länger als vier Wochen dauernde<br />

Behandlung in medizinisch begründeten Einzelfällen.<br />

Eine längerfristige Anwendung von Hypnotika/Hypnogenen oder<br />

Sedativa ist besonders zu begründen.<br />

Unterschied zwischen<br />

Benzodiazepinen<br />

und Analoga<br />

Als Schlaf- und Beruhigungsmittel<br />

lösten die Benzodiazepine<br />

die früher in diesem Indikationsspektrum<br />

verwendeten Barbiturate<br />

ab. Inzwischen werden<br />

sie ihrerseits wiederum häufig<br />

durch die Benzodiazepin-Analoga<br />

mit Wirkstoffen wie Zolpidem,<br />

Zopiclon und Zaleplon<br />

ersetzt.<br />

Auch für die Benzodia-


Nr. 2 / 2013<br />

KVH • aktuell<br />

Seite 25<br />

zepin-Analoga zeichnet sich ab, dass sich die Annahme eines deutlich geringeren<br />

Abhängigkeitsrisikos möglicherweise nicht aufrechterhalten lässt: Die WHO hat<br />

Zolpidem bezüglich des Missbrauchs- und Abhängigkeitsrisikos bereits den Benzodiazepinen<br />

gleichgestellt. Hier wiederholt sich, was bei neuen Arzneimitteln häufig<br />

geschieht: Die Risiken und Nebenwirkungen sind noch nicht ausreichend bekannt<br />

oder werden unterschätzt. [1]<br />

Fazit<br />

Benzodiazepine und deren Analoga sind ein Segen bei adäquater Indikationsstellung<br />

und ein Fluch bei gewohnheitsmäßiger Dauertherapie.<br />

Hinweis<br />

Dieser Text wurde in Abstimmung mit den Landesverbänden der Krankenkassen<br />

und dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) erstellt.<br />

Literatur<br />

1 Bundesärztekammer, AkdÄ (Hrsg). Medikamente – schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit. Leitfaden für die<br />

ärztliche Praxis. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 2007<br />

2 Arzneimittel-Richtlinie Anlage III Stand 1.10.2011<br />

Benzodiazepine im Sozialrecht<br />

Die Verordnung von Benzodiazepinen (oder Z-Benzodiazepinen) und Schlafmitteln ist zu Lasten der<br />

GKV eingeschränkt. Die Arzneimittel-Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses der Ärzte<br />

und Krankenkassen formulieren in der Anlage 3 folgendes:<br />

Tranquillantien sind nicht verordnungsfähig,<br />

ausgenommen zur Kurzzeittherapie bis zu 4 Wochen<br />

ausgenommen für eine länger als 4 Wochen dauernde Behandlung in medizinisch begründeten<br />

Einzelfällen.<br />

Eine längerfristige Anwendung von Tranquillantien ist besonders zu begründen.<br />

Die längerfristige Behandlung mit Benzodiazepinen beispielsweise als Schlafmittel oder Muskelrelaxanzien<br />

stellt keine evidenzbasierte Medizin dar und ist wegen der Nebenwirkungen, in erster Linie<br />

dem Abhängigkeitspotential, unbedingt zu vermeiden. Diese führt zu Einzelregressen.<br />

Eine längerfristige Benzodiazepintherapie ist medizinisch zu begründen und zu dokumentieren.<br />

Bei psychiatrischen Erkrankungen kann diese erforderlich sein. Nach der evidenzbasierten Leitlinie<br />

„Angst- und Zwangsstörungen“ der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft haben die<br />

Benzodiazepine bei Angst- und Panikstörungen einen dokumentierten Nutzen. Die Medikation sollte<br />

nach Möglichkeit nicht länger als 8 bis 12 Wochen durchgeführt werden und erst nachdem andere<br />

Arzneimitteltherapien versagt haben.<br />

Es gibt aber Einzelfälle, bei denen eine Langzeittherapie gerechtfertigt ist.<br />

In der Palliativmedizin kann ebenfalls eine Therapie über einen längeren Zeitraum erforderlich sein.<br />

Die Wirkung von Benzodiazepinen bei Zwangsstörungen ist nicht belegt.<br />

Hol


Seite 26 KVH • aktuell<br />

Nr. 2 / 2013<br />

Sicherer<br />

verordnen<br />

Dr. med.<br />

Günter Hopf<br />

Hepatotoxizität von Arzneistoffen<br />

Immer wieder müssen neue Arzneistoffe wegen hepatotoxischen UAW aus dem<br />

Handel genommen werden oder bei lange angewandten Arzneimitteln zeigt sich<br />

nach genauerer Untersuchung doch noch ein hepatotoxisches Potenzial. Grobe<br />

Einteilung einer Arzneistoff-induzierten Leberzellschädigung:<br />

Hepatozelluläre Schädigung (z.B. Isoniazid, Paracetamol)<br />

Cholestatische Schädigung (z.B. Co-Amoxiclav, Estrogene)<br />

Mischformen (z.B. Azathioprin, Phenytoine).<br />

Mindestens sechs unterschiedliche Mechanismen auf zellulärer Ebene bestimmen<br />

die Art einer Schädigung. Sofern eine Schädigung idiosynkratisch ist, kann sie weder<br />

vorhergesagt werden noch ist sie dosisabhängig. Sie treten auch so selten auf, dass<br />

sie in klinischen Studien kaum entdeckt werden. Es mehren sich die Hinweise, dass<br />

genetische Besonderheiten eines Patienten ursächlich für einen Leberschaden sein<br />

können. Der interessante Übersichtsartikel zeigt, dass grundsätzlich auf mögliche<br />

hepatotoxische UAW geachtet werden sollte.<br />

Quelle: Dtsch.Apo. Ztg. 2012; 152: 5534 – 42<br />

Zolpidem: bei Frauen Dosis verringern<br />

Für Zolpidem (Bicalm ® , Stilnox ® , Generika), einem Benzodiazepin-Analogon zur<br />

Therapie von Schlafstörungen, sollte nach einer Information der amerikanischen<br />

Arzneimittelbehörde bei Frauen generell eine Dosis von 5 mg empfohlen werden.<br />

Frauen bauen Zolpidem langsamer ab als Männer, so dass bei Frauen unter einer<br />

10 mg-Gabe am Morgen noch wirksame Blutspiegel gemessen werden konnten.<br />

Daraus könnte eine unterschwellige Beeinflussung z.B. beim Autofahren resultieren.<br />

Bei Männern sollte abgewogen werden, ob eine höhere Dosis als 5 mg notwendig<br />

ist. Cave: Nicht alle Handelspräparate in Deutschland bieten auch Tabletten in einer<br />

Wirkstärke von 5 mg an !<br />

Quellen: www.fda.gov./Safety/MedWatch, Pharm. Ztg. 2013; 158: 120<br />

Metoclopramid: Dosierungsprobleme<br />

bei der Tropfenform<br />

Metoclopramid (Gastronerton ® , Paspertin ® , Generika) wird als zentraler Dopamin-<br />

Antagonist zur Therapie bei Motilitätsstörungen und bei Übelkeit/Erbrechen eingesetzt.<br />

In der Tropfenform kommt es bei unterschiedlichen Herstellern zu unterschiedlich<br />

großen Tropfen, die bei gleicher Tropfenanzahl zu einer Unter- (bis ein<br />

Viertel weniger) oder Überdosierung (bis ein Drittel mehr) führen können. Auch die<br />

Position der Tropfflasche spielt eine Rolle: bei einem Randtropfer muss die Flasche<br />

in einem Winkel von etwa 45 Grad gehalten, bei Zentraltropfer muss die Flasche<br />

senkrecht gehalten werden, um die vorgesehen Tropfengröße zu gewährleisten<br />

(Abweichungen beim falschen Halten um 22% möglich). Bei kurzfristiger Gabe<br />

scheint das Problem wenig relevant, nicht jedoch bei chronischer Gabe bei lang<br />

andauernden Motilitätsstörungen oder bei Kindern. UAW wie Sehstörungen oder<br />

Muskelkrämpfe treten bei Kindern bereits ab 0,9 mg/kg KG auf, ab 3 mg/kg KG<br />

kommt es zu motorischen Störungen. Bei Erwachsenen können Verwirrtheit und<br />

Unruhe bis hin zum Parkinsonoid auftreten.<br />

Quelle: Dtsch. Apo. Ztg. 2012; 152: 4822-4


Nr. 2 / 2013<br />

KVH • aktuell<br />

Seite 27<br />

Tolperison: nur bei Spastizität nach<br />

Schlaganfall<br />

Die AkdÄ berichtet über eine Empfehlung der europäischen Arzneimittelagentur<br />

EMA, Tolperison (Mydocalm ® , Generika) nur noch oral zur Therapie von Spastizität<br />

nach Schlaganfall einzusetzen. In anderen Indikationen, z.B. Spastizität bei<br />

MS oder Erkrankungen der Wirbelsäule, sei eine therapeutische Wirksamkeit des<br />

Muskelrelaxans nicht ausreichend belegt. Darüber hinaus sei das Risiko von Hypersensitivitätsreaktionen<br />

höher als vorher angenommen. Patienten müssen über die<br />

entsprechenden Überempfindlichkeitsymptome aufgeklärt werden, da bei Auftreten<br />

die Therapie mit Tolperison sofort unterbrochen werden muss. Die EMA empfiehlt<br />

einen generellen Stopp der Injektionsform von Tolperison: diese Darreichungsform<br />

ist bei uns jedoch nicht im Handel.<br />

Quelle: AkdÄ Drug Safety Mail 1012-211<br />

Sicherer<br />

verordnen<br />

Dr. med.<br />

Günter Hopf<br />

Albumin, HES oder Kristalloide zur<br />

Volumensubstitution?<br />

Zwei kommentierte Zusammenfassungen von Originalarbeiten lassen die Gabe<br />

von Albumin oder HES (Hydroxyaethylstärke) in der Intensivmedizin fragwürdig<br />

erscheinen.<br />

Albumin zeigte keine Überlegenheit bei kritisch kranken Patienten: sowohl bei<br />

Schock, nach ausgedehnten Verbrennungen oder klinisch bedeutsamen Hypoproteinämien<br />

war das relative Mortalitätsrisiko unter Albumin-Infusionen erhöht. Da<br />

zur Zeit noch Studien zum Einsatz von Humanalbumin durchgeführt werden, bleibt<br />

offen, ob sich für bestimmte Populationen noch ein Vorteil herausstellen wird.<br />

HES verursachte bei Patienten mit Sepsis in zwei Studien im Vergleich zu Kristalloiden<br />

eine erhöhte Sterblichkeit und eine erhöhte Rate an akutem Nierenversagen,<br />

in einer dritten Studie war die 90-Tage-Mortalität zwar gleich, die unerwünschten<br />

Wirkungen von HES bis hin zum Nierenversagen jedoch erhöht. Die europäische<br />

Zulassungsbehörde hat Ende 2012 angekündigt, das Nutzen-Risiko-Verhältnis von<br />

HES-Lösungen zu überprüfen.<br />

Grundsätzlich sollten derzeit sowohl Albumin als auch HES nur nach sorgfältigem<br />

Abwägen eingesetzt werden.<br />

Quellen: Dtsch.med.Wschr, 2013; 138: 14 und 66<br />

Cyproteronazetat: tödliche<br />

thromboembolische Ereignisse<br />

Cyproteronazetat wird in Kombination mit Ethinylestradiol (Diane ® ) zur Therapie<br />

ausgeprägter Formen von Akne verordnet, als „Nebenwirkung“ hat das Präparat<br />

auch eine empfängnisverhütende Wirkung. In Frankreich soll das Arzneimittel aufgrund<br />

zahlreicher aufgetretener Thromboembolien und nach einigen Todesfällen<br />

innerhalb von 3 Monaten vom Markt genommen werden. Eine Erhöhung thromboembolischer<br />

Ereignisse unter oralen Kontrazeptiva ist lange bekannt – insbesondere<br />

Rauchen und Übergewicht erhöhen das Risiko. Derzeit wird von der europäischen<br />

Überwachungsbehörde EMA überprüft, ob zur Therapie von Akne Diane ® unverzichtbar<br />

ist. Ebenfalls geprüft wird die Sicherheit der Kontrazeptiva der dritten und<br />

vierten Generation.<br />

Quellen: www.aerzteblatt.de/nachrichten/53214, Pharm. Ztg. 2013; 158: 107


Seite 28 KVH • aktuell<br />

Nr. 2 / 2013<br />

Sicherer<br />

verordnen<br />

Dr. med.<br />

Günter Hopf<br />

Carbamazepin: genetische Varianten<br />

und schwere Hautreaktionen<br />

Schon seit Jahren ist bekannt, dass unerwünschte Wirkungen (UAW) bei bestimmten<br />

genetischen Konstellationen vermehrt auftreten können. Schwere Hautreaktionen<br />

wie das Stevens-Johnson Syndrom (SJS) oder die toxische epidermale Nekrolyse<br />

(TEN) unter einer Therapie mit Carbamazepin (Tegretal ® , Generika) sind assoziiert<br />

mit bestimmten Allelen von humanen Leukozytenantigenen (HLA). Bei Trägern<br />

des HLA-A*3101 (Europa 2 bis 5%, Japan 10% der Bevölkerung) kann das Risiko<br />

schwerer Hautreaktionen von 5% in der Allgemeinbevölkerung auf 26% steigern.<br />

Die Erkenntnisse sind jedoch noch begrenzt, so dass eine Bestimmung des Trägerstatus<br />

derzeit noch nicht generell empfohlen wird. Bei Trägern des HLA-B*1502<br />

sollte jedoch eine Genotypisierung für Han-Chinesen und Personen thailändischer<br />

Herkunft durchgeführt werden (bei Europäern kommt HLA-B*1502 nicht vor), da<br />

eine Therapie mit Carbamazepin nicht begonnen werden sollte..<br />

Quelle: Pharm. Ztg. 2013; 158: 106<br />

„Pille danach“<br />

Die deutsche Gesellschaft für Gynäkologische Endokrinologie und Fortpflanzungsmedizin<br />

(DGGEF) hat zur Notfallkontrazeption eine gemeinsame Stellungnahme<br />

mit dem Berufsverband der Frauenärzte verfasst. Darin werden die verschiedenen<br />

Möglichkeiten einer Notfallkontrazeption neutral zusammengefasst.<br />

Primär [1] wird die Gabe von 30 mg Ulipristal (ellaOne ® ) empfohlen, sekundär die<br />

von 1,5 mg Levonorgestrel (PiDaNa ® ). Beide Arzneistoffe sind in den angegebenen<br />

Dosen nicht implantationshemmend oder abortiv, wirken jedoch nicht zu 100%<br />

(abhängig z.B. von der vergangenen Zeit und auch vom Körpergewicht). Sie erfordern<br />

einen Schwangerschaftstest, wenn die Menstruation eine Woche nachdem<br />

erwarteten Zeitpunkt noch nicht eingesetzt hat oder schwächer als üblich ausfällt.<br />

Als eine zu 99% sichere Verhütung wird die Einlage eines zugelassenen Kupfer-<br />

IUD (z.B. GyneFix ® ) empfohlen, die Spirale wirkt über eine Implantationshemmung.<br />

Medizinisch zählen Spiralen zu den Verhütungsmethoden (im Gegensatz zu einem<br />

Schwangerschaftsabbruch mit Mifepriston, Mifegyne ® ).<br />

Quelle: www.seminarbuch-gyn-endo.de<br />

1 Anmerkung: In einer pharmakritischen Zeitschrift wird noch 2010 angezweifelt<br />

(und diese Zweifel gegen eine Beschwerde des Herstellers verteidigt), dass Ulipristal<br />

primär angewandt werden sollte.<br />

Quelle: Prescrire internat. 2010; 19: 53 ff und 265-6<br />

Ulipristal: Wirklich besser als Levonorgestrel?<br />

Auch das arznei-telegramm (at) hat sich mehrfach und ausführlich mit Ulipristal<br />

auseinandergesetzt, zuletzt aufgrund der Anfrage eines Lesers in Jg. 44 (2013),<br />

Heft Nr.2, Seite 21. Auch in diesem aktuellen Beitrag zum Thema bleibt das<br />

Fazit kritisch. Sinngemäß schreibt das at: Während der ersten 72 Stunden<br />

nach ungeschütztem Geschlechtsverkehr ist die Überlegenheit von Ulipristal<br />

gegenüber Levonorgestrel nicht bewiesen. Ulipristal kommt allenfalls an Tag<br />

4 und 5 nach ungeschütztem Geschlechtsverkehr in Betracht.


Nr. 2 / 2013<br />

KVH • aktuell<br />

Seite 29<br />

Zweckmäßige medikamentöse<br />

Therapie der Osteoporose<br />

Fachgruppen, die viele Osteoporose-Patienten behandeln, riskieren Regressforderungen,<br />

wenn sie unkritisch teure Antiosteoporotika verordnen. Der folgende<br />

Artikel soll die zweckmäßige Auswahl eines geeigneten Arzneimittels und damit<br />

eine wirtschaftliche Therapie unterstützen. Grundsätzlich ist eine frühzeitige Diagnosestellung<br />

bei der Osteoporose wichtig, denn hier werden in der Regel keine<br />

klinischen Beschwerden behandelt. Es wird vielmehr durch eine zweckmäßige<br />

Arzneimitteltherapie versucht, klinische Endpunkte (zum Beispiel Wirbelbruch,<br />

Femurfraktur) zu verhindern.<br />

Basistherapie (Vitamin D plus Kalzium)<br />

Ernährungsmedizinisch wird im Erwachsenenalter eine Gesamtaufnahme von 600<br />

bis 1500 mg/d Kalzium (über Ernährung, Flüssigkeitskonsum und Supplementation)<br />

empfohlen [48]. Neuesten Erkenntnissen zufolge ist eine kalziumreiche Diät nicht<br />

mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko assoziiert [9, 10, 37, 39].<br />

Wenn Kalzium supplementiert werden soll, dann erfolgt dies immer in Kombination<br />

mit Vitamin D. Empfohlen wird eine Aufnahme von 800 bis 2.000 IE /d<br />

Vitamin D [2, 4, 17, 29]. Auch für die Kombinationsbehandlung mit Kalzium und<br />

Vitamin D gibt es bei Osteoporosepatienten keinen Hinweis auf eine erhöhte Mortalität<br />

[35, 41].<br />

Bei gravierenden Risikofaktoren und ohne Vorliegen osteoporotischer Brüche ist<br />

bei normaler (T-Wert > -1) oder osteopenischer Knochendichte (T-Wert -1 bis -2,5)<br />

eine Basistherapie mit Kalzium und Vitamin D zweckmäßig [17].<br />

Spezifische medikamentöse Therapie<br />

Die Indikation zur Behandlung einer primären Osteoporose mit einem spezifischen<br />

Antiosteoporotikum zusätzlich zur Basistherapie (siehe oben) wird anhand des individuellen<br />

Risikoprofils unter Berücksichtigung von Knochendichte (T-Wert), Alter<br />

und Geschlecht gestellt (Tabelle 1). Bei einem 10-Jahres-Wirbelkörperfrakturrisiko<br />

≥ 30 % liegt eine solche Indikation vor [17].<br />

Der<br />

Gastbeitrag<br />

Druck mit<br />

freundlicher<br />

Genehmigung<br />

der KV Baden-<br />

Württemberg<br />

Aus: KVBW<br />

Verordnungsforum<br />

25; Februar 2013<br />

Cave,<br />

Regressgefahr:<br />

Niedrige<br />

Vitamin-D-<br />

Spiegel im<br />

Serum rechtfertigen<br />

kein<br />

Kassenrezept<br />

für Vitamin D!<br />

Kassen-Verordnung von Kalzium und Vitamin D<br />

Die Verordnungsfähigkeit verschreibungsfreier Kalzium- und Vitamin-D-Präparate ist verbindlich<br />

in der Arzneimittel-Richtlinie Anlage I (OTC-Ausnahmeliste) geregelt. Kalziumverbindungen (mind.<br />

300 mg Kalzium-Ion/Dosiereinheit) und Vitamin D (freie oder fixe Kombination) sind bei folgenden<br />

Indikationen zulasten der GKV verordnungsfähig:<br />

zur Behandlung der manifesten Osteoporose (Osteoporose mit Fraktur ohne adäquates<br />

Trauma),<br />

zeitgleich zur Glukokortikoid-Therapie bei Erkrankungen, die voraussichtlich einer mindestens<br />

sechsmonatigen Therapie mit mindestens 7,5 mg/d Prednisolonäquivalent bedürfen,<br />

bei Bisphosphonat-Behandlung gemäß Angabe in der jeweiligen Fachinformation bei zwingender<br />

Notwendigkeit.<br />

Eine primärprophylaktische Basistherapie kann auch dann medizinisch sinnvoll sein, wenn keine<br />

Leistungspflicht der GKV besteht, zumal alle zulassungsrelevanten Osteoporosetherapiestudien auf<br />

der Basis einer Kalzium-Vitamin-D-Basistherapie durchgeführt wurden.<br />

Hochdosierte, verschreibungspflichtige Vitamin-D-Präparate haben in der Regel bei der Therapie<br />

der Osteoporose keine Verwendung, sondern sind vorrangig für schwere Vitamin-D-Mangelernährungszustände<br />

als Initialtherapie zugelassen.


Seite 30 KVH • aktuell<br />

Nr. 2 / 2013<br />

Tabelle 1: Schwellenwerttabelle der DVO-Leitlinien zur Indikationsstellung für eine spezifische medikamentöse Therapie der Osteoporose<br />

Lebensalter<br />

in Jahren<br />

T-Wert (Nur anwendbar auf DXA-Werte. Die Wirksamkeit einer medikamentösen<br />

Therapie ist bei T-Werten > -2,0 nicht belegt)<br />

Frau Mann -2,0 bis -2,5 -2,5 bis -3,0 -3,0 bis -3,5 -3,5 bis -4,0 < -4,0<br />

50 – 60 60 – 70 Nein Nein Nein Nein Ja<br />

60 – 65 70 – 75 Nein Nein Nein Ja Ja<br />

65 – 70 75 – 80 Nein Nein Ja Ja Ja<br />

70 – 75 80 – 85 Nein Ja Ja Ja Ja<br />

> 75 > 85 Ja Ja Ja Ja Ja<br />

Zusätzliche Risikofaktoren (Glukokortikoid-Therapie, Immobilität, Kurzdarmsyndrom)<br />

können eine Anhebung der Therapiegrenze bedingen und somit eine<br />

„frühzeitigere“ Therapie begründen, als es allein aufgrund von Alter und T-Wert<br />

erforderlich wäre. Bei einer oralen Glukokortikoid-Dauerbehandlung von ≥ 7,5 mg/d<br />

Prednisolonäquivalent über voraussichtlich mehr als drei Monate ist altersunabhängig<br />

bereits bei einem T-Wert ≤ -1,5 ein spezifisches Antiosteoporotikum indiziert.<br />

Bei T-Werten ≤ -2,0 und osteoporotischen Frakturen ist von vornherein eine spezifische<br />

medikamentöse Therapie indiziert.<br />

Es stehen Substanzen zur Verfügung, die alle eine A-Klassifizierung in den gängigen<br />

Leitlinien besitzen (= in randomisierten kontrollierten Studien nachgewiesene<br />

präventive Wirkung zumindest auf Wirbelkörperfrakturen) [2, 17]. Sie sind in der<br />

Tabelle 2 auf der gegenüberliegenden Seite aufgelistet.<br />

Östrogene haben ebenfalls eine nachgewiesene frakturpräventive Wirkung [31,<br />

51]. Nach heutigem Kenntnisstand erhöhen sie allerdings das Risiko für eine Reihe<br />

von Erkrankungen (zum Beispiel Thromboembolie, Myokardinfarkt, Schlaganfall,<br />

Mamma-/Uteruskarzinom, Alzheimer-Demenz) [30, 42], weshalb sie derzeit nicht<br />

zur Osteoporosebehandlung eingesetzt werden, sofern nicht gravierende Östrogendefizit-bedingte<br />

Beschwerdebilder im Rahmen der Postmenopause vorliegen.<br />

Vom Wirkmechanismus wird unterschieden zwischen vorwiegend antiresorptiven<br />

(Bisphosphonate, Denosumab, Raloxifen, Östrogene), anbaustimulierenden (Parathormon-Präparate)<br />

und kombiniert wirkenden Arzneimitteln (Strontiumranelat).<br />

Die Frage nach der Auswahl des patientenindividuell „idealen“ Antiosteoporotikums<br />

wird immer wieder zu Recht gestellt. Hierzu muss zunächst festgehalten werden,<br />

dass es direkte (Head-to-Head-)Vergleichsstudien zu Osteoporosetherapien mit<br />

Frakturendpunkten nicht gibt.<br />

Evidenzbasierte Therapie/Leitlinien<br />

Eine zweckmäßige medizinische Therapie (und ebenso Diagnostik)<br />

ist evidenzbasiert, nachhaltig und wirtschaftlich. Jedoch wird nicht<br />

jede Patientenkonstellation von der DVO-Leitlinie erfasst (Patienten<br />

unter 50 Jahren, Patienten mit juveniler Osteoporose). In diesen<br />

Fällen ist ein begründetes, risikoadaptiertes Vorgehen zweckmäßig<br />

und mit dem Leistungsträger abzustimmen.<br />

Darüber hinaus ist zu beachten, dass leitlinienkonforme Therapien<br />

nicht automatisch leistungsrechtliche Relevanz haben.<br />

Näherungsweise werden deshalb<br />

Wirkstärkenvergleiche anhand<br />

von Metaanalysen angestrebt<br />

[22, 38, 40], die jedoch<br />

nicht immer zu konsistenten<br />

Ergebnissen führen. Eventuelle<br />

Wirkstärkenunterschiede als Ergebnis<br />

von Metaanalysen sind<br />

daher ohne konkurrierende<br />

Vergleichsstudien nicht ausreichend<br />

belastbar und damit


Nr. 2 / 2013<br />

KVH • aktuell<br />

Seite 31<br />

Tabelle 2: Dosierungen, Darreichungsformen, zugelassene Indikationen und Jahrestherapiekosten von Osteoporose-Arzneimitteln<br />

mit hohem Evidenzniveau<br />

Wirkstoff Präparat Dosierung Darreichungsform<br />

Alendronsäure<br />

Risedronsäure<br />

Ibandronsäure<br />

Zoledronsäure<br />

Raloxifen<br />

PMO Mann GIO Jahrestherapiekosten<br />

Alendronsäure-<br />

Generika<br />

Alendronsäure-<br />

Generika<br />

10 mg/Tag Tablette 240,41 € –<br />

290,08 €<br />

70 mg/Woche<br />

Tablette 151,40 € –<br />

203,97 €<br />

Tevanate ® 10 mg/Tag Tablette 290,08 €<br />

Tevanate ®<br />

70 mg/Woche<br />

Tablette 198,84 €<br />

Fosamax ® 10 mg/Tag Tablette 290,08 €<br />

Fosamax ®<br />

70 mg/Woche<br />

Risedronsäure-<br />

Generika<br />

Risedronsäure-<br />

Generika<br />

35 mg/<br />

Woche<br />

2 x 75 mg/<br />

Monat<br />

Tablette 290,37 €<br />

Filmtablette 208,11 € –<br />

328,12 €<br />

Filmtablette 238,72 € –<br />

323,16 €<br />

Actonel ® 5 mg/Tag Filmtablette 1 1 331,52 €<br />

Actonel ®<br />

Actonel ®<br />

Bonviva ® 150<br />

mg Filmtabletten<br />

Ibandronsäure-<br />

Generika (Filmtabletten)<br />

Ibandronsäure-<br />

Generika Fertigspritzen)<br />

Bonviva ® 3 mg<br />

Injektionslösung<br />

Aclasta ® 5 mg<br />

Infusionslösung<br />

Raloxifen HCl<br />

Hexal<br />

35 mg/<br />

Woche<br />

2 x 75 mg/<br />

Monat<br />

150 mg/<br />

Monat<br />

150 mg/<br />

Monat<br />

3 mg/<br />

Quartal<br />

3 mg/<br />

Quartal<br />

5 mg/Jahr<br />

i.v.-Infusion<br />

Filmtablette 328,12 €<br />

Filmtablette 328,92 €<br />

Filmtablette 239,20 € –<br />

384,64 €<br />

Filmtablette 328,92 €<br />

i.v.-Injektion 423,48 € –<br />

479,16 €<br />

i.v.-Injektion 563,72 €<br />

547,65 €<br />

60 mg/Tag Filmtablette 504,18 €<br />

Evista ® , Optruma ® 60 mg/Tag Filmtablette 618,75 €<br />

Strontiumranelat Protelos ® 2 g/Tag p.o.-Suspension<br />

Denosumab Prolia ® 60 mg/<br />

Halbjahr<br />

599,79 €<br />

s.c.-Injektion 2 622,82 €<br />

Parathormon (PTH 1-84) Preotact ® 100 μg/Tag s.c.-Injektion 7.674,38 €<br />

Teriparatid (PTH 1-34) Forsteo ® 20 μg/Tag s.c.-Injektion 8.071,37 €<br />

Datengrundlage: Lauer-Taxe (Stand: 01.12.2012), größte verfügbare Packung (für Einzelverordnungen), Originalhersteller (kein Reimporteur)<br />

PMO: Zulassung für die Behandlung der postmenopausalen Osteoporose<br />

Mann: Zulassung für die Behandlung der männlichen Osteoporose<br />

GIO: Zulassung für die Behandlung der Glukokortikoid-induzierten Osteoporose bei Frauen und Männern (sofern nicht anders angegeben)<br />

1 Zulassung nur bei Frauen<br />

2 nur im Zusammenhang mit antiandrogener Therapie bei Patienten mit Prostatakarzinom


Seite 32 KVH • aktuell<br />

Nr. 2 / 2013<br />

nicht relevant für eine Priorisierung der Substanzverordnung, so dass die Auswahl<br />

eines geeigneten Arzneimittels anhand der individuellen Patientenkonstellation<br />

(Risikoprofil, Kontraindikationen, Begleiterkrankungen, Unverträglichkeiten) und<br />

der Kosten getroffen werden muss [40].<br />

Beginn einer spezifischen medikamentösen Osteoporosetherapie<br />

Die Einleitung einer Antiosteoporosetherapie erfolgt stets mit einer Basistherapie<br />

plus einem oralen Bisphosphonat [2]. Hierbei muss überprüft werden:<br />

die Verträglichkeit der Substanz,<br />

die Einhaltung einer strikt regelmäßigen Einnahme unter Beachtung des<br />

Einnahmemodus (nüchtern, 30 bis 60 Minuten vor dem Frühstück mit einem<br />

großen Glas Wasser in aufrechter Position),<br />

die Vermeidung einer gleichzeitigen Einnahme von Kalziumpräparaten (cave:<br />

Komplexbildung zwischen Kalzium und Bisphosphonat).<br />

Für den Beginn einer gezielten Therapie mit Alendronsäure oder Risedronsäure (vergleiche<br />

Leitsubstanzen gemäß der Arzneimittel-Vereinbarung Baden-Württemberg<br />

2013, Seite 4) sprechen das breite zugelassene Indikationsspektrum, die orale Darreichungsform,<br />

bekannte Langzeitwirkungen und wirtschaftliche Gründe (Kosten,<br />

Verfügbarkeit generischer Präparate).<br />

Zweckmäßiger Algorithmus zur Einleitung einer<br />

medikamentösen Therapie der primären Osteoporose<br />

Orales Bisphosphonat plus orale Kalzium-Vitamin-D-Basistherapie*<br />

Unverträglichkeit, Malassimilation, fragliche Compliance<br />

Bisphosphonat i.v. (statt oral) plus orale Basistherapie<br />

Unverträglichkeit, Kreatinin-Clearance


Nr. 2 / 2013<br />

KVH • aktuell<br />

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Off-Label-Use<br />

Für eine mögliche Kostenübernahme durch die Krankenkasse müssen folgende drei Voraussetzungen<br />

erfüllt sein:<br />

Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung,<br />

keine Therapiealternativen,<br />

begründete Aussicht auf Therapieerfolg.<br />

Die Haftungsproblematik des Off-Label-Use bleibt von einer Kostenübernahme durch die GKV<br />

unberührt.<br />

Ein intravenöses Bisphosphonat ist gerechtfertigt bei<br />

zeitlich eindeutig assoziierbaren gastrointestinalen Unverträglichkeitsreaktionen<br />

unter oraler Bisphosphonat-Therapie,<br />

Bettlägerigkeit,<br />

Malassimilation (zum Beispiel M. Crohn, Colitis ulcerosa, Pankreasinsuffizienz),<br />

eingeschränkter Compliance unter oraler Bisphosphonat-Therapie [46].<br />

Vorhofflimmern ist keine Kontraindikation für Bisphosphonate, ebenso wenig wie<br />

eine kürzliche Fraktur, eine endoprothetische oder erfolgte zahnärztliche Versorgung<br />

[3, 15]. Zahnärztliche Eingriffe, die den Kieferknochen betreffen (Zahnextraktionen,<br />

Wurzelspitzenresektionen, parodontalchirurgische Maßnahmen, Wurzelkanalbehandlungen),<br />

sollten zuerst durchgeführt werden und abheilen, bevor wenige<br />

Wochen später mit der Bisphosphonat-Therapie begonnen wird (eine Basistherapie<br />

kann sofort initiiert werden). Geringfügige zahnärztliche Beschwerden, die nur eine<br />

Behandlung der Zähne erfordern (Kariesbehandlung, Zahnreinigung), können jederzeit<br />

durchgeführt werden, völlig unabhängig von jeder Osteoporosebehandlung.<br />

Bei Bisphosphonat-Unverträglichkeit oder fragwürdiger Wirksamkeit (trotz guter<br />

Compliance keine Abnahme der Frakturhäufigkeit in den ersten ein bis zwei Jahren<br />

der Behandlung) können alternativ bei Frauen Denosumab, Strontiumranelat,<br />

Raloxifen und Parathormon-Präparate sowie bei Männern Strontiumranelat und<br />

Teriparatid eingesetzt werden (siehe „Substanzwechsel“). Denosumab und 1-84-Parathormon<br />

können ebenfalls pharmakologisch sinnvoll sein, sind bei Männern mit<br />

primärer Osteoporose jedoch nicht zugelassen (vergleiche obenstehenden Kasten<br />

„Off-Label-Use“).<br />

Antiosteoporotische Kombinationstherapien (z. B. Bisphosphonat plus Parathormon)<br />

zusätzlich zur Basistherapie sind nicht zweckmäßig, da keine additiven Wirkungen<br />

auf die Senkung des Frakturrisikos belegt sind [5, 19, 20].<br />

Substanzwechsel<br />

Die Konstanz der Knochendichte ist ein realistisches Ziel einer medikamentösen<br />

Osteoporosetherapie (in den Zulassungsstudien werden in der Regel Knochendichtezunahmen<br />

zwischen drei und acht Prozent in den ersten drei Jahren der Behandlung<br />

beobachtet). Trotz konstanter oder sogar leicht abfallender Knochendichte<br />

unter einem Bisphosphonat sinkt das Frakturrisiko über den üblichen dreijährigen<br />

Therapiezeitraum [14, 23, 49].<br />

Dennoch ist eine Fraktur trotz Therapie kein zwingender Grund für einen Substanzwechsel<br />

bei einer neu initiierten oder erst ein bis zwei Jahre laufenden und<br />

gut verträglichen medikamentösen Osteoporosebehandlung ohne relevante


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Abnahme der Knochendichte.<br />

Nimmt die Knochendichte unter einer gut verträglichen Behandlung nach ein bis<br />

zwei Jahren an der LWS oder im Gesamtfemurbereich signifikant um mehr als drei<br />

Prozent des DXA-Absolutwerts in g/cm² pro Jahr ab (sogenannte progrediente Osteoporose)<br />

[36, 43] oder treten mindestens zwei Frakturen ohne relevantes Trauma<br />

auf, ist zunächst<br />

1. die Zuverlässigkeit der Knochendichteverlaufsmessung (Gerätewechsel?<br />

Lagerungsfehler?),<br />

2. die Diagnose primäre Osteoporose und<br />

3. auch die Compliance des Patienten zu prüfen.<br />

Treten nach (nicht während) 18-monatiger konsequenter Behandlung mit einem<br />

Bisphosphonat oder einem anderen Antiosteoporotikum einschließlich Basistherapie<br />

mindestens zwei Osteoporose-assoziierte Knochenbrüche auf, kann nach Überprüfung<br />

(und gegebenenfalls Beseitigung) eventueller Sturzrisiken (neurologisch<br />

bedingte Stürze, Einnahme von Tranquillantien, Sehfehler) ein Substanzwechsel<br />

zweckmäßig sein. Grundsätzlich erscheint der Wechsel auf ein Präparat mit anderem<br />

Wirkmechanismus sinnvoll, also beispielsweise von Bisphosphonat zu Strontiumranelat<br />

(vgl. Abschnitt „Spezifische medikamentöse Therapie“ auf Seite 29).<br />

Eine Parathormon-Therapie kann insbesondere bei der Glukokortikoid-induzierten<br />

Osteoporose erwogen werden, wenn trotz ein- bis zweijähriger Behandlung mit<br />

einem antiresorptiven Präparat eine Progredienz der Osteoporose vorliegt [34].<br />

Spezifische Aspekte der medikamentösen<br />

Differentialtherapie der Osteoporose<br />

Strontiumionen werden teilweise in das Kristallgitter der anorganischen Knochensubstanz<br />

eingelagert und verursachen einen um fast 50 Prozent falsch hohen<br />

Knochendichtezuwachs (der also nicht neuer Knochensubstanz entspricht), was<br />

bei der osteodensitometrischen Einschätzung des Therapieerfolges zu berücksichtigen<br />

ist. Bei Patienten, die schon einmal ein Arzneimittelexanthem hatten oder<br />

eine Hautrötung unter Strontiumranelat bemerken, sollte dieses Arzneimittel nicht<br />

verabreicht werden.<br />

Strontiumranelat und Raloxifen sind bei bereits aufgetretenen Thromboembolien<br />

kontraindiziert. Wegen der Erhöhung des Thromboembolie-Risikos sollten diese<br />

Arzneimittel auch nicht bei adipösen oder Tumor-Patienten eingesetzt werden.<br />

Allerdings kann Raloxifen bei Patientinnen mit gleichzeitigem östrogenrezeptorpositiven<br />

Mammakarzinom günstig sein, kann aber andererseits Postmenopause-<br />

Beschwerden auslösen oder verstärken.<br />

Denosumab kann bei einer Kreatinin-Clearance ≤ 35 ml / min oder bei Bisphosphonat-Unverträglichkeit<br />

verabreicht werden. Bei Patienten mit immunsuppressiver<br />

Therapie oder bei Autoimmunerkrankungen sollte dieser Antikörper bis zum Vorliegen<br />

entsprechender Studien nicht eingesetzt werden [16, 32].<br />

Der Wechsel auf ein Parathormon-Präparat kann sinnvoll sein, wenn trotz ein- bis<br />

zweijähriger konsequenter Pharmakotherapie einer primären Osteoporose mehrere<br />

neue Knochen- oder Wirbelbrüche aufgetreten sind (siehe „Substanzwechsel“)<br />

[27]. Bei manifester Glukokortikoidinduzierter Osteoporose mit mehreren Knochenbrüchen<br />

kann auch der primäre Parathormon-Einsatz zweckmäßig sein, wobei<br />

die Therapie immer nach maximal zwei Jahren beendet und kein zweites Mal<br />

durchgeführt wird.


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Seite 35<br />

Anschließende Therapien mit Bisphosphonaten nach einer Parathormon-Therapie<br />

zeigen positive Wirkungen auf die Knochendichteverläufe, ohne dass jedoch eine<br />

weitere Reduktion des Frakturrisikos belegt ist [6, 13].<br />

Gegenüber Bisphosphonaten wurde keine stärkere frakturrisikosenkende Wirkung<br />

des rund 35-mal teureren Teriparatids nachgewiesen [27]. Zu den leistungsrechtlichen<br />

Aspekten einer Teriparatid-Verordnung gibt die Arzneimittel-Richtlinie<br />

in Anlage IV konkrete Therapiehinweise [24]. Demnach ist Teriparatid zur Behandlung<br />

der manifesten Osteoporose bei postmenopausalen Frauen nur Mittel<br />

der zweiten Wahl. Die Verordnung bleibt folgenden Ausnahmefällen vorbehalten:<br />

nur bei manifester Osteoporose mit mindestens zwei neuen Frakturen in den<br />

letzten 18 Monaten (die beispielsweise nach initialer ein- bis zweijähriger<br />

Bisphosphonat-Therapie auftreten)<br />

und<br />

bei keinem ausreichenden Ansprechen auf eine direkte und adäquate Vorbehandlung<br />

über mindestens 1 Jahr (z. B. mit einem Bisphosphonat) oder<br />

nach Absetzen des Bisphophonats oder anderer Antiosteoporotika aufgrund<br />

von Unverträglichkeiten (ösophageale Ulcera, Erosionen, Strikturen oder entsprechende<br />

schwere gastrointestinale Symptome) oder<br />

bei Kontraindikationen oder Unverträglichkeiten gegenüber Raloxifen.<br />

Bei malignen Grunderkrankungen, schwerer Niereninsuffizienz oder Kindern/<br />

Jugendlichen sind Parathormon-Präparate kontraindiziert.<br />

Wirkdauer der Antiosteoporotika<br />

Bisphosphonate akkumulieren als potente Chelatbildner mit hoher Affinität zur<br />

anorganischen Knochensubstanz und wirken daher häufig auch noch Jahre nach<br />

Absetzen antiresorptiv auf den Knochenstoffwechsel [45]. Auch Strontiumranelat<br />

bleibt nach Therapieende viele Monate im Knochen gespeichert [21].<br />

Die Wirkung der Parathormon-Präparate, von Denosumab und von Raloxifen auf<br />

die Knochendichte klingen hingegen innerhalb von wenigen Monaten ab, so dass<br />

die in der Regel nach zwei- oder dreijähriger Therapie angestiegene Knochendichte<br />

innerhalb eines Jahres wieder auf das Ausgangsniveau abfällt, wobei die Bedeutung<br />

dieses Abfalls nach Therapieende für das Frakturrisiko unklar ist [6, 11, 32].<br />

Behandlungsdauer, Behandlungspause<br />

und Knochendichteverlaufskontrollen<br />

Die übliche Behandlungsdauer mit einem spezifischen Antiosteoporotikum beträgt<br />

in der Regel drei bis fünf Jahre (Parathormon-Präparate: maximal zwei Jahre); die<br />

Basistherapie soll danach weitergeführt werden. Ob antiosteoporotische Therapien<br />

über fünf Jahre hinaus noch den frakturpräventiven Nutzen weiter signifikant und<br />

klinisch relevant erhöhen, ist nicht erwiesen [12, 48]. Zudem sind auch mögliche<br />

Behandlungsrisiken verstärkt zu bedenken.<br />

Die sehr seltenen Komplikationen wie Kiefernekrosen, atypische Femurschaftfrakturen<br />

oder Ösophaguskarzinome scheinen mit Dauer und Dosis der Therapie<br />

assoziiert zu sein [1, 18, 25, 28, 33, 47, 50, 52]. Allerdings können die Kiefernekrosen<br />

bei entsprechender Risikokonstellation (Parodontitis, Prothesendruckstellen,<br />

Immunsuppression) auch ohne Bisphosphonat-Therapie auftreten [7]. Bei den<br />

atypischen Femurschaftfrakturen scheint es sich um ein sporadisches Ereignis ohne<br />

gesicherten pathophysiologischen Bezug zu einer langjährigen Bisphosphonat-<br />

Therapie zu handeln [8]. Langzeiterfahrungen über mehr als 20 Jahre wie bei


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den Bisphosphonaten liegen naturgemäß für die neueren Antiosteoporotika noch<br />

nicht vor, wobei Kiefernekrosen unter hochdosiertem Denosumab bisher nur bei<br />

onkologischen Patienten beobachtet wurden [26].<br />

Knochendichteverlaufskontrollen zur Therapieüberwachung erscheinen bei oraler<br />

Antiosteoporotikatherapie alle ein bis zwei Jahre, bei intravenöser Therapie alle zwei<br />

Jahre und während einer Therapiepause jährlich (erstmalig bereits 9 bis 12 Monate<br />

nach Therapieende) sinnvoll.<br />

Die Wiederaufnahme einer Osteoporosebehandlung sollte reevaluiert werden<br />

bei einem neuerlichen signifikanten Knochendichteabfall von > 3 % des DXA-<br />

Absolutwerts in g/cm² pro Jahr (LWS oder Gesamtfemurbereich),<br />

bei mehr als zwei neuen Frakturen ohne gravierende Traumata oder<br />

bei anderen neu oder wieder aufgetretenen Risikofaktoren (Glukokortikoid-<br />

Dauertherapie, Organtransplantation mit Immunsuppression, Aromatasehemmer-<br />

oder Antiandrogen-Therapie).<br />

Bedeutung<br />

für<br />

unsere<br />

Praxis<br />

Fazit<br />

Die Indikation für eine antiosteoporotische Therapie erfolgt nach dem Risikoprofil,<br />

das die Kriterien T-Wert, Alter, Geschlecht und eine Reihe von möglichen<br />

Risikofaktoren berücksichtigt (siehe DVO-Leitlinie).<br />

Leitsubstanzen innerhalb der Bisphosphonate (Therapieoption der ersten<br />

Wahl) sind Alendronsäure und Risedronsäure.<br />

Da es zwischen den Osteoporotika mit Evidenzklasse A keine belegten Wirkunterschiede<br />

hinsichtlich der Frakturrisikoreduktion gibt, erfolgt die Auswahl<br />

anhand individueller Kontraindikationen, Begleiterkrankungen oder Unverträglichkeiten<br />

sowie nach ökonomischen Gesichtspunkten.<br />

Ein Substanzwechsel oder eine Wiederaufnahme der medikamentösen Behandlung<br />

nach abgeschlossener Therapie mit einem First-Line-Antiosteoporotikum<br />

kann bei neuerlichem Knochendichteabfall oder bei neu aufgetretenen<br />

Risikofaktoren sinnvoll sein.<br />

Bezüglich der Verordnungsfähigkeit der spezifischen Antiosteoporosemedikamente<br />

zulasten der GKV sind Unterschiede in den zugelassenen Indikationen<br />

sowie das allgemeine Wirtschaftlichkeitsgebot zu beachten.<br />

Eine Basistherapie mit Vitamin D und gegebenenfalls mit zusätzlicher Kalzium-Supplementierung<br />

soll in jedem Fall erfolgen. Bezüglich der Verordnungsfähigkeit<br />

zulasten der GKV sind die Regelungen der Arzneimittel-Richtlinie<br />

(OTC -Ausnahmeliste) zu beachten.<br />

Autor: Dieser Artikel wurde verfasst in Kooperation mit Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Christian<br />

Kasperk, Leiter der Sektion Osteologie der Abteilung Innere Medizin I und Klinische<br />

Chemie der Medizinischen Universitätsklinik Heidelberg.<br />

Hinweis: Dieser Text wurde in Abstimmung mit den Landesverbänden der Krankenkassen<br />

und dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) erstellt.<br />

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§ 92 Abs. 2 Satz 7 SGB V i. V. m. § 17 AM-RL zur wirtschaftlichen Verordnungsweise von Arzneimitteln, letzte<br />

Änderung in Kraft getreten am 01.05.2012. http://www.g-ba.de/informationen/richtlinien/anlage/10/<br />

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KVH • aktuell<br />

Seite 39<br />

Hausärztliche Leitlinie<br />

Multimedikation<br />

Empfehlungen zum Umgang mit Multimedikation<br />

bei Erwachsenen und geriatrischen Patienten<br />

Konsentierung Version 1.00<br />

16.01.2013<br />

Revision bis spätestens<br />

Januar 2016<br />

Version 1.00 vom 16.01.2013<br />

Anmerkung:<br />

Hausärztliche Leitlinie<br />

Hausärztliche Leitlinie<br />

Multimedikation<br />

Multimedikation<br />

Empfehlungen zum Umgang mit Multimedikation<br />

Empfehlungen bei Erwachsenen zum und Umgang geriatrischen mit Multimedikation<br />

Patienten<br />

bei Erwachsenen und geriatrischen Patienten<br />

Die Leitlinie Konsentierung Multimediaktion Version umfasst 1.00 insgesamt knapp<br />

100 Seiten. Wir veröffentlichen angesichts des Umfangs<br />

Konsentierung 16.01.2013 Version 1.00<br />

nur die wichtigsten Aspekte, aufgeteilt auf mehrere Hefte.<br />

In diesem 16.01.2013 Heft finden Sie den zweiten Teil.<br />

Revision bis spätestens<br />

Die gesamte Leitlinie einschließlich der im Text erwähnten<br />

Anhänge Revision Januar und 2016 bis Literaturstellen spätestens (Ziffern in eckigen<br />

Klammern), Januar die hier 2016 nicht abgedruckt sind, finden Sie im<br />

Internet unter www.kvhessen.de/Leitlinie oder www.<br />

pmvforschungsgruppe.de. Auf dieser Webseite bitte<br />

den Cursor in der Menü-Leiste im oberen Teil der Seite<br />

auf Publikationen Version 1.00 positionieren vom 16.01.2013 und im aufklappenden<br />

Untermenü Version auf Leitlinien 1.00 vom klicken. 16.01.2013 Dann können Sie die<br />

gesamte Leitlinie einsehen bzw. als PDF-Datei auf Ihren<br />

Computer herunterladen. Eine weitere Bezugsquelle finden<br />

Sie unter www.leitlinien.de. Dort oben auf „Leitlinie<br />

finden“ klicken, dann links Anbieter auswählen, anschließend<br />

führt unter L die „Leitliniengruppe Hessen“ zu den<br />

hausärztlichen Leitlinien.<br />

F. W. Bergert<br />

M. Braun<br />

K. Ehrenthal<br />

J. Feßler<br />

J. Gross<br />

U. Hüttner<br />

B. Kluthe<br />

A. Liesenfeld<br />

J. Seffrin<br />

G. Vetter<br />

M. Beyer (DEGAM)<br />

C. Muth (DEGAM)<br />

U. Popert (DEGAM)<br />

S. Harder<br />

(Klin. Pharmakol., Ffm)<br />

H. Kirchner (PMV)<br />

I. Schubert (PMV)<br />

F. W. Bergert<br />

F. W. M. Bergert Braun<br />

K. Ehrenthal<br />

M. Braun<br />

K. Ehrenthal J. Feßler<br />

J. J. Feßler Gross<br />

U. J. Hüttner Gross<br />

U. B. Hüttner Kluthe<br />

A. Liesenfeld<br />

B. Kluthe<br />

A. Liesenfeld J. Seffrin<br />

J. G. Seffrin Vetter<br />

M. Beyer (DEGAM)<br />

G. Vetter<br />

M. C. Beyer Muth (DEGAM)<br />

U. C. Popert Muth (DEGAM)<br />

U. Popert (DEGAM)<br />

S. Harder<br />

(Klin. Pharmakol., S. Harder Ffm)<br />

(Klin. H. Pharmakol., Kirchner (PMV) Ffm)<br />

H. I. Schubert Kirchner (PMV)<br />

I. Schubert (PMV)


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Nr. 2 / 2013<br />

Medikationsprozess<br />

Schritt 3: Abstimmung der<br />

Therapieziele mit dem Patienten<br />

Vor Erstellung eines Verordungsvorschlags (s.<br />

nächster Schritt) sollten die Erwartungen und Vorstellungen<br />

des Patienten zu seiner Therapie sowie<br />

dessen Therapieziele (s. Abschnitt Priorisierung)<br />

eruiert und im Medikationsplan berücksichtigt<br />

werden. So ist aus der Adhärenzforschung bekannt,<br />

dass die Therapietreue in hohem Maße<br />

mit Einstellungen zu Gesundheit und Krankheit<br />

assoziiert ist. Medikamentöse Therapietreue ist<br />

Ausdruck der Einsicht in die Notwendigkeit einer<br />

Therapie, die andererseits jedoch durch allgemeine<br />

und spezielle Befürchtungen zur Wirksamkeit bzw.<br />

Schädlichkeit von Medikamenten konterkariert<br />

wird [68, 69]. Diese Einstellungen sind in der Regel<br />

zwar nur schwer zu beeinflussen, deren Kenntnis<br />

kann jedoch die Einschätzung erleichtern, ob eine<br />

(zusätzliche) medikamentöse Verordnung zuverlässig<br />

eingenommen wird. Hierbei sind folgende<br />

Fragen und Überlegungen hilfreich:<br />

Erwartet der Patient eine medikamentöse<br />

Therapie? Der Behandler muss hierbei auch<br />

seine eigenen »Erwartungserwartungen«<br />

hinterfragen, d. h., seine – in der Regel nicht<br />

überprüfte – Annahme, der Patient würde<br />

eine Verordnung erwarten.<br />

Welchen Stellenwert misst der Patient der Erkrankung<br />

und der (medikamentösen) Behandlung<br />

selbst bei?<br />

Welches Krankheitskonzept verfolgt der<br />

Patient? Hat er die Vorstellung, selbst einen<br />

aktiven Beitrag zur Linderung/Heilung seiner<br />

Krankheit/Beschwerden leisten zu können?<br />

Welchen Stellenwert hat ein bestimmtes<br />

Medikament für den Patienten, das der Arzt<br />

aufgrund der Medikationsbewertung abzusetzen<br />

plant?<br />

Bestehen Vorbehalte/Ängste gegenüber bestimmten<br />

Arzneimitteln oder Arzneimitteln<br />

ganz allgemein?<br />

Dieser Schritt im Medikationsprozess erlaubt auch<br />

festzustellen, ob der Patient über seine Erkrankung<br />

und die möglicherweise vorhandenen verschiedenen<br />

Therapieoptionen ausreichend informiert ist.<br />

Schritt 4: Verordnungsvorschlag<br />

Im oben dargestellten Szenario des Medikationsprozesses<br />

werden in Bezug auf den Verordnungsvorschlag<br />

die folgenden Möglichkeiten unterschieden:<br />

Entscheidung gegen eine medikamentöse<br />

Verordnung<br />

Sofern möglich, bevorzugen Sie nichtmedikamentöse<br />

Strategien! Stellen Sie gemeinsam mit dem<br />

Patienten sicher, dass er in der Lage ist, diese Empfehlungen<br />

umzusetzen. Erhält der Patient bereits<br />

mehrere Wirkstoffe, kann es zur Vermeidung von<br />

arzneimittelbezogenen Problemen sinnvoll sein,<br />

weniger drängende Indikationen vorerst nicht<br />

medikamentös zu behandeln, vor allem, wenn<br />

allgemeine Maßnahmen ausreichend erscheinen<br />

(konservatives Verordnungsverhalten). Eine Entscheidung<br />

gegen eine Medikation kann auch durch<br />

einen gemeinsamen Priorisierungsprozess zur Begrenzung<br />

der Anzahl verschiedener Arzneimittel<br />

erfolgen (s. hierzu weiter unten).<br />

Neue Verordnung<br />

Eine neue Verordnung kann notwendig werden<br />

durch das Auftreten einer neuen Erkrankung oder<br />

eines neuen Symptoms, aus Gründen medikamentöser<br />

Präventionsmaßnahmen (z. B. Impfung,<br />

Verhinderung kardiovaskulärer Ereignisse) oder<br />

zur Intensivierung der Therapie bei fehlendem<br />

Ansprechen auf die bisherige (nichtmedikamentöse)<br />

Therapie. Zur Verhinderung von unnötiger<br />

Multimedikation ist zu prüfen, ob ggf. nichtmedikamentöse<br />

Maßnahmen ausreichend sind, ob<br />

neu aufgetretene Beschwerden evtl. auf eine vorhandene<br />

Medikation zurückzuführen sind (cave:<br />

Verordnungskaskade [117]). Des Weiteren sind<br />

die Aspekte Evidenz, Interaktion, Kontraindikation,<br />

Dosierung zu prüfen (s. MAI) und sicherzustellen,<br />

dass es nicht zu einer Doppelverordnung (z. B.<br />

durch Substanzwechsel oder durch Mitbehandler)<br />

kommt.<br />

Trotz Multimedikation kann es zu einer Unterversorgung,<br />

d. h. unterlassener Therapie trotz<br />

Indikation kommen. Die Wahrscheinlichkeit einer<br />

Unterversorgung steigt mit der Anzahl der bereits<br />

eingenommenen Medikamente [81]. So war in<br />

einer Beobachtungsstudie bei geriatrischen Patienten<br />

bei rund 30% eine nach Leitlinien empfohlene<br />

Medikation ohne nachvollziehbare Gründe nicht<br />

verordnet worden; bei Patienten mit 5 und mehr<br />

Arzneimitteln stieg der Anteil auf 43%, bei denen<br />

mit weniger als 5 Arzneimitteln lag er bei 13% [81].<br />

Bei der Bewertung der vorhandenen Medika-


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tion und Beurteilung der Qualität der Versorgung<br />

ist jedoch zu berücksichtigen, ob sich Arzt und Patient<br />

in einem gemeinsamen Entscheidungsprozess<br />

bewusst gegen eine entsprechende Verordnung<br />

entschieden haben (z. B. vor dem Hintergrund der<br />

Multimedikation, Verträglichkeit oder individuellen<br />

Präferenz) oder ob die Notwendigkeit für eine Medikation<br />

überhaupt nicht geprüft wurde. Letzteres<br />

wäre als Unterversorgung zu werten. Die folgenden<br />

Konstellationen sollen für mögliche Unterversorgung<br />

sensibilisieren:<br />

Situationen mit fehlender Medikation in absteigender Reihenfolge (mod. nach [81]):<br />

Symptom / Diagnose / Situation<br />

oftmals fehlende Medikation<br />

trotz Evidenz für Wirksamkeit<br />

Unterversorgung in %<br />

Schmerzbehandlung mit Opiaten Laxans 61,5%<br />

Myokardinfarkt Beta-Blocker 60%<br />

Herzinsuffizienz ACE-Hemmer 47%<br />

Vorhofflimmern orales Antikoagulanz 42%<br />

Osteoporose Bisphosphonate 29%<br />

Hypercholesterinämie* Statin 23%<br />

Hypertonie Antihypertensiva 23%<br />

Angina pectoris, Schlaganfall, TIA, PaVK Thrombozytenaggregationshemmer 21%<br />

NSAID bei Risikopatienten PPI 21%<br />

*bei kardiovaskulärem Risiko<br />

Die sogenannten START-Kriterien (Screening Tool<br />

to Alert Doctors to Right Treatment [48]) zeigen<br />

für ältere Patienten typische Situationen, in denen<br />

oftmals eine indizierte Verordnung unterbleibt. Hier<br />

ist zu überprüfen, warum die Verordnung nicht<br />

getätigt wurde (Therapiepräferenz, Interaktion u.<br />

a.). Die Ursachen für die Unterversorgung sind unterschiedlich<br />

und lassen sich in 4 Gruppen einteilen:<br />

1. Eine indizierte Therapie wird nicht begonnen<br />

(z. B. Phenprocoumon, Laxans, Statin, ACE-<br />

Hemmer, Schmerzmittel, Osteoporosemittel).<br />

2. Eine begonnene Therapie wird nicht fortgeführt<br />

(z. B. Miconazol).<br />

3. Es erfolgt keine oder eine fehlerhafte Therapieanpassung<br />

(z. B. Antidiabetika, Antiasthmatika,<br />

COPD-Mittel).<br />

4. Therapieabbruch einer wirksamen Therapie<br />

(z.B. Propranolol bei Tremor).<br />

Aus den START-Kriterien hat die Leitliniengruppe<br />

einige, die für den deutschen Versorgungskontext<br />

als besonders relevant erachtet wurden, ausgewählt,<br />

auch vor dem Hintergrund, dass eine große<br />

Anzahl an Kriterien für den Einsatz im Praxisalltag<br />

nicht als praktikabel angesehen wird.<br />

Die folgenden Therapien sind für Patienten > 65<br />

Lebensjahre mit folgenden Indikationen geeignet,<br />

falls keine Kontraindikationen vorliegen (übersetzt<br />

nach [48]).<br />

Kardiovaskuläres System<br />

Phenprocoumon (Warfarin) bei<br />

Vorhofflimmern.<br />

ACE-Hemmer bei chronischer<br />

Herzinsuffizienz.<br />

Bronchopulmonales System<br />

Inhalative Glucocorticoide für mittelschweres<br />

bis schweres Asthma (ggf. COPD), falls der<br />

FEV1 < 50%.<br />

Endokrines System<br />

Metformin bei Typ II Diabetes.<br />

ACE-Hemmer oder AT1 Blocker bei Diabetes<br />

mit Nephropathie (Proteinurie oder Mikroalbuminurie<br />

> 30 mg/24 h oder<br />

eGFR < 50 mg/min).<br />

Fortführung der Medikation<br />

Dies erfolgt, wenn keine Gründe oder keine Alternativen<br />

für eine neue Medikation oder eine Veränderung<br />

des Therapieschemas vorliegen, wenn der<br />

Patient es wünscht und eine Indikation gegeben ist.<br />

In der Broschüre »Praxiswissen – Mehr Sicherheit<br />

in der Arzneimitteltherapie« [74] wird auf folgende<br />

Fehlermöglichkeiten beim Ausstellen eines Wiederholungsrezeptes<br />

hingewiesen:<br />

Ein bereits abgesetztes oder in der Do-


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sierung verändertes Medikament wird erneut<br />

verordnet.<br />

Es erfolgt eine Verordnung, obwohl das Medikament<br />

nicht mehr indiziert ist.<br />

Eine nur als kurzfristig intendierte Therapie (z.<br />

B. Benzodiazepine) wird fortgesetzt.<br />

Fehler können vermieden werden, wenn keine<br />

blanco unterschriebenen Rezepte vorhanden sind<br />

und das Unterzeichnen einer Verordnung in Ruhe<br />

(und nicht nebenbei) erfolgt.<br />

Änderung des vorhandenen Therapieregimes<br />

Unter Änderungen versteht die Leitliniengruppe folgendes:<br />

Verordnung eines alternativen Wirkstoffs,<br />

Änderung der Dosierung oder Darreichungsform.<br />

Dies kann notwendig werden aufgrund einer aufgetretenen<br />

Unverträglichkeit der Therapie (UAW),<br />

einer Verschlechterung der Erkrankung oder der<br />

Symptome, bei Problemen mit dem Therapieregime<br />

(Adhärenz) oder auch der Handhabung der<br />

Medikation (Tropfen zählen, Tabletten teilen). Auch<br />

aus Kostengründen (Budget/Zuzahlung) kann es zu<br />

Umstellungen der Medikation kommen.<br />

Beenden einer Medikation<br />

Aus der Medikationsbewertung kann sich auch<br />

ergeben, dass Verordnungen beendet werden<br />

sollten, dies muss geschehen [9]:<br />

wenn Gegenanzeigen oder unerwünschte Arzneimittelwirkungen<br />

(Interaktionen) auftreten,<br />

der Verordnungsanlass (Indikation) entfallen ist.<br />

Außerdem soll das Absetzen eines Medikamentes<br />

erwogen werden, wenn die Bewertung ergibt, dass<br />

das Nutzen-Risiko-Verhältnis ungünstig (geworden)<br />

ist, z. B. Nutzen in der erwarteten Lebenszeit<br />

des Patienten, Auftreten von kognitiven<br />

Beeinträchtigungen oder Gebrechlichkeit,<br />

wenn eine bessere Alternative denkbar ist,<br />

die Wirksamkeit fraglich (geworden) ist (ein<br />

Auslassversuch kann indiziert sein),<br />

der Patient andere Präferenzen äußert.<br />

Eine indizierte Medikation kann auch durch einen<br />

gemeinsamen Entscheidungsprozess von Arzt und<br />

Patient z. B. im Sinne einer individuellen Präferenzsetzung<br />

zur Begrenzung der Anzahl verschiedener<br />

Arzneimittel abgesetzt bzw. nicht angesetzt<br />

werden (s. w. u.).<br />

Für die Beurteilung der Nutzen-Risiko-Relation<br />

können die PRISCUS-Liste (s. w. u.) und die sogenannten<br />

STOPP-Kriterien (Screening Tool of Older<br />

Persons Potentially inappropriate Prescriptions)<br />

[48, 49] herangezogen werden. Beide Kriterienlisten<br />

sind sehr umfangreich. Für die routinemäßige<br />

Nutzung in der eigenen Praxis sollte man sich, in<br />

Abhängigkeit von den eigenen Verordnungsgewohnheiten,<br />

eine Prioritätenliste mit etwa 15 bis<br />

20 Positionen daraus auswählen. Einige STOPP-<br />

Kriterien sind im Folgenden aufgelistet. Ein Übersetzung<br />

der kompletten STOPP-Kriterien [48] findet<br />

sich in KVH aktuell Nr. 4/2012 (ab S. 34). Bei der<br />

Bewertung der Gesamtliste sind neue Erkenntnisse<br />

seit der Publikation in 2008 zu berücksichtigen.<br />

STOPP-Kriterien<br />

Die folgenden Verordnungen können bei Patienten<br />

ab 65 Jahren problematisch werden und sollten<br />

kritisch überdacht werden:<br />

Kardiovaskuläres System<br />

Dauerbehandlung mit Digoxin in einer Dosis<br />

über 125µg pro Tag (erhöhtes Toxizitätsrisiko).<br />

Betablocker zusammen mit Verapamil (Risiko<br />

symptomatischer kardialer Reizleitungsstörungen,<br />

AV Block 3. Grades).<br />

Diltiazem oder Verapamil bei Herzinsuffizienz<br />

NYHA III oder IV (Hinweis der Leitliniengruppe:<br />

Laut ESC-Leitlinie 2012 [145] sind diese<br />

Substanzen bei systolischer Herzinsuffizienz<br />

und kombinierter systolischer und diastolischer<br />

Herzinsuffizienz kontraindiziert (NYHA<br />

I-IV); bei einer diastolischen Herzinsuffizienz<br />

ggf. aber angemessen).<br />

Gehirn und Psyche<br />

Trizyklische Antidepressiva bei Demenz (kognitive<br />

Leistung kann sich weiter verschlechtern).<br />

Trizyklische Antidepressiva bei gleichzeitigen<br />

kardialen Reizleitungsstörungen (proarrhythmischer<br />

Effekt) (Hinweis der Leitliniengruppe:<br />

Trizyklika sind bei Herzinsuffizienz zu vermeiden<br />

[145]).<br />

Über einen Monat langwirksame Benzodiazepine<br />

wie Chlordiazepoxid, Fluazepam, Nitrazepam,<br />

Chlorazepat oder Benzodiazepine mit<br />

langwirksamen Metaboliten wie z. B. Diazepam<br />

(Gefahr einer prolongierten Sedierung,<br />

von Verwirrtheit, Gleichgewichtsstörungen,<br />

Stürze).<br />

Respiratorisches System<br />

Theophyllin als Monotherapie (es gibt sichere<br />

und wirksame Alternativen; Risiko für UAW<br />

aufgrund enger therapeutischer Breite).


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Bewegungsapparat<br />

NSAR bei moderater bis schwerer Hypertonie<br />

(> 160/100 mmHg) (Gefahr der Exazerbation).<br />

NSAR bei gleichzeitiger Herzinsuffizienz (Herzfunktion<br />

kann sich verschlechtern).<br />

Coumarine und NSAR (gastrointestinales Blutungsrisiko!).<br />

NSAR bei Patienten mit chronischem Nierenversagen<br />

(GFR 20 bis 50 ml/min) (Gefahr der<br />

Verschlechterung der Nierenfunktion).<br />

Urogenitalsystem<br />

Anticholinergika zur Inkontinenzbehandlung<br />

an Demente verordnen (Verwirrtheit kann verstärkt<br />

werden, es kann zu Agitiertheit kommen).<br />

Alphablocker bei Männern mit häufiger Inkontinenz<br />

(Gefahr einer höheren Miktionsfrequenz,<br />

Verschlechterung der Inkontinenz).<br />

Medikamente bei Sturzgefährdeten (Faustregel<br />

für erhöhte Sturzgefahr: Ein Sturz in den zurückliegenden<br />

drei Monaten).<br />

Benzodiazepine (beeinträchtigen Aufmerksamkeit<br />

und Gleichgewichtssinn).<br />

Neuroleptika (können Gang-Dyspraxie und<br />

Parkinsonismus verursachen).<br />

Einen sehr radikalen Handlungsentwurf hat der<br />

israelische Geriater Garfinkel [51, 52] vorgestellt:<br />

Bei hochbetagten Patienten hatte er nach einer sehr<br />

kritischen und ressourcenintensiven Bewertung der<br />

Medikation (z. B. hinsichtlich Evidenz, Eignung für<br />

die Altersgruppe, Nebenwirkungsrisiko bzw. -symptomatik,<br />

und Dosierung) dieser multimedizierten<br />

Patienten mehr als die Hälfte der Verordnungen<br />

beendet bzw. zum Absetzen vorgeschlagen. Ohne<br />

dass er schwere Zwischenfälle feststellte, musste er<br />

nur zwei Prozent der Medikamente neu ansetzen.<br />

Zugleich berichtete er über teilweise deutlich reduzierte<br />

Beschwerden.<br />

Bisher wurde dieser Ansatz jedoch nur in kleinen<br />

Studien erprobt [51, 52], es wird nicht berichtet,<br />

nach welcher Methode diese teilweise umfangreichen<br />

Um- und Absetzungen realisiert und wie<br />

schwere Zwischenfälle definiert wurden. Außerdem<br />

ist davon auszugehen, dass die Rahmenbedingungen,<br />

unter denen diese Medikationsbewertung<br />

durchgeführt wurde, sich deutlich vom Arbeitsalltag<br />

deutscher Hausarztpraxen unterscheiden.<br />

Der von Garfinkel vorgestellte Ansatz kann in<br />

dieser Form noch nicht generell für die Praxis empfohlen<br />

werden. Es wurden geriatrische Patienten im<br />

Grenzbereich zur Palliativmedizin untersucht. Hierbei<br />

ist die generelle Therapieindikation nicht kurativ,<br />

sondern die palliative Phase rückt schrittweise<br />

in den Vordergrund. Dabei geht es überwiegend<br />

um Symptomkontrolle. Dieser Aspekt verändert<br />

die Beurteilung einer Medikation erheblich. Das<br />

Vorgehen von Garfinkel verdeutlicht aber,<br />

welche Gestaltungsmöglichkeiten bei Multimedikation<br />

– insbesondere bei hochbetagten/<br />

palliativen Patienten – möglicherweise bestehen<br />

(zum Algorithmus s. Anhang).<br />

Aus geriatrischer Sicht hat Zeeh [164] diesen<br />

Vorschlag von Garfinkel aufgegriffen und für ein<br />

Kliniksetting modifiziert. Eine »individualisierte<br />

supervidierte Medikamentenoptimierung« sollte<br />

seines Erachtens durchgeführt werden, wenn die<br />

folgenden drei Fragen nicht alle mit »Ja« beantwortet<br />

werden können:<br />

1. Ist der Allgemeinzustand des Patienten gut?<br />

2. Werden die Therapieziele durch die Polymedikation<br />

erreicht?<br />

3. Ist die Compliance gut?<br />

Liegt der Grund für eine Verschlechterung des<br />

Allgemeinzustandes im Auftreten unerwünschter<br />

Arzneimittelwirkungen oder werden Punkt 2 und<br />

3 mit Nein beantwortet, empfiehlt er zunächst die<br />

Reduktion von Medikamenten mit hohem Nebenwirkungsrisiko<br />

und/oder ungünstigem Nutzen-Risiko-Verhältnis.<br />

Sein »Notfallkoffer Polypharmazie«<br />

umfasst auch die in dieser Leitlinie vorgestellten<br />

Instrumente (MAI, STOPP, START, PRISCUS, Brown<br />

Bag, persönliche Arzneimittelliste etc.).<br />

Unter http://www.sozialwerk-meiningen.de/sites/<br />

default/files/polypharmazieliste12-2012.pdf findet<br />

sich eine tabellarische Zusammenstellung von Wirkstoffen/Wirkstoffgruppen<br />

und Kriterien, bei denen<br />

Zeeh einen Auslassversuch oder ein Absetzen/Ausschleichen<br />

erwägen würde.<br />

Leider ist das Absetzen von Medikamenten in<br />

Studien bisher wenig untersucht worden, so dass<br />

man meist auf Erfahrungswissen und Plausibilität<br />

angewiesen ist [70]. Wichtig ist es, systematisch<br />

vorzugehen (s. hierzu [9]):<br />

Identifikation des abzusetzenden Medikaments<br />

/ der Medikamente.<br />

Rangliste der abzusetzenden Medikamente<br />

erstellen: Welches sollte als erstes abgesetzt<br />

werden?<br />

Nach Möglichkeit nur ein Präparat auf einmal<br />

absetzen, beginnend mit dem Medikament<br />

mit der wichtigsten »Absetz-Indikation«.


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Ausschleichen oder Reduzieren der Dosis.<br />

Gute Planung und Kommunikation mit dem<br />

Patienten, ggf. mitbehandelnden Ärzten und<br />

Angehörigen.<br />

Überwachung von positiven wie negativen<br />

Effekten des Absetzens.<br />

Tipps zum Vorgehen<br />

Mehrere Medikamente gleichzeitig nur bei akuten<br />

Ereignissen (z. B. Urtikaria) absetzen. Ansonsten<br />

möglichst nicht mehrere Arzneimittel gleichzeitig<br />

absetzen, um mögliche Reaktionen auf<br />

das Absetzen bewerten zu können. Der Prozess<br />

des Absetzens kann einige Tage, aber auch bis<br />

zu mehreren Monaten dauern (Rebound-Effekte<br />

kontrollieren).<br />

Ausschleichen: Insbesondere nach längerfristiger<br />

Verordnung von psychotropen Substanzen<br />

(Benzodiazepine), Antihypertensiva (insbesondere<br />

Betablocker), Kortikoide, Levodopa, Opioide ist die<br />

Dosis schrittweise zu reduzieren, da hier bei plötzlichem<br />

Absetzen teilweise schwere Symptomatiken<br />

ausgelöst werden können [86]. Besteht Unklarheit,<br />

ob die Medikation sofort beendet werden kann,<br />

sollte die Dosis eher schrittweise reduziert werden.<br />

Hinweis: In manchen Fällen kann das kontrollierte<br />

Absetzen von Medikamenten zu bedenklichen negativen<br />

Effekten führen [52, 70], derer sich der behandelnde<br />

Arzt bewusst sein sollte. Hierzu zählen:<br />

Entzugserscheinungen: Sie treten häufig<br />

bei zentralnervös wirkenden Medikamenten<br />

auf, wie z. B. Antidepressiva. Bei SSRI treten<br />

die Symptome ca. 1 Woche nach dem Absetzen<br />

auf, verlaufen relativ mild und verschwinden<br />

nach ca. 10 Tagen wieder. Abruptes Absetzen<br />

von Benzodiazepinen kann ernsthafte<br />

Entzugssymptome mit Verwirrtheitszuständen,<br />

Halluzinationen und Krämpfen auslösen.<br />

Rebound-Phänomene: Typisch sind Rebound-Tachykardien<br />

und Blutdruckanstiege<br />

nach dem Absetzen von Betablockern, die<br />

Hypersekretion von Magensäure nach einem<br />

Therapie-Stopp von Protonenpumpenhemmern<br />

oder Schlaflosigkeit nach dem Absetzen<br />

von Hypnotika.<br />

Wiederauftreten von Symptomen der<br />

Ursprungserkrankung: Bei einigen Medikamenten<br />

(z. B. Blutdruckmedikamente) kann<br />

die Symptomatik der zugrundeliegenden<br />

Erkrankung wieder stark zunehmen, wenn die<br />

Medikamente plötzlich abgesetzt werden.<br />

Absetzwirkungen: Ein Therapiestopp von<br />

Levodopa kann zu Muskelsteifheit und Bewusstseinsstörungen<br />

führen. Bei Patienten,<br />

die Kortikoide als Dauertherapie erhalten,<br />

kann durch eine plötzliche Beendigung der<br />

Therapie eine Addison-Krise ausgelöst werden.<br />

Eine Therapie zu beenden, ist auch für uns Ärzte<br />

emotional nicht immer einfach, da wir evtl. Therapien<br />

beenden, die wir selbst – oder ein Kollege –<br />

vor einiger Zeit vielleicht noch für relevant angesehen<br />

haben. Auch mag es Befürchtungen geben,<br />

dass eine mögliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes<br />

des Patienten (es handelt sich ja<br />

um multimorbide Patienten) mit dem abgesetzten<br />

Präparat in Verbindung gebracht wird. Deshalb wird<br />

eine engmaschige Kontrolle empfohlen. Auch ist<br />

dem Patienten zu verdeutlichen, dass das Beenden<br />

einer Therapie kein »Aufgeben« bedeutet, sondern<br />

helfen soll, seine Lebensqualität zu verbessern.<br />

Der Kommunikation mit den Patienten (und<br />

ggf. ihren Angehörigen) kommt beim Prozess des<br />

Absetzens deshalb eine hohe Bedeutung zu, da<br />

die unerwünschten Wirkungen z. T. vorhersehbar<br />

sind und gegen die Überzeugungen des Patienten<br />

ein Absetzen bzw. ein Entzug kaum erfolgversprechend<br />

ist. Im Gespräch mit dem Patienten ist<br />

insbesondere zu klären bzw. zu verdeutlichen<br />

von welchen Wirkungen des Medikaments<br />

der Patient überzeugt ist,<br />

welche Wirkungen (und ggf. Entlastung von<br />

Störsymptomen) er von der Absetzung der<br />

Medikation zu erwarten hat,<br />

welche Symptome er im Absetzprozess zu<br />

tolerieren bereit ist,<br />

dass er jederzeit auf Tempo oder Abbruch<br />

eines Absetzversuchs Einfluss nehmen kann,<br />

und<br />

dass das Absetzen medizinisch gewissenhaft<br />

beobachtet wird.<br />

Das Instrument Medication Appropriateness Index<br />

(MAI, siehe KVH aktuell 1/2013) hilft mit seinen<br />

Leitfragen zur Medikationsbewertung, unnötige<br />

bzw. vermeidbare Medikation zu erkennen und<br />

die Anwendungssicherheit zu unterstützen, wohingegen<br />

die individuelle Priorisierung Arzneistoffe<br />

zum Absetzen vorschlägt, die nach der Bewertung<br />

mittels MAI als sinnvoll erachtet und vorerst beibehalten<br />

wurden. Die Priorisierung erfolgt somit<br />

erst nach MAI und nur bei besonderen Anlässen.<br />

Mit anderen Worten: Nach einer Medikations-


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bewertung kann sich die Notwendigkeit ergeben,<br />

die Zahl der Arzneimittel auch bei gegebener<br />

Evidenz auf Wunsch des Patienten, weniger Arzneimittel<br />

einzunehmen, einzuschränken. Sieht der<br />

Arzt aufgrund der Vielzahl der einzunehmenden<br />

Arzneimittel die Möglichkeit einer Gefährdung des<br />

Patienten oder vermutet er, dass das Therapieregime<br />

nicht adäquat umgesetzt werden kann, ist das<br />

Gespräch mit dem Patienten über die Möglichkeit<br />

des Absetzens zu suchen.<br />

Es finden sich in der internationalen Literatur<br />

Vorschläge zum Absetzen von Medikamenten<br />

(z. B. Garfinkel-Algorithmus [51], Bain et al. [9]),<br />

die noch hinsichtlich ihrer Umsetzbarkeit unter<br />

deutschen Gegebenheiten (hier vor allem im<br />

Rahmen der hausärztlichen Versorgung) evaluiert<br />

werden müssen. Es wird dabei implizit davon<br />

ausgegangen, dass sich bei einer kritischen Medikationsbewertung<br />

eine Reduktion der Zahl der<br />

Medikamente von selbst ergibt. Eine Priorisierung<br />

bei gegebener Evidenz ist in diesen Algorithmen<br />

nicht vorgesehen.<br />

Besteht nach der Medikationsbewertung der<br />

Wunsch des Patienten oder die Notwendigkeit die<br />

Zahl der Arzneimittel noch weiter zu reduzieren,<br />

schließt sich, um zu einer Verordnungsentscheidung<br />

zu kommen, die Phase der individuellen<br />

Priorisierung an.<br />

Die Leitliniengruppe schlägt unter Bezug auf Steinman<br />

und Hanlon [139] folgendes Vorgehen vor. In<br />

einem ersten Schritt werden nach Durchführung<br />

einer Medikationsbewertung mit Hilfe des erweiterten<br />

MAI (s. o.) alle noch vorhandenen Arzneimittel<br />

mit Indikation, ggf. beobachteten Problemen und<br />

Überlegungen zu den Folgen eines Therapieverzichtes<br />

gelistet. Dabei kann unterschieden werden,<br />

ob die Verordnung primär zur Verbesserung der<br />

Lebenserwartung (Mortalität), oder der Symptome<br />

und des Krankheitsverlaufs (Morbidität) erfolgte,<br />

wobei es auch Wirkstoffe wie ACE-Hemmer gibt,<br />

die beides beeinflussen [139].<br />

In Anlehnung an die Arbeiten von Tinetti und Fried<br />

[44, 45] sollten die Patienten zu ihren bevorzugten<br />

Therapiezielen befragt werden. Dabei sollten nicht<br />

nur erwünschte Ergebnisse, wie z. B. der erwartete<br />

Nutzen, sondern auch unerwünschte Effekte wie<br />

z.B. Nebenwirkungen von Medikamenten, und<br />

welche davon als intolerabel angesehen werden,<br />

erfragt werden. Es sollte folglich im Gespräch mit<br />

dem Patienten herausgefunden werden, wie sich<br />

seine persönliche Prioritätensetzung hinsichtlich der<br />

folgenden Aspekte darstellt:<br />

Selbständige Lebensführung / Unabhängigkeit<br />

(Funktionsverbesserung),<br />

Überleben / Prognoseverbesserung,<br />

Schmerzlinderung,<br />

Symptomverbesserung (Übelkeit, Kurzatmigkeit,<br />

Schwindel etc.).<br />

Vor diesem Hintergrund kann eine individuelle Entscheidungsfindung<br />

(Präferenzsetzung / Priorisierung)<br />

der Medikation vorgenommen werden. Diese<br />

ist sogar unvermeidlich, wenn beispielsweise nicht<br />

alle Ziele gleichzeitig erreichbar sind (konfligierende<br />

Outcomes). Hierbei werden für jedes Medikament<br />

die folgenden Punkte festgehalten (s. hierzu<br />

w. u. einige Fragen):<br />

Was erwartet der Patient von der medikamentösen<br />

Therapie? Was ist für den Patienten<br />

zur Zeit das Wichtigste? Worin besteht für ihn<br />

der konkrete Nutzen?<br />

Für Herzkreislauf-Erkrankungen kann die Abschätzung<br />

der Prognoseverbesserung z. B. mit<br />

Hilfe des ARRIBA Rechners erfolgen.<br />

Wie schätzt der Behandler die Notwendigkeit<br />

der Medikation vor dem Hintergrund der<br />

individuellen Therapieziele des Patienten ein?<br />

Die Tabellen auf den beiden folgenden Seiten<br />

bieten etliche Hilfestellungen beim individuellen<br />

Aufspüren von Präferenzen.


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Hilfe zur Präferenzsetzung von symptom- und funktionsverbessernden Medikamenten<br />

(nicht alle Symptome werden unmittelbar vom Patienten selber wahrgenommen,<br />

z. B. psychosoziale Einschränkungen).<br />

Frage<br />

Welche Beschwerden haben Sie?<br />

Welche Bedeutung haben die<br />

Beschwerden für Sie? Können Sie<br />

damit leben? Wie stark sind Sie<br />

beeinträchtigt?<br />

Welches ist Ihre stärkste Beschwerde?<br />

Welche Beschwerden schränken Sie im<br />

Alltag/Kontakt ein?«<br />

Was trauen Sie sich nicht mehr zu?<br />

Wobei fühlen Sie sich stark<br />

eingeschränkt? Was möchten Sie<br />

gern wieder können?<br />

Haben Sie sich im vergangenen Monat<br />

oft niedergeschlagen oder hoffnungslos<br />

gefühlt? Hatten Sie im letzten Monat<br />

häufig wenig Freude bei den Dingen,<br />

die Sie tun?<br />

Wobei benötigen Sie Fremdhilfe? »Fehlen<br />

Ihnen Menschen, denen Sie vertrauen<br />

und auf deren Hilfe Sie zählen können?«<br />

Informationsgewinnung<br />

z. B. Schmerzen, Schwindel, Müdigkeit, Abgeschlagenheit,<br />

Ohrensausen, Vergesslichkeit, Inkontinenz,<br />

Verstopfung, Appetitlosigkeit, Gangstörungen,<br />

Sturzneigung, trockener Mund, trockene Haut/Juckreiz,<br />

Kältegefühl, Schlafstörung<br />

Hinweise auf Beeinträchtigung im täglichen Leben,<br />

über Kompensationsmöglichkeiten, psychosoziale<br />

Belastungen.<br />

Hinweise auf vorrangige Belastungen und Therapieziele.<br />

Eine Einschränkung von sozialen Kontakten sollte<br />

rechtzeitig festgestellt werden.<br />

Hilft, die Relevanz von Beschwerden einzuordnen<br />

und die Kompetenz zu den Aktivitäten des täglichen<br />

Lebens zu überprüfen, Stellenwert für unabhängige<br />

Lebensführung.<br />

Überprüft die psychosoziale Aktivität,gibt Hinweise<br />

zur Abklärung einer Depression [5]<br />

Überprüft die psychosoziale Kompetenz, aber auch die<br />

Einbindung in ein soziales Netzwerk.<br />

Hilfe zur Präferenzsetzung von prognosebessernden Medikamenten<br />

Information<br />

Das Medikament kann Ihr Leben<br />

verlängern.<br />

Dieses Medikament kann folgende<br />

Komplikationen vermeiden…<br />

Ggf. prüfen: Liegen für die Alters- oder<br />

Zielgruppe zuverlässige Informationen<br />

vor, ob das Medikament das Leben<br />

verlängert oder Komplikationen<br />

verhindert?<br />

Frage an Patienten<br />

Welche Bedeutung hat das für Sie? Glauben Sie,<br />

dass dies auch für Sie zutrifft? Welche Nebenwirkung<br />

sind Sie bereit, dafür zu akzeptieren? Welche Risiken<br />

sind Sie bereit, zu akzeptieren?<br />

Welche Bedeutung hat das für Sie? Welche<br />

Nebenwirkung sind Sie bereit, dafür zu akzeptieren?<br />

Welche Risiken sind Sie bereit, zu akzeptieren?<br />

Wollen Sie das Medikament trotzdem versuchen,<br />

auch wenn für Ihre Altersgruppe keine sichere<br />

Aussage möglich ist?


Nr. 2 / 2013<br />

KVH • aktuell<br />

Seite 47<br />

Es bietet sich an, für jedes Arzneimittel die folgende<br />

Tabelle auszufüllen. Die Reihenfolge der Arzneimittel<br />

stellt noch keine individuelle Bewertung dar.<br />

Leitfrage für Patient: Welche Beschwerde steht<br />

für Sie im Vordergrund (z. B. Luftnot, Schmerzen,<br />

Beweglichkeit)? Was soll mit der Therapie erreicht<br />

werden? Welche Nebenwirkung ist für Sie nicht<br />

tolerabel?<br />

Leitfrage für Arzt: Welche Medikation wird als<br />

unentbehrlich angesehen?<br />

Checkliste als Hilfestellung zur individuellen Präferenzsetzung<br />

Medikament<br />

Indikation/<br />

Beschwerden<br />

Evidenz:<br />

Lebensverlängerung/<br />

Morbidität/ Symptom-<br />

/ Funktionsverbesserung<br />

Arzt:<br />

Einschätzung<br />

der Relevanz<br />

Patient<br />

Einschätzung<br />

der Relevanz<br />

Kommentar/<br />

Entscheidung<br />

1 1 L<br />

2 M<br />

3 S<br />

2 1<br />

L: Lebensverlängerung, M: Morbidität beeinflussend, S: Symptomverbesserung; F: Funktionsverbesserung<br />

Dieser Vorschlag der Leitliniengruppe muss noch erprobt werden.<br />

Mit der gemeinsamen Erstellung der Liste gelangt<br />

man zu einer Einschätzung der Relevanz<br />

aus Patienten- und Arztsicht. Es kann durch das<br />

intensive Gespräch mit dem Patienten auch der<br />

Fall auftreten, dass eine im Vordergrund stehende<br />

Beschwerde bislang nicht adäquat therapiert<br />

wurde und eine Neuverordnung notwendig wird.<br />

Andererseits steht für einen hochbetagten Patienten<br />

meist die symptomlindernde Medikation<br />

im Vordergrund.


Seite 48 KVH • aktuell<br />

Nr. 2 / 2013<br />

Schritt 5: Kommunikation<br />

Der Prozess endet nicht mit einem Therapievorschlag.<br />

Die Entscheidung muss mit dem Patienten<br />

besprochen und abgestimmt werden. Jüngere<br />

Untersuchungen zur medikationsbezogenen Arzt-<br />

Patienten-Kommunikation haben gezeigt, dass<br />

Ärzte in der Konsultation vorzugsweise auf den<br />

Nutzen einer Therapie hinweisen, auf deren Risiken<br />

und potentielle Nebenwirkungen jedoch nur selten<br />

eingehen. Inbesondere erhalten Patienten oftmals<br />

keine Informationen darüber, wie sie sich im Falle<br />

des Auftretens von potentiellen Nebenwirkungen<br />

verhalten sollen. Auch überzeugen sich Ärzte nur<br />

selten davon, welche Informationen ihre Patienten<br />

tatsächlich verstanden haben [121, 140]. Unter<br />

der Maxime, dass ein gut informierter Patient eine<br />

hilfreiche Sicherheitsbarriere gegen arzneimittelbezogene<br />

Probleme darstellt [74], sollte das Gespräch<br />

mit dem Patienten folgende Punkte umfassen:<br />

Aktualisierung des Medikamentenplanes im<br />

Praxis-PC,<br />

dem Patienten einen Ausdruck des aktuellen<br />

Medikationsplans aushändigen,<br />

Erläuterung der aktuellen Therapie und ggf.<br />

der vorgenommenen Änderungen,<br />

dem Patienten mögliche arzneimittelbezogene<br />

Probleme, die auftreten können, erläutern<br />

[93],<br />

Einnahmehinweise geben,<br />

Verhaltenshinweise geben für den Fall, dass<br />

Nebenwirkungen auftreten oder die Einnahme<br />

vergessen wurde,<br />

Verständnis und Umsetzungsmöglichkeit abfragen,<br />

Termine für Kontrolluntersuchung vereinbaren.<br />

Ebenso ist zu erfragen, ob die seitens des Arztes<br />

vorgesehene Therapie vom Patienten akzeptiert<br />

wird und ob ggf. Anwendungsprobleme zu erwarten<br />

sind. Prüfen Sie bei diesem Gespräch, ob der<br />

Patient zusätzliche Informationen für ein besseres<br />

Verständnis seiner Erkrankung und zur Förderung<br />

der Adhärenz und Eigenaktivität benötigt (Patientenleitlinien,<br />

werbungsfreie Informationsschriften).<br />

Ggf. ist eine Kontaktaufnahme zu mitbehandelnden<br />

Spezialisten und/oder pflegenden Angehörigen<br />

notwendig.<br />

Dem Zusammenhang zwischen »Gesundheitsverständnis«<br />

(health literacy) und gesundheitlicher<br />

Lage sowie Mortalität wird erst seit einigen Jahren<br />

mehr Aufmerksamkeit gewidmet [10, 141].<br />

So sehen beispielsweise die WH0 und das US<br />

Department of Health and Human Services darin<br />

einen wichtigen Einflussfaktor auf die Gesundheit<br />

[152, 163]. Eine aktuelle Studie zeigte, dass Patienten,<br />

die die Informationen eines Beipackzettels<br />

schlecht wiedergeben konnten, auch nach Adjustierung<br />

auf eine Vielzahl von Variablen wie Alter,<br />

Geschlecht, Schulabschluss, Gesundheitszustand<br />

und Gesundheitsverhalten eine höhere Mortalität<br />

aufwiesen im Vergleich zu denen, die sich besser an<br />

die Informationen der Packungsbeilage erinnerten<br />

[21]. Aus der Studie kann zwar nicht abgeleitet<br />

werden, ob eine intensivere Beratung durch den<br />

Arzt einen Einfluss auf die Fähigkeit der Patienten<br />

hat, gesundheitsbezogene Informationen zu verarbeiten<br />

und wiederzugeben, dennoch empfiehlt die<br />

Leitliniengruppe, sich bei der Erläuterung der Medikation<br />

Zeit zu nehmen und davon auszugehen,<br />

dass der Patient nicht seinerseits aktiv nachfragt,<br />

wenn er etwas nicht verstanden hat.<br />

Aus Projekten zum Konzept der partizipativen<br />

Entscheidungsfindung (shared decision making)<br />

lässt sich ableiten, dass gut informierte, aufgeklärte<br />

Patienten<br />

realistischere Erwartungen in Bezug auf die<br />

Therapieziele haben. Damit wächst die Zufriedenheit<br />

mit den Behandlungsergebnissen.<br />

sich aktiver an der eigenen Behandlung beteiligen<br />

und eine höhere Therapietreue zeigen.<br />

Zum Abschluss des Gesprächs muss eine Einigung<br />

erzielt werden, ob und welche Arzneistoffe abgesetzt<br />

werden. Die auf diese Weise neu festgelegte<br />

Therapie muss anfangs engmaschig kontrolliert<br />

werden.<br />

Mögliche Hilfsmittel für die Patientenkommunikation<br />

sind z. B.<br />

arriba ® (http://arriba-hausarzt.de)<br />

www.patientenleitlinien.de<br />

www.gesundheitsinformation.de<br />

www.aok.de/bundesweit/gesundheit/<br />

aok-entscheidungshilfen-28557.php<br />

Ein zentraler Stellenwert in der erfolgreichen Umsetzung<br />

der Therapie kommt der Erstellung/Aktualisierung<br />

eines übersichtlichen Medikationsplans<br />

zu. Dieser sollte unterscheiden zwischen<br />

Verordnungen des Hausarztes,<br />

Verordnungen anderer Spezialisten (sind entsprechende<br />

Briefe vorhanden?),<br />

Selbstmedikation des Patienten.


Nr. 2 / 2013<br />

KVH • aktuell<br />

Seite 49<br />

Der Medikationsplan ist bei jeder Medikamentenänderung<br />

zu aktualisieren und dem Patienten auszuhändigen.<br />

Die gemeinsam mit dem Patienten<br />

vorgenommene Medikationsbewertung bietet<br />

die Möglichkeit, ihn (so weit möglich) anzuleiten,<br />

den Medikationsplan jedem verordnenden Arzt<br />

vorzulegen, Dosisänderungen sowie Präparate der<br />

Selbstmedikation einzutragen (Beispiel für einen<br />

Medikationsplan s. nächste Seite).<br />

Folgende Mindestanforderungen sind an einen<br />

Medikationsplan zu stellen: Alle eingenommenen<br />

Medikamente sollten mit<br />

Wirkstoff- und Handelsname,<br />

Wirkstärke,<br />

Darreichungsform und<br />

genauer Dosierung<br />

aufgeführt sein. Vermerkt werden sollten nicht nur<br />

die dauerhaft vom Hausarzt oder vom Spezialisten<br />

verordneten Präparate und die Selbstmedikation,<br />

sondern auch Medikamente, die nur gelegentlich<br />

(»bei Bedarf«) eingenommen werden sowie kurzzeitige<br />

Verordnungen, wie bspw. Antibiotika.<br />

Bei Bedarfsmedikamenten sollten mindestens<br />

Angaben zur Einzeldosis sowie zur maximalen<br />

Gesamttagesdosis und zur Indikation gemacht<br />

werden (z. B. bei Kreuzschmerzen Ibuprofen<br />

400 mg 2x1, bis max. 6x1 pro Tag).<br />

Bei kurzzeitigen Verordnungen sollten das<br />

Start- und das voraussichtliche Enddatum der<br />

Einnahme vermerkt werden.<br />

Zusätzlich sollte es möglich sein, im Medikationsplan<br />

die Indikation sowie Hinweise wie z. B.<br />

Allergien aufzuführen. In der Pflegedokumentation<br />

sind bereits Indikation, Name des verordnenden<br />

Arztes, Beginn und ggf. Ende der Medikation aufgenommen.<br />

Besondere Einnahmevorschriften sollten in patientenverständlicher<br />

Form notiert werden. Dazu zählen<br />

z. B. tageszeitliche Ausnahmen von der vierstufigen<br />

Gliederung (morgens – mittags –abends – zur<br />

Nacht), wie etwa Kortikoide in frühen Morgenstunden<br />

oder das Einnehmen mit viel Flüssigkeit, vor,<br />

zu oder nach dem Essen etc.<br />

Außer Namen und Geburtsdatum des Patienten<br />

sollten auf dem Medikamentenplan auch die Kontaktdaten<br />

des Hausarztes / der Hausärztin sowie das<br />

Datum der Ausstellung deutlich lesbar aufgeführt<br />

sein.<br />

Weitere wichtige Informationen, die eine ggf.<br />

erforderliche Mitbehandlung durch andere Ärzte<br />

erleichtern, sind<br />

Angaben über ggf. bestehende Arzneimittelunverträglichkeiten<br />

oder Allergien,<br />

eine optisch auffällige Kennzeichnung bei der<br />

Einnahme von z. B. Phenprocoumon sowie<br />

bei eingeschränkter Nierenfunktion unterhalb<br />

von 50 ml/min (eGFR nach MDRD).<br />

Auf der Übersicht für den Patienten sollten noch<br />

folgende Hinweise aufgenommen werden:<br />

Keinen Grapefruitsaft trinken (kann die Wirkung<br />

der Arzneimittel ungünstig beeinflussen)!<br />

Rücksprache bei Einnahme von Arzneimitteln<br />

(auch pflanzliche wie z. B. Johanniskraut!) in<br />

Selbstmedikation (Gefahr von Wechselwirkungen).<br />

Eine Arbeitsgruppe im Rahmen des nationalen Aktionsplans<br />

Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) hat<br />

im Juni 2012 den Entwurf eines einheitlichen, elektronisch<br />

unterstützten Medikationsplans veröffentlicht<br />

[http://www.akdae.de/AMTS/Massnahmen/<br />

docs/ Medikationsplan.pdf]. Der Plan ist geeignet,<br />

alle wesentlichen Informationen zwischen den Beteiligten<br />

im Medikationsprozess kontinuierlich weiterzugeben<br />

(siehe Abb. auf der folgenden Seite).<br />

Grundidee ist, dass der Patient ein Dokument in<br />

die Hand bekommt, das jeweils seine komplette<br />

Medikation enthält und für ihn klar lesbar alle relevanten<br />

Informationen zur Einnahme etc. enthält.<br />

Der Patient kann diesen Plan bei jedem weiteren<br />

Kontakt mit einer Arztpraxis oder einer Apotheke<br />

aktualisieren lassen, sofern er ihn vorlegt – es ist<br />

ein ‚patient-held record’ ohne zentrale Datenspeicherung.<br />

Die technische Grundlage – zu der die Softwareindustrie<br />

allgemein die Zusage gegeben hat, sie<br />

in ihren Software-Produkten zukünftig zu unterstützen<br />

– besteht darin, dass die Klartextinformationen<br />

auf diesem Plan durch den 2D-Barcode<br />

(oben rechts) automatisch ausgelesen werden,<br />

nach Möglichkeit in die jeweils eigene Software<br />

(mit ihren Dokumentations- und Prüfmodulen)<br />

übernommen und verarbeitet werden, und mit<br />

den entsprechenden Anpassungen/Änderungen<br />

wieder als Medikationsplan ausgedruckt werden<br />

kann. Aus verschiedenen Gründen ist im Augeblick<br />

nicht zu erwarten, dass die ‚elektronische Gesundheitskarte’<br />

in der näheren Zukunft die gleiche oder<br />

eine erweiterte Funktionalität enthalten wird.<br />

Die in der hausärztlichen Pharmakotherapie


Seite 50 KVH • aktuell<br />

Nr. 2 / 2013<br />

Quelle: Spezifikation für einen patientenbezogenen Medikationsplan. Koordinierungsgruppe zur Umsetzung<br />

und Fortschreibung des Aktionsplans zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit in<br />

Deutschland. Bearbeitet von Dr. Farid Aly, Berlin; Dr. Gunter Hellmann, Erlangen; Dr. Horst Möller, Bonn<br />

http://www.akdae.de/AMTS/Massnahmen/docs/Medikationsplan.pdf<br />

Legende: zN zur Nacht<br />

Der Plan ist individuell nach Einscannen veränderbar.<br />

Betei-ligten – Ärzte, Apotheker und Patienten –<br />

sollten daher darauf dringen, dass diese ‚low-tech’-<br />

Lösung möglichst breit angewendet und von den<br />

Software-Systemen unterstützt wird.<br />

Schritt 6: Arzneimittelabgabe<br />

Diese erfolgt in der Regel durch die Apotheke.<br />

Patienten (und insbesonderen solchen mit Multimedikation)<br />

sollte dazu geraten werden, eine<br />

Hausapotheke zu wählen, die<br />

bei der Arzneimittelabgabe gezielte Anwendungshinweise<br />

gibt,<br />

die Selbstmedikation kritisch hinterfragt und<br />

begleitet [38],<br />

die korrekte Handhabung (z. B. Asthmaspray,<br />

Insulinpen, BZ-Messung) demonstriert,<br />

auf arzneimittelbezogene Probleme achtet<br />

[38, 55, 59],<br />

Interaktionschecks durchführen und<br />

ein elektronisches Medikationsprofil erstellen<br />

kann.<br />

Bei den Interaktionschecks sollte unbedingt die<br />

Selbstmedikation berücksichtigt und in den Medikationsplan<br />

eingetragen werden. Ebenso sollten<br />

Probleme (z. B. Doppeleinnahme, Einnahme der<br />

falschen Dosierung, die durch einen Präparatewechsel<br />

aufgrund der Rabattverträge entstehen<br />

können) antizipiert und der Patient entsprechend<br />

instruiert werden. Ebenso sollten durch das Medikationsprofil<br />

Doppelverordnungen durch verschiedene<br />

Ärzte auffallen und deren Einnahme verhindert<br />

werden.<br />

Eine gute Kooperation zwischen behandelndem<br />

Arzt und betreuender Apotheke vorausgesetzt,<br />

besteht hier die Möglichkeit, dass bei Führen eines<br />

Medikationsprofils durch die Apotheke die sichere<br />

Arzneimittelanwendung durch gezielte Informationen<br />

und Hilfestellung in der Handhabung der Medikamente<br />

sowie durch Abgleich mit zusätzlicher<br />

Medikation (Selbstbehandlung oder Verordnung<br />

anderer Behandler) unterstützt wird. Ideal wäre,<br />

wenn seitens der Apotheke das jeweils abgegebene<br />

Präparat (wg. Rabattvertrag) in den Medikationsplan<br />

des Patienten eingetragen würde.


Nr. 2 / 2013<br />

KVH • aktuell<br />

Seite 51<br />

Zurzeit bestehen verschiedene Aktivitäten, für<br />

ausgewählte Zielgruppen (z. B. 5 und mehr Arzneimittel<br />

im Dauergebrauch, Heimbewohner,<br />

Insulinpatienten) ein Medikationsmanagement in<br />

Kooperation von Ärzten und Apothekern durchzuführen<br />

(s. ATHINA – Arzneimitteltherapiesicherheit<br />

in Apotheken, ein Projekt der Apothekerkammer<br />

Nordrhein; PharmCHF Studie der ABDA – www.<br />

pharm-chf.de; WestGEM-Studie: Entwicklung und<br />

modellhafte Erprobung eines Konzepts zur integrierten<br />

Zusammenarbeit von niedergelassenen<br />

Ärzten (behandelnder Primärarzt), Apothekern<br />

sowie Pflege- und Wohnberatern).<br />

Schritt 7: Arzneimittelanwendung<br />

Der Medikationsprozess schließt auch Hilfestellungen<br />

für eine sichere und verordnungsgemäße<br />

Arzneimittelanwendung mit ein. Im Folgenden<br />

sind in Anlehnung an v. Renteln-Kruse [157] einige<br />

Aspekte zusammengetragen. Eine sichere Arzneimittelanwendung<br />

kann durch verschiedene Berufsgruppen/Einrichtungen<br />

(Arzt, MFA, Apotheke,<br />

Pflege) unterstützt werden.<br />

Wiederholtes Erfragen und Identifikation<br />

der individuellen Probleme eines Patienten.<br />

Dies dient dem Erkennen von Behinderungen<br />

(Feinmotorik, Sehbehinderung) bei der<br />

Anwendung oder von Verständnisproblemen<br />

(Sprache, Hören).<br />

Vorteile durch vereinfachte Therapie<br />

nutzen: Zahl der Medikamente senken (z. B.<br />

durch Kombinationspräparate, Prioritätensetzung)<br />

Dosierung vereinfachen, Einnahmehilfen<br />

anbieten (Dosetten).<br />

Informationen mündlich und schriftlich<br />

weitergeben, z. B. Verordnungsplan, Patienteninformationen<br />

mitgeben.<br />

»Verstärker« nutzen: Einbeziehen von Angehörigen,<br />

Schulungen, Hinweis auf Gesundheitsportvereine.<br />

Ggf. direktes Einbeziehen von an der<br />

Versorgung Beteiligter/Angehöriger: Hierdurch<br />

soll sichergestellt werden, dass nicht<br />

nur der Patient die für die Therapie wichtigen<br />

Informationen erhalten hat.<br />

Bei Prüfen des Behandlungserfolges (Monitoring):<br />

Werte erläutern, Feedback zur Therapie<br />

geben, nach Therapieproblemen fragen.<br />

Möglichkeiten für sinnvolle Selbstkontrollen<br />

ansprechen (z. B. Gewichtskontrolle, Blutzucker-Messungen),<br />

Anwendung von Inhalern,<br />

Pens zeigen lassen.<br />

Auch zur Stärkung der Adhärenz sind unterstützende<br />

Maßnahmen möglich:<br />

Maßnahmen zur Arzneimitteleinnahme/<br />

Durchführung von Übungen individualisieren,<br />

z. B. spezielle Erinnerungstricks.<br />

Gewohnheiten (Ritualisierung) bilden, z. B.<br />

Tabletten immer vor dem Nachtisch oder dem<br />

Zubettgehen einnehmen (sofern keine anderen<br />

Vorgaben).<br />

Wiederholungseffekte nutzen, ggf. häufiger<br />

einbestellen nach Neubeginn der Therapie.<br />

Patienten sollten bei jedem Besuch darauf<br />

hingewiesen werden, wie wichtig die Therapie<br />

ist (z. B. Blutdhochdruckbehandlung).<br />

Verständnis für Chronozität der Erkrankung<br />

herstellen: Erläuterung der Notwendigkeit<br />

einer Dauerbehandlung trotz Zielerreichung.<br />

Über Risikofaktoren aufklären (Risikokommunikation):<br />

z. B. mittels arriba ® , Antirauchermaßnahmen.<br />

Erläuterung von Nebenwirkungen, die<br />

erfahrungsgemäß oftmals zu Non-Adhärenz<br />

führen (z. B. Potenzstörung, Gewichtszunahme):<br />

Hier sollten die Aussagen in der<br />

Packungsbeilage auf den Patienten bezogen<br />

erläutert und Hinweise zum Verhalten gegeben<br />

werden.<br />

Antizipieren, dass Patient evtl. die Therapie<br />

eigenständig verändert: Hinweise<br />

geben, welche Medikamente nicht eigenständig<br />

abgesetzt, pausiert oder in der Dosierung<br />

verändert werden sollten.<br />

Nachfragen nach Eigenaktivität der Patienten<br />

(als Ausdruck von Mitwirkung an<br />

Therapie) wie alternative, antroposophische<br />

Heilverfahren, Heilpraktiker u. a. Erläutern,<br />

dass die Kenntnis darüber für den behandelnden<br />

Arzt notwendig sei, da evtl. Arzneimittel<br />

abgesetzt oder andere zusätzlich genommen<br />

werden<br />

Schritt 8: Monitoring (Assessment)<br />

Änderungen in der Medikation sind hinsichtlich<br />

ihrer Wirkungen (therapeutische Effekte, Nebenwirkungen,<br />

Notwendigkeit) zu beobachten. Hierzu<br />

ist ein Kontrolltermin, ggf. auch zur Überwachung<br />

klinischer Parameter, mit dem Patienten zu vereinbaren.<br />

Jedes Monitoring ist somit eine Bestandsaufnahme<br />

und mündet damit in einen neuen Behandlungskreislauf<br />

(s. Abb. zum Medikati-


Seite 52 KVH • aktuell<br />

Nr. 2 / 2013<br />

onsprozess). So stellt das Monitoring eine gute<br />

Gelegenheit dar, nach unspezifischen Symptomen<br />

zu fragen, da diese Folgen einer Therapieänderung<br />

sein könnten, wie z. B.:<br />

Trockener Mund<br />

Abgeschlagenheit, Müdigkeit, Schläfrigkeit<br />

oder reduzierter Wachsamkeit<br />

Schlafstörung<br />

Schwäche<br />

Bewegungsstörungen, Tremor, Stürze<br />

Obstipation, Diarrhoe oder Inkontinenz, Appetitlosigkeit,<br />

Übelkeit<br />

Hautausschläge, Juckreiz<br />

Depression oder mangelndes Interesse an den<br />

üblichen Aktivitäten<br />

Verwirrtheit (zeitweise oder dauerhaft)<br />

Halluzinationen<br />

Angst und Aufregung<br />

Nachlassen des sexuellen Interesses<br />

Schwindel<br />

Ohrgeräusche<br />

Ebenso sollte beim Monitoring nach Problemen<br />

in der Umsetzung der Therapie gefragt und die<br />

Adhärenz überprüft werden (s. Abschnitt Adhärenz<br />

im Medikationsprozess Schritt 1). Empfehlenswert<br />

ist es, sich die Anwendung von Asthmainhalern<br />

oder Insulinpens, das Vorhandensein des Medikationsplanes<br />

oder Diabetespasses sowie ggf. Blutzucker-<br />

oder RR-Aufzeichnungen zeigen zu lassen.<br />

Zum Monitoring gehören auch Routinekontrollen.<br />

Medikamente, die regelmäßige Laborkontrollen<br />

oder auch eine EKG-Kontrolle erfordern, sind in<br />

nachfolgender Tabelle (Schmiemann G, Biesewig-<br />

Siebenmorgen J, Egidi G [126]) aufgeführt. Die<br />

Liste ist das Ergebnis mehrerer Diskussionen in<br />

Qualitätszirkeln und Fortbildungsveranstaltungen.<br />

Grundlage ist neben der klinischen Erfahrung der<br />

Teilnehmer eine selektive Literatursuche. Trotz<br />

gewissenhafter Prüfung ist die Auswahl der Kontrollen<br />

letztlich subjektiv und stellt keine verbindliche<br />

Empfehlung dar.<br />

Für spezielle Wirkstoffe (z. B. Immunsuppressiva,<br />

Antiepileptika) sollte man die Fachinformation<br />

konsultieren, da hier sehr komplexe und nach<br />

Indikation auch unterschiedliche Laborkontrollen<br />

empfohlen sind.<br />

Die in der unten beginnenden Tabelle vorgeschlagenen<br />

Routinekontrollen stellen das Ergebnis aus<br />

Diskussionen in Qualitätszirkeln und Fortbildungsveranstaltungen<br />

dar [126]).<br />

Vorschlag für sinnvolle Routinekontrollen bei häufig eingesetzten Wirkstoffen [126]<br />

Wirkstoff(gruppe)<br />

ACE-Hemmer/Sartane (z. B: Ramipril/Candesartan)<br />

Thiazid- Diuretika (Hygroton ® )<br />

Schleifendiuretikum<br />

(z. B. Furosemid, Torasemid)<br />

ß-Blocker<br />

Amiodaron (Cordarex ® , Generika)<br />

Spirolonacton (Aldactone ® , Generika<br />

Digoxin/Digitoxin<br />

Allopurinol<br />

Systemische Kortikoide<br />

(Prednisolon/Decortin H ® )<br />

Statine<br />

(z. B: Simvastatin/ Pravastatin)<br />

Metformin<br />

Kontrollen<br />

Vor/bei Therapiebeginn und bei Niereninsuffizienz nach 1 Woche<br />

Kreatinin (eGFR*), Kalium, dann 1x im Jahr Krea und Kalium [63]<br />

Vor/bei Therapiebeginn und 1x im Jahr Kreatinin (eGFR), Kalium<br />

(Cave: Kreatinin >1,8 mg/dl ist Kontraindikation), Natrium<br />

Vor/bei Therapiebeginn und 1x im Jahr Krea (eGFR), Kalium, Natrium<br />

abhängig von der Dosierung mindestens 1x jährlich<br />

Evtl. EKG vor Therapie<br />

Vor/bei Therapiebeginn Spirometrie/Rö-Thorax, TSH, fT3, fT4, Spirometrie<br />

alle 6 Monate oder bei Dyspnoe, 1x jährlich TSH + augenärztliche<br />

Kontrolle [73, 134] + EKG (s. Hinweis)*<br />

Kreatinin, Kalium alle 6 Monate<br />

EKG, Kreatinin, Kalium 1x im Jahr, keine Routine-Spiegelbestimmung<br />

bei klinisch stabilen Patienten [134]<br />

Vor/bei Therapiebeginn und 1x im Jahr Kreatinin (eGFR), GOT/GPT,<br />

Harnsäure<br />

Ab 7,5 mg/Tag: BZ 1x pro Quartal; ab einer Therapiedauer<br />

> 3 Monate an Osteodensitometrie denken<br />

CK und GOT/GPT 1x nach Therapiebeginn (Grenzwerte beachten!),<br />

CK danach nur bei Beschwerden<br />

Vor/bei Therapiebeginn und 1x im Jahr BB, Kreatinin (eGFR), HbA1c<br />

1x/Quartal. Bei Makrozytose: Folsäure, Vit. B


Nr. 2 / 2013<br />

KVH • aktuell<br />

Seite 53<br />

Wirkstoff(gruppe)<br />

Dabigatran (Pradaxa ® )<br />

Phenprocoumon (Marcumar ® )<br />

Niedermolekulare Heparine<br />

Enoxaparin (Clexane ® )<br />

Azathioprin<br />

Methotrexat (Lantarel ® )<br />

Lithium (Quilonum ® )<br />

Kontrollen<br />

Vor/bei Therapiebeginn und 1x im Quartal BB, 1x im Jahr Kreatinin<br />

(eGFR) [6]<br />

1 x im Quartal kleines BB, gGT und GPT<br />

INR auch bei sehr stabilen Werten mind. alle 3 Monate [56]<br />

Vor/bei Therapiebeginn und 2 Wochen lang 2 x in der Woche kleines<br />

Blutbild, wenn das Risiko für HIT > 1% [56]<br />

Vor/bei Therapiebeginn und dann wöchentlich für 1-3 Monate BB,<br />

Kreatinin, yGT, GPT, danach alle 1-3 Monate. Cave: Kombination mit<br />

Allopurinol<br />

Vor/bei Therapiebeginn Diff-BB, GPT, GOT, gGT, AP, Bilirubin, Kreatinin-Clearance<br />

(Reduktion bei GFR 1x /Quartal TSH + BB [134]. BB im<br />

Verlauf eher nicht geeignet, um Agranulozytoserisiko zu erkennen<br />

(Patienten über Hinweise auf Agranulozytose – Infekte, insbesondere<br />

Halsschmerzen – informieren)<br />

Vor/bei Therapiebeginn und 1x im Quartal kleines BB, gGT, GPT (laut<br />

Fachinformation zu Beginn häufiger)<br />

Vor/bei Therapiebeginn 1x im Quartal BB, AP, PT, Kreatinin (laut Fachinformation:<br />

zu Beginn häufiger und auch Urin-Status). Nach Fieber/<br />

ZNS-Symptomen und Exanthemen fragen.<br />

SSRI (Citalopram/Cipramil ® ) Natrium-Kontrolle, EKG (Kontrolle QTc-Zeit) [159]<br />

Antiepileptika<br />

Carbamazepin<br />

Kreatinin, Na 1x pro Jahr; Spiegel-Kontrollen nur in Einstellungsphase<br />

und bei häufigen Krampfanfällen. Dann morgendlicher Talspiegel vor<br />

Tabletteneinnahme.<br />

Vor/bei Therapiebeginn und 1x im Quartal kleines BB, Harnstoff, Na,<br />

yGT, GPT (laut Fachinformation zunächst wöchentlich)<br />

Hinweis zu Amiodoron aus Fachinformation: Infolge der Lungentoxizität besteht das Risiko, schwere entzündliche Lungenerkrankungen<br />

(Hypersensitivitätspneumonitis, alveoläre oder interstitielle Pneumonien, Fibrosen, Pleuritis, Bronchiolitis obliterans mit Pneumonie/BOOP)<br />

zu entwickeln. Nichtproduktiver Husten und Atemnot sind häufig erste Anzeichen der vorgenannten Lungenveränderungen. Des Weiteren<br />

können Gewichtsverlust, Fieber, Schwächegefühl auftreten. Daher sollte vor Behandlungsbeginn eine Rö-Thorax sowie ein Lungenfunktionstest<br />

durchgeführt werden. Im weiteren Behandlungsverlauf sollen diese Untersuchungen in Abständen von 3 bis 6 Monaten wiederholt<br />

werden. Ebenso sollten diese Untersuchungen bei Auftreten von Atembeschwerden (Symptom möglicher lungentoxischer Wirkung) durchgeführt<br />

werden. Bei Patienten mit schweren Lungenerkrankungen ist die Lungenfunktion ggf. häufer zu kontrollieren, da diese Patienten bei<br />

Auftreten lungentoxischer Wirkungen eine schlechte Prognose haben.<br />

Weitere Hinweise<br />

Kreatinin i.S.: bei Fieber, Flüssigkeitsverlust oder anderweitigem Verdacht auf Exsikkose häufiger kontrollieren, nach Rekompensation evtl.<br />

Dosisanpassungen überprüfen; eGFR = estimated GFR<br />

*Vorgehen bei Lithiumspiegel: Blutabnahme12 Stunden nach der letzten Tabletteneinnahme.


Seite 54 KVH • aktuell<br />

Nr. 2 / 2013<br />

Unterstützende Rahmenbedingungen<br />

Ein Medikationsreview kann durch folgende Rahmenbedingungen<br />

unterstützt werden:<br />

Medikationsreview als Bestandteil der Gesundheitsuntersuchung<br />

bei Älteren,<br />

durch einen Medikamentenplan, der von allen<br />

Ärzten und Apothekern geführt wird.<br />

Sinnvoll wäre auch ein Hausarztmodell, in<br />

dem dem Hausarzt alle Informationen – also<br />

auch Medikamentenverordnungen – übermittelt<br />

werden, so dass der Medikamentenplan<br />

fortlaufend aktualisiert und die Medikation bei<br />

Gefahr von Interaktionen verändert werden<br />

kann (z. B. elektronischer Interaktionscheck).<br />

Ein Medikationscheck sollte in eine gesetzliche<br />

Struktur eingebettet werden, ähnlich<br />

einem DMP oder einer Gesundheitsuntersuchung.<br />

Er sollte bei Patienten mit Multimedikation<br />

einmal pro Jahr durchgeführt werden.<br />

Die Medikationsbewertung ist ein zeitintensiver<br />

Prozess, der auch entsprechende Qualifikationen<br />

voraussetzt. Geeignete Kooperationen mit Apothekern<br />

und Pflegekräften für ein gemeinsames<br />

Medikationsmanagement sind zu erproben, ebenso<br />

Aufgabenteilungen innerhalb der Arztpraxis. Auch<br />

ist eine Finanzierung hinsichtlich zusätzlicher Untersuchungen<br />

(Blutabnahmen, EKG, Lungenfunktion)<br />

vorzusehen.<br />

Einteilung der Evidenzstärke (level of evidence,<br />

Übersetzung in Anlehnung an ÄZQ [108])<br />

In den Leitlinien wie auch generell in KV aktuell werden immer wieder die Evidenzgrade und -typen<br />

erwähnt. Die folgende Aufstellung zeigt die Bedeutung der Abkürzungen.<br />

Grad und Evidenztyp<br />

Ia Evidenz aufgrund von Metaanalysen randomisierter<br />

kontrollierter Studien<br />

Ib Evidenz aufgrund von mindestens einer randomisierten<br />

kontrollierten Studie<br />

IIa Evidenz aufgrund mindestens einer gut angelegten,<br />

kontrollierten Studie ohne Randomisierung<br />

IIb Evidenz aufgrund einer gut angelegten, quasi<br />

experimentellen Studie<br />

III Evidenz aufgrund einer gut angelegten nichtexperimentellen<br />

deskriptiven Studie<br />

(z. B. Vergleichsstudien, Korrelationsstudien<br />

und Fall-Kontroll-Studien)<br />

IV Evidenz aufgrund von Berichten oder Meinungen<br />

von Expertenkreisen, Konsensuskonferenzen<br />

und/oder klinischer Erfahrung anerkannter<br />

Autoritäten<br />

Stufen der Empfehlung<br />

A Beruhend auf den Graden Ia und Ib des<br />

Evidenztyps, d. h. die Empfehlung stützt sich<br />

auf Veröffentlichungen guter Qualität, die<br />

mindestens eine randomisierte kontrollierte<br />

Studie enthalten.<br />

B Beruhend auf den Graden IIa, IIb und III des<br />

Evidenztyps; d. h. die Empfehlung stützt sich<br />

auf gut angelegte, nicht randomisierte, klinische<br />

Studien.<br />

C Beruhend auf Evidenzgrad IV, d. h. die Empfehlung<br />

leitet sich ab aus Berichten oder<br />

Meinungen von Expertenkreisen, Konsensuskonferenzen<br />

und/oder klinischer Erfahrung<br />

anerkannter Autoritäten. Die Stufe C weist<br />

auf das Fehlen direkt anwendbarer klinischer<br />

Studien guter Qualität hin.


Tischversion<br />

Multimedikation<br />

• Medikationsbewertung: Zentraler Bestandteil im<br />

Prozess der Verordnungsentscheidung ist die kritische<br />

Prüfung und Bewertung der vorhandenen<br />

Medikation. Hilfreich hierfür sind Leitfragen, die die<br />

Verordnungsentscheidung lenken. Die Leitliniengruppe<br />

empfiehlt, die Fragen des Medication<br />

Appropriateness Index (MAI) – hier auch als<br />

Instrument zu Medikationserfassung als Voraussetzung<br />

zur Bewertung der Angemessenheit für<br />

gezielte Intervention bezeichnet – heranzuziehen.<br />

Diese reichen von der Frage nach der Indikation,<br />

dem Erkennen von Kontraindikation über Interaktion,<br />

Dosierung, Angemessenheit bis zur Wirtschaftlichkeit<br />

der Therapie.<br />

• Abstimmung mit dem Patienten: Vor der Entwicklung<br />

eines Verordnungsvorschlags steht die Abstimmung<br />

mit dem Patienten über seine Bedürfnisse<br />

und Vorstellungen zur Arzneitherapie.<br />

• Verordnungsvorschlag: Dies umfasst sowohl die<br />

Entscheidung, keine neue Arzneimittelverordnung<br />

auszustellen bis hin zum Beenden einer Therapie<br />

aufgrund der Medikationsbewertung mittels des<br />

MAI. Das Beenden einer Therapie kann darüber<br />

hinaus durch die gemeinsame Entscheidung von<br />

Arzt und Patient erfolgen, indizierte Verordnungen<br />

z. B. aus Gründen der Lebensqualität und Problemen<br />

in der Therapiehandhabung abzusetzen. Die<br />

Leitlinie gibt hier auch Hinweise auf die Prüfung<br />

möglicher Unterversorgung, die trotz Multimedikation<br />

bestehen kann.<br />

• Kommunikation: Für den Erfolg der Behandlung<br />

und zur Reduktion arzneimittelbezogener Therapieprobleme<br />

ist sicherzustellen, dass der Patient gut<br />

über die Therapie informiert ist und einen aktuellen<br />

Medikationsplan mit Hinweisen zur Einnahme besitzt.<br />

Die Leitlinie weist auf Mindestanforderungen<br />

für den Medikationsplan hin und empfiehlt den Plan<br />

des Aktionsbündnis Arzneimitteltherapiesicherheit –<br />

AMTS.<br />

• Arzneimittelabgabe: Diese erfolgt in der Regel<br />

durch die Apotheke. Patienten mit Multimedikation<br />

sollte dazu geraten werden, eine Hausapotheke zu<br />

wählen, die Interaktionschecks durchführen und ein<br />

elektronisches Medikationsprofil erstellen kann.<br />

Hierbei sollte auch die Selbstmedikation hinsichtlich<br />

möglicher Interaktionen geprüft und in den Plan<br />

eingetragen werden.<br />

• Arzneimittelanwendung: Eine sichere Arzneimittelanwendung<br />

kann durch verschiedene Berufsgruppen/Einrichtungen<br />

(Arzt, Medizinische Fachangestellte,<br />

Apotheke, Pflege) sowie schriftliche<br />

Informationen unterstützt werden.<br />

• Monitoring: Jedes Monitoring (Prüfung der Behandlungsergebnisse,<br />

Erfassung unerwünschter<br />

Wirkungen – UAW) stellt eine erneute Bestandsaufnahme<br />

(s. o.) dar. Für ausgewählte kritische<br />

Arzneimittelgruppen gibt die Leitlinie Empfehlungen<br />

zur Häufigkeit von Kontrollen.<br />

Allgemeine Hinweise zur Reduktion unerwünschter<br />

Multimedikation<br />

• Leitfragen des MAI als Hilfestellung zur Medikationsbewertung<br />

heranziehen.<br />

• Keine Therapie ohne Medikamenten-Anamnese<br />

durchführen (nach früheren Unverträglichkeiten,<br />

Selbstmedikation und Mitbehandler-Medikation<br />

fragen, Medikationsplan prüfen).<br />

• Patienten in die Entscheidung einer Verordnung mit<br />

einbeziehen (nicht primär von einem Verordnungswunsch<br />

ausgehen, jedoch auch nicht jeden Verordnungswunsch<br />

erfüllen).<br />

• Klären, ob eine Pharmakotherapie überhaupt erforderlich<br />

und erfolgversprechend ist.<br />

• Bei der Verordnungsentscheidung den Langzeitnutzen<br />

der Therapie berücksichtigen.<br />

• Absetzen der Pharmakotherapie, wenn sie nicht<br />

mehr nötig ist, keine gewohnheitsmäßigen Dauertherapien<br />

durchführen.<br />

• Bei neuen Patienten, nach Krankenhausaufenthalt<br />

oder bei zusätzlichen Arztkontakten immer Medikamentenplan<br />

neu prüfen und besprechen.<br />

• Auf unerwünschte Wirkungen achten (Patienten<br />

Verhaltenshinweise für das Auftreten möglicher<br />

Nebenwirkungen geben, überprüfen, ob neue<br />

Symptome evtl. UAWs darstellen).<br />

Die Leitlinienautoren weisen auf notwendige Rahmenbedingungen<br />

– elektronische und finanzielle Unterstützung<br />

– zur Durchführung eines umfassenden Arzneimittelreviews<br />

hin.<br />

Hinweis<br />

Die Leitlinie wurde von der Hausärztlichen Leitliniengruppe<br />

Hessen gemeinsam mit der DEGAM erstellt.<br />

Korrespondenzadresse<br />

PMV forschungsgruppe<br />

Fax: 0221-478-6766<br />

Email: pmv@uk-koeln.de<br />

http:\\www.pmvforschungsgruppe.de<br />

Ausführliche Leitlinie im Internet<br />

www.pmvforschungsgruppe.de<br />

> publikationen > leitlinien<br />

www.leitlinien.de/mdb/downloads/lghessen/<br />

multimedikation-lang.pdf<br />

Hausärztliche Leitlinie<br />

»Multimedikation«<br />

Tischversion 1.0 März 2013


XtraDoc Verlag Dr. Wiedemann, Winzerstraße 9, 65207 Wiesbaden<br />

PVSt Deutsche Post AG, Entgelt bezahlt, 68689<br />

PH863453V<br />

Hausärztliche Leitlinie<br />

Multimedikation<br />

Tischversion<br />

Multimorbidität<br />

Multimorbidität geht in der Regel mit Multimedikation<br />

einher. Diese ist z. B. durch Interaktionen oder Fehlanwendungen<br />

mit Risiken verbunden und stellt an den<br />

Hausarzt als Koordinator der Medikation, aber auch an<br />

den Patienten erhöhte Anforderungen. Voraussetzung<br />

für eine sichere Arzneitherapie und Grundlage jedes<br />

Medikationsmanagements stellt ein aktueller Medikamentenplan<br />

dar.<br />

Die Leitliniengruppe unterscheidet eine aufgrund der<br />

Erkrankungen des Patienten notwendige Multimedikation<br />

von unerwünschter Multimedikation. Letzteres hat<br />

vielfältige Ursachen wie unkoordinierte Therapie verschiedener<br />

Behandlungen, Selbstmedikation, Weiterführen<br />

von Akutbehandlungen, nichterkannte Verordnungskaskaden<br />

u. a. m. Hier finden sich Ansatzpunkte<br />

für eine Reduktion der Zahl der Arzneimittel.<br />

Die Empfehlungen der Leitlinie beruhen auf einer Literaturrecherche<br />

zu Studien zum Medikamentenreview.<br />

Diese wurden nicht im Setting einer Hausarztpraxis in<br />

Deutschland durchgeführt und weisen auch hinsichtlich<br />

des Nutzens durchaus widersprüchliche Ergebnisse<br />

auf. Dennoch empfiehlt die Leitliniengruppe ein<br />

Medikamentenreview, da hierdurch nachweislich Therapieprobleme<br />

aufgedeckt, die Arzneimittelsicherheit<br />

und Lebensqualität erhöht werden können.<br />

Die Leitlinienautoren sehen auch in Patienten mit psychosozialer<br />

Belastung eine Zielgruppe für die Risikoprävention.<br />

Medikationsprozess<br />

Um die Sicherheit und Qualität der Arzneitherapie zu<br />

optimieren und zu gewährleisten, muss der gesamte<br />

Verordnungsprozess betrachtet werden. In der vorliegenden<br />

Leitlinie wird dieser Prozess in die folgenden<br />

Schritte eingeteilt, die zyklisch durchlaufen werden:<br />

• Bestandsaufnahme: An erster Stelle steht die<br />

Anamnese über die Beschwerden und Anliegen<br />

des Patienten sowie seine aktuelle Medikation.<br />

Unspezifische Beschwerden sind vor dem Hintergrund<br />

möglicher Nebenwirkungen der vorhandenen<br />

Medikation zu bewerten. Grundlage der Bewertung<br />

ist bei bekannten Patienten neben den Selbstangaben<br />

des Patienten zu seiner Medikation, der Medikationsplan.<br />

Bei Patienten mit Therapieproblemen<br />

und Multimedikation sollte einmal jährlich eine Erfassung<br />

der gesamten Medikation inkl. der Selbstmedikation<br />

erfolgen. Zur Bestandsaufnahme zählt<br />

auch die Ermittlung der Adhärenz des Patienten mit<br />

der Medikation und die Erhebung von Anwendungsproblemen.

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