Evaluierung Wiener Wohnungslosenhilfe - L&R Sozialforschung

Evaluierung Wiener Wohnungslosenhilfe - L&R Sozialforschung Evaluierung Wiener Wohnungslosenhilfe - L&R Sozialforschung

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22.04.2014 Aufrufe

17 Resümee und Handlungsoptionen Ziel der vorliegenden Studie ist eine umfassende Evaluation des Systems der Wiener Wohnungslosenhilfe (WWH). Dieses im Laufe der Jahre gewachsene und stetig weiterentwickelte System bietet derzeit mehr als 80 Angebote von mehr als 20 Trägern. Die monatelange Feldarbeit lieferte ein eindrucksvolles Zeugnis für das hohe Niveau der angebotenen Leistungen und das große Engagement der im System tätigen Fachkräfte. Wie die empirischen Befunde dieser Studie bestätigen, sind nicht nur die Ursachen der Wohnungslosigkeit breit gestreut, sondern auch biographische Prägungen und Risikoprofile der KlientInnen vielfältig und erfordern eine ausdifferenzierte Unterstützung. Der Heterogenität der Zielgruppe entspricht die vorgefundene breite Angebotspalette, reichend von ambulanten Angeboten über Nachtquartiere, Übergangswohnen, Zielgruppenwohnen, Mutter- Kind-Einrichtungen und Familienangebote, Betreutes Wohnen in Wohnungen und Dauerwohnangebote im Rahmen des Sozial Betreuten Wohnens. Die hohe Innovationsbereitschaft aller beteiligten Akteure in Verbindung mit einer großen Bereitschaft zur inhaltlichen Vernetzung dürfte auch einer der Hauptgründe sein, dass trotz der breiten Architektur der Angebotspalette keine nennenswerten Doppelgleisigkeiten aufzuspüren waren. Ebenso überzeugten auch das hohe Niveau und die Vielfalt der einzelnen Angebotsinhalte und Angebotsformen Dementsprechend konnte der größte Teil des untersuchten Zielgruppenspektrums beachtliche Erfolge und Entwicklungsschritte auf dem Weg zu einem eigenständigen Wohnen erreichen. In der Folge betreffen die Handlungsoptionen lediglich einzelne abgegrenzte Teilbereiche des Systems der Wiener Wohnungslosenhilfe und sind weniger als grundlegende Kritik als vielmehr als Versuch, einen Beitrag zur Optimierung einer bereits sehr ausdifferenzierten Angebotslandschaft zu leisten, zu verstehen. Davon unabhängig ist freilich die Diskussion zum Thema „Housing First“ zu führen, welche im Grunde einem radikalen Paradigmenwechsel gleichkommt. Die Abkehr vom „treatment first“ – Ansatz stellt in einigen Punkten eine Gegenthese zum bewährten Wiener Stufenplan dar. Mit Housing First könnte eine lohnenswerte Erweiterung/Ergänzung der Interventionsmöglichkeiten der Wiener Wohnungslosenhilfe erzielt werden. Um das derzeitige hohe Niveau der Unterstützungsleistungen aber auch in Zukunft garantieren zu können, müsste eine Implementation von Housing First – Angeboten im Rahmen spezifischer Pilotprojekte vor sich gehen. Im folgenden Text findet sich nun eine Reihe von Vorschlägen, welche auf den Daten dieser Studie basieren und aus den Analysen hervorgegangen sind: • Den Interviewergebnissen aus dieser Studie zufolge ist davon auszugehen, dass im Falle einer Räumung/Delogierung der Großteil der hernach wohnungslosen Personen keinen Kontakt mit den einschlägigen Einrichtungen (FAWOS, Sozialamt/MA 40, Jugendamt/MAGElf) aufgenommen hat. In absoluten Zahlen sind dies geschätzte 1.000 Personen pro Jahr. Die häufigste Begründung für die unterlassene Nutzung entsprechender Angebote war, dass es bereits zu spät gewesen sei. Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass die Interventionsangebote der Delogierungsprävention zu überdenken sind. 55 So wäre zu fragen, ob Interventionen bereits zu einem früheren Zeitpunkt angesetzt werden könnten. Weiters wären Überlegungen zur Form der Kontaktaufnahme, die i.d.R. fernmündlich erfolgt, anzustellen. Zuletzt wäre auch zu fragen, ob eine vertiefende Form einer begleitenden Unterstützung, die auch die (weiteren) Ursachen der drohenden Delo- 55 Interessante Argumente pro und contra aufsuchende Sozialarbeit im Falle von Mietschulden liefert Gerull (2002). 219

gierung thematisiert, einen besseren Beitrag zur nachhaltigen Sicherung der Wohnmöglichkeit leisten könnte. Diese Vorschläge decken sich auch ganz gut mit dem geplanten Vorhaben „Einsatz und weiteren Ausbau der Delogierungsprävention“ des Rot-Grünen Regierungsübereinkommens vom November 2010 (Gemeinsame Wege für Wien 2010, 72). • Jener Teil der wohnungslosen Klientel, welcher akute psychische Erkrankungen aufweist, wird gleichzeitig auch häufig im Zusammenhang mit wiederholten Verstößen gegen die Hausordnungen und vorzeitigen Auszügen genannt (siehe hierzu auch die sog. „Systemsprengerdebatte“). Davon abgesehen, dass derzeit ein echter Bedarf an Krisenintervention bei psychischer Erkrankung im Akutstadium mit Selbst- und/oder Fremdgefährdung gegeben ist, können die Einrichtungen von wenigen Ausnahmen abgesehen (Stichwort FrauenWohnZentrum) in solchen Fällen im Grunde genommen kein strukturiertes Angebot vorlegen. Personen mit diesem Profil werden bei Überschreiten der Einrichtungsgrenzen mit Hausverbot belegt und pendeln zwischen stationären psychiatrischen Angeboten, Nachtquartieren und Einrichtungen der WWH im Bereich des Übergangswohnens oder Sozial Betreuten Wohnens. So wird zwar immer wieder doch noch eine weitere Wohnmöglichkeit gefunden, aus Sicht der Person ist aber zu fragen, ob dieses Vorgehen nicht entwürdigend ist, aus Sicht des Systems der WWH ist zu fragen, ob dies eine optimale Mittelverwendung darstellt. Alternativ wäre zu prüfen, inwieweit andere Konzepte hier Anregungen liefern könnten. So könnte beispielsweise das Hotel Plus 56 in Köln als Vorbild für eine Erweiterung des Angebotes dienen. Dieses Konzept ist u.A. auch bekannt dafür, dass die Schnittstelle zur Psychiatrie sehr gut ausgebaut ist. Dieses Angebot richtet sich an Menschen, • die häufig sämtliche psychiatrische Versorgungssysteme erlebt haben und denen in diesen keine adäquate Hilfe angeboten werden konnte, • die bisher noch nie eine psychiatrische Behandlung erhalten haben, weil sie sich selbst nicht als krank erleben, jedoch massiv auffällig in ihrem jeweiligen sozialen Umfeld sind, • die mit chronischen, unbehandelten Psychosen sehr isoliert und völlig zurückgezogen leben, • die sehr aggressiv sind und mit ihrem massiv gestörten Sozialverhalten überall auffallen. Die Eckpfeiler des Konzeptes von Hotel Plus sind: • eine überschaubare Bewohnerzahl pro Objekt, um eine effektive und intensive Begleitung zu ermöglichen, • die Unterbringung in Einzelzimmern, • die Präsenz des Trägers in den Objekten (je zwei Mitarbeiter pro Haus) • ein Minimum an Hausregeln • die Unterstützung in lebenspraktischen Bereichen • die Beratung zur Bewältigung der krankheitsbedingten Beeinträchtigungen • bei Bedarf die Vermittlung von ambulanten oder stationären Hilfen • keine Begrenzung der Aufenthaltsdauer • Toleranz gegenüber extremem Verhalten, ohne diese kontrollieren zu müssen, es sei denn, es besteht unmittelbare Gefahr. 56 siehe hierzu http://www.stadt-koeln.de/mediaasset/content/pdf53/5-2.pdf 220

17 Resümee und Handlungsoptionen<br />

Ziel der vorliegenden Studie ist eine umfassende Evaluation des Systems der <strong>Wiener</strong> <strong>Wohnungslosenhilfe</strong><br />

(WWH). Dieses im Laufe der Jahre gewachsene und stetig weiterentwickelte<br />

System bietet derzeit mehr als 80 Angebote von mehr als 20 Trägern. Die monatelange<br />

Feldarbeit lieferte ein eindrucksvolles Zeugnis für das hohe Niveau der angebotenen Leistungen<br />

und das große Engagement der im System tätigen Fachkräfte.<br />

Wie die empirischen Befunde dieser Studie bestätigen, sind nicht nur die Ursachen der<br />

Wohnungslosigkeit breit gestreut, sondern auch biographische Prägungen und Risikoprofile<br />

der KlientInnen vielfältig und erfordern eine ausdifferenzierte Unterstützung. Der Heterogenität<br />

der Zielgruppe entspricht die vorgefundene breite Angebotspalette, reichend von ambulanten<br />

Angeboten über Nachtquartiere, Übergangswohnen, Zielgruppenwohnen, Mutter-<br />

Kind-Einrichtungen und Familienangebote, Betreutes Wohnen in Wohnungen und Dauerwohnangebote<br />

im Rahmen des Sozial Betreuten Wohnens. Die hohe Innovationsbereitschaft<br />

aller beteiligten Akteure in Verbindung mit einer großen Bereitschaft zur inhaltlichen Vernetzung<br />

dürfte auch einer der Hauptgründe sein, dass trotz der breiten Architektur der Angebotspalette<br />

keine nennenswerten Doppelgleisigkeiten aufzuspüren waren. Ebenso überzeugten<br />

auch das hohe Niveau und die Vielfalt der einzelnen Angebotsinhalte und Angebotsformen<br />

Dementsprechend konnte der größte Teil des untersuchten Zielgruppenspektrums beachtliche<br />

Erfolge und Entwicklungsschritte auf dem Weg zu einem eigenständigen Wohnen<br />

erreichen. In der Folge betreffen die Handlungsoptionen lediglich einzelne abgegrenzte Teilbereiche<br />

des Systems der <strong>Wiener</strong> <strong>Wohnungslosenhilfe</strong> und sind weniger als grundlegende<br />

Kritik als vielmehr als Versuch, einen Beitrag zur Optimierung einer bereits sehr ausdifferenzierten<br />

Angebotslandschaft zu leisten, zu verstehen.<br />

Davon unabhängig ist freilich die Diskussion zum Thema „Housing First“ zu führen, welche<br />

im Grunde einem radikalen Paradigmenwechsel gleichkommt. Die Abkehr vom „treatment<br />

first“ – Ansatz stellt in einigen Punkten eine Gegenthese zum bewährten <strong>Wiener</strong> Stufenplan<br />

dar. Mit Housing First könnte eine lohnenswerte Erweiterung/Ergänzung der Interventionsmöglichkeiten<br />

der <strong>Wiener</strong> <strong>Wohnungslosenhilfe</strong> erzielt werden. Um das derzeitige hohe Niveau<br />

der Unterstützungsleistungen aber auch in Zukunft garantieren zu können, müsste eine<br />

Implementation von Housing First – Angeboten im Rahmen spezifischer Pilotprojekte vor<br />

sich gehen.<br />

Im folgenden Text findet sich nun eine Reihe von Vorschlägen, welche auf den Daten dieser<br />

Studie basieren und aus den Analysen hervorgegangen sind:<br />

• Den Interviewergebnissen aus dieser Studie zufolge ist davon auszugehen, dass im Falle<br />

einer Räumung/Delogierung der Großteil der hernach wohnungslosen Personen keinen<br />

Kontakt mit den einschlägigen Einrichtungen (FAWOS, Sozialamt/MA 40, Jugendamt/MAGElf)<br />

aufgenommen hat. In absoluten Zahlen sind dies geschätzte 1.000 Personen<br />

pro Jahr. Die häufigste Begründung für die unterlassene Nutzung entsprechender<br />

Angebote war, dass es bereits zu spät gewesen sei. Dieses Ergebnis deutet darauf hin,<br />

dass die Interventionsangebote der Delogierungsprävention zu überdenken sind. 55 So<br />

wäre zu fragen, ob Interventionen bereits zu einem früheren Zeitpunkt angesetzt werden<br />

könnten. Weiters wären Überlegungen zur Form der Kontaktaufnahme, die i.d.R. fernmündlich<br />

erfolgt, anzustellen. Zuletzt wäre auch zu fragen, ob eine vertiefende Form einer<br />

begleitenden Unterstützung, die auch die (weiteren) Ursachen der drohenden Delo-<br />

55<br />

Interessante Argumente pro und contra aufsuchende Sozialarbeit im Falle von Mietschulden liefert Gerull<br />

(2002).<br />

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