Evaluierung Wiener Wohnungslosenhilfe - L&R Sozialforschung

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22.04.2014 Aufrufe

wohnens ablehnen lassen. Ein Themenbereich ist hierbei auch die Arbeitslosigkeit oder die fehlenden Arbeitsmöglichkeiten etwa bei Kinderbetreuung, denn vielfach gilt ein stabiles Einkommen als Voraussetzung der Anmietung einer Wohnung. Besonders gewichtig ist diese Begründung im Bereich des BEWO, hier sieht gut die Hälfte derer, für die eine eigene Wohnung keine Option war, die Gründe in ihren finanziellen Möglichkeiten. 48 Im Bereich des zielgruppenspezifischen Wohnens ist ein anderer Grund vorrangig, nämlich die Schutz- und Stabilisierungsfunktion, die in der Einrichtung gegeben ist. Mehrere Befragte erzählen hier, dass für sie die schnelle Hilfe („ich wusste nicht wohin“ (Int.Nr. 6)) und die sozialarbeiterische Unterstützung („und war sehr froh, in dieser Situation nicht allein zu sein“ (ebd.)) eine zentrale Rolle spielten. Zumeist standen diese Personen in dem Moment in sehr instabilen Lebenssituationen, etwa unmittelbar nach einer Trennung, waren schwanger oder hatten erst vor kurzem ein Kind zur Welt gebracht: „Ich war im 9.Monat schwanger, ohnehin überfordert mit der Situation. Ich war froh, dass da jemand war“ (Int.Nr. 1). In einem anderen Fall wird das Übergangswohnhaus nach dem Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt als Möglichkeit zum „Kraft tanken und zur Ruhe kommen“ bezeichnet, weil die Organisation der alltäglichen Dinge nicht sofort selbst übernommen werden musste (Int.Nr. 87). Diese Argumente von Sicherheit, Stabilisierung und Schutz spielen für Frauen eine weit wichtigere Rolle als für Männer. Die dritte Argumentation gegen eine eigene Wohnung ist die Einschätzung, dass das Allein- Wohnen (zu diesem Zeitpunkt) eine Überforderung gewesen wäre. „Ich war völlig überfordert, an Eigenständigkeit war nicht zu denken“ (Int.Nr. 7) meint ein/e InterviewpartnerIn dazu. Es geht dabei um ein „Zurechtfinden“ im Alltag, einige KlientInnen sehen sich aufgrund psychischer Instabilität, Drogenkonsums, Spielsucht, etc. nicht in der Lage, eine eigene Wohnung zu übernehmen. Inwieweit dieses Problembewusstsein und die damit verbundene Selbsteinschätzung zu dem damaligen Zeitpunkt auch in der Form bestanden hat, kann freilich nicht beantwortet werden. Der Anteil der Personen, der in dieser Form argumentiert, ist in den Angebotsformen etwa gleich hoch. Housing First - Ausblick Zusammenfassend besteht der Eindruck, dass Housing First eine sinnvolle Alternative bzw. Ergänzung zum derzeitigen Wiener Stufenkonzept darstellt. Allerdings ist die Frage, unter welchen Bedingungen Housing First in Wien ein erfolgreiches Angebot sein kann, noch zu wenig erforscht. Busch-Geertsema zufolge kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Abweichen von ursprünglichen Housing First – Elementen 49 zu schlechteren Ergebnissen 48 49 Bei 19 Befragten sprechen ausschließlich finanzielle Gründe gegen eine eigene Wohnung anstelle des Übergangswohnens. Wenn man annimmt, dass diese Personen daneben keine weiteren Hinderungsgründe sehen, ließe sich diese Gruppe jener zuschlagen, für die eine eigene Wohnung besser gewesen wäre als das Übergangswohnen, womit sich deren Anteil von einem Drittel theoretisch auf etwa die Hälfte erhöhen würde (siehe Tabelle 123). Das Zielgruppenspektrum des Pilotprojektes von Sam Tsemberis zeichnet sich durch einen relativ engen Fokus aus. Vor allem finden hier Personen mit einer Doppeldiagnose Erwähnung. Somit steht das Aufeinandertreffen von psychiatrischen Erkrankungen, Drogen- und Alkoholproblematiken, bzw. auch anderen gesundheitlichen Problemen im Vordergrund. Zudem handelt es sich bei der Zielgruppe um Personen, welche oft bereits jahrelang von Wohnungslosigkeit betroffen waren (vgl. Stefanic/Tsemberis 2007). Weiters geht Pathway to Housing davon aus, dass die ambulante Betreuung durch ein multiprofessionelles Team erfolgt, welches 24 Stunden täglich an 7 Tagen pro Woche bereitsteht. Nicht zuletzt wird auch die Freiwilligkeit der Inanspruchnahme betont, „Participants can choose the type, frequency and sequence of services. They also can choose their neighborhood and apartment as far as suitable units are available“ (siehe hierzu Busch- Geertsema 2010, 3). 199

ezüglich Wohnstabilität und KlientInnenzufriedenheit führen kann (Halbartschlager et al. 2011, S. 29). Aus diesem Grunde wäre ein Pilotprojekt anzudenken, in dessen Rahmen mögliche Kontexte (Sozialvariablen, Belastungsprofile, Wohnform, Betreuungsintensität und -Dauer) und Wirkungsdimensionen miteinander in Beziehung gebracht werden. Zum Bereich Wohnform interessiert beispielsweise die Frage, wann eine Schlüsselübergabe erfolgen soll. Hier wären verschiedene Szenarien denkbar. Eine Übergabe etwa gleich zu Beginn würde ein positives Signal im Sinne eines Empowerment-Ansatzes setzen, könnte aber auch bei allfälligen Delogierungsverfahren die Träger an ihre Grenzen führen. Weiters ist die Frage, welche Sicherheiten den Vertragspartnern in Bezug auf die Bezahlung der Mieten gegeben werden können. Hier wäre es wahrscheinlich vorteilhafter, wenn zumindest zu Beginn die betreffende Wohnung durch einen Träger angemietet wird (wobei dies aber im Grunde genommen der ursprünglichen Housing First – Idee widersprechen würde) oder der Träger zumindest ein Vertragspartner im Mietvertrag wäre. In Bezug auf die Zielgruppenausrichtung etwa wäre zu prüfen, ob Housing First vor allem bei der im Prototyp angedachten Kernzielgruppe, bei besonders vulnerablen Personengruppen (Mehrfachdiagnosen, Suchterkrankungen, psychiatrische Diagnosen, siehe Busch- Geertsema 2010, 3), also bei jener Zielgruppe, welche nicht besonders gut in großen und unüberschaubaren Einrichtungen „aufgehoben sind“, gute Erfolge erzielen kann oder ob diese Angebotsform durchaus bei einer breiteren Zielgruppenausrichtung empfehlenswert ist. Auch die Frage der Akquise des Wohnraums wäre im Pilotprojekt einer praktischen Prüfung zu unterziehen (siehe Kapitel 12). Weiters wäre die Kostenfrage zu untersuchen. Seitens der in die Studie einbezogenen Fachkräfte wird diesbezüglich eine große Bandbreite an Einschätzungen abgegeben. So wurde von mancher Seite die Vermutung zum Ausdruck gebracht, dass Housing First ein Angebot sei, das sich gegenüber dem Übergangswohnen durch vergleichsweise geringe Kosten auszeichnen würde. Von anderen wurde wiederum die Überzeugung vertreten, dass Housing First nicht nur im Vergleich mit dem Übergangswohnen, sondern auch im Vergleich mit dem BEWO-Angebot mit vergleichsweise hohen Kosten verbunden sein wird, da die unterschiedlichen Zielgruppen eine teils sehr ressourcenaufwändige Betreuung vor Ort erforderlich machen würden. 16 Begriffsreflexion Die WWH ist ein großes Netzwerk aus sehr unterschiedlichen AkteurInnen, die ihrerseits in verschiedenen Kontexten arbeiten und jeweils andere Ausschnitte des Gesamtphänomens „Wohnungslose Menschen in Wien“ wahrnehmen und bearbeiten. Beim Bezeichnen von Realität(en) und beim Sprechen über die soziale Arbeit und die Arbeit mit KlientInnen bedienen sich die AkteurInnen dabei ganz selbstverständlich einer Reihe von Begriffen, die als professionsspezifische Sprache bezeichnet werden können. Sie sind außerhalb des spezifischen Arbeitsbereichs möglicherweise unbekannt und/oder besitzen eine andere inhaltliche Aufladung. Auf solche Begriffe wollen wir näher eingehen. Dabei sind zwei Thesen handlungsleitend. Zum einen gehen wir davon aus, dass die Wahl von Begriffen und der Prozess der Begriffsbildung nicht beliebig und nicht kontextfrei sind. Ausformulierte Begriffe stellen gewissermaßen die Koordinaten für unsere Wahrnehmung dar, da sie die Aufmerksamkeit auf einige 200

ezüglich Wohnstabilität und KlientInnenzufriedenheit führen kann (Halbartschlager et al.<br />

2011, S. 29).<br />

Aus diesem Grunde wäre ein Pilotprojekt anzudenken, in dessen Rahmen mögliche Kontexte<br />

(Sozialvariablen, Belastungsprofile, Wohnform, Betreuungsintensität und -Dauer) und Wirkungsdimensionen<br />

miteinander in Beziehung gebracht werden. Zum Bereich Wohnform interessiert<br />

beispielsweise die Frage, wann eine Schlüsselübergabe erfolgen soll. Hier wären<br />

verschiedene Szenarien denkbar. Eine Übergabe etwa gleich zu Beginn würde ein positives<br />

Signal im Sinne eines Empowerment-Ansatzes setzen, könnte aber auch bei allfälligen Delogierungsverfahren<br />

die Träger an ihre Grenzen führen. Weiters ist die Frage, welche Sicherheiten<br />

den Vertragspartnern in Bezug auf die Bezahlung der Mieten gegeben werden<br />

können. Hier wäre es wahrscheinlich vorteilhafter, wenn zumindest zu Beginn die betreffende<br />

Wohnung durch einen Träger angemietet wird (wobei dies aber im Grunde genommen<br />

der ursprünglichen Housing First – Idee widersprechen würde) oder der Träger zumindest<br />

ein Vertragspartner im Mietvertrag wäre.<br />

In Bezug auf die Zielgruppenausrichtung etwa wäre zu prüfen, ob Housing First vor allem bei<br />

der im Prototyp angedachten Kernzielgruppe, bei besonders vulnerablen Personengruppen<br />

(Mehrfachdiagnosen, Suchterkrankungen, psychiatrische Diagnosen, siehe Busch-<br />

Geertsema 2010, 3), also bei jener Zielgruppe, welche nicht besonders gut in großen und<br />

unüberschaubaren Einrichtungen „aufgehoben sind“, gute Erfolge erzielen kann oder ob diese<br />

Angebotsform durchaus bei einer breiteren Zielgruppenausrichtung empfehlenswert ist.<br />

Auch die Frage der Akquise des Wohnraums wäre im Pilotprojekt einer praktischen Prüfung<br />

zu unterziehen (siehe Kapitel 12).<br />

Weiters wäre die Kostenfrage zu untersuchen. Seitens der in die Studie einbezogenen Fachkräfte<br />

wird diesbezüglich eine große Bandbreite an Einschätzungen abgegeben. So wurde<br />

von mancher Seite die Vermutung zum Ausdruck gebracht, dass Housing First ein Angebot<br />

sei, das sich gegenüber dem Übergangswohnen durch vergleichsweise geringe Kosten auszeichnen<br />

würde. Von anderen wurde wiederum die Überzeugung vertreten, dass Housing<br />

First nicht nur im Vergleich mit dem Übergangswohnen, sondern auch im Vergleich mit dem<br />

BEWO-Angebot mit vergleichsweise hohen Kosten verbunden sein wird, da die unterschiedlichen<br />

Zielgruppen eine teils sehr ressourcenaufwändige Betreuung vor Ort erforderlich machen<br />

würden.<br />

16 Begriffsreflexion<br />

Die WWH ist ein großes Netzwerk aus sehr unterschiedlichen AkteurInnen, die ihrerseits in<br />

verschiedenen Kontexten arbeiten und jeweils andere Ausschnitte des Gesamtphänomens<br />

„Wohnungslose Menschen in Wien“ wahrnehmen und bearbeiten. Beim Bezeichnen von<br />

Realität(en) und beim Sprechen über die soziale Arbeit und die Arbeit mit KlientInnen bedienen<br />

sich die AkteurInnen dabei ganz selbstverständlich einer Reihe von Begriffen, die als<br />

professionsspezifische Sprache bezeichnet werden können. Sie sind außerhalb des spezifischen<br />

Arbeitsbereichs möglicherweise unbekannt und/oder besitzen eine andere inhaltliche<br />

Aufladung.<br />

Auf solche Begriffe wollen wir näher eingehen. Dabei sind zwei Thesen handlungsleitend.<br />

Zum einen gehen wir davon aus, dass die Wahl von Begriffen und der Prozess der Begriffsbildung<br />

nicht beliebig und nicht kontextfrei sind. Ausformulierte Begriffe stellen gewissermaßen<br />

die Koordinaten für unsere Wahrnehmung dar, da sie die Aufmerksamkeit auf einige<br />

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