Grusswort 16. Ausgabe - Alters- und Pflegeheim Birgli

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B i r g l i - Z i i t i g 1 / 2 0 1 2 A l l t A g s g e s c h i c h t e n A u s d e m B i r g l i 16 Alltagsgeschichten Einmal in einer Turnstunde, in der es sehr fröhlich und schwungvoll zu ging, fiel mir auf, dass Frau Moosbrugger, die normalerweise im Turnen voll bei der Sache und auch für manches Spässchen zu haben war, ganz still, traurig und unbeteiligt dabei sass. Ich versuchte sie mit allerlei zu locken, merkte aber bald, dass ich sie wohl in ihrer Traurigkeit belassen sollte. Trotzdem liess mir ihr Zustand innerlich keine Ruhe. Kurz vor Schluss der Turnstunde fielen mir ihre Englischkenntnisse ein und ich sprach sie an mit. «Good morning, Misses Moosbrugger.! How do you do?» («Guten Morgen, wie geht es Ihnen?») Da breitete sich auf ihrem Gesicht ein Strahlen aus, ihre Augen blitzten kurz auf und sie antwortete lächelnd: «Very well!» («Sehr gut») Petra Brodwolf, Aktivierung Frau Eigenständig Es lässt mir grad keine Ruhe kurz einen Blick in Zimmer 18 durch den angelehnten Türstoss zu werfen vor Dienstschluss am Mittag. Was erblicken meine Augen… Die gehunsichere, zittrige in ihren Jahren etwas steif gewordene Frau Eigenständig ist im Begriff auf ihr altes Sofa zu steigen. Unsicher, wackelig auf allen vieren. Daneben ebenfalls mitwackelnd steht ihre Giesskanne, die meines Erachtens jeden Moment umfallen und ausleeren könnte. Schnell erfasse ich, was das Ziel der alten Frau ist: Das Giessen ihrer Pflanze auf ihrem alten Schaft. Eingreifen oder mucksmäuschenstill aushalten. In Sekundenbruchteilen ent- scheide ich mich für letzteres. Diese Entscheidung ist gespickt mit langem Ausharrungsatem. Momente wo fast die Luft wegbleibt. Frau Eigenständig setzt ihr Unternehmen zielgerichtet fort. Beginnt aus der Position des Vierfüsslers nun auf dieser unstabilen Sofaunterlage sich Schritt für Schritt in den Einbein Kniestand

B i r g l i - Z i i t i g 1 / 2 0 1 2 A l l t A g s g e s c h i c h t e n A u s d e m B i r g l i Alltagsgeschichten zu bewegen. Konzentriert wie ein Kletterer in der Steilwand sucht sie feste Griffe, wo sie sich weiter hochziehen kann. Was sie nicht aus den Augen lässt, ist ihre Giesskanne. Endlich steht sie breitbeinig stabilisierend, bereit für die Komplexität des nächsten Schrittes auf dem Sofa. Bücken, Giesskanne erfassen, diese hochheben, kippen zum Giessen. Wenn das nur gut kommt sind meine Gedanken. Doch siehe da: sie schafft es direkt in den Pflanztopf zu giessen. Was sie nicht ganz im Griff hat ist die Wassermenge. Als es beginnt beim Übertopf vom Schrank zu tropfen stoppt Frau Eigenständig. Ein weiterer Ausharrungsmoment meinerseits, ihr nicht zu Hilfe zu eilen. Das Tropfen bringt sie nicht aus der Fassung. Langsam in der umgekehrten Reihenfolge beginnt der Abstieg, bis sie sicheren Boden unter den Füssen spürt, sich erschöpft aufs Sofa setzt. Nun ist der Moment wo ich mich aus meiner Verharrungsposition löse, zu ihr hingehe, mich neben sie setze. «Geschafft?» frage ich selber ausatmend. «Ja, es hat mich ziemlich gebraucht, jetzt hat mei- ne Ranke für eine Weile genug Wasser.» antwortet sie noch etwas atemlos. Wie nach einer gelungenen Bergtour bleiben wir einen Moment schweigend auf dem Sofa sitzen und erholen uns. Frau Eigenständig von ihrer Höhentour, ich von meiner Ausharrungstour. …eigenständig Bewegungskompetenz entwickeln und dabei so viel Lebensqualität erfahren hat keine Grenzen, denke ich einmal mehr... Agnes Streich, Pflege und Betreuung/ Kinästhetiktrainerin 17

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Alltagsgeschichten<br />

zu bewegen. Konzentriert wie ein Kletterer<br />

in der Steilwand sucht sie feste<br />

Griffe, wo sie sich weiter hochziehen<br />

kann. Was sie nicht aus den Augen<br />

lässt, ist ihre Giesskanne.<br />

Endlich steht sie breitbeinig stabilisierend,<br />

bereit für die Komplexität des<br />

nächsten Schrittes auf dem Sofa.<br />

Bücken, Giesskanne erfassen, diese<br />

hochheben, kippen zum Giessen. Wenn<br />

das nur gut kommt sind meine Gedanken.<br />

Doch siehe da: sie schafft es<br />

direkt in den Pflanztopf zu giessen.<br />

Was sie nicht ganz im Griff hat ist die<br />

Wassermenge. Als es beginnt beim<br />

Übertopf vom Schrank zu tropfen<br />

stoppt Frau Eigenständig. Ein weiterer<br />

Ausharrungsmoment meinerseits, ihr<br />

nicht zu Hilfe zu eilen. Das Tropfen<br />

bringt sie nicht aus der Fassung.<br />

Langsam in der umgekehrten Reihenfolge<br />

beginnt der Abstieg, bis sie sicheren<br />

Boden unter den Füssen spürt, sich<br />

erschöpft aufs Sofa setzt. Nun ist der<br />

Moment wo ich mich aus meiner Verharrungsposition<br />

löse, zu ihr hingehe,<br />

mich neben sie setze. «Geschafft?» frage<br />

ich selber ausatmend. «Ja, es hat<br />

mich ziemlich gebraucht, jetzt hat mei-<br />

ne Ranke für eine Weile genug Wasser.»<br />

antwortet sie noch etwas atemlos.<br />

Wie nach einer gelungenen Bergtour<br />

bleiben wir einen Moment schweigend<br />

auf dem Sofa sitzen <strong>und</strong> erholen uns.<br />

Frau Eigenständig von ihrer Höhentour,<br />

ich von meiner Ausharrungstour.<br />

…eigenständig Bewegungskompetenz<br />

entwickeln <strong>und</strong> dabei so viel Lebensqualität<br />

erfahren hat keine Grenzen,<br />

denke ich einmal mehr...<br />

Agnes Streich, Pflege <strong>und</strong> Betreuung/<br />

Kinästhetiktrainerin<br />

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