Evaluierung Wiener Wohnungslosenhilfe - L&R Sozialforschung

Evaluierung Wiener Wohnungslosenhilfe - L&R Sozialforschung Evaluierung Wiener Wohnungslosenhilfe - L&R Sozialforschung

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22.04.2014 Aufrufe

Aspekte lenken und andere außer Acht lassen und damit strukturierende Wirkung haben. Sie sind somit mehr als beliebig austauschbare Worte, sondern sie spielen bei der Erfassung, Ordnung und Deutung der Umwelt eine wesentliche Rolle. In der Folge werden also die Begriffe, die in der sozialen Arbeit im Feld der Wohnungslosenhilfe zum Einsatz kommen, auch einen mehr oder weniger starken Einfluss auf die alltägliche Arbeit der ProfessionistInnen mit den KlientInnen haben (s. beispielsweise Helle 1977 S. 110). Zum anderen stellt sich die Wiener Wohnungslosenhilfe als vielfältiger Arbeitsbereich dar, innerhalb dessen sich ungezählte MitarbeiterInnen in unterschiedlichen Rahmenbedingungen und mit unterschiedlichen Zielrichtungen mit der heterogenen Gruppe wohnungsloser Menschen befassen. Gleichzeitig verwenden all diese AkteurInnen aber dieselben Begriffe, um ihre Arbeit zu beschreiben, auszurichten, zu ordnen und zu deuten, und es stellt sich die Frage, inwieweit das Begriffsverständnis innerhalb der WWH homogen ist. Mit dem Modul ‚Begriffsreflexion‘ wollen wir dem Verständnis zentraler Begriffe nachspüren, und haben die MitarbeiterInnen der WWH zu einer schriftlichen Reflexion eingeladen (teilnehmende RespondentInnen n=98, zur methodischen Durchführung siehe auch Kapitel 23.5). Sie wurden dabei um eine Stellungnahme zu den Begriffen ersucht, wobei explizit auf die individuellen Interpretationen abgestellt wurde, auf das alltägliche Verständnis und auf die Wahrnehmung des Stellenwerts oder der Rolle des Begriffs im System der WWH. Im Ergebnis zielt ein solcher offener Zugang nicht auf eine statistische Auswertung, sondern es sollen das breite Spektrum erkundet und Stimmungen und Wahrnehmungen eingefangen werden. Wenn im Folgenden verschiedene Aspekte der untersuchten Begriffe wiedergegeben werden, ist damit also nichts über deren ‚quantitative Verbreitung’ unter den RespondentInnen gesagt. Gleichzeitig sollen die Antworten auch nicht als erschöpfende und vollständige Erfassung des Begriffsverständnisses gelesen werden. Nichts desto trotz verraten aber diese Antworten etwas über dominierende Auffassungen und Assoziationen. In der folgenden Darstellung geht es jeweils zunächst um die inhaltliche Breite der Begriffe – was umfasst der Begriff oder das Konzept alles, welche Bereiche zählen beispielsweise alle zu Wohnkompetenz, wie breit ist sein inhaltliches Spektrum? Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Befunden auf verschiedenen ‚Meta-Ebenen’: wie etwa bewerten die RespondentInnen die Klarheit des Begriffs, ist das Konzept für sie eindeutig? Wie ermitteln sie beispielsweise die Wohnkompetenz von KlientInnen? Hier stellen sich Fragen etwa nach dem Grenzen gegenüber anderen Begriffen. Häufig wird auch eine Konstruktionsdimension reflektiert – was bedeutet es für die KlientInnen und für soziale Arbeit, wenn Wohnkompetenz in einer bestimmten Art definiert wird und festgestellt werden soll? Und schließlich wird auch die systemische Dimension berührt, wenn über die Verwendung des Begriffs im System der WWH und dessen diesbezügliche Aufgabe und Zielrichtung nachgedacht wird. Die persönlichen Sichtweisen der MitarbeiterInnen werden nachfolgend so weit als möglich strukturiert und in ihren verschiedenen Argumentationen nachgezeichnet. In der Darstellung wird versucht, mittels zahlreicher Zitate ‚in den Worten‘ der ProfessionistInnen selbst zu sprechen, um diesen möglichst gut gerecht zu werden. 50 50 Zitate aus den Reflexionsbögen sind mittels „Anführungszeichen“ gekennzeichnet, die Quellenangabe in der anschließenden Klammer beinhaltet die Nummer des Reflexionsbogens sowie die Angebotsform [ka=Keine Angabe]. Die Inhalte stammen aus den Reflexionen, sie werden im Folgenden der Einfachheit halber aber allesamt im Indikativ wiedergegeben. 201

16.1 wohnungslos / obdachlos Die Anwendung der beiden Begriffe wohnungslos und obdachlos in der WWH folgt den Definitionen von ETHOS/FEANTSA und es besteht eine relativ große Klarheit bezüglich deren Inhalts. Gemein ist ihnen, dass sie beide mit „Abhängigkeit und sozialer Ausgrenzung verbunden“ (99_SOBEWO) sind. Obdachlosigkeit machen die RespondentInnen am sprichwörtlichen Fehlen eines „Dachs über dem Kopf“ fest, wenn also kein Zugang zu einer 24- Stunden-Unterbringung, bzw. keine Übernachtungsmöglichkeit mit gesundheitlichen und hygienischen Mindeststandards besteht. Obdachlosigkeit wird – ebenfalls in Übereinstimmung mit ETHOS – auch als „akute Wohnungslosigkeit“ bezeichnet. Obdachlose Menschen werden in der WWH als KlientInnen von Tageszentren und Nachtquartieren betreut. Es wird dabei auch thematisiert, dass Öffentlichkeit ein Charakteristikum der Obdachlosigkeit ist, dass das Leben also permanent im öffentlichen Raum stattfindet. Diese Öffentlichkeit hat für Männer und Frauen mitunter eine unterschiedliche Bedeutung – Männer sind im öffentlichen Raum sichtbar oder können sich hier relativ frei bewegen, während für Frauen der öffentliche Raum keiner ist, der ihnen gehört, sondern (wieder) stark mit Gewalt verbunden ist oder sein kann (86_ÜWO). Mehrfach wird betont, dass die Bezeichnung obdachlos mit einer starken Wertung verbunden ist und die betroffenen Personen stigmatisiert. Das Image Obdachloser ist negativ und mit Assoziationen wie „schmutzig, ungepflegt, sozialer Außenseiter, Sandler, Verwahrlosung“ (5_ÜWO, 37_ÜWO) verbunden. Bei wohnungslosen Menschen ist eine Wohnversorgung gegeben, es besteht ein Zugang zu einer 24-Stunden-Unterbringung. Wohnungslos ist gewissermaßen „obdachlos mit Unterkunft“ (3_BEWO). Innerhalb der WWH leben wohnungslose Menschen auf finanzierten Wohnplätzen, die sich dadurch auszeichnen, durch Vertrag oder Vereinbarung (Nutzungsvertrag) und Meldezettel legitimiert zu sein, dies allerdings in einer zeitlichen Befristung. Gemein ist allen wohnungslosen Menschen, dass sie zwar eine Unterkunft haben, aber über keinen eigenen, geschützten, individuell gestaltbaren Wohnraum verfügen. Sie haben also zwar ein ‚Dach über dem Kopf’, allerdings verbunden mit der Angst, es (wieder) zu verlieren – auf diese Weise besteht ein Abhängigkeitsverhältnis und die Personen müssen sich über weite Strecken so verhalten wie andere es von ihnen wollen oder verlangen (70_SOBEWO). Diese Aussage zielt zum Teil auf die – auch von vielen anderen RespondentInnen angesprochene – „verdeckte“ oder „versteckte“ Wohnungslosigkeit ab. In das Konzept von Wohnungslosigkeit werden Personen mit „rechtlich schlechten Wohnverhältnissen“ (96_SOBEWO) eingeschlossen. Vor allem für Frauen wird häufig die Konstellation einer „Duldung bei Freunden“ thematisiert, wobei „sehr miese Unterkunft und Behandlung – Beschimpfung, Nötigung, Erpressung, Drohung, physische und psychische Gewalt“ in Kauf genommen werden und Zweckbeziehungen eingegangen werden. Generell ist Wohnungslosigkeit weniger negativ besetzt als Obdachlosigkeit und wirkt weniger diskriminierend – dass Wohnungslosigkeit weniger vorurteilsbelastet ist hat wohl auch damit zu tun, dass sie weit weniger sichtbar ist (52_ÜWO). Größtenteils trennen die RespondentInnen diese beiden Begriffe sehr kompetent und geläufig, und von mehreren wird auch die Wahrnehmung geäußert, dass dies im System der WWH generell der Fall zu sein scheint: [Wohnungslos/obdachlos ist] „der einzige Begriff in dieser Liste, der in der Literatur sowie in allgemeinen Unterlagen der WWH angemessen definiert wird und m.E. zumeist auch halbwegs einheitlich gebraucht wird“ (74_SOBEWO). Die Unterscheidung wird oftmals für gut befunden, weil sie den Blick auf die KlientInnen differenziert. Dennoch nicht ganz passend erscheint der Begriff der Wohnungslosigkeit aber in seiner Anwendung auf KlientInnen des Sozial Betreuten Wohnens sowie des Betreuten Wohnens in Wohnungen: bei ersterem aufgrund der Auf-Dauer-Stellung (weshalb die Klien- 202

16.1 wohnungslos / obdachlos<br />

Die Anwendung der beiden Begriffe wohnungslos und obdachlos in der WWH folgt den Definitionen<br />

von ETHOS/FEANTSA und es besteht eine relativ große Klarheit bezüglich deren<br />

Inhalts. Gemein ist ihnen, dass sie beide mit „Abhängigkeit und sozialer Ausgrenzung verbunden“<br />

(99_SOBEWO) sind. Obdachlosigkeit machen die RespondentInnen am sprichwörtlichen<br />

Fehlen eines „Dachs über dem Kopf“ fest, wenn also kein Zugang zu einer 24-<br />

Stunden-Unterbringung, bzw. keine Übernachtungsmöglichkeit mit gesundheitlichen und<br />

hygienischen Mindeststandards besteht. Obdachlosigkeit wird – ebenfalls in Übereinstimmung<br />

mit ETHOS – auch als „akute Wohnungslosigkeit“ bezeichnet. Obdachlose Menschen<br />

werden in der WWH als KlientInnen von Tageszentren und Nachtquartieren betreut.<br />

Es wird dabei auch thematisiert, dass Öffentlichkeit ein Charakteristikum der Obdachlosigkeit<br />

ist, dass das Leben also permanent im öffentlichen Raum stattfindet. Diese Öffentlichkeit hat<br />

für Männer und Frauen mitunter eine unterschiedliche Bedeutung – Männer sind im öffentlichen<br />

Raum sichtbar oder können sich hier relativ frei bewegen, während für Frauen der öffentliche<br />

Raum keiner ist, der ihnen gehört, sondern (wieder) stark mit Gewalt verbunden ist<br />

oder sein kann (86_ÜWO). Mehrfach wird betont, dass die Bezeichnung obdachlos mit einer<br />

starken Wertung verbunden ist und die betroffenen Personen stigmatisiert. Das Image Obdachloser<br />

ist negativ und mit Assoziationen wie „schmutzig, ungepflegt, sozialer Außenseiter,<br />

Sandler, Verwahrlosung“ (5_ÜWO, 37_ÜWO) verbunden.<br />

Bei wohnungslosen Menschen ist eine Wohnversorgung gegeben, es besteht ein Zugang zu<br />

einer 24-Stunden-Unterbringung. Wohnungslos ist gewissermaßen „obdachlos mit Unterkunft“<br />

(3_BEWO). Innerhalb der WWH leben wohnungslose Menschen auf finanzierten<br />

Wohnplätzen, die sich dadurch auszeichnen, durch Vertrag oder Vereinbarung (Nutzungsvertrag)<br />

und Meldezettel legitimiert zu sein, dies allerdings in einer zeitlichen Befristung.<br />

Gemein ist allen wohnungslosen Menschen, dass sie zwar eine Unterkunft haben, aber über<br />

keinen eigenen, geschützten, individuell gestaltbaren Wohnraum verfügen. Sie haben also<br />

zwar ein ‚Dach über dem Kopf’, allerdings verbunden mit der Angst, es (wieder) zu verlieren<br />

– auf diese Weise besteht ein Abhängigkeitsverhältnis und die Personen müssen sich über<br />

weite Strecken so verhalten wie andere es von ihnen wollen oder verlangen (70_SOBEWO).<br />

Diese Aussage zielt zum Teil auf die – auch von vielen anderen RespondentInnen angesprochene<br />

– „verdeckte“ oder „versteckte“ Wohnungslosigkeit ab. In das Konzept von Wohnungslosigkeit<br />

werden Personen mit „rechtlich schlechten Wohnverhältnissen“<br />

(96_SOBEWO) eingeschlossen. Vor allem für Frauen wird häufig die Konstellation einer<br />

„Duldung bei Freunden“ thematisiert, wobei „sehr miese Unterkunft und Behandlung – Beschimpfung,<br />

Nötigung, Erpressung, Drohung, physische und psychische Gewalt“ in Kauf genommen<br />

werden und Zweckbeziehungen eingegangen werden. Generell ist Wohnungslosigkeit<br />

weniger negativ besetzt als Obdachlosigkeit und wirkt weniger diskriminierend – dass<br />

Wohnungslosigkeit weniger vorurteilsbelastet ist hat wohl auch damit zu tun, dass sie weit<br />

weniger sichtbar ist (52_ÜWO).<br />

Größtenteils trennen die RespondentInnen diese beiden Begriffe sehr kompetent und geläufig,<br />

und von mehreren wird auch die Wahrnehmung geäußert, dass dies im System der<br />

WWH generell der Fall zu sein scheint: [Wohnungslos/obdachlos ist] „der einzige Begriff in<br />

dieser Liste, der in der Literatur sowie in allgemeinen Unterlagen der WWH angemessen<br />

definiert wird und m.E. zumeist auch halbwegs einheitlich gebraucht wird“ (74_SOBEWO).<br />

Die Unterscheidung wird oftmals für gut befunden, weil sie den Blick auf die KlientInnen differenziert.<br />

Dennoch nicht ganz passend erscheint der Begriff der Wohnungslosigkeit aber in<br />

seiner Anwendung auf KlientInnen des Sozial Betreuten Wohnens sowie des Betreuten<br />

Wohnens in Wohnungen: bei ersterem aufgrund der Auf-Dauer-Stellung (weshalb die Klien-<br />

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